Aus der Geschichte der Stadt Hanau

 

Das Material zu dieser Aufstellung stammt zum großen Teil aus Zeitungsartikeln, die ich gesammelt habe, damit sie erhalten bleiben. Dazu kommen Artikel aus kleineren schnellebigen Schriften oder aus Büchern, die nicht mehr erhältlich sind (z.B. „Hanau Stadt und Land“ oder „Kirchen und Kapellen im Main-Kinzig-Kreis“). Die Quellen alle zu zitieren hätte den Text unlesbar gemacht und den Umfang aufgebläht. Wie alle anderen Autoren habe ich auf dem Vorwissen anderer aufgebaut, aber es aus eigener Erfahrung gestaltet. Ich freue mich, wenn andere meine Ausarbeitung übernehmen und Freude am eigenen Erforschen der Heimat haben oder etwas zu ergänzen oder zu verbessern haben

 

Eine reichhaltige Vorstellung Hanauer Sehenswürdigkeiten von Martin Hoppe findet sich unter:

www.museen-hanau.de/digital/objekt-der-woche

 

 

798

Ersterwähnung von Mittelbuchen

806

Erstmals Nennung des Ortes Auheim.

1143

Erste urkundliche Erwähnung Hanaus

1222

Erste urkundliche Erwähnung des Schlosses Steinheim

1303

Verleihung der Stadtrechte für Hanau. Steinheim erhält die Stadtrechte

1419

Vereitelung eines mainzischen Anschlags auf Stadt und Burg Hanau, Martiniweinspende (bis 1830)

1537

Baubeginn des „neuen“ Rathauses (Deutsches Goldschmiedehaus).

1595

Graf Philipp Ludwig II. tritt die Regentschaft an

1596

Vermählung des Hanauer Grafen Philipp Ludwig II. mit Katharina Belgica, der Tochter Wilhelms von Oranien

1597

Gründung der Neustadt Hanau und Wallonisch-niederländischer Gemeinde

1600

Grundsteinlegung der Wallonisch-Niederländischen Kirche

1603

Philipp Ludwig räumt den Juden einen Platz - die Judengasse - ein

1607

Subsidienordnung zur Unterhaltung einer Hohen Schule in Hanau

1612

Grundsteinlegung der neuen Hohen Schule

1635

Beginn der Belagerung Hanaus durch den kaiserlichen General Lamboy

1636

Landgraf Wilhelm V. von Hessen-Kassel befreit die Stadt

1661

Gründung der ersten deutschen Fayence-Manufaktur

1665

Einweihung des Gebäudes der Hohen Landesschule

1669

Vertragsabschluß Friedrich Casimirs mit der Westindischen Kompanie über die Gründung des Königreichs Hanauisch-Indien am Orinoco

1678

Beginn des Hanauischen Mercurius, der ältesten hessischen Zeitung

 

1701

Grundsteinlegung von Schloß Philippsruhe

1701

Entdeckung des Gesundbrunnens in Wilhelmsbad (zwei Kräuterweiber)

1725

 Unter dem Titel „Wöchentliche Hanauer Frag- und Anzeigungs­nachrichten“ erscheint die erste Nummer des Hanauer Wochenblattes (später „HA“)

1725

Bau des Neustädter Rathaus (bis 1933)

1738

Gründung der Leihbank durch Wilhelm VIII.

1772

Stiftung der Zeichenakademie als älteste Fachschule in Hessen

1776

Durch Subsidienvertrag wird der Soldatenhandel im Feldzug Englands gegen Amerika abgeschlossen (etwa. 2400 Hanauer gingen nach Amerika)

1777

Baubeginn für die Kuranlage Wilhelmsbad

1778

Gründung des Hanauischen Magazins als gemeinnützige Wochenschrift

1780

Goethe besucht Wilhelmsbad

1781

Eröffnung des Theaters (Comoedienhaus) in Wilhelmsbad

1785

Geburt von Jacob Grimm

1786

Geburt von Wilhelm Grimm

1793

Beginn des Lamboyfestes

1813

Schlacht bei Hanau zwischen französischen und bayrisch-österreichischen Truppen

1818

Vereinigung der lutherischen und reformierten Bekenntnisse zur „Hanauer Union“

1821

Ein gemeinsamer Bürgermeister für Alt- und Neu-Hanau

1830

Hanauer Deputation kehrt aus Kassel zurück (Mautverhandlungen), danach Stürmung des Mainzollamtes durch Hanauer Bürger („Hanauer Krawalle“).

1834

Gründung des Handels- und Gewerbevereins (später Handelskammer)

 

Durch die Kurhessische Gemeindeordnung werden Alt-Hanau und Neu-Hanau zu einer einzigen Stadt

1841

Eröffnung der Stadtsparkasse im Stadthaus

 

 

1848

Nach der Französischen Februarrevolution wird Hanau Ausgangspunkt der kurhessischen Bewegung. Bildung von Bürgergarde und bewaffneten Freikorps. Hanauer Ultimatum an den Kurfürsten. In Hanau herrscht Kriegs- und Belagerungszustand. Hanauer Deputierte verkünden die Annahme des Ultimatums durch den Kurfürsten

1848

Am 2.4. Erster Deutscher Turnertag in der Wallonischen Kirche.

Gründung des Deutschen Turnerbundes. Rede von Turnvater Jahn

1848

Am 10. September Eröffnung der Eisenbahnlinie Frankfurt-Hanau

1849

Hanauer Turner unter Schärttner ziehen nach Baden

1851

Wilhelm Carl Heraeus übernimmt die Einhorn-Apotheke

1851

Inbetriebnahme von Gaslaternen als Straßenbeleuchtung

1851

Inbetriebnahme der Telegraphenlinie von Aschaffenburg nach Hanau.

1869

Geburt von August Gaul in Großauheim.

1874

Eröffnung der ersten Hanauer Diamantschleiferei durch Friedrich Houy

1875

Entstehung einer Pulverfabrik in der Bulau

1886

Hanau wird kreisfreie Stadt und scheidet aus dem Kreis Hanau aus

1889

Übernahme der Platinschmelze durch Dr. Wilhelm Heraeus und Heinrich            Heraeus

1893

Deutsche Dunlop Compagnie AG beginnt Produktion von Fahrradreifen

1895

Geburt von Paul Hindemith in Hanau

1896

Nationaldenkmal der Brüder Grimm wird auf dem Markt eingeweiht

1898

Betriebseröffnung des städtischen Elektrizitätswerks

1902

Dunlop AG produziert erstmals Autoreifen

1907

Eingemeindung von Kesselstadt

1908

Einführung der elektrischen Straßenbahn in Hanau

 

 

1918

Unruhen: Plünderung des Lebensmittellagers und des Schloß Philippsruhe

1920

Französische Truppen besetzen Hanau am 6. April, Räumung der Stadt von französischen Truppen am 17.Mai

1921

Beginn des Hafenausbaus (bis 1924).

1933

Aussetzung der Selbstverwaltung nach der „Machtübernahme“

1938

 Vereinigung von Groß- und Klein-Steinheim zur Stadt Steinheim

1938

Brand der Synagoge in der Reichspogromnacht

1942

Das Altstädter Rathaus wird Deutsches Goldschmiedehaus

1945

Vollkommene Zerstörung der Hanauer Innenstadt durch Luftangriff

1953

Das erste hessische Dorfgemeinschaftshaus wird in Mittelbuchen eingeweiht

1956

Großauheim wird zur Stadt erhoben

1958

Erstmalige Ausrichtung des Hanauer Bürgerfestes im Schloßpark Philipps­ruhe     zur Erinnerung der Leistung des Ehrendienstes beim Wiederaufbau

1958

Wiedereröffnung des Goldschmiedehauses im Altstädter Rathaus

1963

Hessentag in Hanau

1965

Baubeginn für den Weststadt-Komplex

1972

Eingemeindung Mittelbuchens zur Stadt Hanau

1974

 Im Rahmen der Hessischen Gebietsreform werden die Städte Großauheim, Klein- Auheim und Steinheim, die Gemeinde Wolfgang sowie der ehemalige Wachenbuchener Ortsteil Hohe Tanne Hanauer Stadtteile

1984

Teile des Schlosses Philippsruhe werden durch einen Großbrand vernichtet

 

Altertum

Es ist anzunehmen, daß unser Landschaftsgebiet bereits in der Periode der Jüngeren Steinzeit (2500-2000 vCh) und ebenso in der Bronze- und Halstattzeit besiedelt war, wenn auch nur wenig Spuren von menschlicher Betätigung gefunden wurden. Genaueres weiß man allerdings erst aus der Zeit vor 2000 Jahren, als die in Germanien eingedrungenen Römer den Grenzwall (Limes) zum Schutz gegen die Germanen errichteten. Zahllose Ausgrabungen mit wertvollen Funden lassen uns die Zeit der Römer-Kastelle, Villen und -Bäder lebendig werden. Nur den Stadtteil Kesselstadt kann man auf eine römische Gründung unmittelbar zurückführen, auf jenes größte aller Limeskastelle, das einst dort stand.

Und zur Zeit der großen Völkerwanderungen entstanden dann auf dem Boden der römischen Siedlungen neue germanische Dörfer. Aus der Frankenzeit bezeugen schon viele Urkunden die damalige Besiedlung. Um 1100 wird die Wüstung „Kinz­dorf“, auf erhöhtem Gelände errichtet, genannt.

 

Gründung

In der Stauferzeit wurde als Stützpunkt der staufischen Politik auf einer Kinziginsel eine Wasserburg errichtet (später Standort des Schlosses), die ebenso wie die dann in ihrem Schutze entstehende Siedlung „Hagenowe“ genannt wurde. Die Burg hatte ihren Namen von dem Waldgebiet nördlich der Kinzig. „In silvis Hagenove et Bulahe“ (in den Wäldern Hanau und Bulau) heißt es in Urkunden. „Die Hanau“ war so benannt nach einem „Hagen“ (eingefriedeten Gelände) in einer „Au“ (Land am Wasser). Südlich des Flusses lag „die Bulau“, deren Name heute noch geläufig ist. Sie läßt sich ableiten von „Buchlohe“, vielleicht aber erhielt sie ihren früheren Namen „Pohl­au“ auch vom römischen Limes, dem „Pfahlgraben“, der den Wald durchzieht.

Die Stadt hat sich im Anschluß an die alte Burg der Herren von Hanau entwickelt. Die ersten Besitzer nannten sich Herren von Buchen-Hagenowe (1113-1175). In einer Mainzer Urkunde vom 20. März 1143 wird das Geschlecht erstmals erwähnt: Der Edelfreie „Tammo de Hage­nouwe“ ist einer unter vielen Zeugen. Dies ist auch die erste Erwähnung Hanaus. Bereits seit 1191 werden „die von Dorfelden“ als „edle Herren von Hagenowe“ erwähnt. Schließlich von der Mitte des 13. Jahrhunderts an hießen sie nur noch „von Hanau“.

Zunächst bauten sie nur eine Wasserburg. Vermutlich von dieser Burg ist noch ein Wappenstein aus Mainsandstein. Er zeigt das Sparrenwappen der Hanauer Grafen, den Schwan, das Hanauer Wappentier als Helmzier, und eine Ritterfigur, eventuell sogar einen Grafen von Hanau. Der Stein befindet sich im Depot Schloss Philippsruhe (Abbildung in Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 6).

 Die Bedeutung des Kinzdorfes ging zurück, als im 13. Jahrhundert die Altstadt entstand. In einer ersten urkundlichen Erwähnung der Burg Hanau („Hagenove“) im Jahr 1234 wird sie „Castrum Hagenowe“ genannt. Eine kleine Ansiedlung von Burgmannen und Lehnsleuten bildete sich südlich vor der Burg. Und in ihrem Schutz wuchs sich im Laufe des 13. Jahrhunderts Hanau zu einer festen bürgerlichen Niederlassung aus. Die Siedlung bei der Wasserburg erhielt am 2. Februar 1303 durch König Albrecht I. als „oppidum“ (= Stadt) die gleichen Rechte wie die Stadt Frankfurt und das Recht zur Abhaltung eines Wochenmarktes am Mittwoch.

Mit dem Bau der Mauern, Türme und Tore wurde bald begonnen: Die Stadt wurde von einer starken Mauer umgeben, die acht Wehrtürme und zwei Tore aufwies. Der Bau konnte im Jahre 1338 als vorläufig beendet gelten. Auf alten Plänen und Ansichten zeigt Hanau geradezu beispielhaft die bauliche Entwicklung einer deutschen Stadt auf, die einem kleinen Landesherren unterstellt ist. Die Zahl der Einwohner mochte etwa 500 betragen.

Im Jahre 1436 verlegten Herren von Hanau ihren Wohnsitz von Windecken, das bereits 1288 Stadtrechte erhielt, nach Hanau. Unter deren landesväterlicher Fürsorge entwickelte sich dann das Gemeinwesen von einem unbedeutenden Landstädtchen zur kleinfürstlichen Residenz. Im Verlaufe der unruhigen Zeiten des 14. und 15. Jahrhunderts siedelten sich immer mehr Bewohner an. Die Stadtbefestigung wurde unter Philipp II. erneuert: Der Altstadtkern wurde mit acht Meter hohen Mauern mit Rundtürmen und Wassergräben umschlossen.

Es entstand vor dem Metzgertor an der Straße zur Kinzigbrücke die Vorstadt. Im Jahre 1484 wurde das erste Rathaus an der Ecke Markt- und Metzgerstraße erbaut, das aber bereits 1537 durch das auf der gegenüberliegenden Seite errichtete Rathaus ersetzt wurde, weil sich das erste Rathaus als zu klein erwiesen hatte.

Etwa 1.250 Einwohner lebten in ungefähr 280 strohgedeckten Fachwerkhäusern auf einem Gebiet, das kaum vier Hektar groß war. Sie trieben fast ausschließlich Ackerbau und schickten ihr Vieh in die nahe Bulau auf die Weide. Bürgermeister und Ratsherren führten die Verwaltung und wurden dabei von der gräflichen Kanzlei durch einen Schultheißen beaufsichtigt.

Hanau war nur eine kleine Ansiedlung, aber es hatte eine Burg und ein Herrengeschlecht, das aus dieser Stätte etwas zu machen verstand. Sie verstanden es, ihren Besitz zu halten und durch eine geschickte Heiratspolitik beträchtlich zu mehren. Reinhard I. heiratete vor 1250 Adelheid von Münzenberg, ihr Sohn Ulrich I. gut 30 Jahre später Elisabeth von Rieneck: Ursprünglich Münzenberger bzw. Rienecker Gebiete waren wesentliche Teile der Herrschaft, ab 1429 Grafschaft Hanau.

Um den durch das Kränkeln des kleinen Grafen Philipp des jüngeren gefährdeten Fortbestand des Territoriums zu sichern, war dessen eigentlich für den geistlichen Stand vorgesehener Onkel Philipp der Ältere auf Brautschau gegangen und hatte 1458 Anna von Lichtenberg im Elsaß geheiratet. Seit dieser Zeit gab es die beiden Linien Hanau-Münzenberg und Hanau Lichtenberg. Die Namen „Hanauer Land“ in Baden und „Pays d’Hanau“ im Elsaß erinnern heute noch an dieses Ausgreifen der Hanauer Grafenfamilie.

Drei Gebäude ragten aus dem so kleinen Häusermeer hervor: die alte Burg, das stattliche 1537 eingeweihte Rathaus und die alte Marienkirche (etwa 1450 erbaut). So sah Hanau mit seinen krummen Gassen aus, als 1594 Graf Philipp Ludwig II. zur Regierung kam, der bedeutendste Landesherr, den die Geschichte der Grafschaft Hanau-Münzenberg aufzuweisen hat. Die Befestigungsanlagen der Altstadt wurden mit Rondellen verstärkt. Südlich der Altstadt wurde die Neustadt Hanau erbaut. Sie hatte einen geometrisch als Wappenschild mit schachbrettartigem Straßenraster konstruierten Grundriß. Die Residenz wurde damit um das Dreifache erweitert. Umgeben wurde alles von den mächtigen Festungsanlagen des 17. Jahrhunderts.

 

Märtestag 1419

Anfang des 15. Jahrhunderts hatte der Bi­schof von Mainz als Vormund die Herr­schaft in der Stadt; vorübergehend allerdings nur. Doch der Gottesmann hätte Hanau ger­n auf Dauer in sein Bistum einverleibt und plante eine militärische Besetzung. Pünktlich um 9 Uhr am Martinstag des Jahres 1419, der damals „Märtestag“ hieß. Indessen bekamen Hanauer Bürger Wind von der Sache und verhinderten das Neun‑Uhr‑Läuten an jenem Tag.

Das Ausbleiben des Signals verwirrte die Mainzer ‑ und Graf Philipp Ludwig eilte aus Windecken herbei, um nun seinerseits die Stadt wieder in Besitz zu nehmen. Als Dank für diese Tat wurde seither jedem Altstadtbürger alljährlich zum Martins­tag im Fronhof ein Maß Wein aus­ge­schenkt. Dieser Brauch erhielt sich mehr als 400 Jahre lang, bis 1830. Heute lebt er wieder auf durch die Märteswein-Vereinigung, die in Erinnerung an diesen Brauch jährlich einen „Märtes­wein“ vorstellt.

Am 11. Novem­ber 1994 gründete sich in Hanau die Märtes­wein‑Vereinigung mit rund 30 Mitgliedern. Die Märteswein‑Vereinigung hat es sich zum Ziel gesetzt, Kulturschätze durch eigene Mittel für Hanau zu sichern und später in öffentlichen Besitz zu über­führen. Das ist dem Verein seither in einigen Fällen gelungen, so unter anderem beim Erwerb eines wichtigen Gemäldes des Ha­nauer Malers und Akademiedirektors Friedrich Karl Hausmann 1996 oder eines seltenen Silberbechers aus einer Hanauer Werkstatt des 17. Jahrhunderts. Auch ein Monumentgemälde von Wilhelm Kohlbe­cher aus den 30er Jahren des 20. Jahrhun­derts, das früher in der amerikanischen Pionierkaserne hing, ließ die Märteswein­-Vereinigung gemeinsam mit dem Ge­schichtsverein restaurieren.

Im Jahr 2003 ha­ben die Mitglieder zwei historische Bücher in hebräischer Schrift angekauft, die in im 17. und 18. Jahrhundert in Hanau gedruckt wurden. Sie haben die Bücher bei einem New Yorker Antiquar zum Preis von rund 3000 Dollar erworben, die demnächst der Stadt übergeben werden sollen - ein passender Zeitpunkt, feiert Hanau 2003 doch neben dem Altstadtjubiläum auch 400 Jahre Judenstättigkeit.        

Die beiden Bücher könnten nach Wunsch des Vereins einen Anstoß geben, sich künftig stärker mit einem eher unbekannten Kapitel Hanauer Geschichte zu befassen: Denn die Stadt war im 17. und 18. Jahrhundert ein Zentrum für den Druck jüdischer Literatur, die von Hanau aus in alle Welt verbreitet wurde. In den historischen Beständen hat sich diese einstige Blütezeit aber bislang kaum niedergeschlagen: Gerade ein Buch in hebräischer Schrift befindet sich in der Stadtbibliothek ‑ dabei sind in 200 Jahren rund 300 Titel erschienen. In Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Museum Frankfurt sollen die erworbenen Werke - beides theologische Schriften ‑ übersetzt werden.

„Wir wollen Dinge nur anschieben im kulturellen Leben der Stadt, ohne kommerzielle Interessen und auch ohne den Wunsch, eine eigene Sammlung anzulegen“, erklärt Helmut Geyer, Vorsitzender der Märteswein‑Vereinigung. Leider vermißt er eine Unterstützung durch das Kulturbüro der Stadt, der Wunsch nach Gesprächen über die Gestaltung der Feier­lichkeiten zum Doppeljubiläum 750 Jahre Hanauer Altstadt und 400 Jahre Judenstättigkeit wurde nicht beachtet.

Nun ist der Vorstand selbst aktiv gewor­den: Am 11. November soll an historischer Stätte im Fronhof der traditionelle Märtes­wein ausgeschenkt werden, außerdem der Pranger in Form einer Steinplatte an sei­nem angestammten Platz wieder aufle­ben. Einstmals stand er auf dem Altstäd­ter Markt vor dem Goldschmiedehaus. Auch wird der Verein wieder selbst die Verleihung des Darstellerpreis der Brüder‑Grimm‑ Märchenfestspiele übernehmen. Für einige Jahre hatte das der Förderverein des Festivals übernommen. Die Auszeichnung soll jährlich ei­nem Schauspieler oder einer Schauspiele­rin im Rahmen der Märchenfestspiele überreicht werden.

Wer sich bei der Märteswein‑Vereini­gung engagieren möchte, kann sich bei Hans Katzer vom Vorstand melden, die Te­lefonnummer: 06181 / 663054 oder 249247.

 

Neustadt 1597

Graf Philipp Ludwig II. (1576-1612) trieb seit 1597 die Gründung der Neustadt voran und privilegierte 1603 auch eine Judengemeinde. Das war im Grunde ein immenses Wirtschaftsförderungsprogramm. Er baute 1607 die Hohe Landesschule,. baute am Stadtschloß und reformierte noch 1612 die gräfliche, um sein Land fit für die Zukunft zu machen. Es war eine der ersten Regierungshandlungen des Grafen, daß er dem reformierten Glauben im Sinne des großen Genfer Reformators Calvin zum Siege verhalf. Seit seinen Studienjahren in Herborn und Heidelberg hing er ihm mit ganzer Seele an. Die schwere Verfolgung des Protestantismus in den ebenfalls kalvinistischen Niederlanden hatte zur Folge, daß schon im 16. Jahrhundert viele Wallonen und Holländer ihre Heimat verließen, um sich ein neues Vaterland zu suchen. Ein Teil vor ihnen begab sich unter Führung des Johann von Lasko und Valerandus Polanus nach Deutschland und ließ sich in Frankfurt am Main nieder.

Jedoch auch hier - wo man ganz und gar dem lutherischen Augsburger Bekenntnis anhing - regte sich bald die Unduldsamkeit gegen die Fremden, denen man schließlich sogar die bisherige freie Religionsausübung in der ihnen überlassenen Weißfrauenkirche untersagte, obwohl Melanchton und die Marburger theologische Fakultät für sie ein gutes Wort einlegten. Aber die spießbürgerlichen Patrizier der freien Reichsstadt fürchteten ja weniger für ihr Luthertum als für ihr Geschäft durch die Konkurrenz der rührigen Niederländer und fühlten sich deshalb erleichtert, als diese es vorzogen, dem ungastlichen Frankfurt den Rücken zu kehren.

Nichts lag für sie näher als das religionsverwandte Hanau, zumal da dort der junge Graf Philipp Ludwig II. eben Katharina Belgica von Nassau-Bourbon (1578-1648) geheiratet hatte, die dritte Tochter des berühmten niederländischen Freiheitskämpfers Wilhelm von Oranien (1533-1584) und dessen dritter Ehefrau Charlotte von Bourbon-Montpensier (1546-1582). Sie wird auch „Cathrina Belgia“ genannt, „Belgica“ ist die latinisierte Form.

Sie kam den Landflüchtigen mit herzlicher Anteilnahme entgegen. Diese kamen aus den spansich besetzten katholischen Niederlanden ud dem heutigen Belgien, also dem Vater- und Mutterland von Catharina. Nach dem frühen Tod ihres Mannes 1612 führte Catharina Belgica  die Regentschaft führ ihren erst 7-jährigen Sohn Philipp Moritz fort, setzte sich für die Modernisierung, Wirtschaftsförderung und zum Beispiel die Hohe Landesschule ein. Ein Bild von Catharina Belgica ist im Medienzentrum Hanau vorhanden, ein prächtiges Bild ist auch in der Dauerpräsentation der Familienakademie der Kathinka-Platzhoff-Stiftung in der Französischen Allee zu sehen (vgl. Martin Hoppe, Objekt der Woche # 82)

Schon vor dem Jahre 1593 hatten sich niederländische Familien in Hanau niedergelassen, wo sie in der „Goldenen Hand“ in ihrer Muttersprache und nach kalvinistischem Ritus Gottesdienst hielten. Durch sie auf das Hanauer Asyl aufmerksam gemacht, traten ihre Frankfurter Glaubensgenossen mit dem Grafen in Unterhandlungen, der ihnen am 27. Januar 1597 einen Plan vorlegen ließ, nach dem er ihnen neben seiner Residenz Hanau eine neue Stadt anzulegen und zu befestigen versprach, wenn sich eine genügende Zahl Niederländer verpflichte, sich in Hanau anzukaufen oder Häuser zu bauen.

Jetzt machten aber nicht nur die Frankfurter Ratsherren Schwierigkeiten, weil man einsah, daß es töricht war, den betriebsamen Niederländern den Aufenthalt dort zu verleiden, sondern auch die Hanauer Ratsherren, die die Fremden nicht als Nachbarn haben wollten. Doch ließ sich Philipp Ludwig II. nicht von dem einmal gefaßten Plan abbringen. Er unterschrieb am  1. Juni 1597 die sogenannte „Capitulation“. Darin bot er aus religiösen Gründen verfolgten Calvinisten, Flamen und Wallonen aus den damaligen „Spanischen Niederlanden“ eine Heimat vor den Toren Hanaus. „Nach Steuerangaben“ zogen 200 Familienoberhäupter nach Hanau. Die dazugehörigen Familien und die Nicht-Steuerzahler sind allerdings zahlenmäßig nicht bekannt.

In dem noch heute gültigen Gründungsdokument der Wallonischen und Niederländischen Gemeinden (die sich erst 1960 zusammenschlossen) verpflichteten sich die Flüchtlinge zum eigenwirtschaftlichen Handeln wie dem Städtebau. Unter ihnen befanden sich reiche Kaufleute und unternehmungslustige Industrielle.

Sie erhielten im Gegenzug das Recht zur freien Religionsausübung für alle Zeiten zugesichert und die Genehmigung zum Bau einer Kirche. Sie durften sich ihre Pfarrer und Lehrer selbst wählen, erhielten die Gewerbefreiheit, brauchten keine Frondienste zu leisten und bekamen auch sonst noch Erleichterungen aller Art. Graf Philipp Ludwig versprach ihnen ferner, einen Kanal zum Main mit einem Kran zu erbauen und ein Marktschiff für sie nach Frankfurt fahren zu lassen.

 

Nun begann südlich der Altstadt eine rege Tätigkeit. Das Gelände wurde vermessen, die Straßenfluchten wurden festgelegt, die Stadtviertel abgesteckt, und auch die Pest, die damals durch das Land zog, hielt das große Werk nicht auf. Das erste Haus, das vollendet wurde, war das von Georg de Behaigne erbaute „Paradies“ (heute Markt 7). Als der Graf in jungen Jahren im Jahr 1612 starb, waren bereits 237 Plätze bebaut, 1618 waren 364 Häuser fertig. Welch ein Unterschied zwischen der Altstadt mit ihren winkeligen Gassen und der Neustadt mit ihren sich rechtwinklig schneidenden, breiten Straßen und großen Plätzen. Das „städtebauliche Novum“ vor den Toren Alt-Hanaus war die erste planmäßig angelegte Stadt in Deutschland (vor Mannheim, Erlangen-Neustadt und Neu-Isenburg). Als Grundschema entwarfen die Calvinisten ein Rechteckraster von Straßen und Baublöcken. Vorbilder waren Planstädte des 16. Jahrhunderts wie La Valletta auf Malta und Willemstad in Brabant.

In der Zeit von 1600 bis 1608 entstand die einmalige Doppelkirche an der Französischen Allee, die unter e i n e m Dach die französisch sprechenden Wallonen und die holländisch sprechenden Niederländer vereinigte. In sechs je vier bis fünf Meter hohen Stockwerken türmte sich das Dach, das Alt- und Neu-Hanau, weithin sichtbar, überragte.

Nebenher ging die Errichtung der neuen Stadtmauer, die nach den Entwürfen des berühmten Kriegsbaumeisters Daniel Speckle aus Straßburg erbaut wurde. Im Jahre 1619 wurde sie vollendet, gerade noch zur richtigen Zeit, denn schon verheerte der 30-jährige Krieg Deutschland. Fünf Tore führten aus der Neustadt ins Freie: Das Frankfurter-, Kanal-, Steinheimer, Nürnberger- und Mühltor. Zur Belebung des Handels wurde ein Kanal angelegt, der aus dem Main bis zum Heumarkt führte. Hier befanden sich ein geräumiges Becken zur Aufnahme der Schiffe, ein Kran und die Stadtwaage.

Durch gräfliche Verordnung vom 9. April 1601 erfolgte die Einsetzung eines Neustädter Stadtrates. Seine Sitzungen fanden bis 1615 in verschiedenen Privathäusern am Markt statt, seit diesem Jahre in einem neben dem jetzigen Rathause gelegenen Hause, seit 1733 endlich in dem damals vollendeten Neustädter Rathaus. Ihre Gründung war auch städtebaulich eine Großtat: drei große Plätze, regelmäßige und breite gepflasterte Straßenzüge, die stolzen Gebäude der Handelsherren und das neue Rathaus zeugen von Weitblick, Aufgeschlossenheit und Gestaltungsgabe ihrer Erbauer.

Neue Handwerksberufe und Gewerbe kamen mit den Emigranten nach Hanau. In der Wirtschaftsgeschichte Hanaus trat nun ein völliger Umschwung ein. Neben den Altstädter Bauern wohnten jetzt die gewerbefleißigen, welterfahrenen Neustädter Kolonisten, die aus ihrem Gemeinwesen eine Handels -und Industriestadt fast im modernen Sinn machten und mit den Produkten ihrer Textil-, Tabak-, Gold- und Silberindustrie, ihrer Buchdruckereien und Fayencefabrik auf deutschen Märkten und Messen und im Ausland den guten Ruf ihrer hanauischen zweiten Heimat verbreiteten.

So entstand durch den Fleiß und den Unternehmungsgeist der zugewanderten calvinistischen Handwerker, Kaufleute und Goldschmiede trotz allerlei Widerstände der Innungen, der Räte von Alt-Hanau und Frankfurt mit der tatkräftigen Unterstützung des Grafen und seiner Gattin die Neustadt, mit einer vorbildlichen Verwaltung und einer in ihrer Existenz gesicherten Einwohnerschaft. Die Neustadt Hanau wurde gar bald zu einem Gemeinwesen von wirtschaftlicher und kultureller Bedeutung im gesamten Rhein-Main-Gebiet. Aus dem Kinzigstädtchen wurde die Mainstadt Hanau.

 

„Die Doppelgründung der protestantischen Flüchtlingsgemeinden und ihrer Stadt „Neu Hanau“ war ein wichtiges Datum der europäischen Freiheitsgeschichte und eine erfolgreiche Manifestation evangelischer Freiheit gegenüber dem weitanschaulichen Obrigkeitsstaat“, urteilt Walter Schlosser, seit 1979 Pfarrer der Wallonisch-niederländischen Gemeinde.

Doch die Gegnerschaft zwischen der Alt- und Neustadt Hanau vererbte sich von Geschlecht zu Geschlecht, weil sich die Unterschiede der Nationalitäten, des Volkscharakters, der Sprache und des wirtschaftlichen Lebens nicht von heute auf morgen überbrücken ließen. Nicht nur Festungswerke trennten Alt- und Neustadt voneinander: bis ins 19. Jahrhundert hinein waren beide Städte selbständig, hatten ihre jeweils eigene Verwaltung, ihre eigenen Räte und Bürgermeister. Erst 1767 wurden die Befestigungsanlagen zwischen Altstadt und Neu-Hanau aufgegeben, im Jahre 1833 wurden auch die Verwaltungen zusammengelegt. Erst 1835 wurde die Vereinigung der beiden Städte in verwaltungsrechtlicher Hinsicht vollzogen, ohne daß die Lösung aller Differenzen gelungen wäre. Es ist das Verdienst des umsichtigen Bürgermeisters Eberhard gewesen, die Kluft zwischen den beiden Gemeinden zu überbrücken. Als eine gemeinsame Stadtgemeinde wurden die Stadtrats-Sitzungen nunmehr im Neustädter Rathaus abgehalten.

 

Niederländer und Wallonen 1597                                      

Viele hundert Kilometer legten die wegen ihres protestantischen Glaubens verfolgten Hugenotten und Waldenser durch Europa zurück. Die Erklärung des Namens „Hugenotten“ sei bis heute umstritten. Seit etwa 1560 lasse sich die Verwendung des Wortes „huguenot“ als Negativbezeichnung für französisch-reformierte Christen in der Gegend um Tours an der Loire nachweisen. Erst später sei dann durch eine Umbewertung aus dem ursprünglichen Schimpfwort eine positive Eigenbezeichnung geworden.

Die Flüchtlinge kamen in Wellen. Bis zu 50.000 sollen es gewesen sein, die im ausgehenden 17. Jahrhundert nach Deutschland einwanderten. Sie kamen aus Frankreich oder Italien in ein Land, das nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618 bis 1648) zu weiten Teilen verwüstet war. Auf diesem Territorium suchten Hugenotten und Waldenser Schutz vor Verfolgung und Glaubensfreiheit.

Der Kulturwanderweg „Hugenotten- und Waldenserpfad“ folgt den Spuren von Exil und Integration. Der 1.800 Kilometer lange Fernwanderweg führt durch traumhafte Landschaften. Er beginnt auf französischer Seite in dem kleinen Ort Poet Laval in Südfrankreich und führt bis ins nordhessische Bad Karlshafen. Den gleichen Exilwegen folgten auch die reformierten Waldenser aus den Tälern des Piemonts.

Der Weg führt durch die französischen Alpen, über Genf in die Schweiz und entlang des Schweizer Jura über das Mittelland nach Schaffhausen. Der Exilweg der Waldenser vereinigt sich kurz vor der schweizerischen Grenze mit dem Weg der Hugenotten. Am Ostrand des Schwarzwalds entlang erreicht der Weg den Kraichgau, verläuft dann über den Neckar in den Odenwald und bis in das Rhein‑Main-Gebiet. Von dort geht es weiter durch den Taunus, die Mittelgebirgslandschaften an der Lahn, durch den Burgwald und den Kellerwald nach Nordhessen in Richtung Marburg und schließlich Bad Karlshafen.

Hanau war einer ihrer Zufluchtsorte. Auch in Hanau siedelten sich im 18. Jahrhundert über 70 hugenottische Familien an, die in der Grimm-Stadt eine neue Heimat fanden. Ihre Gottesdienste führten sie in der Wallonisch-niederländischen Kirche durch. Mit ihren Fertigkeiten trugen sie entscheidend zum wirtschaftlichen und sozialen Profil Hanaus bei. Kaum ein anderes Bundesland wurde durch die Einwanderung von Franzosen, Flamen, Nie­derländern und Wallonen so geprägt wie Hessen. Hanau öffnete mit der Gründung der Neustadt 1597 die Tore für die Verfolgten und garantierte ihnen uneingeschränkte Religionsfreiheit. Durch die Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 kamen später rund 70 hugenottische Familien aus Metz und Umgebung in die Brüder-Grimm-Stadt, im Bürgerbuch als „Refugies“ vermerkt. Sie trugen entscheidend zum wirtschaftlichen Profil und vor allem auch zum Techniktransfer der Stadt bei.

Für die Brüder-Grimm-Stadt war das Grund genug, Mitglied im neu gegründeten nationalen Trägerverein für den Europäischen Kultur-Fernwander­weg „Hugenotten- und Waldenserpfad“ mit Sitz in Neu-Isenburg zu werden, neben Offenbach, Neu-Isenburg, Mörfelden-Walldorf und Frankfurt.

Mit den örtlichen Wandervereinen wurde bereits Konsens erzielt, daß der Wanderpfad von Neu-Isenburg über Offenbach kommend bei den Mühlheimer Steinbruchseen auf Hanauer Gemarkung geführt wird. Über die Kesselstädter Schleuse werden die Wanderer über das Schloß Philippsruhe (Historisches Museum) in die Innenstadt (Wallonisch-niederländische Kirche) und dann über die Bulau Richtung Gelnhausen geleitet.

In Hanau fand im Oktober 2010 eine Themenführung statt und der Pfad wurde in der Wallonisch-niederländischen Kirche eröffnet. In Hessen ist der Werg rund 750 Kilometer lang. Hier fanden etwa 4.000 Zugewanderte eine neue Heimat. Wanderer sollten mit Hinweistafeln und einem speziellen Logo auf das Thema aufmerksam gemacht werden. Der Fernwanderweg solle eine hohe kulturhistorische und wandertouristische Qualität erhalten und sich zu einer nachhaltigen Tourismusmarke entwickeln.

Es ist geplant, bald eine Auszeichnung des Weges als „Europäischer Kulturweg“ durch den Europarat zu erwirken. Durch räumliche und fachliche Vernetzungen in den Bereichen Wandertourismus, Gastronomie, Kultur und Natur werde eine nachhaltige Stärkung und Zukunftsfähigkeit der beteiligten Regionen angestrebt. Hanau darf als wichtiger Hagenotten- und Waldenserort in der Route nicht fehlen.

Die Partner in Italien, Frankreich, der Schweiz und Deutschland wollen dazu beitragen, daß Flucht, Exil, Toleranz und Integration einen Schwerpunkt in gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen bilden. Das historische Kulturerbe der Hugenotten und Waldenser in seiner Bedeutung für die kulturelle Identität Europas soll im öffentlichen Bewußtsein verankert, breiten Bevölkerungskreisen zugänglich gemacht und den Mitgliedern dazu Instrumentarien an die Hand gegeben werden.

 

Die ersten Goldschmiede in Hanau 1597

Unter den elf Neubürgern, die den Vertrag vom 1. Juni 1597 über die Gründung der Neustadt unterzeichneten, befanden sich nicht weniger als vier, die man später als Juwelier bzw. als Goldschmiede nachweisen kann. Wie am Anfang des neuen Jahrhunderts die Kirchenregister der niederländisch-wallonischen Gemeinde erkennen lassen, waren Goldschmiede indessen nur unter den Flamen, nicht aber unter der französisch sprechenden Neuhanauer Bevölkerung vertreten. Deutschstämmige Niederländer sind es also gewesen, die das Gold- und Silberschmiedehandwerk in Hanau bodenständig gemacht haben.

Das ergibt sich aus der Zunftordnung, die sich die Hanauer Gold- und Silberschmiede im Jahre 1610 von der gräflichen Regierung genehmigen ließen und in der bodenständig-zünftlerische Bestimmungen neben solchen enthalten sind, die nur in dem freiheitlichen Klima der Niederlande mit ihrer seit dem 15. Jahrhundert blühenden gewerblichen Wirtschaft entstanden sein können. Die Zahl der in Neuhanau tätigen „Gold- und Silberschmiede“ stieg auf 33 im Jahre 1613 an. Ihre Erzeugnisse erreichten auch in künstlerischer Beziehung eine beachtliche Höhe, wie der Hanauer Ratsbecher zeigte, der leider in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts von kurzsichtigen Stadtvätern für 20.600 Mark an den Frankfurter Baron Carl von Rothschild verkauft wurde und heute unseres Wissens verschollen ist.

Durch den Dreißigjährigen Krieg aber erhielt das neue Gewerbe einen Schlag von solcher Nachhaltigkeit, daß es sich während des ganzen restlichen Jahrhunderts davon nicht mehr erholen konnte. Um 1700 war das Gewerbe der Goldschmiede in Hanau fast ganz ausgestorben, auch die Silberschmiede waren nur noch in geringer Anzahl vorhanden.

Eine Neubelebung brachte das 18. Jahrhundert, und abermals war der Aufschwung auf landesherrliche Initiative zurückzuführen. Merkantilistische Gesichtspunkte waren es, die als bald nach dem Übergang der Grafschaft Hanau-Münzenberg an Hessen-Kassel den Landgrafen Wilhelm VIII. veranlaßten, es anderen Fürsten und Herren gleichzutun und ein Freiheitspatent zu verkünden. Nach Anpreisung der für die „Ansiedlung von Industrie“ günstigen Lage Hanaus wurde allen, die sich hier niederlassen wollten, absolute Glaubens- und Handelsfreiheit, Steuerfreiheit für zehn Jahre und freier Abzug ohne Nachsteuer für den Fall, daß es jemandem in Hanau, nicht gefiele, zugesichert. Und in der Tat, das Patent sprach weite Kreise an.

Neben Zuwanderern aus allen Teilen Deutschlands stellten sich solche aus Frankreich in besonders starker Zahl ein. Unter letzteren befanden sich wieder zahlreiche Gold- und Silberschmiede, die in Hanau unverzüglich ihre Produktion aufnahmen und sehr schnell den Erwerbszweig mächtig voranbrachten. Im Jahre 1772 wurde die Zeichenakademie als Bildungsstätte für den Nachwuchs gegründet.

Im Gegensatz zu den Erzeugnissen der alten Niederländer verlegte man sich jetzt vorzugsweise auf die Herstellung von sogenannter Bijouterie- oder Galanterieware (Dosen, Tabatieren, Degengriffe, Erinnerungsstücke aller Art, u. ä.). Aus dem vom Meister geführten Handwerksbetrieb wurde eine Industrie, und als es schließlich noch gelang, Auslandsaufträge nach Hanau zu ziehen, wurde die Bijouterie-Industrie für die Stadt Hanau, für die Stadt des edlen Schmucks, zugleich zu einem Wirtschaftsfaktor ersten Ranges.

Heute fällt es schwer sich vorzustellen, daß bei Beginn des Ersten Weltkrieges die Zahl der in den Hanauer Gold- und Silberwarenfabriken Beschäftigten mehr als 3.000 betrug. In den Jahren vor und nach der Jahrhundertwende erlebte das Hanauer Edelmetallgewerbe eine seiner bedeutendsten Blütezeiten. So beschäftigten beispielsweise die 59 Betriebe der Goldwarenindustrie 1.833 Personen, davon 220 Lehrlinge und 89 Lehrmädchen. In 19 Betrieben der Silberwarenindustrie fanden 524 Personen Beschäftigung. Obwohl sich schon seinerzeit der Zug zum großen Betrieb stark bemerkbar machte, überwogen doch bei weitem die kleineren und mittleren Werkstätten mit durchschnittlich 30 Beschäftigten, in denen noch echte handwerkliche Arbeit getrieben werden konnte.

Im Jahre 1632 kaufte König Gustav Adolf von Schweden in Hanau ein Brillantkollier für seine Gemahlin Eleonore von Brandenburg. Im Jahre 1814 notierte Goethe: „Und so läßt sich mit Wahrheit behaupten, daß Hanau Arbeiten liefert, die man weder in Paris noch in London zu fertigen weiß, ja, die nicht selten jene des industriösen Genf übertreffen.“

Der „Hanauer Stil“ ist ganz einfach das Handwerk, die Handwerkskunst, ist das Fortleben der Tradition, die individuelle Arbeit. Wenn anderswo alles maschinell und per Fließband geht, in Hanau werden der Goldschmuck, das Silberzeug noch mit der Hand gearbeitet. Es gibt noch Familienbetriebe, und es gibt noch Goldschmiede, zu denen geht man hin und erzählt ihnen, wie der Ring, den man sich wünscht, ungefähr aussehen soll. Und so machen sie ihn.

Den Titel „Schmuckstadt“ hatte Hanau schon viel früher, als es noch viele reiche und zugleich vornehme Leute gab. Wenn sie während ihres Urlaubs in den Taunusbädern residierten, bekamen die Damen Schmuck aus Hanau. Wenn die russische Zarenfamilie Verwandtschaftsbesuche in Darmstadt oder Bad Homburg machte, hatten die Hanauer Goldschmiede alle Hände voll zu tun.

Der französische Einfluß konnte nie die einheimische Eigenart überschwemmen. Mitte des 18. Jahrhunderts begann auch der Aufschwung der Silberschmiede. Der Silberschmied August Schleißner, der in Paris gelernt hatte, brachte Hanau den typischen Stil: handgeschlagenes, getriebenes, reich ornamentiertes Silberzeug. Individualismus gegen Industrialisierung war seine Maxime. Sie trifft für Hanau noch immer zu.

 

Kaiserbesuch 1612

Am 10. Januar 1612 ist Rudolf gestorben, der Kaiser des deutschen Reiches römischer Nation. Am Montag, dem 11. Mai 1612, ist in Frankfurt am Main von den Kurfürsten und Fürsten ein Wahltag abgehalten worden und am 3. Juni Herzog Mathias, König in Ungarn und Böhmen, zum Kaiser des deutschen Reiches römischer Nation gewählt worden. Am Sonntag, dem 14. Juni ist er in der Pfarr- und Stiftskirche St. Bartholomäus in Frankfurt gekrönt worden.

Am Dienstag, dem 23. des Monats ist Kaiser Mathias mit seiner Frau Anna durch die Altstadt und Neustadt von Hanau gereist. Dabei hat er so viele Wagen, Kutschen und Pferde und Fußvolk bei sich gehabt, daß es von 9 Uhr bis 10 Uhr gedauert hat, bis sie alle hier durch kommen sind. Das Mittagsmahl haben sie in der Neustadt gehalten in der Gaststätte, „Goldene Krone“.

Der Herausgeber des Hanauischen Magazins schreibt dazu, das Haus „W. K.“ (es steht aber eindeutig „G.K.“ dort) sei die am Neustädter Markt gelegene sogenannte „Goldene Schwanen-Apotheke“ gewesen und man finde dort noch Merkmale, daß der besagte Kaiser dort eingekehrt ist und Tafel gehalten hat. Dann wäre die Apotheke früher ein Gasthaus gewesen; zumindest gab es in der Neustadt einen „Kronenwirt“ (Chronik Appel).

 

Wilhelm V. 1627 bis 1637 und Amalie Elisabeth 1637 bis 1651

Landgraf Wilhelm der V., genannt der Beständige, hatte von seinem Vater Moritz nach dessen Abdankung 1627 ein wirtschaftlich ruiniertes, total verschuldetes, militärisch besiegtes und damit politisch bedeutungsloses Land übernommen. Wilhelms diplomatische und militärische Fähigkeit brachte Hessen wieder politische Anerkennung, nicht zuletzt durch Bündnisse mit Schweden und Frankreich gegen den katholischen Kaiser und dessen Verbündete.“

Wilhelm V. steht nicht nur aus historischer Perspektive im Schatten seiner Frau Amalia Elisabeth. Er wird auch noch in ihrer Heimat verkannt, gerade da, wo er gerechterweise als Befreier gefeiert werden sollte, eben in Hanau. Unter anderem entsetzte Wilhelm mit seinem Heer am 13. Juni 1636 in Verbindung mit schwedischen Truppen unter General Lesle die von dem kaiserlichen General Lamboy seit September 1635 belagerte und mit Flüchtlingen aus dem Umland überfüllte Festungsstadt Hanau. Während der Belagerung waren 22.000 Menschen innerhalb der Bastionen umgekommen, überwiegend durch Hunger und die Pest.

Guillaume Baron de Lamboy war Mitunterzeichner des 1. Pilsener Revers, sagte sich wenig später von Wallenstein ab, wurde zum Generalquartiermeister ernannt und 1634 in den Reichsfreiherrnstand erhoben (Ein Stahlstich aus dem 17. Jahrhundert findet sich bei Martin Hoppe, Objekt der Woche, #10).

 

Amalie Elisabeth von Hanau-Münzenberg, Landgräfin von Hessen-Kassel, war eine schillernde Persönlichkeit. Das jedenfalls läßt sich mit Gewißheit sagen zu der Frau, die am 29. Januar 1602 im Hanauer Stadtschloss geboren wurde als Tochter des Grafen Philipp Ludwig II. von Hanau-Münzenberg und seiner Gemahlin Katharina Belgica. Am bekanntesten dürfte in Hanau die      Ameliastraße im Norden Hanaus sein.

Ihre Biographie liest sich auch wie eine Kurzfassung des 30jährigen Krieges. Bereits mit 15 Jahren wird Amalia Elisabeth mit dem böhmischen Großgrundbesitzer Smiricki verlobt, ,,nachdem ihre Schwester ihre Verlobung mit diesem gelöst und eine Ehe abgelehnt hatte“. Smiricky ist 1618 „einer der sechs Defenestranten“ beim sogenannten Prager Fenstersturz gewesen und hingerichtet worden.

Ein Jahr später heiratete Amalie den gleichaltrigen Landgrafen Wilhelm V. von Hessen-Kassel. Die Ehe ist glücklich gewesen, wovon zwölf Geburten in 15 Jahren zeugten. Doch der Landgraf stirbt 1637, nachdem er auf Bitten seiner Frau am 13. Juni 1636 mit einem hessisch-schwedi­schen Heer Hanau vom kaiserlichen General Lamboy befreit hatte. Nach ihrer Rückkehr 1638 wurde sie zur „Großen hessischen Landgräfin“. Sie führte bis 1650 die Geschäfte für ihren noch nicht volljährigen Sohn Wilhelm VI. Dabei hat sie auch das relativ kleine, aber schlagkräftige und deshalb in ganz Europa gleichermaßen gefürchtete wie begehrte Heer übernommen.

Der Tod des Landgrafen hatte Kaiser Ferdinand hoffen lassen, daß seine Witwe Amalie nun den Frieden anstreben würde. Er hatte seine Rechnung ohne die unbezähmbare Persönlichkeit der Landgräfin gemacht, eine Frau von ungeheurer Entschlossenheit und hohem Verstand. Sie hatte auch ihre Grundsätze. Sie war eine begeisterte Calvinistin, aufrecht und glaubenstreu; sie hegte auch ein starkes dynastisches Gefühl und hielt es für ihre Pflicht, den Besitz ihres Gemahles ihrem Sohn nicht um einen Viertelmorgen Landes vermindert, sondern wenn möglich vergrößert zu hinterlassen.

Die Landgräfin war maßgeblich am Zustandekommen des Westfälischen Friedens beteiligt. Sie

konnte neben der Anerkennung des Protestantismus in Hessen (mit Gleichstellung von Reformierten und Lutheranern) und etlichem Landgewinn zudem die Anwartschaft auf Hanau als Erfolg verbuchen: Mit einem familiären Erbvertrag von 1645 hatte sie das Recht der Primogenitur für ihre Nachkommen gesichert, wodurch - sozusagen als segensreiche Spätfolge nach dem Aussterben der Hanauer Linie - im Jahre 1736 die Grafschaft Hanau-Münzenberg komplett an Hessen-Kassel fiel. Am 20. September 1650 dankte Amalie Elisabeth ab und übergab die Regierung ihrem Sohn Wilhelm VI. Keine 50 Jahre alt, ist sie am 8. August 1651 in Kassel gestorben.

 

Brustbilder von L. Schnell nach einer Zeichnung von M. Müller aus der Zeit um 1800 „Wilhelm V. und Amalie von Hessen-Kassel“ befinden sich in der Landeskundliche Abteilung der Stadtbibliothek (vgl. Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 64).  Ein Deckengmälde Friedrich Hausmanns von 1880 ist in der Bibliothek von Schloß Philippsruhe zu sehen.

 

 Dr. Eckhard Meise, Historiker und Ehrenvorsitzende des Hanauer Geschichtsvereins 1844, nennt sie unverblümt „eine Kriegstreiberin“. Er beharrt auf diesem Urteil auch gegen Angriffe aus einem eher feministisch geprägten Lager, das in Amalie eine starke, emanzipierte Frau sieht, deren Verdienste und geschichtliche Bedeutung von der nachfolgend beherrschenden Männerwelt entweder kleingeschrieben oder gar schlicht verdrängt und verschwiegen worden sei - durch die Jahrhunderte bis heute.

In jüngster Zeit indes beschäftigt man sich wieder mit der aus grauer Vorzeit matt herüberschim­mern­den Herrscherin. Was unter anderem mit Jubiläen zu tun hat: 1997 war die 400 Jahre zurück liegende Gründung der Hanauer Neustadt durch Graf Phillip Ludwig II. zu feiern. Im 2003 gedenkt die Brüder-Grimm-Stadt sowohl, der Verleihung von Stadt- und Marktrechten vor 700 Jahren - also der eigentlichen Altstadt- „Geburt“ am 2. Februar 1303 - als auch der so genannten „Judenstättigkeit“, mit der wiederum Graf Phillip Ludwig II. - vor 400 Jahren (am 28. Dezember 1603) eine Neuansiedelung von Juden in Hanau ermöglicht hatte.

Die Büste der Katharina Belgica steht in der „Walhalla“ über Donaustauf bei Regensburg. Damit sei sie eine der drei oder vier Frauen - unter 120 „rühmlich ausgezeichneten teutschen Männern“ - neben der österreichischen Kaiserin Maria Theresia und der russischen Zarin Katharina der Großen. Friedrich Schiller sagte von ihr: „Sie war durch eine liebenswürdige Bildung und durch die Grazie ihrer Sitten die Zierde ihres Geschlechts, durch häusliche Tugenden das Muster eines guten Weibes, durch Weisheit, Standhaftigkeit, durch Verstand und Mut eine große Fürstin.“

Das alles sei überhaupt kein ernsthafter Widerspruch, kontert Eckhard Meise aktuell. Niemand zweifle an der persönlichen Größe und dem politischen Gewicht der Hanauerin. Aber sie habe nun mal nachweislich dazu beigetragen, daß jener große Krieg in der Hälfte des 17. Jahrhunderts dermaßen verlängert worden sei: „Sie war eine bedeutende Frau, aber aus heutiger Sicht etwas kritisch, wie gesagt, eine Kriegstreiberin.“

Sie eroberte das Land zurück und erwarb durch Umsicht und Tatkraft beträchtliche Gebiete. Sie setzte im Westfälischen Frieden die reichsrechtliche Anerkennung des reformierten Bekenntnisses durch.

Daß Amalie Elisabeth sich den Forderungen des Kaisers widersetzte, hatte auch mit Erbstreitigkeiten zwischen den hessischen Linien Kassel und Darmstadt um einen Teil Oberhessens mit Marburg zu tun. Sie hielt den Kaiser mit falschen Versprechungen hin, schloß 1639/1640 Verträge mit Frankreich, Schweden, Braunschweig-Lüneburg und trat trotz schärfster Proteste in der eigenen Heimat in den Krieg ein. So gesehen hat sich durch die Jahrhunderte bis heute durchaus nichts geändert an der Willkür der Machthabenden.

In den Folgejahren kaufte sich die Herrscherin in ganz Deutschland zwölf Rechtsgutachten zusammen, benutzte diese zur Rechtfertigung ihrer Begehrlichkeiten und eröffnete am 6. März 1645 auch noch den so genannten „Hessenkrieg“ um das Marburger Erbe, das sie den Darmstädter Verwandten (als Lutheraner übrigens sowieso schon zu Gegnern erklärt) schließlich abjagen konnte. Mit dem Westfälischen Frieden vom 14. Oktober 1648 wurde dann nicht nur der Dreißigjährige Krieg beendet, sondern auch der schon ein halbes Jahr zuvor vereinbarte Einigungs- und Friedensvertrag zwischen den rivalisierenden Bruder-Häusern Kassel und Darmstadt sanktioniert, womit dann auch der Hessenkrieg vorbei war.

 

Karl Wilhelm Justi gilt als der eigentliche Biograph der Landgräfin, auf den sich wiederum andere Historiker nach ihm berufen. Beispielsweise Dr. Karl Siebert anno 1919 in seinem Beitrag „Hanauer Biographien aus drei Jahrhunderten“ der Festschrift zum 75jährigen Bestehen des Hanauer Geschichtsvereins. Siebert skizziert die Lebensgeschichte unserer Heldin in einem etwas altbackenen, aber durchaus genießbaren Stil. Er macht aus seiner Verehrung kein Hehl und bleibt durchwegs in der unkritisch devoten Haltung des Untertanen. „In der Reihe tatkräftiger und geistig bedeutender Frauen, an denen Deutschland im 17. Jahrhundert nicht arm war, zählt wohl mit zu den ersten die Landgräfin von Hessen-Kassel, Amelia Elisabeth“, schrieb der Chronist (wohl gemerkt, ein Mann). Und selbst noch die zarteste Andeutung dahingehend, auch die Fürstin wäre nicht ganz ohne Fehl und Tadel gewesen, wird in einer Phrase verpackt und ohne Inhalt belassen: „Klar und bestimmt handelte sie. und traf in ihren Anordnungen fast immer das Richtige.“

Auffallend ist die kleine Lautverschiebung im ersten Vornamen. In der Reihe tatkräftiger und geistig bedeutender Frauen zählt wohl mit zu den ersten die Landgräfin von Hessen-Kassel, Amalia Elisabeth“, heißt es in Karl Sieberts Einleitung. Er nennt sie also nicht „Amalie“, wie von Carl Wilhelm Justi überliefert, sonder „Amalia“ - und fixiert diese Schreibweise sozusagen schlußendlich für die Annalen ihrer Geburtsstadt Hanau. Die erinnert sich ihrer großen Tochter - immerhin wenigstens das - mit der Benennung einer Straße nach ihr in Sieberts Schreibweise: „Amaliastraße“.

 

Dreißigjähriger Krieg 1618 bis 1648

Die Befestigungen der neuen Stadt waren gerade vollendet, als der 30jährige Krieg ausbrach. Hanau wurde in den ersten Jahren nur wenig vom Kriege berührt, während das platte Land schon darunter zu leiden hatte. Katharina Belgica, die Witwe des 1612 verstorbenen Grafen begab sich selbst nach Kreuznach zum spanischen Truppenbefehlshaber, um Schonung für ihr Land zu erbitten, wenngleich die starken Befestigungen Hanaus der Stadt und Bevölkerung Schutz und Sicherheit boten.

Hanau, ein wichtiger Platz, der die Straße vom Rhein ins Frankenland beherrschte, erschien dem Kaiser Ferdinand begehrenswert. Am 1. November 1629 wurde der inzwischen an die Macht gekommene Sohn des Grafen, Moritz, aufgefordert, eine kaiserliche Besatzung aufzunehmen. Nachdem er sich zunächst geweigert hatte und nach einer dreimonatigen Belagerung bot er sich aber an, in kaiserliche Dienste zu treten und drei Kompagnien Fußvolk zu werben. Nach Ableistung des Treueides wurde er zum Oberst und Kommandanten von Hanau ernannt.

Durch die Landung des Schwedenkönigs Gustav Adolf und dessen siegreiches Vordringen für die protestantischen Waffen nahmen die Dinge eine Wendung. Gustav Adolf hatte Deutschland im Siegeszug durcheilt, Tilly bei Breitenfeld besiegt, Bamberg und Würzburg eingenommen und schickte sich an, auf Frankfurt zu ziehen. Es mußte ihm viel daran gelegen sein, sich zuvor der Stadt und Festung Hanau zu bemächtigen.

Am 31. Oktober 1631 sandte er Oberstleutnant Huwald mit 6 Kompagnien Reitern und 500 auserlesenen Dragonern ab, um sich Hanaus durch einen Überfall zu bemächtigen. Sie setzten hinter dem Schloß über die Kinzig, erstiegen den Wall, öffneten das Schloßtor mit einer Petarde und drängen in die Altstadt ein, wo es in der Metzgergasse zu einem Gefecht kam. Trotz der strengen Manneszucht der schwedischen Truppen kamen Plünderungen vor.

Sodann rückten die Schweden in die Neustadt vor, nahmen den kaiserlichen Obristleutnant Bran­dis gefangen und nötigten die ihres Führers beraubten Truppen zur Waffenniederlegung. Huwald war schon am 29. Oktober von Gustav Adolf, der an dem Gelingen des Unternehmens nicht zweifelte, zum Kommandanten von Hanau ernannt worden. Am 15. November kam Gustav Adolf selbst über Steinheim nach Hanau und speiste im Schloß bei dem Grafen zu Mittag.

Der neue Kommandant Huwald ließ es sich vor allem angelegen sein, die Festungswerke zu verstärken, wobei die Kirche vom Kinzdorf und der daselbst befindliche Friedhof zum Opfer fielen. Hecken und Bäume um die Stadt wurden ebenfalls entfernt, was sich als notwendig erwiesen hatte.

Gustav Adolf fiel in der Schlacht bei Lützen. Mit seinem Tode wendete sich auch das Glück der schwedischen Waffen. Die unglückliche Schlacht bei Nördlingen am 4. September 1634 zwang Bernhard von Sachsen-Weimar, sich nach dem Rhein zurückzuziehen. Ihm folgten wie eine Herde blutgieriger Wölfe die raub- und mordlustigen Scharen der Kaiserlichen. Die letzten Tage des Septembers waren es, wo die meisten Dörfer des Hanauer Landes in Flammen aufgingen. Die Einwohner fluteten, um nur das nackte Leben zu retten, hinter die Mauern der Stadt.

Über die Greuel der Verwüstung, die Kroaten und Polacken in den blühendsten Gefilden der Wetterau anrichteten, berichtet Pfarrer und Superintendent Oräus: „Allerorten, wo sie hinkamen (nämlich die Kaiserlichen) erfüllten sie Himmel, Luft und Erde mit Feuer, Rauch, Dampf, Glut, Mord, Schand und Brand, Leid und Geschrei, daß es in den Wolken erscholl und nicht ärger hätte gemacht und erhört werden können. Fast kein Ort blieb ganz stehen, Mensch durfte sich sehen lassen. In Summa, das Land vor ihnen wie eine lustige Aue oder wie ein Paradies, nach ihnen eine wilde wüste Einöde.“

Um Hanau unter allen Umständen zu halten, ernannte Bernhard von Sachsen-Weimar am 15. September 1634 Jacob Ramsay zum Kommandanten von Hanau, den Mann, der mit seltener Umsicht, Tapferkeit und Ausdauer Hanau neun Monate lang gegen den Feind verteidigte und neben Landgraf Wilhelm V. von Hessen der Retter Hanaus genannt werden kann.

Jacob Ramsay war ein Schotte, 1589 geboren, diente zuerst in England, kam 1630 mit General Hamilton nach Deutschland und nahm als Oberst schwedische Dienste, in denen er nach der Schlacht bei Breitenfeld zum General aufstieg. Er brachte zwei Kompagnien Schotten mit. Die übrige Besatzung bestand aus dem Burgdorfschen blauen Regiment, zwei Kompagnien hessischer Reiter und einer von Graf Jacob Johann geworbenen Reiterschar. Mit ihnen versahen den Wachdienst auf den Wällen die bewaffnete Bürgerschaft und der Ausschuß vom Lande.

Kurz vor der Belagerung wurden auf Antrag des Bürgermeisters van der Velde neben den Bandwebern, Tuchmachern und Junggesellen auch die Bauern und die Handwerksgesellen bewaffnet. Philipp Moritz reiste am 1. September 1634, um der Kriegsgefahr zu entgehen, mit seiner Familie erst nach Metz dann nach Holland, nachdem er seinem Bruder Johann Jacob die Regierung übertragen hatte.

Bevor die Stadt von den Kaiserlichen eingeschlossen wurde, machte die Besatzung mehrere glückliche Streifzüge, teils um Proviant zu holen, teils auch, um den Kaiserlichen Schaden zuzufügen, wobei sich Graf Jacob Johann auszeichnete. In der Neujahrsnacht 1635 überfiel derselbe mit drei Schwadronen Reitern und 150 Musketieren die Kaiserlichen in Alzenau, wo 800 Pferde mit Sattel und Zeug erbeutete und viele Gefangene machte. Am 14. Mai überfiel Graf Jacob Johann in Staden ein Regiment Kroaten, wobei er mit reicher Beute und Gefangenen zurückkam. Von den Kaiserlichen fast bis an die Tore Hanaus erfolglos verfolgt, zündeten diese aus Rache die Orte Eichen und Ostheim an. Am 20. Mai unternahm die Besatzung einen Streifzug nach Gelnhausen, wobei der Oberst Hasenbein und Gemahlin sowie Offiziere und Mannschaften gefangen wurden. Außer acht Standarten wurden eine Menge Pferde und Waffen sowie die ganze Bagage von elf Kompagnien erbeutet. Bei einem vierten Streifzug nach Orb und Salmünster brachten die Schweden 80 Stück Vieh, 600 Malter Korn sowie viele andere Lebensmittel als Beute nach Hanau zurück.

Die reiche Ernte des Jahres 1635 suchte der kaiserliche Oberst Götz, der mit drei Regimentern Kavallerie in der Umgebung lag, zu verhindern. In den Gemarkungen Kesselstadt, Dörnigheim und Hochstadt ließ er das Getreide anstecken oder durch Hin- und Her­reiten schleifen. Bei einem scharfen Gefecht am Siechenhaus wurde Graf Johann verwundet. Kurz darauf verließ er die Stadt und fiel am 15. Juni 1636 beim Sturm auf Zabern im Elsaß.

Trotz allem gelang es der Bürgerschaft, unter dem Schutz der Besatzung viele Wagen voll Frucht und Heu aus dem Hanauer und Steinheimer Feld in die Stadt einzubringen, so daß im Anfang der Belagerung in der Stadt keine Not herrschte, obwohl die Einwohnerzahl durch das herein geflüchtete Landvolk weit über das Doppelte betrug. Dank der Fürsorge des Kommandanten waren aber selbst während der Besatzung die Getreide- und Brotpreise in Hanau niedriger als in Frankfurt. Durch das Zusammensein so vieler Menschen brach aber schon im Sommer 1635 in Hanau die Pest aus, an der monatlich 70 bis 80 Menschen starben. Die Zahl der Verzehrer wurde dadurch geringer war, die Vorräte reichten länger aus. Fremde Bettler und Flüchtlinge - Glaubensgenossen ausgenommen - bekamen ein Stück Brot und wurden ausgewiesen.

Mit dem Beginn des Monats September wurde die Stadt durch den kaiserlichen Oberst Götz enger eingeschlossen. Die eigentliche Belagerung begann aber erst mit dem Eintreffen des Generals Lamboy im November 1635. Er umgab die Stadt mit einer Reihe von Schanzen, die zum Teil durch Laufgräben miteinander verbunden waren. Es bestanden: Die Hauptschanze auf der jetzigen Rosenau, die Blutschanze an der krummen Kinzig, die Stahl- oder Kieselschanze auf dem neuen Friedhof, die Galgenschanze zwischen dem alten Auheimer Weg und dem Hauptbahnhof, die Mainschanze, das Storchennest an der Lamboybrücke über die Kinzig und die Sternschanze im Mühlloch nächst des Wehres.

Lamboy nahm sein Hauptquartier im Steinheimer Schloß und schlug eine Brücke über den Main und eine zweite an der Stelle der nach ihm genannten Lamboybrücke über die Kinzig. Das kaiserliche Lager befand sich nordwestlich Kesselstadt zwischen Kastanienallee und der sogenannten Lache, dem Flutgraben, der den Salisberg von Kesselstadt scheidet. Mit wechselndem Glück suchten die Belagerten die feindlichen Schanzen zu zerstören. Aber was sie heute zerstörten, wurde morgen wieder aufgebaut. Bei diesen Ausfällen floß auf beiden Seiten viel Blut, auch wurde General Lamboy in einem der Gefechte am Munde verwundet.

Im Frühjahr gelang es General Ramsay, zwei für die Frankfurter Messe bestimmte Schiffe mit Lebensmitteln und Kaufmannswaren im Wert von 90.000 Gulden zu nehmen und ihre Ladung in die Stadt zu bringen. Zwei weitere Schiffe mit Speck, Tauwerk und Kugeln für die Belagerer konnten ebenfalls gekapert werden.

Zum Glück fehlte es Lamboy an schwerem Geschütz, um Bresche in die Wälle zu legen. Dagegen ängstigte er von Dezember an die Stadt durch Einwerfen von Bettelsäcken mit Pulver, Blei und Eisenstücken gefüllte Geschosse, die aus Mörsern geworfen wurden, aber wenig Schaden anrichteten. Mit dem eintretenden Frost wurde befürchtet, daß der Feind über die zugefrorenen Stadtgräben eindringen könnte, weshalb Bürger und Bauern verschiedene Male zum Aufeisen der Stadtgräben aufgeboten wurden.

So sorgsam man mit den Lebensmittelvorräten umging, so trat doch allmählich ein Mangel ein, besonders bei den Landleuten, die in die Stadt flüchteten und ihr mitgebrachtes Vieh aus Futtermangel nicht mehr erhalten konnten, getötet und verzehrt hatten. Die Not war so groß, daß man sich um das Fleisch der bei einem Ausfall getöteten Pferde riß. Hunde- und Eselsfleisch wurde auf dem Markt angeboten, Katzen als Wildpret verspeist. Bei vielen Armen bildeten ein Brei von Kleie und Kräutern, ohne Salz und Schmalz gekocht, fast noch die einzige Nahrung. Hierdurch entstanden neue Krankheiten, besonders die rote Ruhr und der Skorbut, woran viele starben.

 

Die Zahl der während der Belagerung Gestorbenen wird auf 12.000 geschätzt. Doch nicht nur die Armen litten entsetzlich unter der Not der Belagerung, sondern auch die Wohlhabenden, die in der Lage waren, für Vorrat zu sorgen, erlagen dem Druck, den der Unterhalt der Besetzung auf sie ausübte. Die gräfliche Kasse war völlig leer, da ja das Land im Besitz der kaiserlichen Truppen war. Deshalb mußten die beiden Städte, Alt- und Neu-Hanau, den Sold für die Truppen sowohl als auch die Kosten für den Unterhalt derselben aufbringen. Da die meisten Bürger die auf sie angeschlagenen Beiträge nicht mehr zahlen konnten, nahm man ein Anlehen nach dem anderen bei den reichen Bürgern auf.

Als auch diese Hilfsmittel erschöpft waren und Oberst von Burgs­dorf auf den rückständigen Sold drückte und mit Gewaltmaßnahmen gedroht wurde, schenkte man General Ramsay eine goldene Kette im Wert von 150 Reichstalern. Nun drohten aber die Soldaten mit Plünderung, als ihnen die Bürger auf Befehl des Rates die Kost nicht mehr verabfolgten. Ramsay konnte das zuchtlose Kriegsvolk nur durch die äußerste Strenge im Zaume halten. Um das Pulver zu sparen, hatte er alles Schießen in der Stadt, ja selbst das unnötige Schießen auf den Feind verboten, worüber sogar die Soldaten spotteten. Bürger wie Soldaten waren von dem anhaltenden Wachtdienst ganz erschöpft. Hinzu kam noch daß die feindlichen Posten die Soldaten der Besatzung zum Verrat zu locken versuchten. Der Feind war seines Sieges schon so gewiß, daß die Offiziere die schönsten Häuser der Stadt bereits unter sich verteilt hatten.

Vom Januar an pflog man Unterhandlungen mit dem Feind wegen der Übergabe: Die gräflichen Diener und der Rat, um der Stadt die Greuel einer Erstürmung zu ersparen. Ramsay, um Zeit zu gewinnen. Allein sie scheiterten an der Hartnäckigkeit Lamboys, der eine Übergabe auf Gnade und Ungnade verlangte. Die Sage, daß Lamboy die Parlamentäre gegen alles Kriegsrecht habe aufhängen lassen, ist unbegründet. Eine Nachricht erzählt, Lamboy habe Ramsay während der Unterhandlung ein fettes Schwein zum Geschenk gemacht, welches dieser durch die Übersendung eines Zentners Karpfen erwidert habe.

Die Lage der Stadt wurde indessen immer bedenklicher. Kaum reichte die immer mehr zusammenschmelzende Zahl der Verteidiger noch hin, die Wälle zu besetzen, geschweige denn einen etwaigen Sturm abzuschlagen. Man schickte deshalb Boten an den Landgrafen Wilhelm von Hessen, des Grafen Schwager, die sich durch die feindlichen Linien durchschlichen und dringend um Hilfe baten. Einer derselben war Kaspar Trickel von Neu-Hanau, genannt der kleine Heinrich, ein anderer, ein Mann von Langendiebach namens Konradi.

Wilhelms Gemahlin, Amalie Elisabeth, drängte den Landgrafen, ihrer bedrohten Vaterstadt zu Hilfe zu eilen. Wilhelm zauderte anfänglich, da er mit dem Kaiser in Friedensverhandlungen stand. Endlich siegte Amaliens Fürsprache. Er ließ dem Kaiser durch einen Trompeter den Waffenstillstand aufkündigen und brach, mit dem schwedischen General Lesle an der Spitze von 6.000 Mann zu Roß und zu Fuß und 30 Geschützen von Kassel auf. Am 12. Juni traf er in Windecken ein. Es war hohe Zeit, denn Lamboy erwartete in wenigen Tagen beträchtliche Verstärkungen von Fulda und aus der Pfalz und beabsichtigte bei deren Eintreffen zum Sturm zu schreiten.

Von der Höhe des Wartbaums wurde den Bewohnern Hanaus durch Kanonenschüsse das Zeichen gegeben, daß Rettung nahe. Die Belagerten antworteten durch einige Schüsse aus der Frankfurter Tor-Bastion:

Als die Nacht hereinbrach, wurden auf dem Schloßturm Fackeln angezündet. Von den Wällen und Türmen sah man bei Tagesanbruch eine lebhafte Bewegung in den Werken des Feindes. Die Schanzen wurden stärker besetzt, das Lager bei Kesselstadt abgebrochen und das Gepäck durch die dem Schloß Philippsruhe gegenüber befindliche Furt nach Steinheim befördert.

In der Frühe des 13. Juni begann der Kampf im Bruchköbeler Wald. Am Wartbäumchen hatte Landgraf Wilhelm die übliche Morgenandacht gehalten. Als er sie beendet hatte, soll der Sage nach ein heller Strahl in ein nahes Kornfeld niedergefahren sein, den er seinen Soldaten als göttlichen Wink deutete, daß Gott ihrer gerechten Sache den Sieg geben würde. Zum Andenken habe er den Blitztaler prägen lassen, der auf der einen Seite sein Brustbild und auf der anderen Seite eine vom Blitz getroffene Weizengarbe mit der Inschrift zeigte: „JEHOVA VOLENTE HUNILIS LEVABOR“, zu deutsch: „Wenn Gott will, so werde ich aus meiner Niedrigkeit erhöht werden.“

Schon um 12 Uhr konnte Landgraf Wilhelm V. unter dem Glockengeläute und Jubel der Einwohner an der Spitze seines Gefolges durch das Nürnberger Tor in die von ihm befreite Stadt einziehen. Sein erster Gang war in die Marienkirche, wo er Gott für das soweit gelungene Werk dankte.

Dem einrückenden Heer folgten sogleich einige hundert Wagen mit Brot, Mehl und anderen Lebensmitteln, eine große Menge Schlachtvieh, wodurch dem Hunger der Überlebenden mit einem Male ein Ende gemacht wurde. Im Laufe des Nachmittags sowohl wie am darauffolgenden Tage wurde der Rest der Schanzen angegriffen und genommen. Was das Schicksal der Stadt bei der damaligen grausamen Kriegsführung gewesen wäre, wenn die Rettung nicht zur rechten Zeit erfolgt wäre, sei an dem der Stadt Magdeburg zu erkennen. Ohne Hilfe Landgraf Wilhelms V. wäre nicht nur der blühende Wohlstand Hanaus auf lange Sicht zerstört, sondern auch, da der Graf sich in Reichsacht befand, das Hanauer Land kaiserlich und der evangelischen Religionsfreiheit beraubt worden.

 

Lamboyfest:

Als Dank für die Befreiung wurde am 22. Juni ein Buß- und Danktag abgehalten. Dieser wurde bald für immer auf den 13. Juni. den Tag der glorreichen Befreiung Hanaus verlegt. Zunächst als Buß- und Danktag gefeiert, kam der 13. Juni nach und nach in die Reihe der größeren Feste. Durch die schöne Jahreszeit begünstigt, die zu einem Ausflug ins Freie, zu einer Feier im Walde einlud, begann das Volk, zumal die strenge Bußfeier an diesem Tage fortfiel, denselben als Tag des Vergnügens und der Erholung zu begehen.

Die Anfänge des Volksfestes fallen in das Jahr 1793, als damals sich eine Anzahl Damen und Herren zu einem Spaziergang zusammenfanden und die Gelegenheit zum Tanze benutzten, wobei ein zufällig des Weges daherkommender Leierkastenmann mit seiner Orgel aufspielte. Durch einen etwas erweiterten Kreis fand im folgenden Jahre eine Wiederholung dieses ersten Ausfluges statt. Man trank, tanzte, spielte und sang und kehrte spät abends unter Musikbegleitung in die Stadt zurück. Man hatte an dem Fest einen solchen Gefallen, daß man sich nicht mit einem Tage allein begnügen wollte, sondern noch eine Vorfeier hinzufügte. Allgemein hatte der Wettergott ein Einsehen, und bei herrlichem Sonnenschein zog dann am Festtag eine wahre Völkerwanderung hinaus in den Wald, wo zur Belustigung und Bewirtung der sich stets einfindenden, unübersehbaren Scharen schon längst die nötigen Vorbereitungen getroffen waren.

Familien, Vereine und die sich hier zusammenfindenden Bekannten hatten meist ihre Plätze im Walde belegt, Speisen und Getränke wurden reichlich in Schließkörben hinausgeschafft, nicht nur zum eigenen Gebrauch, sondern auch um weitgehende Gastfreundschaft beweisen zu können. Bald bemächtigte sich der Gruppen der Geist der Behaglichkeit, harmloser Fröhlichkeit und Ausgelassenheit, der von Tisch zu Tisch überspringend, die anfangs außer Zusammenhang stehenden Teile des Ganzen miteinander vereinte und vermengte.

Ein buntes Leben und Treiben herrschte zwischen den Spiel- und Kaufbuden, ohrenbetäubender Lärm, aufwirbelnder Staub, vieltausendfaches Stimmengewirr, hervorgerufen durch das Jauchzen und Lärmen des Volkes, das an diesem Tage der Ausgelassenheit bis zur Erschöpfung huldigte. Wandernde Musikkapellen, Künstler mit Ziehharmonika- und Orgelspieler wetteiferten miteinander in der Darbietung ihrer Leistungen. Schon bei Dunkelheit bot das Bild einen wunderbaren Anblick. Zahlreiche Lichter schimmerten durch das Dunkel, der Lärm und das Getöse von Hunderten von Musikinstrumenten und des Volkes selbst, das sich in Gesangsdarbietungen übertreffen wollte, dies alles hinterließ bei jedem Festteilnehmer den Eindruck, daß heute Hanaus höchster Festtag und er auch in Zukunft zu halten sei.

Das Fest müßte eigentlich „Lamboybrückenwaldfest“ genannt werden, weil der kaiserliche General Wilhelm von Lamboy im Dreißigjährigen Krieg an einer Brücke in der Bulau sein Lager hatte. An ihm wurde einst zu Tausenden Radonekuche und Laubfrösch“: mit in den „Lambewald“ ) geschleppt und verspeist. Das Rezept wurde von Elisabeth Klarin in ihrem 1828 in der Edlerschen Buchhandlung Hanau erschienenen Kochbüchlein niedergeschrieben. Der bibliophile Schatz im Kleinformat von 9 x 14 cm mit preiswerten Gerichten für alle Stände ist in mehreren Auflagen in der landeskundlichen Abteilung Hanau-Hessen der Stadtbibliothek im Kulturforum einzusehen (Näheres in Martin Hoppe,. Objekt der Woche, #165). Das Titelkupfer der zweiten Auflage stellt eine für damalige Zeiten hochmoderne Küche vor, mit zum Beispiel einem Spaar-Herd, der es ermöglicht, durch die Einlage von gusseisernen Ringen, um unterschiedliche Topfgrößen aufzusetzen, und das ovale Loch mit einem ovalen Topf, um beständig warmes Wasser zu haben, Wasserschiff genannt

 

Im Laufe der Jahre ließ der Besuch des Festes aber immer mehr nach. Als Ursache dafür hat man die Randlage des Festplatzes weit draußen vor der Stadt ausgemacht. Deshalb verlegte man das Fest 1986 auf den Freiheitsplatz, seit 2003 zum 700-jährigen Jubiläum der Hanauer Stadtrechte wird es in der Altstadt gefeiert. Das Fest heißt bis heute nicht nach dem Namen des Befreiers, sondern nach dem des Belagerers - „Lamboyfest“

 

Im Jahre 1996 entstand eine Gegenveranstaltung an alter Stelle. Aber das historische Festareal war weitgehend Gewerbeansiedlungen zum Opfer gefallen. aber auch der Platz, wo bis 2000 das „Original Lambewaldfest“ veranstaltet wurde, ist wurde Großparkplatz der Landesgartenschau.

„Das Lamboyfest ist tot, es lebe das Lamboyfest“ hieß es an einem Donnerstagnachmittag, dem 13. Juni 2002, für eine rund 200 Leute starke Feiergemeinschaft in einer Waldlichtung in der Bulau. Wider die Kommerzialisierung und Enthistorisierung beging man dort das Traditionsfest - seit sechs Jahren mit zunehmender Publikumszahl. Die Initiatoren, Mitglieder der Märteswein-Vereinigung, sparen nicht mit Kritik an der geplanten neuen Festkultur der Stadt.

Dicht besetzte Tische, die mit Kuchenblechen, Salatschüsseln, Brotkörben und anderen Behältnissen mit Speisen überladen sind, bilden einen großen Kreis. Der verbleibende freie Platz auf den Tischen der Festzeltgarnituren nahmen rasch Limonaden- und Biergläser ein. Strohhüte auf den Häuptern unterstrichen nach altväterlicher Sitte den Willen zum geselligen Beisammensein. Unabdingbares Mitbringsel war der „Ziehewagen“, auf dem Speisen, Getränke, Sitzgelegenheiten und anderes ins Wäldchen transportiert wurde.

Aber erst einmal war Feiern angesagt und das bedeutet beim „Lambewaldfest“ ein großes Miteinander. Jeder kann sich zu jedem setzen, auch wenn Vereine vor ihren Tischen mit aufgepflanzten Wimpeln und Wappen vermeintlich ein Hoheitsgebiet absteckten. Nichts ist organisiert. Ab 14 Uhr treffen die Ersten hier ein. Es gibt keinen Veranstalter. Kein Kommerz. Freßbuden und Fahrgeschäft sind absolut unerwünscht, der Bürgersinn belebt dieses Fest.

Bürgersinn bewiesen auch damals die Menschen von Hanau gegen den Belagerer Lamboy, der die Stadt Schlag neun Uhr einnehmen wollte. Dazu kam es nicht, weil die Turmuhr stumm blieb. Dafür gab es für die mutigen Hanauer vom Grafen Gulden und einen Humpen Wein (Ursprung der Märteswein-Vereinigung).

 

Hans Michael Moscherosch 1656 bis 1664

Ein interessanter Gast in Hanaus Mauern war der Satiriker Hans Michael Moscherosch, ein Zeitgenosse Johann Jakob Christoph von Grimmelshausen, des „Simplizissimus“-Dichters. Mosche­rosch versah in den Jahren 1656 bis 1664 die Stelle eines Rates und später des Präsidenten des Konsistoriums unter dem Grafen Friedrich Casimir von Hanau-Lichtenberg. Unter der Landgräfin Sophie von Hessen-Kassel, einer Schwester des Großen Kurfürsten, wurde er Geheimer Rat.

 

Das Kolonialunternehmen „Königreich Hanauisch-Indien“ 1669

Im Jahr 1669 wollte der Hanauer Graf Friedrich Casimir auf Anraten seines Ratgebers Dr. J. Joachim Becher durch Abschluß eines Vertrages mit der Niederländischen Westindischen Compagnie (Amsterdam) eine Kolonie in Südamerika erwerben. Allerdings blieb es damals nur bei dem Vertragsabschluß. Der Graf Friedrich Casimir konnte aus mancherlei Gründen die Bestimmungen des Vertrages nicht erfüllen und bot deshalb im Jahre 1672 durch Vermittlung des Prinzen Ruprecht von der Pfalz seine Anrechte auf die Kolonie Hanauisch-Indien dem britischen König Karl II. an. Die Verhandlungen endeten ergebnislos, und die ganze Angelegenheit verlief allmählich im Sand.

Erforscht hat diesen Vorgang Polizeidirektor a. D. Ferdinand Hahnzog aus Dörnigheim, Sohn eines ehemaligen Beamten der Pulverfabrik und Abiturient der Hohen Landesschule. Er unternahm eine Forschungs­fahrt in den Norden von Südamerika, in das Gebiet jener fragwürdigen Kolonie am Orinoco, um an Ort und Stelle in den Archiven weitere Forschungsarbeiten zu betreiben. Seine Erkundungsfahrt führte ihn also nach Niederländisch- und Französisch-Guayana. Er kam nunmehr nach einvierteljähriger Forschungsarbeit in Cajenne, Caracas. Surinam, Paramaribo und anderen Orten mit wertvollen Ergebnissen zurück.

 

Hanauer Buchdrucke des 17. und 18. Jahrhunderts

Erkennbar wird die Blütezeit des Hanauer Buchdrucks im frühen 17. Jahrhundert mit großen Folianten und bedeutenden wissenschaftlichen Werken. Im 18. Jahrhundert werden die Formate bescheidener, werden viele Gelegenheitsschriften und Auftragsarbeiten hergestellt. Am raschen Wechsel der Besitzer mancher Druckereien lassen sich auch die wirtschaftlichen Probleme erkennen. Die Bücher sind überwiegend in deutscher und lateinischer Sprache verfaßt, aber es gibt auch französische, ein niederländische, ein hebräische und griechisch-lateinische Bücher. Das Themenspektrum reicht von Theologie über Kirchengeschichte, Philosophie, Recht, Pädagogik, Geschichte bis hin zu Naturwissenschaft und Medizin.

Das älteste Buch stammt aus dem Jahr 1596. Besonderheiten der lokalen Geschichte sind die „Hanauische Kirchen-Disziplin- und Elstesten Ordnung“ von 1688, der Leichenzug der Gräfin Anna Magdalen, der Mutter der beiden letzten Hanauer Grafen aus dem Jahr 1691, die Geschichte der Neutadt Hanau, ebenfalls von 1691, die „Fürstlich Hessen-Hanauische Hof- und Ehe-Gericht-Ordnung“ von 1745 oder das Gesangbuch der Niederländischen Gemeinde von 1770 sowie der Stiftungs-Brief und das Gesetz der Hanauer Zeichen-Academie aus dem Jahr 1774.

 

„Hanauer Anzeiger“

Der „Hanauer Anzeiger“ ist die älteste deutsche Zeitung mit klassischer Vollredaktion und die achtälteste Zeitung in der Welt. Die frühen Zeitungen Europas, die in der Folge der Flugschriften des 16. Jahrhunderts entstanden, verstanden sich vorwiegend als politisch- philosophische Zeitungen, die auf lokale und regionale Belange nicht eingingen. Erst mit der Entstehung der Intelligenzblätter im frühen 18. Jahrhundert bildete sich eine lokale Presse heraus, die jedoch nur wenige redaktionelle Beiträge druckte. Vielleicht waren dies eher Anzeigenblätter, was sich oft schon im Titel niederschlug.

Im Jahre 1725 erteilte Graf Johann Reinhard von Hanau das Privileg für die „Wöchentlichen Hanauer Frag- und Anzeigungsnachrichten“, eine Zeitung, die auf vier Seiten „von allerhand, so wohll in allhiesigen beyden Staedten als auff dem Land zu kauffen und zu verkauffen, zu verleyhen und zu lehnen seyenden auch verlohmen, gefundenen und gestohlenen Sachen, so dann Personen, welche Geld lehnen oder ausleyhen wollen, Bedienungen oder Arbeit suchen, oder zu vergeben haben: Ingleichem denen in beyden Städten Copulirten, Getaufften und Gestorbenen, wie auch ankommenden Fremden und deren Einkehr“ berichtete.

Dieses Nachrichtenblatt wurde zur Keimzelle des „Hanauer Anzeiger“. Gedruckt wurde die neue Zeitung in Neu-Hanau bei dem Herrschaftl. Hoff-Buchdrucker Johann Jacob Beausang. Nachdem die Beausang’sche Druckerei einging, verlieh Landgraf Wilhelm VIII. im Jahre 1745 die Verlagsrechte an das Hochdeutsch- reformierte Waisenhaus in der Altstadt: Dies geschah in der Absicht, die ökonomische Situation dieser Einrichtung zu verbessern. Alsbald wurde die Zeitung auch in der waisenhauseigenen Druckerei hergestellt, die an der Hospitalstraße 36 untergebracht war. In der Schlacht bei Hanau am 30./31. Oktober 1813 brannte das Haus aus. Doch gelang es, die Druckerei schnell wieder in Betrieb zu nehmen. so daß das Blatt weiter erscheinen konnte. Im Jahr 1817 erwarb die Waisenhausstiftung das Anwesen Hammerstraße 9, ein weitläufiges Areal, auf dem Waisenhaus und Druckerei Platz fanden, bis man nach 2000 ins Industriegebiet an der Donaustraße umzog.

Der Zusammenschluß der Reformierten und der Lutherischen Waisenhausstiftung 1825 führte zum Verkauf der Altstadthäuser an der Hospitalstraße. So wurden Mittel frei, die für eine für damalige Verhältnisse moderne Druckerei eingesetzt wurden. Noch bis 1877 waren in dem Anwesen Hammerstraße die Waisenkinder untergebracht. Später fanden sie bei Familien in Hanau und dem Umland Aufnahme, so daß die Hammerstraße nunmehr alleine für die Druckerei und den Verlag genutzt werden konnte. Die Zeitung erschien jetzt werktäglich und trägt seitdem den Kopf „Hanauer Anzeiger“.

Nachdem man die Zeit des Ersten Weltkrieges gut überstanden hatte, wurde in der turbulenten Zeit nach dem November 1919 die Zeitung von der extremen Linken beschlagnahmt und erschien nun wenige Wochen als „Organ des Hanauer Arbeiter - und Soldatenrates“. Wenige Jahre später bedrohten während der Inflation wirtschaftliche Schwierigkeiten das Blatt in seinem Fortbestand. Das Vorsteheramt der Waisenhaus-Stiftung erwog mehrmals. die Zeitung zu verpachten. Doch es gelang, sie dem Waisenhaus zu erhalten, ein bleibender Verdienst des Stiftungsvorstehers Oberbürgermeister i. R. Dr. Gebeschus und des neuen Verlagsdirektors und Druckereileiters Paul Nack.

Insbesondere die Druckerei nahm von nun an durch die Herstellung von bedeutenden Zeitschriften für große Frankfurter Verlage einen steilen Aufstieg. Aus eigenen Mitteln konnten ein moderner Stahlbetonbau erstellt, eine neue Rotationsmaschine angeschafft und die neuesten Druckmaschinen aufgestellt werden. Die Zeitung gewann immer mehr an Auflage und Umfang.

Einschneidende Veränderungen traten dann in den 30er Jahren ein. Im Jahre 1935 ordnete der Präsident der Reichspressekammer an, daß aufgrund des neuen Pressegesetzes die Stiftung nicht mehr als Verlegerin einer Tageszeitung handeln kann. Um den Bestand der Zeitung als unabhängiges und selbständiges Publikationsorgan zu erhalten, verkaufte der Stiftungsvorstand das Verlagsrecht an Paul Nack. Seiner unternehmerischen Initiative und seiner reichen beruflichen Erfahrung ist es zuzuschreiben, daß sich der „Hanauer Anzeiger“ zu einer Tageszeitung mit beachtlicher Auflagenhöhe entwickeln konnte, wobei es oft nicht leicht war, sich den politisch Mächtigen gegenüber zu behaupten.

Das zeitweilige Ende der Zeitung besiegelte ein Einschreiben der Reichspressekammer vom 25. April 1941, in dem der Zeitung aus kriegswirtschaftlichen Gründen jede weitere Papierlieferung, gesperrt wurde. Damit entfiel die wirtschaftliche Grundlage des Betriebes, was 1942 zum Verkauf der Firma und der Grundstücke durch die Vorsteher der Waisenhaus-Stiftung und der Aufsichtsbehörde an den Herausgeber Paul Nack führte.

Am 19. März 1945 brannten die Verlags- und Betriebsgebäude nach Bombentreffern völlig aus. In mühevoller Arbeit wurden jedoch einige Maschinen wieder funktionsfähig gemacht. Mit ihnen wurde das „Amtliche Mitteilungsblatt Stadt Hanau“ für vier Jahre hergestellt. Erst am 1. September 1949 konnte der „Hanauer Anzeiger“ wieder erscheinen, seiner Tradition als lokale Zeitung die Stadt und den Landkreis Hanau verpflichtet.

Im Wettbewerb mit vier weiteren überregionalen Tageszeitungen, die als Hanauer Kopfblätter oder Regionalbeilagen erscheinen, jedoch in Frankfurt und Offenbach gedruckt werden, hat er sich zur führenden Zeitung im Hanauer Raum entwickelt. Als der Verleger Paul Nack im Jahr 1968 starb, übernahm sein Schwiegersohn Dr. jur. Horst Bauer, der schon 1951 im Betrieb tätig war, die Leitung des Unternehmens und wurde Herausgeber der Zeitung.

Als einer der ersten deutschen Zeitungsverleger gründete er Jahre 1970 die „Hanauer Wochenpost“, ein Anzeigenblatt, das heute mit einer Auflage von 96.000 Exemplaren jeden Haushalt im Verbreitungsgebiet erreicht. Damit wurde den Bedürfnissen der werbenden Wirtschaft Rechnung getragen, aber auch der Verlag wirtschaftlich gestärkt, denn zwei Drittel seiner Einnahmen muß sich jeder Zeitungsverlag auf dem Werbemarkt holen, nur Drittel wird durch Abonnement und Einzelverkauf erlöst. Im Jahre 1974 wurde die „Langenselbolder Zeitung“, das angestammte Heimatblatt der Langenselbolder Bürger, mit einer Druckerei übernommen.

Wenig später begann dann auch im „Hanauer Anzeiger“ die Umstellung des von Gutenberg vor 550 Jahren erfundenen Schrift-Satzes mit gegossenen beweglichen Bleibuchstaben auf den rechnergesteuerten Lichtsatz. Heute arbeitet der Hanauer - Anzeiger mit einem modernen Redaktions-Textsystem und einer EDV der jüngsten Generation. Mit den Hochleistungsrechnern und Belichtungseinheiten sind alle Periphergeräte im Zeitungs- und Werkdruckbereich - Redaktion, Anzeigen-, Vertrieb Auftrags- und Kalkulations-Abteilung und Buchhaltung- sowie über Standleitungen der Betrieb in Langenselbold und die Redaktion eines bedeutenden Zeitschriftenkunden in Frankfurt vernetzt.

Neben dem Zeitungsrotationsdruck mit der seit einigen Wochen im neuen Druckhaus im Industriegebiet Nord installierten Rollenoffset- Rotation betreibt der „Hanauer Anzeiger“ auch den Werkdruck in seiner ganzen Breite. Von Familiendrucksachen über Bücher, Broschüren, Kataloge, Plakate und Formulare werden zahlreiche wöchentlich und monatlich erscheinende Periodika und Fachzeitschriften hergestellt. In den vergangenen Jahren wurden bereits alle Hochdruckmaschinen durch moderne elektronisch gesteuerte Offsetmaschinen ersetzt, darunter eine 4-Farben- und eine 5-Farben-Anlage für den großformatigen Zeitschriftendruck. Im Versandraum im neuen Druckhaus steht eine dem letzten technischen Stand entsprechende Einsteckmaschine, die alle Zeitungsbeilagen im direkten Verbund zwischen der Rotation und der automatisierten Packanlage in die Zeitung einsteckt.

Nach den hohen Investitionen der vergangenen Jahre - wobei neben der Errichtung des neuen Druckhauses auch die Neugestaltung der Einrichtung aller Räume der Hammerstraße dazugehörte - ist der Betrieb heute eines der modernsten und leistungsfähigsten deutschen mittelständischen Druckereiunternehmen. Mit 170 Vollzeitbeschäftigten, zahlreichen freien journalistischen Mitarbeitern und über 900 Zeitungsträgern, ist das Verlagshaus auch für die Hanauer Wirtschaft von unverzichtbarer Bedeutung.

Dem entspricht, daß der „Hanauer Anzeiger“ das „Amtliche Verkündungsorgan“ des Main- Kinzig-Kreises, der Städte Hanau, Bruchköbel, Nidderau und der Gemeinden Erlensee, Hammers­bach, Neuberg und Schöneck ist. Auch das offizielle Verkündungsorgan der Industrie- und Handelskammer Hanau-Gelnhausen-Schlüchtern wird im Hause hergestellt und im Anzeigenteil betreut. Im neuen Druckhaus wird nunmehr der „Hanauer Anzeiger“, „Langenselbolder Zeitung“ sowie das wöchentlich erscheinende Anzeigenblatt „Hanauer Wochenpost“ im Offsetverfahren produziert werden. Auch der „Maintaler Tagesanzeiger“, an dem das Haus 1996 die Mehrheitsanteile erwarb, wird nun in dem neuen Druckzentrum an der Donaustraße hergestellt.

Anfang Mai stellte der HA seine Erscheinungsweise um: Die traditionelle Erscheinungsweise in der Mittagszeit wurde zugunsten der morgendlichen Erscheinungsweise aufgegeben. Der HA ist seither frühmorgens beim Abonnenten und am Kiosk.

Seit dem Jahre 1988 ist die dritte Generation der Familie in der Geschäftsleitung. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften, dem großen juristischen Staatsexamen in München und der Ausbildung in fremden Zeitungsverlagen ist Thomas Bauer als Mitverleger mit seinem Vater, Dr. Horst Bauer, Geschäftsführer. So ist die Familiengebundenheit des mittelständischen Unternehmens gewahrt, das mit dem „Hanauer Anzeiger“ durch Leistungsfähigkeit seinem Motto „über ein Vierteljahrtausend alt und jung dazu“ in vielfältiger Weise gerecht wird und sich den Herausforderungen der Zukunft stellt.

 

 

 

 

Erbprinz und Kurfürst Wilhelm I. (ab 1765)

Die Hanau-Münzenberger Linie endete 1642 im Mannesstamm, und für fast ein Jahrhundert unterstanden nun alle Hanauer Gebiete den Lichtenberger Grafen. Mit dem Tod Graf Johann Reinhards III., des „alten Hanauers“, am 28. März 1736, auf dessen Ableben die Erbberechtigten so lange gewartet hatten, erlosch das Hanauer Grafenhaus. Ein  Gemälde von Joahnn Heinrich Appelius  "Johann Reinhard III. von Hanau-Lichtenberg" von 1733 hängt im Schloß Philippsruhe (Martn Hoppe, Objek der Woche # 22)

 

Laut Erbvertrag von 1643 kam die Grafschaft Hanau-Münzenberg nach Hessen-Kassel, die Grafschaft Hanau-Lichtenberg nach Hessen-Darmstadt. Die Grafschaft Hanau wurde aber auch weiterhin noch selbständig verwaltet, zunächst von Wilhelm VIII. und dann von Maria von Großbritannien, die in ihrer kurzen Regierungszeit in Hanau den „Friedrichsbau“ des Stadtschlosses hatte errichten lassen.

Danach folgte seit 1764 Wilhelms Enkel, der Erbprinzen Wilhelm (IX.) von Hessen. Er war in der Grafschaft Hanau wirklicher „Landesherr“, während sein Vater Friedrich in Kassel regierte, Er ist der Schöpfer vieler Bauten in der Stadt und prägte das Bild des spätbarocken Hanaus. Die Stadt erlebte noch einmal die „güldene Zeit“ einer kleinen absolutistischen Residenz.die Fachwerkhäus wurden verputzt. Auch verschwanden die Wallamnlagen zwishcneAlt- jn dNejstadt.

Erbprinz Wilhelm ließ seine Residenzstadt modernisieren. Die Fvchwerkhäuser wuren verputzt. Auch verschwnanden die Wallanlagen zwischen Alt- und Neustadt.

An ihrer Stelle entstand ein großer Platz (Paradeplatz und Esplanade) mit dem Zejughaus und dem "Kollegiengebäude" (1768). Im selben Jahr gründete  er das Theater, im Jahre 172 die "Akademie der Zeichenkunst" und im Salzhaus in der Erbesengase ein "Arbeitshaus für leiblich und geistig arme Personen", und errcihtete 1775 die "Ehrensäule" als Wegweiser für zwei geplante Handelsstraßen. Die Kur- und Badeanlagen Wilhelmsbad tragen seinen Namen. Finanziert wurde ihr Bau durch den „Verleih“ hessischer Soldaten an seinen englischen Onkel für den Einsatz im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. Ein Gemälde von Anton Wilhelm Tischbein "Erbnprinz Wilheln IX. von Hessen-Kassel", entstanden um 1770 / 1780 hängt im Roten Saal des Schlosses Philippsruhannain de rBeletage in ertenStock (vg. Martin Hoppe, Obket de rWoche, # 48 i mund 12e. Dort ist auch Bild seiner Frau Wilhelmine Karoline von Hessen-Kassel (1747-1820), von einem unbekannten Maler, um 170 entstanden, im Salon der Landgräfin Anna in der Beletage vgl. Martin Hoppe, Objekjt der Wóche, # 48 und 12).

 

 

Wilhelmine Karoline wurde am 10. Juli 1747 im Schloss Christiansborg in Kopenhagen als Tochter von König Friedrich V. von Dänemark und Norwegen und dessen erster Ehefrau Louise (einer Tochter von König Georg II. von Großbritannien) geboren. Am 1.9.1764, im Alter von 17 Jahren, heiratete sie in Kopenhagen ihren Cousin, Erbprinz Wilhelm von Hessen und Graf von Hanau (ab 1785 Landgraf Wilhelm IX. von Hessen-Kassel und 1803 Kurfürst Wilhelm I. von Hessen-Kassel). Das Paar hielt im Oktober 1764 Einzug in Hanau. Die Ehe war arrangiert und galt als unglücklich. Die sogenannte. Franzosenzeit von 1806-1813 verbrachten beide getrennt im Exil: Wilhelm mit seiner Mätresse von Schlotheim in Schleswig und Prag, Karoline bei ihrer jüngeren Tochter Karoline Amalie von Sachsen-Gotha.

Wilhelmine Karoline lebte sehr zurückgezogen, war aber im Volk durch ihre Wohltätigkeit beliebt, förderte u. a. einen Frauenverein in Kassel und das Theater. In Hanau erinnert an die „Landesmutter“ die Karolinenstraße an der Rosenau und ihr Porträt ist in Schloss Philippsruhe

zu besichtigen.

 

Das Urteil über den ersten hessischen Kurfürsten ist bis heute so zwiespältig, da er sich bereits früh als „Militärunternehmer“ einen Namen gemacht hat. Wilhelm vermietete 1776 rund 2.400 Soldaten an seinen englischen Vetter, König Georg III., wofür er reichlich Subsidien kassierte. Die hessischen Söldner wurden von der Kolonialmacht im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gegen die „Rebellen“ eingesetzt, was Wilhelm den Vorwurf einbrachte, daß er das Blut seines Volkes verkaufte, um seine Schatzkammer zufüllen.

Seine intensiven Geschäftsbeziehungen mit dem Wechselhändler Meyer Amschel Rothschild, der für ihn die Hilfsgelder (Subsidien) zinsbringend weiterverlieh, war übrigens für beide Seiten äußerst erfolgreich. Wilhelm wurde zu einem der reichsten Fürsten Europas, und das Haus Rothschild legte den Grundstein für den eigenen Aufstieg zu einem internationalen Bankhaus.

Den Gewinn aus den englischen Zahlungen investierte Wilhelm in aufwendige Parkanlagen - von 1777 bis 1785 in die neue Kuranlage Wilhelmsbad bei Hanau, die er im von England ausgehenden landschaftlichen Stil anlegen ließ. Er gesteht, daß er dort in seiner künstlichen Burgruine vor den höfischen Intrigen Zuflucht gesucht und in der romantischen Stimmung die Einsamkeit genossen habe. Er verrät zudem, daß immerhin zeitweise bis zu 900 Arbeiter und Handwerker in Wilhelmsbad beschäftigt gewesen seien und so auch an den englischen Geldern verdient hätten.

Also kann der Vorwurf nachfolgender Generationen, der Fürst habe sein eigenes Vergnügen über die Interessen seiner Untertanen gestellt, relativiert werden. Zwischen 1786 und 1798 führte der Regent dann in Kassel auf der Wilhelmshöhe, dem größten Bergpark Europas, den englischen Stil mit romantischen Wasserfällen und der mittelalterlichen Löwenburg zur höchsten Vollendung.

Im Jahre 1803 erreichte der Landgraf sein langersehntes politisches Ziel: Er stieg zum Kurfürsten von Hessen auf. Doch schon drei Jahre später begann für ihn das unglücklichste Jahr seines ganzen Lebens. Da Wilhelm zugunsten Preußens taktiert hatte, mußte er vor dem Einmarsch der napoleonischen Truppen außer Landes fliehen und konnte erst 1813 aus dem Exil zurückkehren. Seine Aufzeichnungen brach der 75jährige Kurfürst 1818 resignierend ab, weil er sich nicht mehr in der Lage sah, Rechenschaft abzulegen. Die Fehler einer Welt, „die von Tag zu Tag mehr aus den Fugen gerät“, hindere ihn daran, seine Arbeit gewissenhaft fortzuführen.

Der erste hessischen Kurfürst Wilhelm I. (1743-1821) konnte sowohl Reaktionär als auch Avantgardist sein, denn als letzter Vertreter des Feudalabsolutismus war er zugleich der erste Kapitalist seines Standes. Bis zu seinem Tod war der Herrscher „von Gottes Gnaden“ ein Verfechter der Autokratie und ein entschiedener Gegner der Französischen Revolution. Er war aber zugleich wegen seiner zukunftsweisenden Kreditpolitik gegenüber Staaten, Fürsten und Privatleuten ein erfolgreicher Finanzier.

 

Soldatenhandel linderte Not:                                               

Erbprinz Wilhelm von Hessen-Hanau steht wie sein Vater, Landgraf Friedrich von Hessen-Kassel, im Ruf durch den „Verkauf“ seiner Soldaten zu immensem privatem Reichtum gekommen zu sein. Daß dieser Soldatenhandel des 18. Jahrhunderts aber durchaus eine differenziertere Betrachtung verdient, zeigt eine neue Publikation, die die Historische Kommission für Hessen 2014 herausgeben hat: „Die Hessians im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg 1776 bis 1783 - Neue Quellen - neue Medien - neue Forschungen“, 312 Seiten mit etlichen Abbildungen. Grundlage des Buchs sind die Beiträge eines internationalen Symposions, das im Frühjahr 2013 in Wilhelmsbad stattgefunden hat. Die Kuranlage wurde in den 1780er Jahren von Erbprinz Wilhelm just mit dem Geld errichtet, das er durch den Verleih seiner Soldaten an den englischen König zum Zweck der Niederwerfung des Aufstands in den nordamerikanischen Kolonien erhalten hatte.

Diese Art des „Personalleasings“ war im 17. und 18. Jahrhundert nicht unüblich und brachte so manchem deutschen Landesfürsten Geld in die Kasse. Für Wilhelm kam noch seine enge familiäre Verbindung zu England hinzu, seine Mutter war eine Tochter Georgs II. von England, der somit sein Großvater war.

Insgesamt etwa 30.000 Hessen kämpften im Lauf des amerikanischen Unabhängigkeits­kriegs auf Seiten der Briten, neben regulären Regimentern waren darunter auch aus anderen Ländern für so genannte Freikorps angeworbene Söldner. Rund 6.000 fielen in den Kämpfen oder starben an den Strapazen, noch einmal so viele desertierten oder wurden nach ihrer Dienstzeit in Nordamerika entlassen. Deren Nachfahren zählen heute noch Hunderttausende. Für Kanada hat der aus Hanau stammende Deutsch-Kanadier John Helmut Merz dazu bis zu seinem Tod 2005 eine enorme Datenbank angelegt. Und auch wenn die „Hessians“ auf der falschen Seite kämpften, so sind nicht wenige Nordamerikaner der heutigen Generation, stolz darauf, einen davon in ihrer Ahnenreihe zu haben.

Das Interesse an den „Hessians“ sei vor allem in den USA ungebrochen, berichtet Archivdirektor Dr. Andreas Hedwig, Chef des Staatsarchivs Marburg. Noch immer kämen viele Anfragen per Internet oder für Fernsehserien mit genealogisch-historischem Hintergrund, werde wie zuletzt von CNBC für die Sendung „Teil me who you are“ im Staatsarchiv gefilmt.

Nun sind die Bestände betreffend die hessischen Truppen in Nordamerika bereits seit den 1970er Jahren relativ gut erschlossen. Die Datenbank „Hetrina“ wurde seinerzeit noch mit Hilfe von Lochkarten erstellt und vor wenigen Jahren für das Internet aufbereitet. Bei dieser Gelegenheit wurde das Verzeichnis auch um die noch fehlenden Hanauer Truppenteile ergänzt, so daß über das Portal „Lagis“ nun der Gesamtbestand zugänglich ist und nach Orten und anderen Kriterien durchsucht werden kann.

Aus diesem Anlaß wurde 2013 auch das Wilhelmsbader Symposion in einer beispielhaften Gemeinschaftsaktion von der Stadt Hanau, dem Hanauer Geschichtsverein und dem Staatsarchiv Marburg sowie der Historischen Kommission und dem Landesamt für wissenschaftliche Landeskunde durchgeführt. Denn nach wie vor gibt es neue Quellen und Forschungsansätze, die das Wissen um die „Hessians“ nicht nur ergänzen, sondern auch dazu führen, daß unser teilweise im 19. Jahrhundert geprägtes Bild der „verkauften Hessen“ berichtigt werden muß. Ganz ohne Zweifel hat auch die nun umfänglich mögliche elektronische Zugänglichkeit zu den Archivbeständen diesem Thema neue Impulse gegeben.

Die „ausgeliehenen“ Soldaten haben doppelten Sold erhalten, von dem ein Teil über Bankhäuser in Amsterdam den Familien in der Heimat ausbezahlt wurde. Auch die Errichtung des Wilhelmsbads war in seiner Auswirkung eine Art „lokales Investitionsprogramm“ gewesen. So hat denn der Soldatenhandel nicht nur den heutigen Hanauern mit Wilhelmsbad ein Kleinod beschert, sondern auch geholfen, die wirtschaftliche Not in Hessen gerade in den 1770er und 1780er Jahren zu lindern (Werner Kurz).

 

 

Familie Cancrin 1774

Daß Rußland heute zu den wirtschaftlichen Großmächten gehört, verdankt es in erheblichem Maße einem im Dienst des Zaren gestandenen Deutschen, der in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in dem reinen Agrarland Rußland die Grundlagen für eine industrielle Entwicklung legte. Tatkraft und Weitblick ermöglichten das Entstehen einer eigenständigen Nationalwirtschaft. Der Mann, der das zuwege brachte, war der am 26. November 1774 in Hanau geborene Georg Cancrin.

Seine Eltern und Großeltern wohnten in Bieber im Kreise Gelnhausen, wo sie verantwortlich in der Leitung des damaligen Bergwerks standen und den Bieberer Gruben zu einer beachtlichen Entwicklung verhalfen. Welches Schicksal hatte die Familie Cancrin aus dem Biebertal und der Stadt Hanau in die Weiten Rußlands verschlagen?

Im Jahre 1741 berief der damalige Hessische Regent und Landgraf den Bergmeister Johann Heinrich Cancrin zum Leiter der Bieberer Gruben. Er wurde Nachfolger des Bergrates Pauly, dessen Familie mit dem aus Bieber stammenden und unter Katharina der Großen tätigen Generals Feodor von Bauer verwandtschaftlich verbunden war.

Johann Heinrich Cancrin entstammte einer niederhessischen Bauernfamilie und war verheiratet mit Anna Katharina Fresenius. Einer der Vorfahren, ein evangelischer Geistlicher aus Jesberg, ließ irgendwann seinen deutschen Namen „Krebs“ in „Cancrinus“ latinisieren. In modischer Anlehnung an die französische Epoche entstand daraus später der Name Cancrin. Neben dem am 21. Februar 1738 geborenen Franz Ludwig Cancrin wurden der Familie in Bieber noch fünf Söhne geschenkt: Johann Friedrich 1744, Johann Heinrich Friedrich 1746, Johann Hektor 1749, Johann Ludwig 1751 und Friedrich Ludwig 1755.

 

Unter der zielbewußten Leitung Johann Heinrich Cancrins kamen die Bieberer Gruben bald zu hoher Blüte. Bei der Übernahme der Leitung bestand die Belegschaft lediglich aus 4 Bergbeamten, 12 Bergleuten und 2 Hüttenarbeitern. Geschürft wurde „Im Kalkofen“, „Am Burgberg“, „Im Röhriger Kobaltwerk“ und „Im Grundocker“(Grundacker?). Cancrins besondere Aufbauarbeit galt dem „Loch­born“, wo ein neues Kobalt- und Hammerwerk entstand.

Die Vergrößerung und Ausweitung des Bergbaubetriebes hatte natürlich eine starke Zuwanderung zur Folge. Deshalb wurde im Jahre 1769 neben der alten lutherischen Kirche („obere Kirche“) eine neue reformierte Kirche erbaut. Finanziert wurde der Bau aus Mitteln der Salzsteuer, dem „Salzgroschen“.

Im Jahre 1768 beendete der Tod Johann Heinrich Cancrins erfolgreiches Schaffen. Auf dem Bieberer Friedhof fand er seine letzte Ruhestätte. In Bieber ist heute noch eine Straße nach den Cancrins benannt. Zur Zeit seines Ablebens bestand das Bergamt aus dem Bergmeister, dem Bergaktuar und dem Bergrichter. Dem Amt unterstanden Bergschreiber, Obersteiger, Steiger, Nachzähler, Garmacher, Hüttenmeister, Hammerschmiede und über 400 Bergleute.

Die Nachfolge des Bergwerk-Direktors übernahm im gleichen Jahr sein ältester Sohn, Franz Ludwig, der die Bieberer Gruben bis 1782 leitete. Er wurde 1738 in Breidenbach bei Marburg als Sohn eines Bergbau-Beamten geboren. Er hat wie auch seine Brüder die Schule in Bieber besucht. Von seinem Vater hatte er zusätzlich Unterricht in den Naturwissenschaften und der Mathematik erhalten. Noch seiner Lehrzeit im Bergbau in den Bieberer Gruben studierte er von 1759 bis 1762 in Jena Bergwissenschaft, Jura und Mathematik.

Im Jahre 1764 wurde er zum Sekretär bei der Rentkammer in Hanau ernannt und mit Aufgaben aus dem Berg- und Salinenwesen betraut. Im Jahre 1765 verfaßte er eine Arbeit über „Die Zubereitung der Kupfererze“.

Im Jahre 1767 erfolgte seine Ernennung zum Assessor, 1768 seine Berufung zum Professor für Mathematik und Leiter des Zivilbauwesens der Grafschaft Hanau. Trotz der Übernahme dieser umfangreichen und wichtigen Aufgaben behielt Franz Ludwig die Leitung der Gruben bei. Er konnte sich diese Arbeitsteilung leisten, weil der Vater den Ablauf der Dinge an den Bieberer Gruben auf lange Sicht gut vorbereitet hatte.

 

Cancrin baute Stadttheater und Wilhelmsbad:

Die Grafschaft Hanau übergab ihm die Direktion über das gesamte Zivilbauwesen. In dieser Funktion baute er in den Folgejahren das Hanauer Stadttheater und das Wilhelmsbader Comoe­dienhaus. Im Jahre 1768 fand die erste Aufführung auf der Bühne zwischen Alt- und Neustadt statt. Erbprinz Wilhelm ließ 1768 durch seinen Baurat Franz Ludwig Cancrin nach den Plänen des Generals Huth auf dem Gelände der eingeebneten Befestigungslinie zwischen Alt- und Neu- Hanau ein neues Theater erstellen. Es handelte sich um das bekannte Hanauer Stadttheater auf dem späteren Paradeplatz, das am 18. März 1945 mit dem größten Teil der Stadt unter dem furchtbaren Bombenhagel begraben wurde.

Neben dem Theater wurde an dem neugewonnenen Platz der ehemaligen Befestigungsanlage ein Zeughaus gebaut, ein langgestrecktes Gebäude mit einer Wache an der westlichen Querseite, das spätere „Bezirkskommando“.

Im Park von Wilhelmsbad mußte Cancrin für Wilhelm IX. die verträumte „Ruine“, eine Wasserburg inmitten von Wald und Sumpf erbauen. Wilhelm IX. bewohnte dieses Idyll, dessen Innenräume außerordentlich behaglich eingerichtet waren, mit Madame Ritter, seiner Geliebten, einer Apothekerstochter aus der Schweiz, die ihm, dem Landgrafen - wie es irgendwo heißt - schöne Kinder gebar.

Cancrin nannte sich in seinen „Grundlehren der bürgerlichen Baukunst“ Baumeister und Architekt und berief sich in dieser Architektur-Theorie mehrmals auf die von ihm ausgeführten Bauten. Daß der Architekt bei den zeitgenössischen Beschreibungen des Wilhelmsbades oft zu nennen vergessen worden ist, kränkte ihn sehr.

Besonders aber, daß der berühmte Gartentheoretiker C.C. L. Hirschfeld ihn bei der ausführlichen Beschreibung des Parks von Wilhelmsbad in seiner „Theorie der Gartenkunst“ 1785 nicht erwähnt hat, forderte seinen Widerspruch heraus. Die in dem Buch über die Gartenkunst „in Kupfer abgebildeten Gebäude“ in Wilhelmsbad, hätten nicht, so schreibt er in seinen „Grundlehren ..“ „die gute Proportion, die ihnen eigen ist“, und er erwähnt weiter, daß „die Erfindung und erste Zeichnung der Burg“, die Hirschfeld so sehr lobte, „gänzlich seiner Hände Arbeit sei“, so wie auch das „ganz von mir angegebene Carussel“.

An seinen Wilhelmsbader Bauten benutzte Cancrin nur wenige schmückende Zutaten, so findet man den „Zopf“ als die typische Dekoration der Bauzeit des Badeortes dort nur selten. Die Gebäude haben mit den schweren Mansarddächern und den rustikalen Fenstereinrahmungen einen altertümlichen Charakter. Sie wirken eher behäbig barock als klassizistisch kühl und elegant. Ähnlich schwerfällig sind die zahlreichen als Modelle vorgelegten Entwürfe in Cancrins Bau­lehre, die vor allem durch eine detaillierte technische Beschreibung der Bauweise der Gebäude ausgezeichnet und brauchbar war.

Cancrin war also, wohl auch dank seines Herkommens und seines Studiums, ein guter Praktiker. Er war kein kühner Anreger oder gar ein schöpferischer Architekt, der in neue Dimensionen der Architektur vorstieß. Viele seiner aus dieser Grundhaltung ausgesprochenen Gedanken zeigen ihn als den nüchternen Beobachter einer sich wandelnden Welt, in der nicht mehr allein der Schloßbau oder die Kirchengebäude den Maßstab setzten, sondern auch die „Civilbaukunst“ ein beachtenswertes Tätigkeitsfeld für einen Architekten abgeben konnte. So gibt es neben städtebaulichen Anweisungen in seinem Baubuch auch ein umfangreiches Kapitel über die „Zweckmäßige Einrichtung der mineralischen öffentlichen Bäder“, in dem eindeutig zu lesen ist, was er selbst programmatisch ausgeführt hat: „Es muß sich bey einem Bade ein Komödienhaus befinden, damit die Kurgäste dadurch belustigt werden können...“. Eine „Affäre“ des Hofmarschalls Ludwig von Gall, des vertrauten Günstlings des Erbprinzen, führte 1782 zum Sturz des Architekten, der „sein Wilhelmsbad“ und Hanau verlassen mußte.

Der von Wilhelm IX. hochgeschützte Baudirektor Cancrin geriet offensichtlich zu Unrecht mit unter die Anklage gegen Hofmarschall von Gall wegen Unterschlagung öffentlicher Gelder und wurde 1782 zu sechs Monaten Haft verurteilt. Diese saß er im Schloß Babenhausen ab und setzte in dieser Zeit die Arbeiten an seinem berühmten Werk der Bergwerks- und Salinenkunde fort, das von 1773 bis 1791 in 12 Bänden in Frankfurt/Main erschien. Als Oberkammerrat und Direktor des Münzwesens schied er 1782 aus dem hessischen Dienst.

 

In Rußland:

Nach einem Abstecher zum Markgrafen von Anspach im Westerwald folgte er ein Jahr später dem Ruf der russischen Kaiserin Katharina II. Auf Grund eines günstigen Angebots des Grafen P. A. Rumjancev- Zadunaiskij siedelte er mit Frau und zwei Töchtern unter Zurücklassung des 8jährigen Sohnes (des späteren zaristischen Finanzministers) nach Rußland über. Ende Februar 1784 traf er in Petersburg ein und übernahm hier die oberste Leitung der berühmten Salinen von Staraja-Russo im Gouvernement Nowgorod als Nachfolger des verstorbenen Generalleutnants Bauer (ebenfalls aus Bieber).

Katharina machte den Bergbau-Spezialisten, was ihn zum Bau des Wilhelmsbader Karussells mit unterirdischem Antrieb durch Menschen und Tiere prädestinierte, zum Leiter einer bedeutenden Saline in der Nähe von Petersburg. Cancrins Fähigkeiten brachten ihm in Rußland zahlreiche Ehrungen und das Erheben in den Adelsstand ein. Franz Ludwig von Cancrin erlangte im Rußland des 18. und 19. Jahrhunderts fast mehr Ruhm als in Hanau und Umgebung.

Katharina II. gewährte ihm nach zweijährigem Wirken in Rußland zur Wiederherstellung seiner Gesundheit und zum Abschluß wirtschaftlicher Arbeitspläne einen mehrjährigen vollbezahlten Urlaub in Deutschland, den er in Gießen verbrachte. Im Jahr 1787 gab er „Die Geschichte der in der Grafschaft Hanau-Münzenberg gelegenen Bergwerke“ heraus, wobei er im besonderen auf die Belange der Bieberer Gruben einging. Hier hatte er ja viele Jahre verbracht und seine Studien der Bergwissenschaft praktisch erproben können. Nach seinem Weggang aus Hanau wurde Cancrin durch zahlreiche wissenschaftliche Publikationen ein anerkannter Fachmann der Bergwerkskunde und der Architekturtheorie. Bis 1793 erschien in Frankfurt/Main sein Hauptwerk, das über Bergwerks- und Salinenkunde handelt und zwölf Bände umfaßt. Er verfaßte die „Grundlehren der bürgerlichen Baukunst“.

Nach seiner Rückkehr, kurz nach dem Tode der Kaiserin (1796), wurde er wieder Mitglied des Bergkollegiums. Paul I. beförderte ihn im März 1798 zum Staatsrat. Wenige Monate später schenkte er ihm in Anerkennung seiner Verdienste ein Haus in Petersburg. Auch Alexander I., der Nachfolger Pauls I, schätzte die Mitarbeit Cancrins sehr. Im Jahr 1812 trat Franz Ludwig Cancrin in den Ruhestand. Am 29. März 1816 verstarb er in Petersburg als russischer Staatsrat. Seinen Wahlspruch zitiert seine Nachfahrin Christine Langenscheidt noch heute, wenn auch mit verzogenen Mundwinkeln: „Ich kenne nur Rechtschaffenheit, Mühe und Arbeit, meinen Gott und meine Pflichten“.

 

Georg Cancrin;

Sein Name wurde später fast in den Hintergrund gedrängt durch den seines Sohnes Georg von Cancrin. Der 1774 in Hanau Geborene, 1796 mangels Anstellung in Hanau zu seinem Vater Übergesiedelte, erwarb sich als Generalorganisator aller russischen Armeen (1814/15) und als russischer Finanzminister (1823-44) beträchtlichen Ruhm. Das ist noch heute im Brockhaus vermerkt, erzählt seine Nachfahrin Christine Langenscheidt stolz.

Der spätere russische Finanzminister Georg Ludwig Daniel Cancrin studierte in Marburg und Gießen Rechts- und Staatswissenschaften. Neben seinen Interessen für Berg-, Münz- und Bauwesen kamen Philosophie und Literatur nicht zu kurz, wie sein in Altona 1797 anonym erschienener Roman „Dagobert“ beweist. Nach Abschluß des Studiums folgte er 1797 seinen Eltern nach Rußland, wo er zunächst in Petersburg als Lehrer, Buchhalter und Schreiber ein entbehrungsreiches Dasein führte.

Später war er in Staraja-Russa, dem heute sehr bekannten Solbad südlich des Ilmensees, als Gehilfe des Vaters tätig und trat damit in den eigentlichen Staatsdienst. Bald stieg der junge, begabte Cancrin zu hohen Ehren auf. Im Jahre 1805 wurde er Staatsrat, und am 7. August 1809 ernannte ihn Alexander I. zum Inspektor der ausländischen Kolonien im Gouvernement Petersburg. Im Jahre 1814 ward er Generalintendant der gesamten russischen Armee und erhielt in Anerkennung seiner überragenden Fähigkeiten den Generalstitel. Bemühungen der österreichischen Regierung, Cancrin unter überaus günstigen Bedingungen noch Österreich zu berufen, lehnte er ab, da er längst in Rußland eine zweite Heimat gefunden hatte.

Am 4. Mai 1823 wurde Georg Cancrin mit dem hoben Amt des russischen Finanzministers betraut, das er bis zum Jahre 1844 ausübte. Das Zeitalter der Technik begann, die ersten Dampfschiffe überquerten den Ozean, die ersten Eisenbahnen rollten durch die Länder. Die Industrialisierung kam auf. Sein Lebenswerk galt ferner dem Ausbau des Berg- und Salinenwesens, der Forst- und Landwirtschaft unter besonderer Förderung der Schafzucht, des Weinbaus und der Seidenzucht. Zahlreiche Institute und Schulen zur Verbreitung theoretischer und praktischer Kenntnisse wurden von ihm gegründet. Auf seine Veranlassung hin unternahm unter anderem Alexander von Humboldt zum Zwecke der Erschließung von Bodenschätzen Forschungsreisen nach dem Ural und Altai. Weil dieser im Ural ein seltenes Mineral entdeckte, nannte er es zu Ehren seines Förderers „Cancrinit“ (seit dem 19. Jahrhundert wird fälschlicherweise sein Vater als Namensgeber angegeben).

Georg Cancrin, ein Mann von ausgeprägten staatsmännischen Fähigkeiten, brachte zielbewußt die zerrütteten Staatsfinanzen wieder in Ordnung und führte eine Gesundung und Belebung der russischen Wirtschaft herbei. Frühzeitig hatte er durch theoretische Arbeiten über Wirtschaftsfragen die Aufmerksamkeit der preußischen Offiziere in der Umgebung von Alexander I. auf sich gelenkt. Sein Vorgänger Guriew, der der zerrütteten Lage nicht gewachsen war, wirtschaftete mit stetem Defizit und teuren Anleihen. Er erschwerte auch dem Kaiser nach Möglichkeit jeden wahren Einblick in die wirkliche Finanzlage. Cancrin war, seinem Charakter gemäß, darauf bedacht, dem Kaiser reinen Wein einzuschenken. Auf Wunsch Nicolaus I. erteilte Cancrin dem Thronfolger und späteren Alexander II. ab 1838 zweimal wöchentlich finanzwissenschaftliche Vorlesungen.

Ersparungen, wo sie sich irgendwie rechtfertigen ließen, brachten es schon im ersten Jahr seiner Tätigkeit zustande, daß das Budget mit 392 Millionen Rubel bereits um 50 Millionen niedriger lag als das letzte Budget Guriews. Cancrin brachte die Finanzen nicht nur ins Gleichgewicht, sondern ermöglichte auch eine bedeutende Schuldenrückzahlung. Er setzte durch, daß die Forderungen des Staates maßvoll blieben und keine neuen Auslands-Anleihen aufgenommen wurden.

 

Cancrin wurde zu den bedeutendsten Anhängern der deutsch-russischen nationalökonomischen Schule gerechnet. Seine grundsätzlichen wirtschaftlichen Auffassungen legte er in folgenden Schriften nieder: „Weltreichtum, Nationalreichtum und Staatswirtschaft“ (1821), „Über die Militär- Ökonomie im Frieden und Krieg“ (3 Bände, 1834 ff) und „Die Ökonomie der menschlichen Gesellschaft und das Finanzwesen“ (1845). Cancrin ließ alle Schriften bezeichnender Weise in deutsch herausgeben. Eine russische Übersetzung ist erst 1894 erschienen. Seine Reisetagebücher (1840-45) hat sein Schwiegersohn, Alexander Graf Keyserling, der bekannte Gelehrte und Kurator der Universität Dorpat, 1865 herausgegeben.

Aus all den Druckschriften und seinem Briefwechsel mit Alexander von Humboldt wurde offenbar, wie Cancrin ganz in deutscher Kultursphäre lebte und atmete. Die russische Sprache hat er nur schwer erlernt und schlecht beherrscht. Am 22. September 1829, dem Tage der Veröffentlichung des Manifestes über den Frieden von Adrianopel, erhob Nicolaus I.. seinen überaus begabten Finanzminister mit seinen Nachkommen in den Grafenstand des russischen Reiches.

Auf Cancrin geht die Aufnahme der Barzahlung zurück anstelle der während der Napoleonischen Kriege und den Folgejahren völlig zerrütteten Assignaten-Wirtschaft. Bei seinem Amtsantritt stand der Bankrott an der Schwelle. Rußland hatte bis 1817 über 800 Millionen Rubel Papiergeld in den Verkehr gebracht, das, weil ohne Deckung ausgegeben, völlig entwertet war. Der neue Finanzminister verhinderte die weitere Ausgabe von Assignaten (Papiergeld ohne Deckung) und führte den Silberrubel als Münzeinheit ein.

Cancrins Ordnungssinn und Sparsamkeit war es gelungen, schon zwölf Monate noch Übernahme seines Amtes eine gewisse Stabilität herzustellen. Mochte Zar Nicolaus, der Nachfolger Alexander I., bisweilen auch gegenüber Cancrins Sparsamkeit die Geduld verlieren, aber schließlich gab der Herrscher immer wieder noch und festigte dadurch Cancrins Stellung, was sich auch in dessen Verhältnis gegenüber den Großfürsten günstig auswirkte.

Unerbittlich zeigte sich Cancrin als Schutzzöllner. Er hob den Zoll-Tarif von 1819 auf, der jede eigene Fabrikationsentfaltung in Rußland unmöglich machte und sicherte durch Neufassung 1823 den Schutz der jungen russischen Fabrikation. In Petersburg errichtete er das „Technische Institut“ und sorgte für Verbreitung ausländischer Fachliteratur in russischer Sprache. Um Geldquellen für die industrielle Entwicklung zu erschließen, sorgte er für eine Verbesserung der Rentabilität der Salinen und Bergwerke. Zur Hebung der Steuereingänge schritt Cancrin zur Verpachtung des Branntweinverschleißes, wovon der er sich auch eine Verminderung der Trunksucht versprach. Diese Hoffnung erwies sich zwar als ein Irrtum, wohl aber stiegen die Steuereinnahmen im Jahre 1827 um 81 Millionen.

Vielen seiner Zeitgenossen war er in Idee und Tat weit voraus. Seine humanen Grundsätze fanden die besondere Anerkennung des Kaisers Alexander I., der ihm volles Vertrauen schenkte, ein Verhältnis, das unter Nicolaus I. fortbestand.

 

Im September 1843 besuchte Graf Cancrin auf dem Weg nach Paris mit seiner Frau, einer Gräfin aus der altrussischen Fürstenfamilie Murrawiew, zum letzten Male die Heimat seiner Väter, seinen Geburtsort Hanau und das Kinzigtal. Er wohnte im Gasthof „Zum Riesen“. Er ließ sich, weil er Sehnsucht nach einer Stätte seiner frühen Kindheit hatte, nach Wilhelmsbad fahren. Im Jahre 1844 nahm er seinen Abschied aus dem russischen Staatsdienst, der ihm unter den ehrenvollsten Formen gewährt wurde.

Kurz vor seinem Tode veröffentlichte er als Ergebnis von Mußestunden eine Novelle: „Phantasiebilder eines Blinden“. Den eigenartigen Titel wählte er wohl im Hinblick auf seine schwindende Sehkraft, unter der er in den letzten Jahren sehr litt. Die letzten Monate seines Lebens verbrachte Cancrin in Powlowsk bei St. Petersburg. Am 9. September 1845 verstarb der Mann, der seine glänzende Laufbahn ausschließlich seiner Tüchtigkeit verdankte, im Alter von 71 Jahren.

Auch auf der Höhe seines Schaffens lebte der oft sehr schroffe Finanzminister zurückgezogen und bescheiden. Große Gesellschaften mied er, dafür schätzte er das wissenschaftliche Gespräch im Freundeskreis. Zu seinen wenigen ständigen Tischgästen zählte der aus dem Schweizer Thurgau stammende reformierte Pfarrer Johannes Muralt, der ein enger Mitarbeiter Pestalozzis gewesen und als Pädagoge und Geistlicher in der Schweiz und in Rußland in damaliger Zeit stark hervorgetreten ist.

 

Bieberer Bergbau:

Der Name Cancrin ist mit dem Bieberer Bergbau eng verbunden. Deshalb sei noch ein kurzes Wort über die Gruben im Bieberer Grund gestattet. Im Jahre 1494 gehörte das Bieberer Werk Kurmainz und Hanau gemeinsam. Im Jahre 1546 erhielt Hanau das Bergwerk als alleiniges Eigentum. Durch die politischen Wirren jener Zeit lag das Bergwerk bis 1675 still. Von da an wurden Silber, Kupfer und Blei gegraben.

Im Jahre 1693 wurde das Werk von einem Bergmeister Bär gepachtet, der zwar ein geschickter Bergmann war, aber das Hüttenwesen nicht verstand und verarmte. Dasselbe Schicksal hatten Oberstleutnant Glaubitz und der aus Sommerkahl stammende Georg Wild. Von 1702-1704 erging es Martin Kressel nicht besser. In den Jahren 1704 bis 1708 betrieb Bergrat Walther nur das Eisenwerk. Er soll mit einem Wagen voll Gold noch Bieber gekommen sein und als armer Mann den Betrieb verlassen haben. Von 1708 bis 1737 gehörten die Gruben einer Hanauer Genossenschaft unter Bergrat Jüngst aus Dillenburg. Ein Berghauptmann von Drach war damals Betriebsleiter.

Eine Wandlung zum Besseren trat erst im Jahre 1737 ein, als die Grafschaft Hanau an Hessen-Kassel fiel. Die neue Herrschaft betrieb alle Werke selbst. Landgraf Wilhelm VIII. (1730 bis 1760) von Hessen-Kassel berief geschickte Leiter an die Spitze seiner Werke, zunächst Bergrat Pauly, dessen Haus später lange Zeit als Oberförsterei diente. Paulys Nachfolger waren die Cancrins.

Nach Erscheinen seines bedeutsamen Beitrages zur Geschichte des heimischen Bergbaues wirkte Franz Ludwig Cancrin noch 25 Jahre im russischen Staatsdienst. Im Jahre 1816 starb Franz Ludwig von Cancrin als kaiserlicher Staatsrat, geehrt mit dem Adelstitel, in St. Petersburg. Im gleichen Jahr wurde auf dem Friedhof von St. Petersburg sein Landsmann, der im 50. Lebensjahr verschiedene russische General Feodor von Bauer, ein Enkel des Oberförsters Johann Valentin Bauer aus Bieber im Kreise Gelnhausen, zur letzten Ruhe gebettet.

„Am Mute hängt der Erfolg“ sagte Theodor Fontane. Der kometenhafte Aufstieg von Sohn und Enkel Cancrin war nicht nur der außerordentlichen Tüchtigkeit und Tatkraft beider zuzuschreiben, sondern lag wesentlich mitbegründet in ihrer lauteren Gesinnung und Haltung. Glück und Erfolg der Nachkommen hatten ihre Wurzeln in der verantwortlichen und naturverbundenen Arbeit des biederen Bergmeisters Johann Heinrich Cancrin im waldreichen Biebergrund.

 

 

Adolf Freiherr von Knigge 1777 bis 1780

Auch der Schriftsteller Adolf Freiherr von Knigge, diese abenteuerliche Persönlichkeit, dessen Buch „Über den Umgang mit Menschen“ ihn zu einer sprichwörtlichen Bedeutung brachte, spielte einige Jahre in Hanau eine Rolle. Er kam 1777 an den Hof des Erbprinzen Wilhelm und war dort „inoffizieller maitre de plaisir“, leitete ein Liebhabertheater, war eifriger Freimaurer und - Alleskönner und Scharlatan zugleich. Im Jahre 1780 war sein Hanauer Gastspiel zu Ende.

Ein rechter Lausbub muß er ja schon gewesen sein. Steckte, so berichten zeitgenössische Anekdoten, den Hofdamen Ohrenzwicker in die Hochfrisuren, verriet auf Maskenbällen die Identität verkleideter Grafen, indem er ihnen Namenszettel auf den Rücken heftete - und auch ansonsten machte der junge Freiherr um keinen Schabernack einen Bogen. Ein bloßer Hanswurst war er deswegen nicht. In seinen Schriften begeisterte er sich leidenschaftlich für die Ideale der Französischen Revolution - was den feudalen Herren, bei denen er in Lohn und Brot stand, gar nicht schmeckte. Und auch sein Faible für Geheimbünde pflegte er artig. Ob Freimaurer oder Illuminaten, der Freiherr war stets mittenmang. Nur eines wäre ihm vermutlich völlig gleich gewesen: Wenn sein Tischnachbar die Forelle mit dem Messer tranchiert und nebenbei eine Karaffe Rotwein in sich hineingeschüttet hätte. Das sollte man heute gar nicht mehr denken vom alten Adolf Franz Friedrich Freiherr von Knigge.

„Alle deutschen Demokratennester sind der Widerhall Knigge’scher Grundsätze, und Knigge ist der Widerhall der ganzen deutschen Aufklärungspropaganda“, klagte Johann Georg Zimmermann, Leibarzt Friedrichs des Großen und einer von vielen Gesinnungs-Untertanen, auf die der freche Freiherr so angenehm wirkte wie ein Kräuter-Einlauf. „Man beklatscht den Volksaufwiegler Knigge wegen der unzählbaren Pasquillen, die er des lieben Brodes willen schrieb.“

Wohl wahr, Knigge, Jahrgang 1751 schrieb viel - Theaterstücke, Reisebeschreibungen, Romane, politische, pädagogische und spöttische Traktate - und nicht alles, was er verfaßte, hat sich im literarischen Olymp etabliert.

Aber seinerzeit, Ende des 18. Jahrhunderts, war der schreibende Adels spröss ein durchaus erfolgreicher Autor. Reich werden konnte man damals damit nicht. Seit dem 14. Jahrhundert hatte die Knigges „Herren auf Bredenbeck und Pattensen“ - den Landstrich südlich von Hannover als Guts- und Gerichtsherren regiert. Adolfs Vater schien den Genüssen des weltlichen Lebens keinesfalls abhold und war gewiß kein Sparbrötchen: Als Adolf jedenfalls 1766 sein Erbe hätte antreten können, befand es sich bereits in der Hand der Gläubiger. Dem später erfolgreichen Autor war es Zeit seines Lebens nicht vergönnt, den Familienbesitz wieder zurückkaufen zu können.

Dennoch verlief die Karriere des jungen Knigge leidlich: Nach Jura-Studium in Göttingen tummelte sich Adolf recht bald am Hofe des Landgrafen Friedrich II. von Hessen-Kassel. Das paßte natürlich wie die Faust aufs Auge: Hier der verarmte Adelige mit Revoluzzer-Fantasien und Faible für die Menschenrechte, dort der Kasseler Potentat, der für gutes Geld seine Landeskinder an den König von England verhökerte, der die Hessen gegen die abtrünnigen amerikanischen Provinzen ins Feld schickte. Adolf lebte sich trotzdem gut bei Hofe ein, begann ein Techtelmechtel mit der Kusine des Landgrafen und war ob seiner scharfen Zunge und seines wachen Geistes durchaus beliebt.

Seine unselige Leidenschaft, die Leute auf die Schippe zu nehmen, brachte ihn wider Willen unter die Haube. Henriette von Baumbach - weder besonders schön noch besonders helle, aber immerhin Hofdame - war offenbar bevorzugte Zielscheibe von Knigges Spott. Landgräfin Phili­ppine, die Henriette schätzte, rächte sich aufs Furchtbarste: Sie gab, da Knigge ja ganz offenkundig die Gesellschaft der Baumbacherin schätzte, recht einseitig die Verlobung bekannt - eine Zwickmühle, aus der sich der spottlustige Freiherr nicht mehr retten konnte.

Die Ehe, aus der seine einzige Tochter Philippine (geboren 1775) stammt, hielt erwartungsgemäß nicht ewig, und seine schlechte Meinung über den Bund fürs Leben muß Knigge wohl in dieser Zeit verfestigt haben. „Es ist ein Stand der schwersten Sklaverei, ein Seufzen unter den eisernen Fesseln der Notwendigkeit, ohne Hoffnung einer anderen Erlösung, als wenn der dürre Knochenmann mit seiner Sense dem Unwesen ein Ende macht.“ Von Amors Pfeilen und seinen Opfern hielt der Zwangsvermählte nicht mehr viel. „Verliebte sind, so wenig als andere Betrunkene, zur Gesellschaft geschickt“, giftete er.

Beruflich lief es auch nicht glänzend - obwohl Knigge bereits in Kassel die Nähe der kurfürstlich protegierten Loge „Zum gekrönten Löwen“ sucht. Er hofft, seine neuen Freunde konnten ihm bei Erlangung der Promotion behilflich sein. Ein Irrglaube: Geholfen wird dort nur gegen Bares, das hat Knigge nicht, und er wandert enttäuscht gen Hanau.

Hier erwartet ihn eine Anstellung als „inoffizieller Maitre de Plaisir“ am Hofe des Erbprinzen Wilhelm - und die Freimaurerloge „Ritter vom weißen Schwan“. Die protegieren ihre Logenbrüder zwar honorarfrei, sind aber leider ein Haufen mystischer Schwärmer, die sich mit den angeblichen Traditionen der Templer dicke tun und die Freimaurerei als Privileg des Adels betrachten. Nichts für Knigge.

Ihn zieht es jetzt nach Frankfurt - und zur Loge „Zur Einigkeit“. Im Jahre 1780 bezieht er ein Gartenhäuschen an der Bockenheimer Warte. Seiner mystischen Ader tut die Mainluft gut: Knigge schließt sich dem bayerischen Illuminaten-Orden an und schreibt dessen Chef Adam Weißhaupt regelmäßig Briefe über den Zustand der Frankfurter Freimaurerei. Die Illuminaten gedeihen am Main unter Knigges Regie prächtig: In den Mitgliedslisten findet sich neben jeder Menge Hochadel und Geistlichkeit auch der unvermeidliche Geheimrat Goethe. Ob er am Aufbau eines hessischen Illuminaten-Ordens arbeitet oder, wie oft vermutet, auf eine Vereinigung von Freimaurerei und Illumination hofft (die schließlich beide auf dem Geist der Aufklärung basieren), bleibt unklar.

Jedenfalls geht es daneben. Seiner Karriere - Knigge lebt mittlerweile von der Schriftstellerei - bringt weder der eine noch der andere Orden neuen Schub. Knigge kehrt beidem den Rücken. Den Geruch von Geheimbündnerei und Jakobinertum wird er Zeit seines Lebens nicht mehr los.

Frankfurt, das er 1782 verläßt, behält Knigge in nicht allzu guter Erinnerung. Unter den deutschen Reichsstädten, giftet er im Nachhinein, befände sich eine, die maßlos überschätzt werde. Und die schon damals kein tolles Pflaster war für einen chronisch Klammen: „Wehe dem Manne, der bei einem Frankfurter Kaufmann Verbindlichkeiten haben sollte.“

So vergessen die Zeit des Wirkens des Freiherrn in Frankfurt ist, so unvergessen ist sein Lebenswerk - wenn auch brutal entstellt. Sein Hauptwerk - 1788 erschienen - gilt heute noch als Benimm-Fibel und Religions-Substitut für Gouvernanten. Was Blödsinn ist. Es ist eher ein philosophischer Exkurs über das Verhalten der Menschen untereinander - unabhängig von gesellschaftlichem Stand und Bildung. Das Buch wurde vielfach umgeschrieben, verfälscht, verwässert von Post-Autoren, die Benimm mit Etikette verwechselten.

 

Am 28. August 1782 hat im Schloß Philippsruhe der Hanauer Freimaurerkongreß stattgefunden. Aus diesem Anlaß hatte an diesem Tag im Jahr 2007 der Hanauer Geschichtsverein eingeladen.

Referent des Abends war Ingo Hermann, der soeben mit einer umfangreichen und viel beachteten Monographie über den Freiherrn Knigge hervorgetreten ist. Überdies nahm der Verein „Graf Philipp Ludwig von Hanau“ (Hanauer Märteswein-Vereinigung) das historische Datum zum Anlaß, ein äußerst seltenes Werk zu jenem Ereignis, das in Wilhelmsbad und in Philippsruhe stattgefunden hat, dem Verein und damit der Hanauer Öffentlichkeit zu übergeben. Mit einem Erstdruck von Knigges „Abhandlung über den Freimaurerkongreß, der am 28. August 1782 in Wilhelmsbad unweit Hanaus stattgefunden hat” ist diese äußerst seltene und wohl authentischste Darstellung des Ereignisses in Hanau vorhanden.

Gleichwohl mußten die Zuhörer zur Kenntnis nehmen, daß Knigge selbst gar nicht an dem Kongreß teilgenommen hat. Zwar gehörte der nachmalige Vordenker der deutschen Aufklärung und publizistische Streiter für die Emanzipation des Bürgertums wohl zu den Organisatoren, doch in Hanau konnte sich der Freiherr nicht mehr so recht blicken lassen. Wie Hermann bildhaft beschrieb, war Knigge, ohne rechtes Einkommen und nachdem er am Kasseler Hof erst „zwangsverheiratet” wurde und dann in Ungnade gefallen war, im Jahr 1777 nach Hanau gekommen. Am Hofe des Erbprinzen hatte er ohne Festanstellung, also ohne Salär, die Rolle eines Maitre de Plaisir und Direktors des Liebhabertheaters übernommen.

Doch seine offene, bisweilen die Etikette des Hofes grob mißachtende Art hatte ihn schnell erneut in Ungnade gebracht, so daß er schließlich Hanau 1780 verlassen mußte. Von Frankfurt aus begann er eine schriftstellerisch-publizistische Karriere, die ein Werk von 24 Bänden hervorbrachte und in deren Verlauf Knigge nicht nur Mozarts „Hochzeit des Figaro” ins Deutsche übertrug, sondern sich vor allem engagiert für die Gedanken der Aufklärung einsetzte. Dazu gehörte, daß er, wie Goethe, Schiller oder Mozart, der Freimaurerei anhing, einer Vorform politischer Parteien unserer Tage, denn in der höfischen Gesellschaft konnten nirgendwo anders als in diesen geschlossenen Zirkeln politische Ideen diskutiert und entwickelt werden.

Der Hanauer Kongreß, der eine Art Vereinigungskongreß aller Strömungen der Freimaurerei werden sollte, endete ergebnislos. Gleichwohl ist er eines der großen Ereignisse der Freimaurerei und hat deren prominente Vertreter nach Hanau gebracht, wie etwa den Herzog von Braunschweig und den Grafen St. Germain.

Am Beispiel des hochgebildeten und sprachgewandten Knigge, den Hermann bis heute deshalb für unterschätzt hält, weil er stets fälschlicherweise in die Schublade eines Romanschriftstellers gesteckt werde, konnte der Referent ein interessantes Schlaglicht auf die Zustände am Hanauer Hof werfen. Dieser steht exemplarisch für die überkommenen Strukturen des 18. Jahrhunderts, die ja dann schließlich mit der Französischen Revolution 1789 vollends ins Wanken gerieten. Über Hanau, jenes „niedliche Städtchen”, hat sich Knigge zunächst sehr positiv geäußert. „ ... und wenn ich je einen Hof gesehen habe, wo mir alles so wohl gefallen hat, so war es dieser. So viel ungezwungene Höflichkeit gegen Fremde, so ein guter nicht geschraubter Ton, so eine gute, gnädige Herrschaft, so viel Häuslichkeit und Einigkeit!” Doch das undiplomatische Auftreten des gerade einmal 25-Jährigen machte dann alles zunichte.

Abschließend ging Hermann noch auf Knigge als Namensgeber für das gleichnamige Benimm-Buch ein. Mit seinem zu Lebzeiten schon erfolgreichen Werk „Über den Umgang mit Menschen” habe Knigge eine Lanze für gesellschaftlichen Anstand brechen wollen und dies mit Blick auf die erstarkende Bürgersicht. Adelige Tugenden sollten weiterentwickelt werden, doch den Adel selbst sah Knigge so kritisch, daß er das „von” aus einem Namen tilgte. Mit seinem Buch hatte er also keineswegs die Tischsitten im Visier, vielmehr habe sein Verleger nach Knigges Tod 1796 den anhaltenden Bestseller bis zur Unkenntlichkeit umschreiben zu lassen. Daß der Name Knigge zu einem Gattungsbegriff für allerlei Benimm-Bücher „bis hin zum Sex-Knigge” geworden sie, dies habe der Freiherr nicht ahnen können.

 

Die Brüder Grimm 1785

Der Name Grimm wird in den Ratsprotokollen der Altstadt Hanau zum erstenmal 1639 erwähnt: Johannes Grimm, Gastwirt im „Weißen Roß“, nahe der Kinzigbrücke. Er kam von Bergen, wo die Familie seit dem Jahre 1549 nachgewiesen werden kann. Später war er Schaffner (Verwalter) des Johanniter-Hauses in Rüdigheim. Der Urgroßvater Friedrich Grimm war in Neu-Hanau am 16. Oktober 1672 geboren und ist anscheinend der erste der Familie gewesen, der einen gelehrten Beruf erwählte: Er wurde Prediger und starb 1748 als Konsistorialrat in Hanau.

Sein Sohn Friedrich, der Großvater der Brüder, 1707 geboren, wurde Prediger in Steinau an der Straße. Aus seiner Ehe mit Christine Elisabeth Heilmann, Tochter des Hofgerichtsrates, Stadtschultheißen und Amtmanns des Büchertals, Johann Georg Heilmann zu Hanau, entsprossen zehn Kinder, von denen jedoch nur zwei Töchter und ein Sohn den Vater überlebten. Dieser Sohn, Philipp Wilhelm, am 19. September 1751 in Steinau geboren, ließ sich nach seinem Studium in Marburg und Herborn in Hanau als Advokat nieder und heiratete 1783 Dorothea Zimmer, Tochter des hessisch-hanauischen Kanzleirates Johannes Hermann Zimmer. Grimm wurde später Hochfürstlicher hessen-hanauischer Stadt- und Landschreiber. Die Ehe war mit neun Kindern, acht Söhnen und einer Tochter, gesegnet; aber von dieser Kinderschar blieben nur fünf Söhne und die Tochter am Leben.

Jakob und Wilhelm waren das zweite und dritte Kind. Jakob wurde am 4. Januar 1785, Wilhelm am 24. Februar 1786 in dem breiten Hause auf der Südseite des Freiheitsplatzes (gleich vor dem jetzigen Kino) geboren, das Hanauer Bürger im Jahre 1871 mit einem Bronzerelief der Brüder und einer Marmortafel mit Inschrift schmücken ließen. Gegenüber auf dem Freiheitsplatz steht ein Gedenkstein.

 

Reisen war zu Grimms Zeiten eine beschwerliche Beschäftigung (In heutiger Währung hätte die Fahrt von Kassel nach Hanau umgerechnet 250 Euro gekostet). „So prächtig wie heute waren die Kutschen damals nicht“, bemerkte der Sprach- und Literaturwissenschaftler Wilhelm Grimm, der 1786 das Licht der Welt erblickte („Von unserer Mutter in einer Mischung aus Wasser und Wein gebadet“, verriet sein um ein Jahr älterer Bruder Jacob). So mondän ging es auf Achse nicht zu, im Gegenteil: Blieb der Wagen stecken, mußten die Passagiere „den Karren aus dem Dreck ziehen“ und auch bei Reparaturarbeiten einmal mit anpacken.

Abgestiegen sind die Reisenden nicht in barocken Residenzen, sondern in den so genannten „Postschenken“. Dort wurde zunächst getrunken und gespeist, der Gastraum wandelte sich anschließend zum Schlafsaal. Die Zeitgenossen der Märchensammler nächtigten in den überfüllten Schenken in Kleidung und Schuhen sowie auf den Tischen oder auf dem Boden. Wilhelm Grimm wußte sich zu helfen, er reiste nämlich stets mit eigener Bettwäsche durch das Land.

Der Lebensstil der Grimms war durchaus modern. Zunächst lebten sie mit ihrer acht Jahre jüngeren Schwester Charlotte Amalie zusammen. Als „Lottchen“ allerdings heiratete und die Wohngemeinschaft verließ, mußte eine neue Frau in den Haushalt. Wilhelm heiratete im Mai 1825 Henriette Dorothea Wild, die Tochter des Apothekers Wild in Kassel, die er schon als Kind gekannt hatte. Jakob blieb unvermählt. Dorothea aber war auch dem Schwager eine treue Freundin und Beraterin, sie hat Jacob Grimm bis zu dessen Tod mitversorgt. Während die beiden in ihrer Kindheit in Zucker getränkte Brotkrumen als Bonbons lutschten, Gugelhupf liebten und bei Krankheit schon mal einen Schnuller mit Branntwein bekamen, speisten sie deutlich abwechslungsreicher als das normale Volk.

Das kaufte auf dem Hanauer Wochenmarkt Getreide, Brot, Käse, Wurst und Fleisch, während bei den Privilegierten auch Oliven, Olivenöl, Schokolade. Schaumwein, Kaffee, Gewürze und Südfrüchte auf den Tisch kamen. „Ich bezweifle aber, daß Hanau jemals eine reife Frucht erreicht hat, die nicht aus einer Orangerie kam“, meinte Jacob Grimm. der sich auch während der streng eingehaltenen Fastenzeit zu helfen wußte. „Dann wurde die Brezel einfach in den Wein getunkt und war keine feste Nahrung mehr“.

Am Tisch saßen er und sein Bruder mit Besteck und Geschirr aus Zinn. Die Reichen leisteten sich Kristall für ihre Tafel. Eine besondere Rolle nahm der Löffel ein. Da ohne ihn sinnbildlich niemand leben konnte, bekamen Kinder zur Geburt einen geschenkt und behielten ihn das ganze Leben. Mit Eintreten des Todes „gab jemand den Löffel ab“.

Die Brüder Grimm spielten mit Reifen, Seifenblasen, Stelzen, Drachen und Bällen. Für die Mädchen gab es je nach sozialem Status Puppen aus Holz oder Porzellan. „Auch wir hatten eine Puppenküche“, wunderten sich Jacob und Wilhelm, die lieber mit ihren Bleisoldaten in den Krieg zogen. „Zeit zum Spielen gab es aber nur wenig, da Kinder entweder früh als Arbeitskraft wirken mußten oder in den privilegierten Schichten mit Musikinstrumenten ,erzogen' wurden.“

 

Als Jakob sechs Jahre alt war, wurde der Vater zum Amtmann in Steinau - wo er selbst geboren war - ernannt, und im herrlichen Kinzigtal erlebten die Kinder eine schöne Jugendzeit. Der Vater starb schon 1796, und nun lag die ganze Sorge des Unterhalts und der Erziehung auf den Schultern der Mutter.

Ende September 1798 kamen die beiden Knaben nach Kassel, wo sie bei ihrer Tante Henriette Philippine Zimmer, der Kammerfrau der Landgräfin Karoline von Hessen, untergebracht wurden.

Da die bisherige unterrichtliche Vorbildung recht mangelhaft war, konnte Jakob nur in die Unterquarta (später Quinta), aufgenommen werden; Wilhelm mußte bis Ostern warten und sich durch Nachhilfeunterricht für diese Klasse vorbereiten. Aber nachdem sie beide den Anschluß an ihre Klassen gefunden hatten, machten sie durch unermüdlichen Fleiß und ihre natürliche Begabung so rasche Fortschritte, daß sie die Schule in der Hälfte der vorgeschriebenen Zeit durchliefen. Jakobs Abgangszeugnis beginnt mit den Worten: „Das Lob herrlicher Geistesgaben und eines unaufhaltsamen Fleißes verdient der edle Jüngling Jakob Grimm.“

Nach Ostern 1802 bezog Jakob die Universität Marburg. Es war die erste Trennung von seinem Bruder Wilhelm, mit dem er stets in einer Stube gewohnt und geschlafen hatte. Aber den Schmerz der Trennung überwand er, weil „es galt, der geliebten Mutter, deren Vermögen fast zusammengeschmolzen war, durch eine zeitige Beendigung der Studien und den Erfolg einer gewünschten Anstellung einen Teil ihrer Sorge abzunehmen und einen kleinen Teil der großen Liebe, die sie ihnen mit der standhaftesten Selbstverleugnung bewies, ersetzen zu können“.

Wilhelm, der die Jugendjahre ohne Krankheit durchlaufen hatte, fing in seinem letzten Schuljahr an, gefährlich zu kränkeln. Er bezog auch die Universität Marburg und begann, wie sein Bruder Jakob, das Studium der Rechte, hauptsächlich, wie Jakob schreibt, „weil ihr seliger Vater Jurist gewesen sei und die Mutter es so am liebsten hätte“.

Die beiden Studenten mußten sehr sparsam leben, da es ihnen „aller Verheißungen ungeachtet nie gelungen war, die geringste Unterstützung zu erlangen, obgleich die Mutter die Witwe eines Amtmannes war und fünf Söhne für den Staat großzog. Doch hat es mich nie geschmerzt, vielmehr habe ich oft hernach das Glück und auch die Freiheit mäßiger Vermögensumstände empfunden. Dürftigkeit spornt zu Fleiß und Arbeit an, bewahrt vor mancher Zerstreuung und flößt einen nicht unebenen Stolz ein, den das Bewußtsein des Selbstverdienstes gegenüber dem, was anderen Stand und Reichtum gewähren, aufrechterhält“.

In Marburg hörten die Brüder unter anderem die Vorlesungen des jungen Professors Friedrich Karl von Savigny, der sich später einen der berühmtesten Namen in der gelehrten Welt erwarb und mit dem die Brüder eine lebenslange innige Freundschaft verband. Bei einem Besuch bei Savigny sah Jakob zum ersten Male ein Buch aus dem Gebiete der Sprachwissenschaft, in der er sich später den höchsten Ruhm erwerben sollte: eine Ausgabe der Minnesänger.

Als Savigny im Jahre 1804 wegen Quellenstudien nach Paris ging und bei diesen Forschungen einen Mitarbeiter benötigte, berief er Jakob Grimm, der Ende Januar 1805 in Paris eintraf. Die Trennung war beiden Brüdern schwer, und wie sehr sie einander verbunden waren, zeigt ein Brief Jakobs am 12. Juli 1805: „Wir wollen uns, Lieber Wilhelm, einmal nie trennen, und gesetzt, man wollte einen anderswohin tuen, so müsse der andere gleich aufsagen. Wir sind nun diese Gemeinschaft so gewohnt, daß mich schon das Vereinzeln zu Tode betrüben könnte.“ So haben es die Brüder für ihr ganzes Leben gehalten: sie arbeiteten in einem Zimmer an zwei Arbeitstischen, später in zwei nebeneinander liegenden Zimmern.

Im September 1805 traf Jakob wieder in Marburg ein und nach bestandenem Examen fuhr er mit Wilhelm zur Mutter, die inzwischen ihren Wohnsitz nach Kassel verlegt hatte. Noch in demselben Winter bewarb sich Jakob um eine Anstellung als Assessor oder Sekretär bei der Regierung, wurde jedoch nur in einer kleinen Stellung im Sekretariat des Kriegsministeriums mit einem jährlichen Gehalt von hundert Talern angenommen. In seiner freien Zeit beschäftigte er sich eifrig mit dem Studium der Literatur des Mittelalters. Wilhelm hatte im Frühjahr 1806 seine Prüfung ebenfalls bestanden und wartete auf eine Anstellung in Kassel.

Aber nach der Besiegung Preußens bei Jena und Auerstedt im Jahre 1806 rückten am 1. November französische Truppen in Kassel ein. „Es waren meines Lebens härteste Tage, daß ich mit ansehen mußte, wie ein stolzer höhnischer Feind in mein Vaterland einzog.“ (Jakob Grimm). Durch eifriges Studium und Versenken in das „Altertum unserer edlen Sprache und Dichtkunst, aus welcher auch Seitenpfade in das altheimische Recht einschlugen“, kamen beide über die traurige Zeit der Fremdherrschaft hinweg.

Das Kriegskollegium, bei dem Jakob Grimm angestellt war, wurde unter der französischen Herrschaft in eine Truppenverpflegungskommission umgewandelt, und da er des Französischen mächtiger war als alle übrigen Beamten, wurde ihm ein großer Teil der lästigen Geschäfte aufgebürdet.

Im Jahre 1807 bat er um seine Entlassung aus dem ihm nicht zusagenden Dienst. Eine Bewerbung um eine Stelle an der öffentlichen Bibliothek hatte keinen Erfolg. Da seine Besoldung ausfiel, war es ein kummervolles Jahr, da er nichts dazu beitragen konnte, der Mutter beim Unterhalt der Familie zu helfen. Dazu kam, daß Ende Mai 1808, erst 52 Jahre alt, die Mutter starb, „an der wir alle mit warmer Liebe hingen, und nicht einmal mit dem Trost, eines ihrer sechs Kinder versorgt zu wissen. Hätte sie nur wenige Monate noch gelebt, wie innig würde sie sich meiner verbesserten Lage gefreut haben.“

Auf Empfehlung des Geschichtssehreibers Johannes von Müller wurde Jakob Grimm zum Bibliothekar der Privatbibliothek des Königs Jerome mit zweitausend Franken Gehalt ernannt, die bald auf dreitausend erhöht wurden. Er hatte nicht viel Arbeit in seiner Stellung, um so mehr konnte er sich mit seinen Lieblingsschriften, den Minnesängern und der altdeutschen Sprache und Dichtung, beschäftigen.

Wilhelm mußte im Frühjahr 1809 wegen einer Herzkrankheit und wegen seiner früheren Atembeschwerden einen berühmten Arzt in Halle befragen. Im Spätherbst reiste er nach Berlin, um Achim von Arnim zu besuchen, der zusammen mit Clemens Brentano im Jahre 1806 die berühmte Volksliedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“ herausgegeben hatte. Mit beiden Dichtern der Romantik waren die Brüder durch Savigny, der der Schwager Brentanos war, bekanntgeworden. In der von beiden Dichtern herausgegebenen „Zeitung für Einsiedler“ veröffentlichte Jakob seine Gedanken über das Verhältnis von Poesie und Geschichte und Wilhelm Übersetzungsproben aus seinem erst 1811 abgeschlossenen Buche „Altdänische Heldenlieder, Balladen und Märchen“. Auf der Heimreise hatte Wilhelm das Glück, auf Empfehlung von Achim von Arnim von Goethe in Weimar empfangen zu werden.

Die Kur in Halle hatte Wilhelm gut getan; das Übel war zwar noch nicht ganz verschwunden, aber die Anfälle kamen seltener und nicht mehr so heftig. Er selbst bezeichnet das Jahr 1809 als Wendepunkt.

Im Jahre 1813 ging die Fremdherrschaft zu Ende. Bald nach der Schlacht bei Leipzig kehrte die Kurfürstliche Familie nach Kassel zurück, vom Volke mit großem Jubel empfangen. Im Dezember 1813 wurde Jakob Grimm zum Legationssekretär ernannt und dem hessischen Gesandten beim großen Hauptquartier der verbündeten Heere beigegeben. Und Wilhelm Grimm erhielt 1814 die Stelle eines Bibliotheksekretärs an der Museumsbibliothek in Kassel.

Neujahr 1814 reiste Jakob von Kassel ab und kam endlich im April in dem eingenommenen Paris an. Er benutzte trotz der Unruhe der Zeiten jeden Augenblick, um in den Bibliotheken der Städte nach literarischen Schätzen zu forschen. In Paris mußte er auftragsgemäß nach den aus Hessen verschleppten Kunstschätzen und Büchern forschen und sie zurückfordern. Er entledigte sich dieses Auftrages mit großem Geschick. Derselbe Gehilfe, der ihm die Bücher in Kassel beim Abzug der Franzosen 1813 hatte packen helfen, mußte sie ihm jetzt wieder ausliefern.

Kaum war er Juli 1814 nach Kassel zurückgekehrt, als er den hessischen Gesandten, den Grafen Keller, zum Kongreß nach Wien begleiten mußte. Das diplomatische Amt machte ihm weniger Freude, und fast in jedem Briefe finden sich Klagen. „Vom Kongreß ist nicht viel zu rühmen: 1. geschieht nichts, 2. was geschieht, heimlich, kleinlich, gewöhnlich und unlebendig. Auf diesem Wege entspringt aus jeder Frage wieder eine Vorfrage, und aus der Vorfrage noch eine andere, worüber sie verzweifeln und sich immer mehr hineinwickeln, währenddes die Grundlage von unserer Not und Notwendigkeit so klar darliegt, daß ordentlich die Stimme eines unschuldigen Kindes auftreten und das Rechte aussprechen sollte.“

Während seiner Tätigkeit in Wien benutzte er jede Minute seiner Freizeit, in den reichhaltigen Bibliotheken zu suchen und zu studieren; auch nahm er die Gelegenheit wahr, das Serbische zu erlernen.

Endlich kam für Jakob Grimm das sehnlichst erwartete Ende des Kongresses herbei, und im Juli 1815 kehrte er nach Kassel zurück. Zum zweiten Male mußte er auf Anforderung der preußischen Behörden, nach Napoleons Rückkehr von der Insel Elba, nach Paris gehen, um die in den vorhergehenden Jahren von den Franzosen geraubten Kunstschätze und Handschriften zurückzufordern. Nach Kassel zurückgekehrt, lehnte er die beabsichtigte Berufung als Gesandtschaftssekretär am Bundestag in Frankfurt ab, da er um keinen Preis in der diplomatischen Laufbahn bleiben wollte.

 

Im April 1816 wurde Jakob zum Bibliothekar an der Kasseler Bibliothek ernannt, an der Wilhelm seit 1814 Bibliotheksekretär war. „Von jetzt ab beginnt die ruhigste, arbeitsamste und vielleicht auch die fruchtbarste Zeit meines Lebens...“. Nichts hätte gefehlt, als eine mäßige und gerechte Gehaltszulage für mich und meinen Bruder, und es würden uns in dieser Hinsicht wenig Wünsche übrig geblieben sein.“ Jakob bezog 600, Wilhelm 300 Thaler Jahresgehalt.

Wilhelm hätte längst Anrecht auf eine Beförderung gehabt, aber die Zusammenarbeit mit seinem Bruder galt ihm mehr. „Dankbar haben wir die glückliche Zeit genossen, wo wir eine willkommene und belehrende Beschäftigung fanden, daneben Muße zum Studieren und zur Ausführung mancher literarischer Pläne.“ (Wilhelm.) Wie einträchtig die Brüder zusammen lebten und wie sehr sie jede Trennung vermieden, zeigt die Tatsache, daß Jakob eine ehrenvolle Berufung als Professor an die neugegründete Universität Bonn ablehnte!

Inzwischen war schon während der Franzosenzeit der wissenschaftliche Ruf der Brüder durch eine Reihe hervorragender Veröffentlichungen begründet worden. Jakob hatte neben einer Anzahl von Aufsätzen in wissenschaftlichen Zeitschriften vierzig altspanische Romanzen, Wilhelm eine Übersetzung der dänischen Heldenlieder, aus denen er bereits 1809 Goethe vorgelesen hatte, herausgegeben. Gemeinschaftlich hatten sie 1812 die beiden ältesten deutschen Gedichte, das Hildebrandslied und das Wessobrunner Gebet, veröffentlicht, 1815 folgte das mittelhochdeutsche Epos „Der arme Heinrich“ von Hartmann von Aue und die Lieder der alten Edda.

Für alle Zeiten aber wurden ihre Namen in das Herz aller Deutschen eingeschrieben durch die „Kinder- und Hausmärchen“ (1812 bis 1815). „Die Märchen haben uns“, so konnte Wilhelm bereits 1815 sagen, „bei aller Welt bekannt gemacht.“ Sie sind bald in alle Kultursprachen übersetzt worden. In der Vorrede zum ersten Band heißt es: „Alles ist mit wenigen Ausnahmen, fast nur in Hessen und den Main- und Kinziggegenden in der Grafschaft Hanau, wo wir her sind, nach mündlicher Überlieferung gesammelt...“. Und in der Vorrede zu dem 1815 erschienenen zweiten Band wird auf die oft genannte hessische Märchenfrau, die „Viehmännin“ aus dem Dorfe Zwehren, hingewiesen: „Diese Frau, nicht viel über 50 Jahre alt, bewahrt diese alten Sagen fest in dem Gedächtnis. Sie erzählt bedächtig, sicher und ungemein lebendig, erst ganz frei, dann, wenn man will, noch einmal langsam, so daß man ihr mit einiger Übung nachschreiben kann; niemals ändert sie bei einer Wiederholung etwas in der Sache ab und bessert ein Versehen, sobald sie es bemerkt, mitten in der Rede gleich selber.“ Nach handschriftlichen Notizen Wilhelm Grimms sind noch zwei Kasseler Familien an der Sammlung beteiligt: Die Familien Wild und Hassenpflug. Eine weitere Gruppe der Märchen stammt aus dem Paderbornschen, sie sind zum Teil in westfälischer Mundart geschrieben.

Wilhelm Grimms Märchensammlung hat bald im ganzen deutschen Sprachgebiet Nachahmung gefunden: von der Ostsee bis in die Schweizer und österreichischen Gebiete wurde eine reiche Ernte eingebracht. Die Arbeiten der Brüder strahlten auch über die deutschen Grenzen aus, überall wurden Märchensammlungen veranstaltet, und es zeigte sich, wie in allen Kulturländern in diesen Volksdichtungen eine auffallende Übereinstimmung gewisser Motive herrscht. Noch eine weitere bedeutende Folge zeitigten die Grimmschen Sammlungen von Märchen und Sagen: von ihnen aus gingen die wissenschaftlichen Bestrebungen der Volkskunde in allen Ländern, die heute zu einem nicht mehr wegdenkbaren Bestandteil der Sprachwissenschaft geworden ist.

 

Im Jahre 1816-1818 gaben die Brüder eine zweibändige Sammlung „Deutsche Sagen“ heraus. Der erste Band enthält die örtlich gebundenen, der zweite die geschichtlichen Sagen. Es war eine mühevolle, fleißige Arbeit, in der sie den Unterschied darstellten zwischen der an einem bestimmten Ort, an geschichtliche Personen und Ereignisse gebundene Sage und dem frei von Zeit und Raum dastehenden Märchen.

Wenn alles Übrige ihrer Werke vergessen würde, mit den Märchen und den Sagen haben die beiden Brüder sich für das deutsche Volk unsterblich gemacht. Mit Ehrfurcht vor den Regungen der Volksseele und deshalb auch mit den philologischen Streben nach genauer Wiedergabe der Überlieferung haben sie ihr bedeutendes Kultur-Sammelwerk vollbracht.

Obwohl die Brüder bei ihrer Arbeit weiterhin einträchtig zusammenwirkten in der Erforschung der deutschen Sprache und Dichtung, trat allmählich, der Neigung des einzelnen entsprechend, eine getrennte Richtung heraus: Wilhelm widmete sich weiterhin der alt- und mittelhochdeutschen Dichtung, Jakob beschäftigte sich mit dem formalen Aufbau der Sprache. Im Jahre 1819 erscheint von ihm der erste Band der deutschen Grammatik, der von den Gelehrten mit Begeisterung aufgenommen wurde. Im Jahre 1829 erschien eine zweite gänzlich umgearbeitete Auflage, die das zwar schon bekannte, aber von Jakob Grimm erst formulierte Gesetz der Lautverschiebung enthält, das seinen Namen in der gesamten gelehrten Welt berühmt machte und das die Engländer Grimm’s Law (Gesetz) nennen.

Es wurde schon früher erkannt. daß die indogermanischen Sprachen (das Arische, das Iranische, das Armenische, das Griechische, das Albanesische, das Italienische, das Keltische und das Germanische) einmal aus einem Volke hervorgegangen sind. Jakob Grimm aber erkannte, daß sich die Veränderungen der einzelnen Sprachen nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten vollzogen haben, von denen die auffälligste Erscheinung die Lautverschiebung ist. So wird indogermanisch „p“ zu „f“ verschoben, z. B. lateinisch „pellis“ wird zu „Fell“, „nepos. Enkel oder Neffe“ wird zu „Neffe“ und „pater“ wird zu „fater“. Indogermanisch „t“ wird zu einem Zischlaut: lateinisch „tres“ wird zu englisch „three“, und im Deutschen, das im sechsten bis achten Jahrhundert eine nochmalige Verschiebung durchmacht, zu „d“ verschoben. Indogermanisches „k“ wird zu einem Gaumen- oder Kehlreibelaut verschoben: lateinisch „dico“ wird zu „zeihen“, lateinisch „lucere“ wird zu „licht“.

Bis 1837 erschienen noch drei weitere Bände, die die Wortbildung und Satzlehre behandeln. Die „Deutsche Grammatik" ist nicht die Darstellung eines Systems, wie wir sie in unseren Schulgrammatiken haben, keine Aufstellung von Sprachregeln, sondern sie ist viel umfassender: Sie zeigt den Zusammenhang und die Entwicklung aller germanischen Sprachen (Gotisch, Nordisch, Englisch, Friesisch, Niederländisch und Deutsch).

In die Kasseler Zeit fällt auch die Veröffentlichung der „Deutschen Rechtsaltertümer“ (1828). Jakob hatte das Werk begonnen, um sich von der grammatischen Arbeit zu erholen; aber der Band wuchs zu neunhundert Seiten an, so daß es, wie er im Vorwort sagte, „mit der Erholung beinahe fehlgeschlagen wäre“. Kein anderer als der „Rechtsgelehrte“ Jakob Grimm konnte die sprachlichen Bezeichnungen, wie sie im germanischen Altertum für Rechtsverhältnisse gebraucht wurden, erklären. Sein besonderes Augenmerk richtete sich, da er überall das Sinnliche im Geistesleben suchte, auf die vielen symbolischen Handlungen, die das germanische Rechtsleben begleiteten.

Wilhelm Grimms Augenmerk war besonders auf die Erforschung der alt- und mittelhochdeutschen Denkmäler gerichtet, von denen er eine beträchtliche Anzahl veröffentlichte. In den „Altdeutschen Wäldern“, einer Zeitschrift, die die Brüder von 1813-1816 herausgaben, erschienen Wilhelms umfassende Studien zu den deutschen Heldensagen. Alles, was er aus den alten Epen an Hinweisen und Andeutungen auf die Sage von Siegfried, Dietrich von Bern, Ermanarich und andere Helden gefunden hatte, kam im Jahre 1829 als die „Deutsche Heldensage“ heraus, die man als Wilhelms Hauptwerk ansehen darf.

 

Im Jahre 1829 erlebten beide Brüder eine arge Enttäuschung: Nach dem Tode des ersten Bibliothekars glaubten sie, gerechten Anspruch auf Beförderung zu haben. Allein ein anderer wurde ihnen vorgezogen. Jakob blieb zweiter Bibliothekar, Wilhelm mußte weiterhin mit der Stelle eines Bibliotheksekretärs zufrieden sein, die er seit 1815 innehatte. Da die Brüder keine Aussicht auf Beförderung sahen, so folgten sie im Oktober 1829 einem Ruf des Königs von Hannover an die Universität Göttingen: Jakob als Bibliothekar und Professor, Wilhelm als Unter-Bibliothekar. Wilhelm wurde schon 1831 zum außerordentlichen, Jakob 1835 zum ordentlichen Professor ernannt. In seiner Antrittsrede am 13. November 1830 sprach Jakob Grimm über die Liebe zum Vaterlande und das Heimweh.

In die Göttinger Zeit fällt die Veröffentlichung der „Deutschen Mythologie" (1835), in der Jakob Grimm zeigen will, „daß die Herzen unserer Voreltern des Glaubens an Gott und Götter voll waren, daß heitere und großartige, wenngleich unvollkommene Vorstellungen von höheren Wesen, Siegesfreude und Todesverachtung ihr Leben beseligten, daß ihrer Natur und Anlage fernstand jenes dumpfbrütende Niederfallen vor Götzen und Klötzen“.

In den Jahren 1840 bis 1863 erschienen von Jakob Grimm die „Weistümer“ in vier Bänden, eine umfangreiche Sammlung altertümlicher dörflicher Rechtsanschauung, heute noch eine Fundgrube für alle, die sich mit der Erforschung früherer dörflicher Verhältnisse befassen.

Die Tätigkeit in Göttingen dauerte für Jakob Grimm nur sieben, für Wilhelm acht Jahre. Mit der Thronbesteigung des Herzogs Ernst August von Cumberland am 20. Juni 1837 änderte sich die politische Lage im Königreich Hannover. Der neue Herrscher, ein hochfahrender aristokratischer Absolutist, hob die Verfassung von 1833 auf und regierte mit der Verfassung des Jahres 1819, bis mit den neuen Ständen eine neue Verfassung vereinbart sei.

Unruhe und Widerspruch regten sich im Lande, und sieben aufrechte Professoren der Universität Göttingen, darunter die Brüder Grimm, protestierten in einem Schreiben, „daß sie das Staatsgrundgesetz von 1833 für gültig hielten und nicht zugeben könnten, daß es ohne weitere Untersuchung zugrunde gehe.“ Am 11. Dezember verfügte der König die Entlassung der später sogenannten „Göttinger Sieben“ aus ihrem Amte, und drei von ihnen, und zwar die bedeutendsten, Dahlmann, Jakob Grimm und Gervinus, wurden des Landes verwiesen. Als später der Gedanke auftauchte, die Ausgewiesenen zurückzurufen, erklärte Jakob Grimm: „Wir haben öffentlich das Patent des Königs für ein Unrecht erklärt; von ihm sind unsere Grundsätze als staatsgefährlich bezeichnet worden; beides kann keine Kunst vermitteln.“

Die drei des Landes Verwiesenen erhielten Zwangspässe nach der kurhessischen Grenze über Witzenhausen nach Kassel. Obwohl alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen waren, den Abschied der Studenten von ihren Professoren unmöglich zu machen, waren dreihundert bei Nacht und Nebel den Fußmarsch nach Witzenhausen gegangen und begrüßten die drei Lehrer mit donnerndem Hoch. Einige Professoren waren nachgekommen, und im Rathaussaal wurde eine Abschiedsfeier veranstaltet.

Als die Scheidestunde nahte, kehrten die Professoren und die größte Anzahl der Studenten zurück; etwa fünfzig aber begleiteten die drei Vertriebenen bis nach Kassel. Dort war die Wache am Leipziger Tore verstärkt worden; die beiden Nichthessen Dahlmann und Gervinus wurden als Fremde nur zehn Stunden geduldet: man wollte das gute Einvernehmen zwischen Kurhessen und Hannover nicht trüben lassen. Gervinus ging nach seiner Vaterstadt Darmstadt, Dahlmann nach Leipzig, von wo er am 30. Dezember an Grimm schrieb, der König von Sachsen habe erklärt, die sieben achtbaren Professoren seien ihm in seinem Lande willkommen.

Jakob Grimm fand Zuflucht im Hause seines Bruders Ludwig, wo die Brüder von 1823 bis 1829 gewohnt hatten. Das Verhalten der Göttinger „Sieben“ fand in ganz Deutschland einen starken Widerhall, und ihre Maßregelung erregte allgemeine Teilnahme. Zahlreiche Dankschreiben trafen ein, darunter auch aus Hanau. Sammlungen wurden veranstaltet, auch in unserer Vaterstadt, um die tapferen Männer vor Not zu schützen. Wilhelm Grimm, der in einem Brief an Dahlmann bemerkte, daß ihn der bloße Anblick der Menschen und Häuser in Göttingen anwidere, siedelte im Oktober nach Kassel über.

Ihr Leben hier war ganz der wissenschaftlichen Arbeit gewidmet. Unter ihren Freunden und Bekannten in Kassel gab es einige Leisetreter, die den Schritt der Brüder mißbilligten und sich von ihnen zurückzogen. Aber die Arbeit half ihnen auch über diese Unannehmlichkeit hinweg. Mit den bedeutendsten Sprachforschern Deutschlands und Frankreichs standen die Brüder in Briefwechsel, und am 8. November 1840 konnte Jakob Grimm an Dahlmann berichten, daß der König von Preußen sie nach Berlin berufen habe, um ihnen ein sorgenfreies Leben und wissenschaftliches Arbeiten an ihrem umfangreichen „Deutschen Wörterbuch“ zu gewähren, das sie schon in der Kasseler Zeit planten. Bedeutende Männer, wie Alexander von Humboldt, Varnhagen und auch Bettina von Arnim, hatten den König Friedrich Wilhelm IV. auf die beiden Grimm aufmerksam gemacht, die eine Zierde der Universität seien.

Im April 1841 siedelten sie nach Berlin über und söhnten sich allmählich mit der Großstadt aus. Außer ihren Vorlesungen hatten sie keine gesellschaftlichen Verpflichtungen und konnten sich ganz ihren wissenschaftlichen Arbeiten widmen.

Im Jahr 1843 unternahm Jakob Grimm auf ärztlichen Rat eine Reise nach Italien und 1844 nach Skandinavien. Überall suchte er in den Bibliotheken nach alten Handschriften. Im Jahre 1846 besuchte Jakob Grimm den Germanisten-Tag in Frankfurt. Ungefähr 200 Gelehrte aus allen deutschen Gauen - Rechtsgelehrte, Geschichts- und Sprachwissenschaftler - waren dort versammelt. Ludwig Uhland schlug den Mann als Vorsitzer vor, „in dessen Hand schon seit vielen Jahren alle Fäden deutscher Geschichtswissenschaft zusammenliefen, von dessen Hand mehrere dieser Fäden zuerst ausgelaufen sind, namentlich der Goldfaden der Poesie, den er selbst in derjenigen Wissenschaft, die man sonst als eine trockene zu bezeichnen pflegt, in deutschem Recht, gesponnen hat, den Namen Grimm brauche ich kaum zu nennen.“

Der Vorschlag wurde mit stürmischem Beifall aufgenommen. Auf der Versammlung des nächsten Jahres in Lübeck wurde er wieder zum Vorsitzenden gewählt. Beim Festmahl wurde er in einem Trinkspruch als ein Herrscher in drei Reichen, im Reiche des Rechtes, der Geschichte und der Sprache, gefeiert. Er dankte tiefbewegt: „Über mich wird bald Gras wachsen. Wird dann meiner noch gedacht, so wünsche ich, daß man von mir sage, was ich selbst von mir sagen darf, daß ich niemals im Leben etwas mehr geliebt habe als das Vaterland.“

Im Jahre 1848 wurde Jakob Grimm in das Frankfurter Parlament gewählt, wo er mit Dahlmann und Gervinus zusammentraf. An den Verhandlungen nahm er nur wenig Anteil. Er hat seine Vaterlandsliebe, wie er sagte, nie in die Bande hingeben wollen, aus denen sich zwei Parteien einander anfeindeten; er habe gesehen, daß liebreiche Herzen in diesen Fesseln erstarrten.“

Nach 1849 ist Jakob Grimm nicht mehr in der Öffentlichkeit aufgetreten. „In seliger Einsamkeit“ saß er über seinen Büchern, verfolgte aber das politische Leben mit großer Teilnahme. Am 16. Dezember 1859 starb Wilhelm Grimm. Es war ein schwerer Verlust für Jakob, nun ohne den getreuen Bruder leben und arbeiten zu müssen, mit dem er zeit seines Lebens in Eintracht und Verbundenheit zusammen gelebt hatte. Den besten Trost fand er in der Arbeit. Endlich im Sommer 1860 war er stark genug, dem geliebten Bruder die Gedächtnisrede in der Akademie zu halten. „Ich soll hier vom Bruder reden, den nun schon ein halbes Jahr lang meine Augen nicht mehr erblicken, der doch nachts im Traum immer noch neben mir ist.“

Mit rastlosem Eifer arbeitete er weiter, so daß seine Schwägerin und seine Nichte ihn öfters durch allerlei Vorwände vom Schreibtisch weglocken mußten. Schon in Kassel, nach seiner Entlassung aus der Universität Göttingen, war auf Anregung des Leipziger Buchhändlers Karl Reimer, ein großer Plan entstanden: die Brüder sollten ein Wörterbuch der deutschen Sprache zusammenstellen, das alle Wörter, die seit dem 16. Jahrhundert von deutschen Schriftstellern gebraucht worden sind, in ABC-Folge umfassen sollte. „Das Wörterbuch soll ein Heiligtum der Sprache gründen, ihren ganzen Schatz bewahren, allen zu ihm den Eingang offenhalten. Das niedergelegte Gut wächst wie die Wabe und wird ein hohes Denkmal des Volkes, dessen Vergangenheit und Gegenwart sich in ihm verknüpfen“ (Jakob Grimm). Die Geschichte eines jeden Wortes, seine Entwicklung und sein Bedeutungswandel vom Althochdeutschen zum Neuhochdeutschen, sollte geschrieben werden; eine unermeßliche Arbeit, die die Brüder allein nicht mehr zu Ende führen konnten. Die erste Lieferung erschien 1852. Jakob konnte die Buchstaben A, B und C, Wilhelm den Buchstaben D fertigstellen. Der Tod nahm ihnen die Feder aus der Hand. Unzählige Gelehrte arbeiteten und arbeiten noch an der Fertigstellung des gewaltigen Werkes, das erst jetzt seiner Vollendung entgegengeht.

Die Gebrechen des Alters zeigten sich auch bei Jakob; trotzdem trug er sich noch mit neuen Arbeitsplänen, und rüstig arbeitete er am Wörterbuch. Im Herbst 1860 wurde er von einer Leberentzündung befallen; am 20. September verschied er. Auf dem Mathäikirchhofe in Berlin wurde er neben seinem Bruder Wilhelm bestattet.

 

Die ganze Lebensarbeit der Grimms war der Erforschung der deutschen Sprache und Literatur gewidmet. In seiner Gedächtnisrede für seinen Bruder Wilhelm führte Jakob aus: „Wir hatten, eine lange schon genährte Neigung ausbildend, unser Ziel auf Erforschung der einheimischen Sprache und Dichtkunst gestellt. Die Denkmäler und Überreste unserer Vorzeit rücken einem unbefangenen Sinne näher als alles Ausländische und scheinen in alle Beziehungen des Vaterlandes einzugreifen. Der Mensch würde sich selbst geringschätzen, wenn er das, was seine Ureltern nach bewährter Sitte lange Zeiten hindurch hervorgebracht haben, verachten wollte.“

Um die beiden Pole Heimat und Vaterland kreiste das Denken und Arbeiten der Brüder ihr ganzes Leben lang, und ihre Sehnsucht war ein geeintes Deutschland. „In unserem widernatürlich gespaltenen Vaterland kann dies kein fernes, sondern nur ein nahes Ereignis sein, das unsere Zeit mit leichter Hand heranzuführen berufen ist; dann mag, was unbefugte Teilung der Fürsten zersplitterte, wieder verwachsen und aus vier Stücken ein neues Thüringen, aus zwei Hälften ein starkes Hessen erblühen, jeder Stamm aber, dessen Ehre die Geschichte uns vorhält, dem großen Deutschland freudige Opfer bringen.“

Charakterlich waren beide Brüder von unendlicher Güte; sie bewahrten sich bis ins hohe Alter ein kindlich reines Gemüt. „Ein Optimismus der edelsten Art war ihm eigen“, sagte Herman Grimm von seinem Vater, „überall, auch in der größten Verwirrung der Dinge, suchte und entdeckte er die Richtung zum Guten.“ Nur ein solcher Charakter konnte in dem Einfachen und Ungekünstelten der Märchen die wahre Dichtung herausfühlen.

Jakob zeichnete in der Gedächtnisrede auf seinen Bruder Wilhelm den Unterschied ihrer Naturen: „Von Kindesbeinen an hatte ich etwas von eisernem Fleiß in mir, den ihm (Wilhelm) schon seine geschwächte Gesundheit verbot. Ihm gewährte Freude und Beruhigung, sich in der Arbeit gehen, umschauend von ihr erheitern zu lassen; meine Freude und meine Heiterkeit bestand eben in der Arbeit selbst. So manchen Abend bis in die späte Nacht habe ich in seliger Einsamkeit über den Büchern zugebracht, die ihm (Wilhelm) in froher Gesellschaft, wo ihn jedermann gern sah und seinen anmutigen Erzählungen lauschte, vergangen.“
Am 18. Oktober 1896 hat das deutsche Volk Jakob und Wilhelm Grimm ein Denkmal auf dem Marktplatz ihrer Vaterstadt errichtet, das wie durch ein Wunder dem Bombenhagel des 19. März 1945 standgehalten hat; es sollte uns und allen folgenden Geschlechtern als Mahnmal gelten, die bedeutendsten Söhne unserer Vaterstadt nicht zu vergessen und mit ihnen zu wetteifern in der Liebe zu Volk und Vaterland und zur Muttersprache, deren Reinerhaltung uns eine heilige Aufgabe sein muß (Bild in Hanau Stadt und Land, Seite 447: Das Grimmdenkmal in Hanau).

 

Logo Brüder-Grimm-Stadt Hanau:

Nach dem Porträt, das ihr „Malerbruder“ Ludwig Emil Grimm 1843 in Berlin zeichnete wurde 2005 das Logo der „Brüder-Grimm-Stadt Hanau“ geschaffen. Das 15 x 15 Zentimeter messende kolorierte Original befindet sich in Schloss Philippsruhe. Auf dem Logo allerdings blicken die Brüder nach rechts, also „vorwärts“, der Zukunft zugewandt (vgl. Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 35).

 

 

Rumfordische Suppenanstalt:

In der Departements-Hauptstadt Hanau des Großherzogtums Frankfurt existierte von 1803 bis 1813 eine sogenannte. „Rumfordische Suppenanstalt“. Sie geht auf Sir Benjamin Thompson zurück. Der Reichsgraf von Rumford wurde 1792 als Farmerssohn in North Woburn (Massachusetts) geboren und war ein richtiger „Tausendsassa“. Als Offizier sorgte er u.a. im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg für Transport, Ausrüstung und Verpflegung der hessischen Kontingente, als bayerischer Staatsrat und Kriegsminister reformierte er die Verwaltung, sorgte für eine bessere Schulbildung für Soldaten, führte die Kartoffel ein, begründete den Englischen Garten in München. Und als Erfinder erinnern ein Rumford-Herd und die Vorläufer der Thermosflasche wie Kaffeemaschine an ihn.

Um eklatanten Hunger und Armut zu beheben rief er Arbeitshäuser und Suppenanstalten ins Leben, in denen gehaltvolle Mahlzeiten ausgegeben wurden. So auch in Hanau. Die Herren Blachière, Leisler, Pfaltz, Ruth, Toussaint und Wolfart fungierten als „Unternehmer“ im Französischen Waisenhaus, Kurfürst Wilhelm bewilligte jährlich zwölf Klafter Eichen- und Birkenholz plus zwölf Achtel Salz. Berühmt ist die Rumfordische Suppe.

Kein geringerer als Conrad Westermayr (1765-1834), Maler, Kupferstecher, ab 1806 Professor und bis zu seinem Tode Direktor der Hanauer Zeichenakademie hat von Rumford porträtiert, der 1814 in Auteuil bei Paris starb (Abbildung: Reichsgraf von Rumford, Lithografie von Conrad Westermayr, um 1810, Schloss Philippsruhe, vgl. Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 164)).

 

 

Franzosenzeit

Mit dem Reichsdeputations-Hauptschluß 1803 wurde Wilhelm IX. Kurfürst in Hessen und Fürst von Hanau, er nannte sich als letzterer Wilhelm I. Für das politische Schicksal Hanaus in dieser turbulenten Zeit war also die Stellung, die der Kurfürst von Hessen in Europa und speziell in seinem Verhältnis zu Napoleon einnahm, allein entscheidend. Und gerade das war nicht gut. Der Kurfürst war zwar ein Gegner alles Französischen, konnte sich jedoch nicht weder politisch noch militärisch auf die Seite der Gegner Napoleons schlagen.

Allerdings hatte er vieles getan, das den Unwillen Napoleons erregte. So hatte er sein Militär auf Kriegsstärke gebracht und die Festungswerke in manchen Städten, so auch in Hanau, erneuern lassen, obwohl Napoleon vorher hatte verlauten lassen, daß er dies als Kriegsdrohung auffassen würde. Als nun Napoleon im Herbst 1806 die Preußen bei Jena und Auerstädt entscheidend geschlagen hatte, verfügte er von Berlin aus die militärische Besetzung der kurhessischen Länder und damit auch des Fürstentums Hanau.

Das Fürstentum Hanau war ein aus den verschiedenartigsten Teilen zusammengesetztes Land. Es erstreckte sich durch die Täler des Mains und der Kinzig hinauf in die Berge des Spessarts und der Rhön und bildete, da es von anderen Territorien mannigfach durchschnitten war, kein zusammenhängendes Ganzes. Das Land umfaßte an Flächengehalt nur etwa 1060 Quadratmeilen und war drei Jahre nach dem Reichsdeputationshauptschluß - von nicht weniger als sechs kleineren und kleinsten Territorien umlagert.

Im Westen grenzte es an Frankfurt und Nassau, im Süden an Hessen-Darmstadt und das Isen­burgische Amt Offenbach, im Osten an das neugeschaffene Fürstentum Aschaffenburg; die nördlichen Grenzen wurden von den Fuldaischen, Ysenburgischen und zum Teil Hessen-Darmstädti­schen Landen gebildet. Es war also eine Ausgeburt der vom Mittelalter her überkommenen deutschen Kleinstaaterei. Es hatte eine eigene in der Stadt Hanau ansässige Regierung, die nur von dem Fürsten in Kassel abhängig war. Dieser Regierung unterstanden die verschiedenen Amtsbezirke mit ihren Gemeinden.

Stadt Hanau (Alt- und Neustadt)                                                                  12.102 Einwohner.

Amt Bergen (Bergen-Enkheim, Seckbach, Fechenheim, Bischofsheim, Gronau, Massenheim, Berkersheim, Preungesheim, Eckenheim, Eschersheim, Ginnheim, Bockenheim, Vilbel):                                                                                            8.678 Einwohner.

Amt Schwarzenfels (Schwarzenfels, Mottgers, Neuengronau, Breunigs, Sterbfritz, Weichersbach, Züntersbach, Oberzell, Heubach, Uttrichshausen)                                4.653 Einwohner

Amt Dorheim (Dorheim, Nauheim, Schwalheim, Röden)                                    974 Einwohner.

Amt Rodheim (Rodheim, Holzhausen, Obereschbach, Niedereschbach, Steinbach):

                                                                                                                           3.489 Einwohner

Amt Altengronau (Altengronau, Jossa, Obersinn, Mittelsinn):                   964 Einwohner.

Amt Brandenstein (Elm, Hutten, Gundhelm, Oberkahlbach):                 2.101 Einwohner.

Amt Steinau (Steinau, Seidenroth, Schlüchtern, Breitenbach, Kressenbach, Wallroth, Hinter­steinau, Reinhards, Marjoß, Bellings, Hohenzell, Niederzell, Ahlersbach, Raith, Drafenberg, Gomfritz, Röhrigs):                                                                                          7.743 Einwohner.

Amt Bieber (Bieber, Büchelbach, Gassen, Röhrig, Lanzingen, Breitenbom, Lützel, Lohrhaupten, Flörsbach, Kempfenbrunn, Mosborn):                                                         3.160 Einwohner.

Amt Altenhaßlau (Altenhaßlau, Eidengesäß, Geislitz, Großenhausen, Lützelhausen, Markwald):                                                                                                                 1.542 Einwohner

Amt Freigericht (Somborn, Altenmittlau, Bernbach, Neuses, Horbach):           2.372 Einwohner.

Stadt und Burg Gelnhausen:                                                                                      2.944 Einwohner.

Amt Büchertal (Kesselstadt, Dörnigheim, Rumpenheim, Hochstadt, Wachenbuchen, Oberdorfelden, Kilianstädten, Mittelbuchen, Rossdorf, Butterstadt, Niederissigheim, Oberissigheim, Rüdighe                                                              5.911 Einwohner.

Amt Babenhausen (Stadt Babenhausen, Dudenhofen, Harreshausen, Langstadt, Oberstadt, Sickenhofen, Hergertshausen):                                                                                                                                                                                                         4.201 Einwohner.

Amt Windecken (Stadt Windecken, Marköbel, Hirzbach, Ostheim, Eichen, Erbstadt, Schloß Naumburg):                                                                                                                                                                                                                                               4.547 Einwohner.

Burggräfenrode                                                                                                             390 Einwohner.

Amt Ortenberg (Bleichenbach, Bergheim, Gelnhaar, Wippenh, Selters, Enzheim, Hainchen):                                                                                                                                                                                                                                                                               2.033 Einwohner

Das waren also etwa 48.000 Einwohner, die die Gesamtbevölkerung des Fürstentums darstellten.

Von einem allgemeinverbindlichen Zusammengehörigkeitsgefühl konnte im Hanauischen sowieso nicht die Rede sein. Denn was hatte zum Beispiel der Einwohner von Bockenheim mit dem Landsmann in der Rhön oder im hohen Spessart gemeinsam? Oder was verband den Bauern in der Wetterau mit dem Industriearbeiter in der Stadt Hanau? Von einem staatsbürgerlichen Sinn für gemeinsame politische Ziele bei den „Untertanen“ war man weit entfernt. Wenn wir uns heute fragen, welche Kraft überhaupt die verschiedenen Teile eines solchen Landes zusammengehalten hat, so können wir nur antworten, indem wir uns in den Geist dieser absolutistischen Zeit hinein zu versetzen suchen: es war der Fürst und die allein von ihm abhängige Maschinerie der Verwaltung.

 

Zwei Beispiele zeugen von der politischen Naivität der Menschen und ihrem kindlichen Glauben an die Macht des angestammten Fürstenhauses. Als einmal noch vor dem Einmarsch der Franzosen ein Hanauer Beamter von einem Einwohner gefragt wurde, ob denn die Franzosen ins Land kämen, antwortete dieser, das sei nicht möglich, denn an der Grenze hingen Schilder mit der Aufschrift „pay neutre“. Oder ein anderer Beamte brachte es tatsächlich fertig, Napoleon bei seinem ersten Aufenthalt in der Stadt Hanau eine Bittschrift zu überreichen, er möge den Kurfürst wieder in sein Amt einsetzen. Er hatte dabei stotternd die Worte hervorgebracht: „Je suis le premier consul de.....“. Napoleon, so wird überliefert, zerriß ungelesen das Papier. Der Kurfürst war zu dieser Zeit auch schon längst über alle Berge geflohen und hielt sich in Prag auf. Napoleon mag sich über die Naivität dieses Mannes lustig gemacht haben.                    

Wilhelm I. wurde 1806 von Napoleon abgesetzt. Die Festungswerke wurden geschleift. Hanau gehörte von 1810 bis 1813 zum Großherzogtum Frankfurt unter dem Fürstprimas des Rheinischen Bundes, Carl von Dalberg. Das Hanauer Land gehört also rechtlich in dieser Zeit zum französischen, Kaiserreich.

Wenn zwar die Hanauer Beamten vielleicht mit einem politischen Umsturz gerechnet hatten, so brachte sie doch die Plötzlichkeit, mit der er geschah, völlig in Verwirrung. Sie fanden jetzt kaum Zeit, die Bevölkerung und die niederen Dienststellen auf die bevorstehenden einschneidenden Veränderungen vorzubereiten. In einem Aufruf wurden die Untertanen zu Ruhe und Ordnung gemahnt: „Da es geschehen kann, daß heute oder morgen französische Truppen dahier einrücken, so wird solches der hiesigen Bürgerschaft zu dem Ende bekannt gemacht, damit sie sich bei dem Einmarsche derselben nicht nur ruhig verhalte, sondern sich auch mit den erforderlichen Lebensmitteln in Zeiten versehen könne. Man ist von den hiesigen Einwohnern im Voraus überzeugt, daß sie sich gegen die einrückenden Truppen mit aller Bescheidenheit betrauen und sich nicht der sie sonst unweigerlich treffenden strengen Bestrafung aussetzen werden.“ Bezeichnend werden die empfohlenen vorbereitenden Maßnahmen zur Bereitstellung der notwendigen Lebensmittel für die Einquartierungen!

Die Mitglieder der Regierung selbst berieten lange, wer von ihnen mit den französischen Beamten verhandeln und den unter Umständen übermäßigen Forderungen derselben in geeigneter Weise entgegentreten könnte. Ein jüngerer Beamter erbot sich dazu, weil er, wie er meinte, „einigermaßen der französischen Sprache mächtig“ sei. Um eine schnelle Erledigung der durch die Besatzung entstehenden Arbeiten zu gewährleisten, bildete man eine sogenannte Kriegskommission. Sie sollte nach den ihr mitgegebenen Richtlinien „die eiligen Geschäfte sofort abtun“, falls sie einstimmiger Meinung war, in strittigen Fällen aber darüber der Regierung referieren. Diese Kriegskommission war eine sehr wichtige Behörde, denn sie verteilte in den folgenden Jahren während der französischen Besatzung alle Kriegslasten, sowie die Einquartierungen auf die Bevölkerung.

Französicherseits war mit der Verwaltung des gesamten kurhessischen Staates, mit dem das Fürstentum Hanau vorläufig verbunden blieb, General Lagrange betraut worden. Das erste, womit dieser hervortrat, war eine Proklamation an die Bevölkerung. Einleitend verpflichtete er darin die Untertanen zu Gehorsam gegen die neuen Machthaber, versprach, die Gebräuche und Sitten des Landes zu schützen und „das Land blühend zu machen“. Weiter verordnete er, daß die Erhebung der Einkünfte, so wie bisher für den Kurfürsten, in Zukunft im Namen Napoleons zu geschehen habe. Die Gelder sollten an den französischen „Generaleinnehmer“ abgeführt werden.

In Hanau hatte der französische General Laval, vorläufig noch unter dem Kommando Lagranges in Kassel stehend, die Leitung der Regierung übernommen. Zusammen mit dem französischen Platzkommandanten für die Stadt Hanau, Joannon, und dem kaiserlichen Kommissar Dumesnil, brachte er die ersten, sich auf die militärische Sicherheit beziehenden Maßnahmen zur Durchführung.

 

Die beiden Hanauisch-hessischen Regimenter „Kurprinz Hessen“ und Garnisonsregiment „von Schallem“ wurden aufgelöst und entwaffnet. Die Soldaten mußten die Armaturen, Geschütze der Hanauer Festung, sowie Gewehre und Uniformen ins Zeughaus nach Hanau abliefern und später auf Schiffen nach Mainz befördern, Standarten und Fahnen kamen nach Kassel.

Schon am 7. November gab General Laval den Befehl zum Schleifen der Hanauer Festung. Napoleon hatte von Berlin aus persönlich verfügt, daß die Befestigungsanlagen Hanaus zu zerstören seien, „so daß der Platz kahl sei wie die Hand“. General Laval befahl, daß 800 Arbeiter - zum Teil aus den umliegenden Ortschaften zusammengezogen - die Festungswerke abrissen und die Wälle abtrugen. Diese Arbeiten dauerten noch lange bis in das Jahr 1807 hinein und kosteten die Gemeinden nach einer Aufstellung im Marburger Staatsarchiv 20.9000 Franken.

Die deutschen Behörden mußten sämtliche Amtssiegel, auf denen sich das kurhessische Wappen befand, abliefern und neue Siegel mit der Aufschrift „Fürstentum Hanau“ anfertigen lassen. An den behördlichen Gebäuden, sowie an Kirchen und Schulen des Landes, an deren Eingängen bisher der kurhessische Löwe befestigt war, wurde der kaiserliche Adler angebracht und der hessische Löwe mit weißer Farbe übertüncht.

Ihr Hauptaugenmerk richteten die Franzosen auf den kurfürstlichen Haus- und Staatsschatz, der, wie man wußte, sehr groß war. In den Schlössern Hanau, Philippsruhe und Wilhelmsbad wurden alle Räume durchsucht und nach der Inventarisation der beweglichen Güter und Wertgegenstände versiegelt. Was den Franzosen wertvoll schien, wurde nach Mainz transportiert. Mainz war damals französischer Brückenkopf, das ganze linke Rheinufer war französisches Territorium.

Am 26. November 1806 teilte Lagrange von Kassel aus den Hanauer deutschen Behörden mit, daß das Hanauer Land in Zukunft von Kassel unabhängig sei und unter eigener französischer Leitung stehen würde. Kurhessen wurde mit anderen deutschen Landesteilen zum sogenannten „Königreich Westfalen“ unter der Regierung Jeromes, des Bruders Napoleons, zusammengeschlossen. Das Fürstentum Hanau blieb also zunächst selbständig, bis es im Jahr 1810 mit anderen Gebietsteilen zum Großherzogtum Frankfurt vereinigt wurde.

Die Spitze der französischen Verwaltung des Fürstentums Hanau bildete der Generalgouverneur Marschall Kellermann, der zugleich Generalintendant der Reservearmee war und seinen ständigen Wohnsitz in Mainz hatte. Er war einer der ältesten Generäle unter Napoleon. Im Jahre 1735 in Straßburg im deutschen Elsaß geboren, widmete er sich früh dem Soldatenberuf und zeichnete sich unter anderem im Siebenjährigen Krieg aus. Im Jahre 1789 schloß er sich der Revolution an und wurde einige Jahre später mit der Verteidigung des Elsasses betraut. Im Jahre 1792 focht er mit in der „Kanonade von Valmy“. Dafür bekam er später von Napoleon den Titel „Herzog von Valmy“ verliehen. Im Jahre 1805 wurde er Generalintendant der „armee de reserve“ mit dem Hauptquartier in Mainz.

Da er in dieser Eigenschaft nur selten persönlich in Hanau sein konnte, setzte er hier seinen Adjutanten, den Obersten Le Court de Villière als seinen Vertreter ein. Dieser nannte sich Sous-Gouverneur, stellte die Spitze der Regierung dar, leitete die hohe und niedere Polizei, das Gerichtswesen, sowie Kirchen und Schulen. Neben den beiden Gouverneuren trat unter den französischen Beamten in Hanau am meisten der Zivilintendant Marcotte de Forceville hervor. Mit ihm mußten die Hanauer deutschen Beamten täglich verhandeln. Er allein hatte über alle Ausgaben zu entscheiden. Auf seinem Büro sammelten sich statistische Aufstellungen jeder Art, über Steuern, Besoldungen, verarbeitete Waren, Kriegskontributionen und so weiter.

Neben der französischen Zivilverwaltung gab es die rein militärischen Behörden, die nicht Kellermann in Mainz, sondern dem Generalintendanten der Armee zwischen Elbe und Rhein, Ville­mancy, unterstellt waren. Hier ist für die erste Zeit der französischen Besatzung der „Commissaire imperial“ Dumesnil zu nennen, später Roch. Ihnen oblag insbesondere die Sorge für die im Land stationierten Truppen.

Alle französischen Beamten hatten in Hanau ihre Büros eingerichtet, die meisten im Schloß, wo der Gouverneur, der Intendant und der kaiserliche Kommissar auch wohnten. Le Court de Villière ließ am Beginn seines Aufenthalts in Hanau sämtliche führenden deutschen Beamten, die zur Regierung, zum Hofgericht, zur Rentkammer, zu den beiden Konsistorien, zu Landkassen- und Steuerdirektion und zur Polizeidirektion gehören, zur Eidesleistung auf den neuen Landesherrn, Napoleon, ins Regierungsgebäude zusammenrufen.

Der Eid, in französischer Sprache abgefaßt, lautete übersetzt: „Ich schwöre, die mir von seiner Majestät, dem Kaiser von Frankreich, König von Italien, anvertraute Gewalt gesetzmäßig auszu­üben, mich damit nur zur Aufrechterhaltung der Ordnung und der öffentlichen Ruhe zu bedienen, mit meiner ganzen Kraft mitzuhelfen an der Ausführung der Maßnahmen, die mir für den Dienst der französischen Armee aufgetragen werden und keine irgendwelchen Verbindungen mit ihren Feinden zu unterhalten.“

Die Eidesleistung in Hanau ging ohne Zwischenfälle vonstatten. Aber lächerlicher Weise diskutierte man deutscherseits danach darüber - obwohl man genau wußte, daß man nun von Kassel unabhängig war - „ob man über die Eidesleistung der Regierung in Kassel untertänige Anzeige machen solle“. In den einzelnen Hanauischen Ämtern gab es einigen Widerstand bei der Vereidigung der Subalternbeamten. Diese wurden am Anfang des Jahres 1807 am Ort ihrer Tätigkeit vereidigt. Die Hanauer Bürgerschaft leistete vor Marschall Kellermann vor dem Schloß den Treue- und Huldigungseid auf Napoleon. Damit war die staatsrechtliche Zugehörigkeit des Fürstentums Hanau zum französischen Kaiserreich festgelegt.

Zur Zeit Napoleons wurden die Festungswälle und einige Tore geschleift. Um 1830 ließ Kurfürst Wilhelm II. die letzten mittelalterlichen Stadttore und die von Graf Philipp Ludwig II. mit Renaissancegebäuden erweiterte alte Burg abtragen, dort wurde der Schloßgarten angelegt.

 

Schlacht bei Hanau 1813                                                                                        

Im Jahre 1813 tobte die Schlacht bei Hanau auf dem Gebiet des heutigen Stadtteils Lamboy-Tümpelgarten. Am 30. und 31. Oktober 1813 errang der französische Kaiser Napoleon seinen letzten Sieg auf deutschem Boden. Deswegen prangt der Name „Hanau“ auch auf dem Arc de Triomphe in Paris. Auf allen Seiten der kämpfenden Parteien kamen rund 15.000 Soldaten ums Leben. Im Stadtgebiet von Hanau befinden sich mehrere Gedenksteine für den Standort der Truppenteile (Vor und an der Kinzigbrücke, Lamboystraße, Karl-Marx-Straße). Die Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung waren immens durch Einquartierungen, Zerstörungen (etwa an der Vorstadt) und epidemischen Krankheiten.

Die Stadt hat im August 2008 de n Beitritt zum Verbund der Napoleonstädte Deutschlands erklärt. Der Vorstand des Hanauer Geschichtsvereins 1844 begrüßt eigenen Worten zu Folge die Entscheidung, Leben und Wirken des französischen Kaisers - sicher einer der schillerndsten, aber auch zwiespältigsten europäischen Herrscher des 18. und 19, Jahrhunderts - für Europa im Allgemeinen und für Hanau im speziellen konstruktiv aufzuarbeiten.

Einige positive Einflüsse von Napoleons Herrschaft auf die Brüder-Grimm-Stadt waren dieser Tage in einer Pressemitteilung des Hanauer Magistrats nachzulesen: Niederlegung der Festungsanlagen (was die städtebauliche Entwicklung Hanaus entschieden förderte), Gründung der katholischen Gemeinde (Napoleon hat den persönlichen Erlaß in den Tuilerien von Paris unterschrieben, heute „Mariae Namen“ im Bangert), rechtliche Gleichstellung der Juden durch den Code Civil oder mehrere Besuche auf Durchfahrten: offiziell, aber auch unerkannt, mit und ohne Begleitung seiner Ehefrau, unter anderem im Hotel „Zum Riesen“ am Heumarkt.

Kritisch zu bewerten sei mit Sicherheit die Schlacht bei Hanau am 30. und 3l. Oktober 1813 im heutigen Stadtteil Lamboy, die Napoleon auf französischer Seite persönlich befehligte und rund 15.000 Soldaten der gegeneinander kämpfenden französischen und bayerisch-öster­rei­chischen Truppen den Tod kostete. Der Geschichtsverein werde sich in die Aufarbeitung der napoleonischen Ära in Hanau mit seinen Möglichkeiten und Mitteln einbringen. In Vereinsbesitz befänden sich etliche Stiche und Waffen aus der Zeit, die im Historischen Museum Hanau Schloß Phil­ippsruhe aufbewahrt werden. Seit einigen Monaten halte die AG Hanauer Militärgeschichte im Geschichtsverein Kontakt zu einem Kreis von Zinnfigurensammlern und -gießern, die Hanau ein großflächiges Diorama über die Schlacht zum Geschenk machen wollten, das spätestens 2013 für eine Sonderausstellung im Kesselstädter Schloß Philippsruhe zum 200. Jahrestag fertiggestellt sein werde.

Im Jahre 1993 beteiligten sich bereits mehrere Autoren des Vereins an Ausstellung und Katalog zum 180, Jahrestag der Schlacht. Der Vereinsvorstand habe darüber hinaus beschlossen, zusammen mit der Märtesweinvereinigung Patenschaften über diverse Gedenksteine zu übernehmen, die noch heute im öffentlichen Straßenraum Hanaus an die Bataille mit ihren Opfern erinnern: Die Steine stehen an der Nordbahnhofunterführung, in der Karl-Marx-Straße und an der Kinzig­brücke (siehe „Außenbezirke“). Beide Vereine wollen die sandsteinernen Kleindenkmäler bis zum 195. Jahrestag der Schlacht Ende Oktober 2008 in Absprache mit der Unteren Denkmalschutzbehörde reinigen und die Inschriften wieder deutlich lesbar machen lassen, informierte der Geschichtsverein in seiner Pressemitteilung.

 

Die Worte von General Carl Philipp von Wrede: „Jetzt ist nichts mehr zu ändern: Wir müssen als brave Soldaten unser Möglichstes tun“. beschreiben gut, wie sich seine Soldaten gefühlt haben müssen, als Napoleon mit 60.000 Mann Hanau überrollte. Im Oktober 1813 sollte der französische Feldherr hier seinen letzten Sieg über die Verbündeten erringen. Mit den Befreiungskriegen ging eine siebenjährige Besatzungszeit zu Ende, die nicht ohne Folgen für die Bevölkerung geblieben war. Die französische Revolution und die nachfolgende napoleonische Zeit wurden zum geistesgeschichtlichen Umbruch einer gesamten Epoche. Die Schlacht hatte historische Dimensionen. Sie forderte 20.000 Opfer auf militärischer Seite, in einer Zeit, als Hanau nur 12.000 Einwohner hatte.

Im Jahre 2013 gab es in Hanau eine Ausstellung. Mit einem Aquarellzyklus wurde das Kriegsgeschehen fast auf die Stunde genau nachgezeichnet. Der Betrachter konnte Schritt für Schritt nachvollziehen, was sich in der Goldschmiedestadt abgespielt hat - vom Einmarschieren der Truppen bis zum bitteren Ende samt in Flammen stehender Vorstadt. Eine große Rolle spielte natürlich General Wrede, der sich mit der bayerisch-österreichischen Armee den Truppen Napoleons entgegenstellte. Er selbst war unter anderem als Skulptur zu sehen, und erstmals bekamen die Hanauer auch seine Frau in Portraitform zu Gesicht.

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Ein Holzstich „Napoleon im Lamboywald“ befindet sich im Schloss Philippsruhe. Der Zeichner: ist Antoine Alphée Piaud (1837-1866), der Stecher: Blasius Höfel (1792-1863). Der Stich zeigt Napoleon im Biwak während der Schlacht in der Bulau. Die Stelle wurde später mit einem Gedenkstein markiert, an dem der Feldmarschall der Hanauer Karnevalisten Emil Kempe im „Flußstraßenviertel“ bis in die achtziger Jahre seine Kneipe „Napoleonsruh“ betrieb und den Stein danach dankenswerterweise an das Historische Museum abgab (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 57).

 

Johann Wolfgang von Goethe 1814

Der Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe hatte, nachdem er schon in mancherlei Beziehung zu Hanau getreten war (Carl Caesar Leonhard - Wetterauische Gesellschaft für die gesamte Naturkunde in Hanau), seither doch immer nur in schriftlicher Verbindung mit unserer Stadt gestanden, sie höchstens auf seinen Fahrten nach Weimar um- und durchfahren. Erst im Jahre 1814 nahm er einen längeren Aufenthalt in Hanau. Am 27. Juli traf er abends hier ein und kehrte im „Fränkischen Hof“ (früher und später „Hessischer Hof“, in der Frankfurter Straße, wurde bekannt durch den Post-Stallmeister J. C. Herrle) ein. Bereits am nächsten Tage, an dem er u. a. die Leislersche Teppichfabrik besuchte, fuhr Goethe nach Frankfurt weiter. Im Oktober desselben Jahres weilte Goethe wieder in Hanau. Diesmal sollte der Aufenthalt von längerer Dauer sein. Er traf am 20. Oktober ein und kam mit dem Geheimen Rat Leonhard, bei dem er wohnte, mit der Familie Toussaint und mit dem Maler Tischbein zusammen. Am 21. dieses Monats betrachtete er das Mineralienkabinett und war Gast bei dem Staatsminister von Albini. Leonhard wohnte in der Mühlstraße. An der Stelle des Leonhard’schen Wohnhauses befindet sich heute der Südflügel des Behördenhauses. Am 23. Oktober 1814 war er Gast in dem Hause Gärtnerstraße Nr. 67, dem „Schulhaus“, das 1691 erbaut wurde und von 1777 bis 1880 die Zeichenakademie beherbergte. Während dieses Besuches in Hanau sah sich Goethe auch die Liebhaber-Schauspielbühne an.

 

Friedrich Rückert 1812

Auch der Dichter der Freiheitskriege, Friedrich Rückert, war einmal Gast in Hanau. Er wohnte im Jahre 1812 im Hause Rosenstraße Nr. 27, genannt „Zum Rößchen“, in dem sich bis zum Jahre 1945 ein Uhrengeschäft befand. Friedrich Rückert war von 1812 bis 1814 Lehrer an der Hohen Landesschule in Hanau.

 

Die Hanauer Union 1818

Zwei Jahre nach dem Ende der Befreiungskriege erschien der Tag, an dem die 300jährige Jubelfeier der deutschen Reformation stattfinden konnte. Als die kirchlichen Behörden erwogen, wie dieses Fest am besten begangen werden könne, ward auch die Frage gestellt, „ob es nicht ratsam sein möchte, aus Anlaß der bevorstehenden Feier und nach dem Vorgange anderer Staaten eine Vereinigung der beiden evangelischen Kirchen herbeizuführen“. Der Gedanke fand Beifall, und man beschloß, ihn auszuführen. Große Schwierigkeiten schienen nicht vorhanden zu sein. Die Gegensätze, die einst von beiden Konfessionen hervorgekehrt worden waren, waren im Laufe der Zeit fast völlig verschwunden.

Das enge Zusammenleben hatte die Angehörigen beider Kirchen aneinander gewöhnt. Infolge von Heiraten gehörten in manchen Familien einzelne Glieder der reformierten, andere der lutherischen Kirche an. Die Not der letzten Jahrzehnte hatte nicht nur das religiöse Empfinden, sondern auch das Gefühl der äußeren Zusammengehörigkeit aufs Lebhafteste angeregt. Die Vereinigung der beiden Kirchen in der Stadt wie im Fürstentum Hanau erschien den Einsichtigen immer deutlicher als eine reife Frucht, die man ergreifen und festhalten müsse. So wurden denn während des Jahres 1817 die Vorbereitungen getroffen zur Herbeiführung der Kirchenvereinigung, der sogenannten „Union“.

Am 27. Mai 1818 versammelten sich im hiesigen Gymnasium 59 reformierte und 22 lutherische Geistliche, sowie eine große Anzahl von Kirchenältesten aus den evangelischen Gemeinden des Hanauer Landes. Die Mitglieder dieser Versammlung, der Synode, gehoben von dem Gefühl, zur Herbeiführung einer wichtigen Kirchenverbesserung berufen zu sein, verhandelten in würdiger Ruhe miteinander. Die wichtigsten Ergebnisse ihrer Beratungen waren:

 

1. Beide protestantischen Religionsteile im Hanauischen vereinigen sich zu einer einzigen Kirche unter dem Namen einer „evangelischen“ (Die Bezeichnung „unierte Kirchengemeinschaft“ ist erst später aufgekommen.)

2. Die Namen lutherisch und reformiert fallen weg; zur Bezeichnung der Gebäude und Anstalten, die seither einen dieser Namen hatten, werden auch passende Namen gewählt (Marienkirche statt reformierte Kirche).

3. Die Pfarreien und Schulen bleiben vorerst in ihrem bisherigen Bestande; wo die Zahl der Angehörigen einer Konfession gar zu gering ist, können die Kirchen und Schulen derselben aufgehoben werden.

4. Wo mehrere evangelische Kirchen an einem Orte bestehen, bleiben die Mitglieder einer jeden zunächst wie vor bei ihrer Kirche.

5. Bei der Feier des Abendmahls wird gewöhnliches Weizenbrot ohne Sauerteig in Form länglicher Vierecke genommen und gebrochen; die bei der Austeilung zu gebrauchenden Worte sind für alle Kirchen gleich.

6. Bei dem Gebete des Herrn werden die in der Bibelübersetzung Luthers Matth. 6,9-13 vorkommenden Worte gebraucht. Beim letzten Aussprechen des Gebetes wird geläutet.

7. Es wird ein gemeinschaftliches evangelisches Konsistorium gebildet, welches eine einheitliche Form des Gottesdienstes, einen gemeinschaftlichen Katechismus und ein gemeinschaftliches Gesangbuch zur Einführung bringen wird.

8. Alle kirchlichen Güter und Stiftungen usw. sollen ohne Ausnahme fortbestehen, unter der Aufsicht des Konsistoriums verwandelt werden und in allem ihre seitherige Eigenschaft und Bestimmungen behalten.

 

Am 1. Juni 1818 wurde die Synode geschlossen. Sie hat die Gegensätze zwischen den beiden evangelischen Konfessionen beseitigt, evangelische Gemeinden mit einheitlichen Einrichtungen und mit einheitlicher Verwaltung geschaffen und damit Ströme des Segens und das kirchliche Leben unserer Heimat geleitet.

Die beiden evangelischen Kirchengemeinden der Neustadt (wallonisch und niederländisch) waren die einzigen Gemeinden, die der Union nicht beitraten, weil sie sich nicht entschließen konnten, die ihren Vätern verbürgte kirchliche Selbständigkeit aufzugeben und sich unter das Konsistorium der Landeskirche zu stellen. Sie haben ihre alten Rechte und Freiheiten bewahrt bis auf den heutigen Tag.

 

Eine alte Zehntordnung

Wenn wir durch die Dörfer und Flecken gehen, in denen der Sitz eines Amtes oder einer herrschaftlichen „Kellerei“ war, so fallen uns oft die mächtigen „Herren“- oder „ Zehnt“-Scheuern auf, in denen einst die Abgaben der „Untertanen“ eingesammelt wurden. Der „Zehnte“ ehemaliger Zeiten war eine allgemein eingeführte Abgabe bei der Ernte an die Kirche oder den Landesherren oder auch an andere, die dieses Recht auf irgendeine Weise erworben hatten. Er bestand in dem zehnten Teil der landwirtschaftlichen Erträge und wurde ursprünglich immer „in natura“ abgeliefert.

Erst im 19. Jahrhundert wurden diese Verpflichtungen meist in eine Geldabgabe umgewandelt und vielfach von den Gemeinden durch eine größere einmalige Zahlung bei dem Empfangsberechtigten „abgelöst“. Die Ablösungssumme, die die Gemeinde Langenselbold im Jahre 1847 für den bisher in der Gemarkung erhobenen Zehnten an die Standesherrschaft Isenburg-Birstein zu zahlen hatte, betrug 103.500 Gulden; das dafür aufgenommene Kapital mußte von den Zehntpflichtigen verzinst werden und wurde nach und nach abgetragen (bis zum Jahre 1914!).

Für das Einernten des Zehnten bestand wie überall so auch im Fürstentum Isenburg-Birstein. eine Zehntordnung. Verzehntet mußten werden: Weizen, Korn, Gerste, Hafer, Erbsen, Linsen, Wicken, Wein u. a. Eine „erneuerte Zehntordnung“ aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist eine Neuauflage der Ordnung vom 24. Juli 1710. Sie hat (in heutiger Rechtschreibung) folgenden Wortlaut:

1. Sollen zum Ausfahren gewisse Stunden durch die Glocken angezeigt und gehalten werden, absonderlich des Mittags zwischen 11 und 12 Uhren, abends aber nach 7 Uhren keine Früchte eingeführt, noch vor Auf- oder nach Niedergang der Sonne geschnitten. Und

2. eher nicht aufgeladen, verführt oder weggetragen, auch zur Verhütung eines Verdachtes kein Wagen auf den Acker gebracht werden, bis alles auf jedem Acker abgeschnitten, aufgebunden und „abgezehndet“ worden, usw. (Hanau Stadt und Land, Seite 362).

 

Wilhelm II. von Hessen-Kassel

Der in Hanau von Wilhelmine Karoline geborener Sohn Wilhelm, eines von vier Kindern, regierte, als Wilhelm II. von Hessen-Kassel 1821 bis 1847.

 

Karl Spindler 1825 bis 1828

Der Romanschriftsteller Karl Spindler wohnte mehrere Jahre, nämlich von 1825 bis 1828, in Hanau, und zwar in dem Hause Schloßstraße 11.

 

Blutiges Ende des Sperrbatzen-Krawalls 1830

Im Kurfürstentum Hessen war Hanau eine politisch wie wirtschaftlich eher vernachlässigte Randprovinz. Als Gewerbe- und Industriestadt war Hanau auf freie Handelswege angewiesen, nach dem Wiener Kongreß aber war es von Landesgrenzen umgeben, war es eingezwängt zwischen dem Königreich Bayern, dem Großherzogtum Hessen und der Stadt Frankfurt. Das Revolutionsjahr 1830 machte die Hanauer wegen ihres Kampfes um die Abschaffung der „Maut“ (Zollschranken) zu „Krawallern“.

Mit entschlossenen Mienen ziehen im September 1830 Männer zur Zollstation an der Mainkur, der Grenze zwischen Frankfurt und Kurhessen. Sie verschaffen sich Zutritt und schleppen Pulte und Stühle nach draußen. Sie schlagen das Mobiliar kurz und klein, um gleich darauf die Reste samt der verhaßten Formulare ins Feuer zu werfen. Letztlich wird bei jenem Zollkrawall das ganze Zollhaus zerstört Protest dagegen, daß man Geld bezahlen soll, wenn man von einem Territorium zum anderen will. In der Stadt kursieren Flugblätter: „Schaffe ab Maut, Stempel, Zoll, Beamten, Maitressen und Juden, damit wir haben unser täglich Brot!“

Ein Jahr später, am zweiten Herbsttage im Oktober des Jahres 1831, kocht die Wut über obrigkeitliche Einschränkung der Bewegungsfreiheit ein zweites Mal hoch. Diesmal ist das Allerheiligentor der Schauplatz und der Zorn richtet sich gegen den frühen Einschluß hinter der Stadtmauer: Wer nach Sonnenuntergang in die Stadt will, mußte an den Haupttoren den „Sperrbatzen“ zahlen. Der „Sperrbatzen-Krawall“ nahm ein blutiges Ende. Die Stadtwache zielt auf die Massen, die gegen das verschlossene Tor drängen, mit langen FIinten - und muß selbst bitter bezahlen: Ein Torwächter liegt tot am Boden.

 

Wilhelmsbader Fest vom 22. Juni 1832

Nach Hambach war das Wilhelmsbader Fest vom 22. Juni 1832 eines der bedeutendsten politischen Volkfeste in Deutschland. Folgt man den detaillierten Aufzeichnungen des Hanauer Musiklehrers und Geschichtsforschers Johann Daniel Wilhelm Ziegler (1809-1878) kamen an dem Tag in den Kuranlagen Wilhelmsbad zwischen 8.000 bis 10.000 Menschen zusammen, um den Freiheitsrechten Ausdruck zu verleihen. Hauptredner waren Karl Heinrich Brüggemann, Theodor Reh, Friedrich Wilhelm Schulz, Georg Fein und Wilhelm Sauerwein, der für sein „ABC-Buch der Freiheit“ bekannt wurde.

Es hat sich eine Grafik von Andreas Daniel Kraus (Zeichnung, Kassel) und Wilhelm Kuhl (Lithografie, Hanau) erhalten, die damals von Makler Isaak Dittmar verkauft wurde. Auf ihr werden die politischen Ziele des liberalen Bürgertums verdeutlicht: „Der Sieg des Bürgerthums oder der Kampf der neuen mit der alten Zeit“ (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 116, Abbildung Fachbereich Kultur).
 

Hanauer Persönlichkeiten

Georg Wilhelm Carl (1770-1826), erster Hanauer Oberbürgermeister von Alt- und Neustadt von 1822-1826. Scherenschnitt von 1826 im Stadtarchiv (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 50).

 

 

Johann Peter Ruth (1769-1845), Regierungsrat, Foto um 1840. Er bildete den Grundstein für die Stadtbibliothek der seine private Büchersammlung von über 2.000 Bänden der Stadt Hanau vermachte, mit der Auflage, daraus eine öffentliche Bibliothek zu gründen. Zusammen mit Landbaumeister Carl Joseph Arnd und Pfarrer Anton Calaminus Ruth gründete am 18. September 1844 den Hanauer Geschichtsverein (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 34).

 

Emanuel Geibel, dessen Vater, der Theologe und Liederdichter Johannes Geibel in Hanau 1776 geboren war und dessen Großvater aus Wachenbuchen stammte, verbrachte 1835 als Bonner Student seine Sommerferien bei seinen Hanauer Verwandten. Später, als er bereits als ein großer Dichter bekannt war, konnte ihn Hanau noch einmal als Gast begrüßen.

 

Fritz Canthal (1848-1922), ein ganz Großer der Hanauer Kommunalpolitik, Unternehmer, Präsident der Industrie- und Handelskammer, Stadtverordnetenvorsteher und ab 1916 Ehrenbürger. In der 2021 neu eingerichteten Abteilung "Moderne Zeiten" im Historischen Museum Hanau Schloss Philippsruhe, die den Zeitraum 1848 bis 1946 zum Thema hat, erinnern gleich zwei Schlüsselexponate an ihn: Ein lebensgroßes Ölporträt und eine silberne Schreibzeugkassette, die mit Deckelreliefs aus Elfenbein maßgeblich von Akademieprofessor Hugo Leven gestaltet und dem Geehrten 1911 anlässlich seines 20-jährigen IHK-Jubiläums als Präsident überreicht wurde. Beide Stücke wurden den Städtischen Museen von den Erben übergeben. Ein Foto von: Friedrich Canthal von 1916, befindet sich im Medienzentrum (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 136).

 

Dr. Johann Heinrich Kopp: Der Mitbegründer der Wetterauischen Gesellschaft und medizinischer Schriftsteller, Geheimer Obermedizinalrat Dr. Johann Heinrich Kopp, bewohnte das Haus „Zum Ochsenkopf“, Philipp-Ludwig-Anlage Nr. 11, bis zu seinem Tode im Jahre 1858.

 

 

Die Revolution von 1848

Wilhelmsbad:

Das Wissen über die Geschehnisse in Hanau in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verdanken wir zum großen Teil einem Mann, der von 1825 bis 1875 in neun dicken Foliobänden von jeweils 500 bis 700 Seiten akribisch und absolut zuverlässig über die Hanauer Ereignisse Tagebuch geführt hat: Johann Daniel Wilhelm Ziegler, von Beruf Klavier- und Gesangslehrer (geboren in Hanau am 11, März 1809, gestorben ebenfalls in Hanau am 11. April 1878). Sein nach ihm benanntes, einzigartiges Werk, die „Ziegler’sche Chronik“, befindet sich heute im Besitz des Hanauer Geschichtsvereins 1844 (Microfiches können im Stadtarchiv Hanau eingesehen werden).

Die Folianten sind in alter deutscher Schrift geführt und enthalten in einer gut lesbaren, flüssigen Schreibe sehr anschauliche Notizen über Persönlichkeiten der Stadt und der Region, Vereinsveranstaltungen, Berichte über Brände, Kriminalfälle, Teuerungen, soziale Notstände, politische Versammlungen, Demonstrationen und noch manches andere.

Auch die Kur- und Badeanlagen Wilhelmsbad sind von Ziegler mit etlichen Eintragungen bedacht worden. Bei der Durchsicht der Notizen kommt man schnell zu dem Schluß, daß sich der Kurort mit Weltgeltung nach der Verlegung der kurfürstlichen Hofhaltung zurück nach Kassel Anfang des 19. Jahrhunderts und der damit knapperen Unterhaltungsmittel der Einrichtung. mehr und mehr zu einem beliebten Ausflugsziel der Stadtbevölkerung - nicht nur Hanaus - entwickelte. Es fanden Hochzeiten, Vereins- und Sängerfeste statt.

Auf politischen Volksfesten verlieh man ersten revolutionären Forderungen nach Freiheit und Einheit Deutschlands Ausdruck. Im Juni 1832 fand das Wilhelmsbader Fest mit etwa 10.000 Besuchern statt. Anhand der Zieglerschen Einträge vom Vormärz bis hin zur Reaktion (1850er Jahre) kann neben einer Beschreibung des gesellschaftlichen Lebens in diesem „Treffpunkt im Grünen“ der gesamte Verlauf der gescheiterten Revolution in Deutschland beispielhaft aufgerollt und nachvollzogen werden.

Wenn der Autor etwa 1847 recht ausführlich Renovierungsarbeiten am Kurhaus Wilhelmsbad, zahlreiche Tanzveranstaltungen und Gartenilluminationen beschreibt, zeugt dies von einer damals eher noch friedvollen, apolitischen, scheinidyllischen Beschaulichkeit des Biedermeier. Im Jahre 1848 wird die Anlage mit zahlreichen Festen, Sonntags-Konzerten und nicht zuletzt mit der feierlichen Eröffnung der Eisenbahnlinie Frankfurt-Hanau als pulsierender Ort der Begegnung vorgestellt. Dabei treten politisch-soziale Spannungen immer deutlicher zu Tage. So ist es auf Veranstaltungen im Zusammenhang mit der sogenannten Staatsdienerrevolution in Kassel unter Kurfürst Friedrich Wilhelm I. von Hessen-Kassel und dem vom Volk gehaßten, in Hanau geborenen Chefminister Ludwig Hassenpflug- Kurz darauf ist die innerhalb der Bevölkerung gegenüber der Obrigkeit stark ins Negative geänderte Haltung ablesbar: Früher übliche euphorische Hurras zum Geburtstag Friedrich Wilhelm I.. von Hessen-Kassel wandeln sich in ein für den Fürsten bedrohliches Gemurmel.

Nachfolgend nun auszugsweise einige Eintragungen Zieglers über Wilhelmsbad:

Pfingstmontag, 24. Mai 1847: Nachmittags von 4 - 7 Uhr war ich am Wilhelmsbad. Den ganzen Tag über hielt sich das Wetter. Um 3 Uhr hatten wir 23 Grad Wärme. In der vergangenen Woche erbauten Halle (Musikpavillon gegenüber dem Arkadenbau) für die Musiker spielten 30 Mann vom 3. Leibgarde-Infanterie- Regiment und zwar abwechselnd mit Orchester- und Türkischer Musik unter der Direction des Musikmeisters J. G. Heller. Alle nun hergerichteten Säle sind mit Spiegeln vom größten Format, Lustre mit Christalllampen, weiche angezündet einen magischen Efect machen. Es befinden sich 2 Roulette in zwei Sälen. Auf beiden Seiten des Kurgebäudes, sowie allenthalben stehen Blumen terrassenförmig aufgestellt. Vor den Gebäuden sowie an mehreren anderen Orten sind neue Laternenpfähle aus Eisenguß aufgerichtet. Alle Gebäude nebst Theatergebäude, Küche, Wachthaus pp., sind weiß angestrichen worden.

Heute morgen mögen ca. 8.000 - 9.000 Menschen mit über 150 fremden Wagen daselbst gewesen sein. Portiers und Kellner sind sehr elegant gekleidet. Die heut stattgefundene Etiquette verbot: „Herren, welche keine Halsbinde anhaben, ist der Eintritt in die Säle verboten!“

Montag, 3. April 1848 (in Hanau findet der erste Deutsche Turntag statt):

Nachmittags, 3 Uhr, versammelten sich die Turner abermals mit ihren Fahnen auf dem Neustädter Marktplatz und zogen unter Vortritt der Bürgermusik nach dem freundlichen Wilhelmsbad. Hier angekommen, wurden sie von der Kesselstädter Schuljugend, welche bewaffnet mit Fahnen und einer Trommel versehen, begrüßt. Es herrschte ein ungeheuerer Frohsinn, es wurde im Freien getanzt. Der Zudrang war so groß, daß viele der Herren ihr Bier aus Gießkannen trinken mußten.

Sonntag, 14. Mai 1848: Nachmittags fand in Wilhelmsbad ein großes Maifest statt. Schon um 2 Uhr fand im Freien ein Concert mit vollständigem Orchester der Hanauer Bürgergarde Musik statt. Herr Robert Blum, zurzit Mitglied des 50er Ausschusses der constituierenden National-Versammlung in Frankfurt, welcher unsere Stadt heute mit einem Besuch beehrte, war ebenfalls in Wilhelmsbad anwesend.

Abends 6 Uhr betrat derselbe den Balkon des Kurhauses, und nachdem ihn Herr Oberbürgermeister Rühl dem versammelten Volke vorstellte, hielt er eine lange, aber sehr gediegene Rede. Namentlich hob er die Gesinnungstüchtigkeit der Hanauer hervor.

Sonntag, 20. August 1848: 46. Geburtstag des Kurfürsten Friedrich Wilhelm I. von Hessen. Es ist dies der erste Geburtstag, welcher derselbe als Kurfürst feiert. Vergleicht man die Feier dieses Tages in früheren Jahren mit dem heutigen, so findet man einen großen Unterschied. Zum erstenmal, daß sich die Hanauer, sowohl die Bürgergarde, als auch die Staatsdiener in keiner Weise beteiligen; und da im Augenblick auch kein Militär in der Stadt liegt, so unterblieben auch von dieser Seite gewöhnlich gebrachte Huldigungen als Beleuchtung der Militairkasernen, großer Zapfenstreich am Vorabend, Festessen am Wilhelmsbad. Es verschallte nicht ein Hoch für den Landesfürsten, die Bürgergarde unterließ die jedes Jahr stattgefundene große Parade.

Der Pächter und Wirth vom Wilhelmsbad, Herr Carl Panizza, zeigt auf heute Ball und Concert, um 8 Uhr große Illumination mit 3000 farbigen Lampen zu Wilhelmsbad an, wogegen sich jetzt schon eine Demonstration kundgibt, indem ein großer Theil von unseren s. g. innern Feinden heute abend nach Wilhelmsbad ziehen und dort den an jenem Vergnügen Theilnehmenden statt eines Hochs ein allgemeines Gemurmel (jetzt an der Tagesordnung) bringen will!“

 

Hanauer trotzten 1848 mit ihrem „Ultimatum“ dem Kurfürsten

Die Hanauer Revoluzzer - als „Mainfranzosen“ weithin bekannt – gingen forsch voran: Nachdem die Bürgergarde durch ein bewaffnetes Freicorps verstärkt wurde, hatte sich eine Volkskommission als Stadtregierung gebildet. Das Volk wählte am 6. März 24 Honoratioren unter großem Hurra bei einer Versammlung auf dem Neustädter Markt, u.a. Bernhard Eberhard, Karl Röttelberg, Christian Lautenschläger, Pedro Jung und August Rühl.

Sie sind auch Unterzeichner des „Hanauer Ultimatums“ an den Kurfürsten vom 9. März 1848. Mit Drohung von Aufruhr forderten sie: Besetzung der Ministerien mit Männern, die das Vertrauen des Volkes haben; Auflösung der Ständeversammlung; Presse-, Religions-, Gewissensfreiheit; Wiederherstellung des Petitions-, Einigungs-, Versammlungsrechts; Amnestie für politische Vergehen seit 1830; Bildung einer Deutschen Volkskammer.

Mit der legendären Schrift der „Volkscommission“ fuhr eine achtköpfige Delegation fuhr am 9. März nach Kassel, vier Mann über Marburg, vier über Fulda in schwarz-rot-golden-geschmück­ten Kutschen. Kurfürst Friedrich Wilhelm I. von Hessen-Kassel gab klein bei und rettete seinen Thron (vgl. Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 134). Währenddessen wurden in Hanau schon Barrikaden errichtet und Wurfgeschosse verschiedener Art gesammelt für den Fall der Ablehnung. In Hanau herrschte eine politisch explosive Stimmung

Die Forderungen lauteten unter anderem: Entlassung des Ministeriums und Neubesetzung mit Männern, die das Vertrauen des Volkes genießen; Auflösung und Neuwahl der Ständeversammlung, vollständige Pressefreiheit; Amnestie für die seit 1830 begangenen politischen Vergehen; Hinwirken auf eine deutsche Volkskammer, Petitions-, Einigungs- und Versammlungsrecht; vollständige Religions- und Gewissensfreiheit und Wahlen ohne Klassenschranken.

 Damit war die Volkskommission zunächst bei ihrem Landesfürsten auf Granit gestoßen. Am 11. März 1848 wies der Kurfürst das Ultimatum rundweg zurück, obwohl die waffentragenden Hanauer mit dem Abfall der Provinz gedroht hatten. Die Delegation schickte sich daraufhin zur Heimreise an. Der Kasseler Stadtrat brachte schließlich die Wende. Er ließ die Volkskommission, darunter der Freischarenführer Carl Röttelberg, Turnerführer August Schärttner und der spätere Oberbürgermeister August Rühl, solange aufhalten, bis es gelungen war, Friedrich Wilhelm umzustimmen. Bis auf die Neuwahl des Landtags kam er sämtlichen Forderungen nach. Das Ultimatum löste den Regierungswechsel in Kassel aus: Der verhasste kurhessische Ministerpräsident Ludwig Hassenpflug (ein Onkel der Grimms) – „Hessenfluch“ genannt - musste weichen. Oberbürgermeister Bernhard Eberhard wurde zum Vorstand des Innenministeriums ernannt.

Offenbar halfen kluge Berater nach, die fürchteten, daß von der Provinz Hanau aus eine Erhebung im Südwesten Deutschlands ausbrechen könnte und eine Lawine des Aufstands losbräche. Letztlich rettete der Kurfürst durch sein Nachgeben zumindest seinen Thron. Sozialrevolutionäre und republikanische Forderungen nach Volksouveränität und demokratischen Wahlen hätten nicht durchgesetzt werden können. Dennoch sei die ultimative Fristsetzung und die Drohung mit der bewaffneten Bürgermacht unerhört gewesen.

Als der Landesfürst zögerlich nur teilweise nachgab, stellten ihm die Hanauer am 9. März nochmals ihre Forderungen, verschärft durch ein Ultimatum: „Entschließung Eurer Königlichen Hoheit binnen drei Tagen von heute an, deren Verstreichen ohne Antwort als Ablehnung gesehen werden soll. Jetzt ist die Stunde gekommen, wo Sie zu zeigen haben, wie Sie es mit dem Volke meinen.“

Hanau war überfüllt mit spontan zugereisten Leuten, die hier den Beginn der Revolution erwarteten. Am Tag zuvor, dem 8. März, war mit der Volkskommission eine provisorische Regierung gebildet worden, die schon über eine bewaffnete Macht verfügte, „Volksarmee“, genannt. Somit hatte die Warnung handfesten Boden: „Besonnene Männer, Königl. Hoheit, sagen Ihnen hier, daß die Aufregung einen furchtbaren Charakter angenommen hat. Bewaffneter Zuzug aus den Nachbarstädten ist bereits vorhanden, schon wird man mit dem Gedanken einer Lostrennung vertraut und kennt recht wohl das Gewicht der vollendeten Tatsache. Königl. Hoheit, gewähren Sie! Lenke Gott ihr Herz.“

Nach einem vergeblichen Anlauf war es gelungen, den Kasseler Kurfürsten Friedrich Wilhelm zu einer Reihe von demokratischen Zugeständnissen zu bewegen. Das „Hanauer Ultimatum“ ging als Momentaufnahme der deutschen Revolution von 1848 in die Geschichte ein. Die Delegation kam am 12. März 1848 auf den Neustädter Marktplatz zurück und wurde jubelnd von der Bürgerschaft empfangen. August Rühl verkündete vom Balkon den „Sieg der Basis“. Tausende Menschen feierten mit Böllerschüssen, gewappnet mit Sensen, Groß und Klein, Mann und Frau. Am 22. März folgte die Wahl von Rühl zum neuen Hanauer Stadtoberhaupt (Abbildung im Stadtarchiv)(Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 154). Die schwarz-rot goldene Trommel der Hanauer Bürgergarde von 1848 ist noch erhalten. Sie stammt aus dem Vormärz, ist aus Messingblech, Holz. Textil und Trommelfell gearbeitet (Martin Hoppe, Objekt der Woche , # 129). Ebenso erhalten ist der Ehrensäbel für Carl Röttelberg, Mitunterzeichner des Hanauer Ultimatums an den hessischen Kurfürsten und Mitglied der Volkskommission. Mit August Schärttner und Christian Lautenschlägerstand er dem Rüstungsausschuss vor, dem die Aufgabe zufiel, das Freicorps der Bürgergarde aufzustellen, später stieg er zum Hauptmann der 10. Kompanie auf.

Sein Ehrensäbel wurde ihm am 9. November 1848 für seine Verdienste als Kommandeur des Hanauer Freikorps verliehen. Er kam nach seinem Tod in das Eigentum des Hanauer Geschichtsvereins. Den stolzen „Revoluzzer“ samt Säbel hat de Hanauer Maler Georg Cornicelius 1848 gezeichnet. Die Lithografie von Valentin Schertle (Schloss Philippsruhe) wurde bei Eduard Gustav May in Frankfurt am Main verlegt, wie viele prominente Paulskirchenabgeordnete auch. In den siebziger Jahren wurde die Schäferstraße südlich der Französischen Allee nach ihm benannt)(Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 171).

Mit dem zuvor verfemten Germanisten Jacob Grimm und dem Tabakfabrikanten August Rühl, der dem linken republikanischen Spektrum angehörte, saßen in der am 18. Mai 1848 eröffneten Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche auch zwei Hanauer Abgeordnete.

 

 

 

Noch einmal machten Hanauer Freischärler ein Jahr später von sich reden, als rund 300 Bewaffnete im Juli nach Baden zogen, um die Reichsverfassung zu retten. Sie kämpften gegen Reichstruppen und preußische Einheiten. Das Volksheer mußte sich schließlich geschlagen geben. Die Hanauer Turnerwehr floh daraufhin in die Schweiz. Nach ihrer Heimkehr wurde ihnen der Prozeß wegen Hochverrats gemacht. Sie wurden größtenteils freigesprochen. Die verurteilten Anführer - darunter auch August Schärttner - mußten zunächst im Exil bleiben.

 

Die Turner:

Die Hanauer Turngemeinde wurde 1837 gegründet. Mitgründer und erster Vorsitzender war

Christian Anton Lautenschläger (1820-1877), Zu seinen Vereinskollegen gehörte August Schärttner, später Anführer der Hanauer Revolution. Als Hauptmann der 2. Kompagnie der Hanauer Turnerwehr befehligte Lautenschläger 1849 den „Zug nach Baden“ mit und floh nach der Niederlage von Waghäusl in der Schweiz. Wieder in Hanau, wirkte er innerhalb einer Genossenschaft beim Bau einer Turnhalle mit. Ein Ölgemälde von Georg Gerhard befindet sich im Schloss Philippsruhe (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 36).

Revolutionäres Potential sammelte sich auch in der Hanauer Turnerbewegung. Vom 2. bis 4. April fand folgerichtig auf Einladung von August Schärttner der erste Deutsche Turnertag in der Wallonisch-niederländischen Kirche statt, zu dem auch Turnvater Ludwig Jahn anreiste. Der war den Hanauern allerdings zu konservativ, so daß sie sich mit ihm bald überwarfen. Auf dem zweiten Turnertag am 2. Juli gleichen Jahres spaltete sich der Demokratische Verein Schärttners vom Deutschen Turnerbund ab.

Im April 1848 kamen in der Wallonisch-niederländischen Kirche in Hanau die Turner zum ersten Deutschen Turntag zusammen. Er war eingebettet in die revolutionären Bewegungen der damaligen Zeit. Die republikanischen Ideen nahestehende Hanauer Turngemeinde hatte es eilig, als sie am 19. März 1848 die deutschen Turnvereine für den 2. April zu einem in Hanau abzuhaltenden Turntag einlud. Als Ziel des Turntages hatte man die Gründung eines Deutschen Turnerbundes formuliert, der die Kräfte bündeln und sich vor allem auch politisch artikulieren sollte.

Konkret wollte man sich dann den im Frankfurter Vorparlament tagenden Volksvertretern, die eine Nationalversammlung vorbereiten sollten, unterstützend mitteilen. Dieses Vorgehen entsprach durchaus der Handlungsebene vieler vaterländischer oder demokratischer (republikanischer) Vereine und Verbände, die sich vielerorts in rascher Folge bildeten, um an der politischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung teilzuhaben.

Die enge Verbindung von Turnern mit den politischen Tagesereignissen wird auch darin deutlich, daß ein Teil der Delegierten den Turntag verließ und nach Frankfurt reiste, als bekannt wurde, daß Friedrich Hecker, der „Führer der Linken“, das seiner Meinung nach zu zögerliche Vorparlament mit einer radikalen Minderheit verlassen habe, um die revolutionäre Stoßkraft zu erhalten. Von den Ergebnissen ihres Turntages waren die Hanauer freilich enttäuscht. Zwar war der Deutsche Turnerbund gegründet worden, der auch für die „Einheit des deutschen Volkes“ tätig sein wollte, was einem traditionellen Streben der Turner entsprach. Eine eindeutige Aussage zugunsten einer demokratischen Republik - wie von den Radikalen erhofft - war allerdings ausgeblieben.

So beriefen die Hanauer einen zweiten Turntag ein, der am 2. Juli 1848 zusammentrat. Die zum Teil heftig geführte Auseinandersetzung über die politische Zielsetzung brachte schließlich eine Abspaltung der „demokratischen“ Richtung, die in ihrem „Demokratischen Turnerbund“ die Forderung nach Errichtung einer demokratischen Republik in die Statuten schrieb. Einig in dem Streben nach nationaler Einheit, aber uneins in der Frage der Staatsform, war die Turnbewegung spätestens nach dem 2. Hanauer Turntag tief gespalten. Die Momentaufnahme über die Hanauer Turntage zeigt, daß die Turnbewegung im Vormärz eindeutig eine politische Rolle spielte. Darüber hinaus waren Turner als Einzelpersonen oder in organisierten Gruppen aktiv in einzelne revolutionäre Ereignisse verwickelt.

Wie ist es dazu gekommen? Sind die Gründe ausschließlich in der Dynamik der erregten Zeitströmung zu sehen? Zunächst ist festzustellen, daß die Turnbewegung seit ihrer Entstehung zu Beginn des 19. Jahrhunderts politisch war und als wichtige (auch überregionale) Organisation der deutschen Nationalbewegung gelten kann. Im Wesentlichen waren es drei Anliegen gewesen, die im Brennpunkt der Bestrebungen Jahns und seiner Turnfreunde standen: die Befreiung Deutschlands von der napoleonischen Fremdherrschaft, die Idee eines künftigen einigen deutschen Reiches unter Führung Preußens und die Schaffung einer Verfassung, die dem ganzen Volke staatsbürgerliche Rechte sichern sollte.

Von daher war es nur konsequent, wenn Jahn als ein Hauptziel des „vaterländischen Turnens“ formulierte: „....die Jugend zum künftigen Kampfe für das Vaterland rüstig zu machen.“ Ein Teil der auf der Hasenheide betriebenen Leibesübungen läßt in der Tat klar die militärische Zielsetzung erkennen. Hatte sich die Turnsache zunächst eines gewissen Wohlwollens bei den Behörden erfreut, so konnte vor allem das Einheitsstreben der Turner in der nach dem Wiener Kongreß beginnenden Restaurationsepoche nicht unwidersprochen bleiben. Die enge Verbindung von Turnern mit der politisch verdächtigen Burschenschaftsbewegung führte schließlich 1820 zur sogenannten „Turnsperre“, was einem Verbot des Turnens gleichkam, zumal sich andere deutsche Staaten dem preußischen Vorbild anschlossen.

Die Zeit nach der „Turnsperre“ (1842) war durch einen starken Aufschwung des Turnens geprägt. Die Entwicklung der Vereinsbewegung verlief nach 1845 sogar stürmisch und wies wieder eindeutig politische Züge auf. Allerdings läßt sich eine deutliche Ausweitung der gesellschaftspolitischen Ziele erkennen. Zu dem stark ausgeprägten nationalen Gemeinschaftsbewußtsein kam nun eine beginnende national-revolutionäre Bewegung. Dabei zeigte sich, daß sich in der Revolutionsbewegung von 1848/49 der bürgerliche Liberalismus, die Demokraten und die Anhänger  sozial-revolutionärer Strömungen durchaus als Träger der nationalen Plattform verstanden. Diese Art einer gemeinsamen nationalen Idee läßt sich auf Sänger- und Schützenfesten ebenso feststellen wie im Leben der Turnvereine.

Wie die Debatten und Ergebnisse der beiden Hanauer Turntage von 1848 zeigen, hatten die genannten Ziele die Turnbewegung freilich nicht durchgehend erfaßt. Auch in ihr war - ähnlich wie in den Kammern der Landtage und in ideellen Gesinnungsgemeinschaften außerhalb - eine Art Dreiparteiengruppierung gegeben: zwischen Konservativen (auch Jahn) und Radikalen (im Sinne republikanischer Demokraten) eine stärke Gruppe von Liberalen, die ein konstitutionelles Staatsrecht auf parlamentarischem Wege umsetzen wollte.

Nun wäre es falsch, alle Turner einer der genannten Gruppierungen zuordnen zu wollen. Man sollte bedenken, daß ein großer Teil der Turnvereine (vor allem in Norddeutschland) die Politik völlig aus dem Vereinsleben ausklammern wollte. Auch wenn nur wenige Mitgliederverzeichnisse von Turnvereinen aus dem Vormärz existieren, so kann man doch von einer starken bürgerlichen Mitgliedschaft in den meisten Vereinen ausgehen. Zwar mochte man durchaus mit der Republik liebäugeln, doch hätte ihre Errichtung letztlich Umsturz der politischen und sozialen Verhältnisse bedeutet. Zum anderen befürchteten viele Turner bei einer politischen Betätigung ähnliche Repressalien, wie sie schon einmal zu einer „Turnsperre“ geführt hatten.

Unrecht hatten die „Unpolitischen“ nicht, hatten sich doch republikanisch gesinnte Kreise - um der Aufmerksamkeit der Reaktion zu entgehen - Wirkungsbereiche gesucht, die nicht scharf überwacht wurden. So traf man sich eben in Turnvereinen und auf Turnfesten und nicht (oder nicht nur) in demokratischen Vereinen und bei Volksversammlungen. Daß sich die „Maulturner“, wie die nicht aktiven Turner zuweilen genannt wurden, in manchen Vereinen das Übergewicht verschafften, verstärkte oft noch die Tendenz zum politischen Verein. Die Folge war, daß schon vor den Märzereignissen zahlreiche Turnvereine polizeilich überwacht und zum Teil verboten wurden (beispielsweise die Frankfurter Turngemeinde und der Turnverein Offenbach).

Das politische Engagement der republikanischen Turner mündete letztlich in eine aktive Teilnahme an den revolutionären Ereignissen von 1848/49 ein. Eine der Voraussetzungen dafür war, daß zahlreiche Turner der Aufforderung des 1. Hanauer Turntages gefolgt waren, sich zu bewaffnen. Die Volksbewaffnung war eine der Märzforderungen gewesen. In vielen Turnvereinen waren Turnerwehren gebildet worden, von denen sich manche den Bürgerwehren anschlossen.

Über eine Teilnahme von Turnern am „Heckerputsch“ (Hecker hatte im April 1848 in Konstanz die Republik ausgerufen) ist nur wenig bekannt. Stärker war die Beteiligung von Turnern an den Unruhen in Frankfurt im September l848. Anlaß des rasch niedergeschlagenen Aufstandes war die Annahme des Waffenstillstandes von Malmö durch die Nationalversammlung. Auch Jahn hatte dafür gestimmt. Das Abstimmungsergebnis wurde von den Radikalen als Verrat am deutschen Volke angesehen. Die Ablehnung der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. bedeutete das Scheitern der Frankfurter Verfassungsbestrebungen.

Im Mai 1849 kam es zu Kämpfen zur Durchsetzung der Reichsverfassung in Sachsen, in der Pfalz und in Baden. Hieran waren Turner sehr stark beteiligt. In Baden griffen sogar Einheiten von Turnern in die Kämpfe ein, wie beispielsweise die Hanauer Turnerwehr (bei Waghäusel und an der Murglinie).

Nach dem Scheitern der Revolution von 1848/49 gingen die Regierungen mit besonderen Vereinsgesetzen gegen politische Vereine vor. Manchenorts wurden Vereine, die dem Demokratischen Turnerbund angehörten, sogar verboten. Viele Turner, die in bewaffnete Auseinandersetzungen verwickelt waren, hatten sich ins Ausland abgesetzt und später dort Fuß gefaßt. So steht beispielsweise die Entstehung der Turnbewegung in den USA eindeutig im Zusammenhang mit der durch die Revolution ausgelösten deutschen Einwanderung: Getreu ihren Zielen gründeten die ausgewanderten Turner 1851 den „Sozialistischen Turnerbund“ von Nordamerika.

Die Maßnahmen der Reaktion unterbrachen zunächst die Weiterentwicklung der Turnbewegung in Deutschland. Bei ihrem Wiederaufleben 1859/60 bestanden kaum mehr als 100 Turnvereine, nachdem es zehn Jahre davor noch etwa 300 gewesen waren. Die Turnbewegung nach der Revolution hatte nicht mehr den Charakter einer politischen Bewegung, sieht man von der nationalen Frage ab. Allerdings blieb das Turnen die bestimmende Form der in Schule und Verein betriebenen Leibesübungen.

Der politische Bedeutungsverlust der Turnbewegung läßt sich auch damit erklären, daß die politische Meinungsbildung in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts immer deutlicher in Parlamenten und Parteien erfolgte. Spätestens seit der Reichsgründung 1871 sah sich die Turnbewegung dem wilhelminischen Staat mehr und mehr verpflichtet. Die deutsche Einheit, das zentrale politische Ziel der Turner seit Jahn, war erreicht. Fortan befand sich die bürgerliche Turnbewegung - die Zeit des Nationalsozialismus eingeschlossen - im Einklang mit der Obrigkeit.

 

August Schärttner und seine Turner zogen aus, um die badische Volksregierung zu unterstützen:

Es war „Ungeheuerliches“ was da am 2. Juni 1849 an Hanaus westlichem Stadtrand geschah, also etwa dort, wo sich heute Kastanien- und Burgallee befinden: Die Hanauer Turner, etwa 2.900 an der Zahl, trafen sich unter Leitung ihres Vorsitzenden August Schärttner, um einem Hilferuf der damals kurzzeitig in Baden existierenden Volksregierung bewaffnet zur Hilfe zu eilen. Bejubelt von den Hanauern zogen die Turner, denen sich immer mehr Sympathisanten aus Firmen und aus anderen Orten anschlossen, durch die Stadt hin zur Aschaffenburger Straße. Über 300 Männer waren es dann letztlich, die ein Turnerbataillon bildeten, das unter dem Regiment des so zum Major avancierten August Schärttner stand. Das reichte für das Aufstellen von drei Kompanien aus, die jeweils von einem Hauptmann angeführt wurden. Die erste Kompanie stand unter Leitung von Hauptmann Unna, den anderen standen die Hauptleute Christian Lautenschläger und Engel vor.

Es gärte in den deutschen Landen: Zwar war die Paulskirchenverfassung 1849 verabschiedet und damit demokratische Reformen eingeleitet worden. Doch hatte der designierte Kaiser, Preußens König Friedrich Wilhelm IV., die Krone zurückgewiesen und die 1848er Verfassung als „ein revolutionären Produkt“ beschimpft. Der königlichen Ablehnung schlossen sich deutschen Königs- Herzogs- und Fürstenhäuser durchweg an; der Boden für eine Erhebung von Teilen des deutschen Volkes war bereitet.

Heute spricht man nach der Lokalisierung der Ereignisse vom „badisch-pfälzerischen Maiaufstand“. In Baden griff der Aufstand um sich, erhielt teilweise Unterstützung von Soldaten der Großherzoglich-badischen Armee, und auch der polnische General Miroslawski stellte sich mit seinen Truppen auf die Seite der Aufständischen. Ihnen gegenüber standen auf Seiten des Großherzogs neben dessen Truppen auch solche aus Kurhessen und das Erste Preußische Garderegiment, das vom preußischen Prinzen Wilhelm (später: Kaiser Wilhelm I.) geführt wurde.

Zurück nach Hanau: Die Turner hatten im Revolutionsjahr 1848 eine politisch maßgebliche Rolle gespielt, und so war es auch kein Wunder, daß sich die in Baden als Gegenpol zum Großherzog gebildete Volksregierung, als sie sich geballter feindlicher Macht gegenübersah, auch an die verschiedenen Turnergruppierung um Unterstützung wandte. In Hanau stieß man dabei auf offene Ohren: Das Turnerbataillon wurde zusammengestellt und brauchte sich um Rekrutierungsprobleme keine Sorgen zu machen. Die Hanauer Turnertruppe marschierte aus der Goldschmiedestadt heraus, kam über Großkrotzenburg und Kahl, Aschaffenburg, Miltenberg und Buchen nach Hirschhorn.

Am 12. Juni gab es dort die erste „Feindberührung“. Vieles wurde bei diesem Gefecht improvisiert: So mußten die Bleiumrahmungen der Butzenscheiben am Schloß Hirschhorn als Material für Gewehrkugeln herhalten. Richtig „heiß“ wurde es dann bei Waghäusel nahe Hockenheim, wo es am 21. Juni zu einem Scharmützel kam, und dann bei der „Entscheidungsschlacht“ am 28. und 29. Juni bei Rastatt-Kuppenheim. Dort bezogen die Aufständischen die entscheidende Niederlage. Aus Kampfhandlungen gab es kein einziges Todesopfer auf Hanauer Seite. Die beiden einzigen Toten resultierten aus dem mißglückten Versuch, ein Gewehr zu reinigen. Das wirft sicherlich auch ein Licht auf die Resignation vor einer Übermacht, die die Revolution letztlich zu einer, wenn auch sehr ernstzunehmenden Drohgebärde werden ließ.

Die Hanauer Turner um August Schärttner jedenfalls begaben sich nach der Niederlage bei Kup­penheim auf einen „geordneten Rückzug“ in Richtung Schweiz, bewältigten einen Streckenabschnitt sogar mit der Eisenbahn, um dann aber doch per Fuß am 5. Juli die Grenze bei Basel zu erreichen. Von den Eidgenossen wurden die Kämpfer interniert. In den folgenden Wochen kehrten die ersten von ihnen nach Hanau zurück. Und als ihnen da erst einmal „nichts passierte“, folgten alle anderen nach.

Der Anführer. August Schärttner ging nach London. Der gelernte Gastwirt begründete sich dort mit dem „Deutschen Haus“ eine bürgerliche Existenz, spielte aber nach wie vor in der revolutionären Szene eine nicht zu unterschätzende Rolle. Wilhelm Kämmerer, der Ordonanzoffizier der Turnertruppe, fand erst einmal in Paris Unterschlupf.

Allein: Die Aufständischen sollten nicht auf Ewigkeit unbehelligt leben können. Im Jahre 1858 wurden 43 von ihnen vom Hanauer Schwurgericht des Hochverrats beschuldigt. 21 der Angeklagten stellten sich auch ihren Richtern. Inzwischen durchweg in den bürgerlichen Alltag zurückgekehrt wurden sie alle freigesprochen. Nicht so jedoch die „Rädelsführer“: In Abwesenheit wurde so August Schamner zu acht Jahren Zuchthaus, Wilhelm Kämmerer zu fünf Jahren verurteilt. Für Schärttner hatte dies zur Folge, daß er nie wieder seine Heimatstadt besuchen konnte, denn gerade 42jährig starb er 1859 in London. In Deutschland wurde die aufmüpfige Turnerbewegung in den Jahren nach der badisch-pfälzischen Revolution völlig entpolitisiert und Großteils auf „vaterländischen“ Kurs gebracht, wie sich vor allem auch bei großen Turnfesten in den nächsten Jahren zeigte.

 

Die Künstler:

Von einer seltenen Konstellation in der Kunstgeschichte gehört es, „daß ein Freundeskreis junger Maler zugleich Turner war.“ Die Zeichenakademieschüler Georg Cornicelius, Friedrich Karl Hausmann, August Schleissner, Heinrich Ludwig, Georg Gerhardt, Friedrich und Johann Deicker, die Söhne des Hanauer Tiermalers, sowie die Hamburger Brüder Gustav und Louis Spangenberg waren nicht nur beflissene Turner, sondern waren auch den freiheitlichen-demokratischen und patriotischen Gedanken der Turnerschaft zugetan. Daß sich dies so ergab, war mit Gewißheit ein Verdienst von Theodor Pelissier, dem damaligen Leiter der Zeichenakademie, gewesen, der nach dem Tod seines Vorgängers, Conrad Westermeyr, der vom Bürgertum getragenen Lehranstalt neue Impulse hinsichtlich des künstlerischen Schaffens und der Pädagogik gab.

Cornicelius, der der Turngemeinde 1837 beitrat, war nach der Schilderung seines Neffen Karl Siebert zunächst ein Turner der Körperertüchtigung wegen: „Daß die überwiegende Tätigkeit in einem geschlossenen Raum für einen jungen Menschen auf die Dauer nicht zuträglich sei“, empfand Cornicelius frühzeitig und versuchte durch „Bewegungen im Freien“ einen Ausgleich zu finden.

Fast alle älteren Pelissier-Schüler waren in der Turngemeinde, und damit auch Karl Hausmann und August Schleissner, die zu den besten Freunden von Cornicelius zählten. Man ließ sich ganz entsprechend der Gesinnung einen sogenannten Hecker-Bart stehen; ein Vollbart, wie ihn der Revolutionsführer Friedrich Hecker trug.

Ein Mitanführer - wenn auch ein weitaus konservativerer - kam im April l848 zum Deutschen Turntag nach Hanau: Friedrich Ludwig Jahn. Cornicelius und Hausmann nahmen rasch Kontakt zu ihm auf, offensichtlich nicht nur zum ideologischen Gedankenaustausch. Jahn und seine Frau Emilie wurden während des längeren Aufenthaltes in Hanau von den beiden Künstlern auch gemalt. Dies in einer Darstellungsform, die bislang nur Adeligen vorbehalten war - stolz in ganzer Statur, losgelöst von jeglichem Hintergrund. Später werden so auch der Freischärlerführer Karl Röttelberg und der Turnerführer August Schärttner ganzfigürlich portraitiert. Dieser, auf Repräsentation ausgerichtete Bildansatz, wird sozusagen demokratisiert. Dazu hat außerdem beigetragen, daß die Zeichnungen im Lithographiedruck in hoher Auflage reproduziert wurden und somit als Wandschmuck und Träger einer ideologischen Richtung für jedermann erschwinglich waren. Das Bildnis von Turnvater Jahn, das vom Frankfurter Eduard May-Verlag herausgegeben wurde, soll ein Verkaufsschlager gewesen sein.

Nur zwei Künstler aus dem Kreis von Cornicelius nahmen am Hanauer Turnerzug, den er in einer Bleistiftzeichnung festhielt, gen Baden teil. Im Herbst 1848 gingen er und Hausmann nach Antwerpen - wie manch anderer deutscher Maler auch. Dort widmete man sich der Historienmalerei. Hausmann zeichnete die Paulskirche als Stätte der Nationalversammlung und setzte sich 1849 mit dem Bildnis „Der Freischärler tot auf dem Boden liegend, von einer Frau beweint“ mit dem Scheitern der Revolution auseinander. Die „Strafbayern“ besetzten am 1. November 1850 die unruhige Stadt.

 

Preußen 1866

Am 8. Oktober 1866 wurde Kurhessen von dem im Deutschen Krieg siegreichen Preußen annektiert. Die Hanauer Zeitung vom 3. Oktober 1866 verkündete die der Annexion Kurhessens durch das Königreich Preußen. Flugs wurden an allen öffentlichen Gebäuden Hanaus die preußischen Fahnen gehisst. Seit dieser Zeit war Hanau preußisch.

 

 

Vorteile der „feindlichen Übernahme“ waren: Die Hanauer Zeichenakademie erhielt den Titel Königliche Zeichenakademie. Landgraf Friedrich Wilhelm von Hessen(-Rumpenheim) und seine Gemahlin Anna von Preußen renovierten Schloss Philippsruhe im Stil des Historismus 1875-1880 nach dem Motto „Uns gibt es noch!“. Und um 1900 war es für Oberbürgermeister Eugen Gebeschus einfacher, die preußischen Eisenbahn-Regimenter von Berlin nach Hanau-Lamboy abzuwerben (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 78).

Nach der Reichsgründung 1871 hatte die Stadt teil an dem allgemeinen wirtschaftlichen Wachstum. Hanaus Industrie nahm einen beträchtlichen Aufschwung. Dies war begleitet von einem raschen Bevölkerungszuwachs, was wiederum zur Erweiterung des bebauten Stadtgebietes weit über die von den alten Festungswerken vorgegebenen Grenzen führte. Hanau war in dieser Zeit ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt, um 1900 wurde es zu einer bedeutenden Garnisonsstadt. Stationiert waren hier ein Ulanen- und ein Infanterieregiment, vor allem aber die Eisenbahnpioniere.

 

Paul Hindemith 1895 bis 1963

Eine der stärksten musikalischen Begabungen unter den neueren Komponisten, Paul Hindemith, ist ein Kind unserer Vaterstadt Hanau. Das erfüllt uns mit Stolz. Am 16. November 1895 wurde er im Hause Vorstadt 14, das der Zerstörung zum Opfer fiel, geboren. Der Vater, ein künstlerisch hochbegabter Mann, jedoch ohne straffe innere Haltung, ließ den Jungen, der noch zwei musikalische Geschwister hatte, vom elften Jahre an in Frankfurt am Dr. Hoch’schen Konservatorium ausbilden. Professor Adolf Rebner, ein hervorragender Geiger und Leiter des nach ihm benannten, weltberühmten Quartetts, formte ihn zu einem tüchtigen Violinspieler und Bratschisten. Seine Lehrer im Tonsatz waren Bernhard Sekles und der Darmstädter Arnold Mendelssohn, Sohn eines Vetters von Felix Mendelssohn-Bartholdy.

Vor dem ersten Weltkrieg dirigierte an der Frankfurter Oper Dr. Ludwig Rottenberg, der spätere Schwiegervater Paul Hindemiths Er erkannte die künstlerischen Fähigkeiten des jungen Geigers und berief ihn als Ersten Konzertmeister an das Frankfurter Opernhausorchester. Hier erwarb er sich durch gründliches Einarbeiten in den musikalischen Stil der Oper das für seine eigene schöpferische Tätigkeit so überaus wichtige Handwerkliche der Kunst.

Der durch seine Tonschöpfungen bereits bekanntgewordene Tonsetzer wurde im Jahre 1928 als Lehrer der Komposition an die Hochschule für Musik in Berlin berufen. Wie viele andere mußte auch Paul Hindemith 1933 seine Heimat verlassen, und sein Werk wurde verfemt. Zuerst fand er Asyl in der Schweiz, später folgte er einem ehrenden Ruf als Professor der Musik nach den Vereinigten Staaten Amerikas. Im Jahre 1951 kehrte der Künstler nach der Schweiz zurück und wirkt seitdem als Hochschullehrer für Musik in Zürich.

Paul Hindemith hat oft im Brennpunkt künstlerischer Auseinandersetzungen gestanden; auch er mußte wie alle Neuerer gegen mannigfache Widerstände seinen Weg bahnen und sich seinen eigenen Stil erkämpfen. Heute steht nun die musikalische Welt vor dem Werk dieses talentiertesten deutschen Komponisten der Neuzeit in Erstaunen und Ehrfurcht. In seiner Oper „Mathis der Maler“ steht der Satz: „Alles, was du schaffst, sei Opfer dem Herrn!“ In diesen Worten liegt ein Bekenntnis zur Würde der Kunst, der Paul Hindemith mit ganzem Herzen dient.

Trotz aller äußeren Erfolge und Anerkennungen ist Paul Hindemith stets der bescheidene, liebenswürdige Mensch geblieben, dem nichts lästiger ist als öffentliche Ehrungen. Er lebt nur für sein Werk. dem er sich verschworen hat, und ihm widmet er sein ganzes, großes Können. Zeigen wir uns dieses großen Meisters, als einem der besten gestaltenden Geister unserer Zeit, würdig!

 

 

 

Hanau als Vorposten der proletarischen Revolution 1918

Am 8. November 1918 war die Novemberrevolution, Kaiser Wilhelm II. dankte ab, Scheidemann rief die Republik aus und Liebknecht bestand darauf, daß sie eine sozialistische sei. Schon zwei Tage zuvor hatten im Hanauer Rathaus die Stühle gewackelt, war die Stadtverordnetenversammlung von den Massen gesprengt und aufgelöst worden. „Nieder mit dem Krieg!“ - „Auf Sozialisten, schließt die Reihen!“ lauteten die Parolen. Am 8. November konstituierte sich der „Arbeiter- und Soldatenrat“ und in der Nacht auf den 9. November erging ein Aufruf an die Bevölkerung, den Anbruch „der neuen Zeit“ zu unterstützen, „für die die besten Männer und Frauen des Proletariats litten und starben.“

Im Folgenden wurde die Sicherung von Ruhe und Ordnung versprochen, wurden Lebensmittel- und Kleiderbeschaffung garantiert und im Gegenzug Sanktionen gegen Plünderer angedroht. Am Samstag, 9. November 1918, wurde der Soldatenrat in einer öffentlichen Versammlung auf dem Marktplatz von der Bevölkerung bestätigt. „In Hanau herrschte ein besonders revolutionärer Geist“, resümierte Hubert Zilch, Gründungsmitglied und langjähriger Vorsitzender des Hanauer Kulturvereins.

„Seit dem Wilhelmsbader Fest 1u32 - das auf das Hambacher Fest unmittelbar folgte - und den Ereignissen 1848/49 hat man landesweit nach Hanau geguckt und den Ausruf der Revolution erwartet, behauptete Zilch. Clara Zetkin formulierte in einem Vorwort zu Friedrich Schnellbachers Zeitzeugenbericht: „Das Hanauer Proletariat hatte arbeitend, kämpfend seine revolutionäre Reife bewiesen und seine revolutionären Tugenden erwiesen!“

Von dieser pathetischen Einschätzung spannte der Historiker den Bogen von der Ausgangssituation (Lage der Metallarbeiter im 19. Jahrhundert) über die wirtschaftliche Entwicklung während des ersten Weltkrieges (extremer Rückgang im Schmuckgewerbe, Arbeitslosigkeit) bis zur Rolle der Pulverfabrik in Wolfgang und ihrem späteren Ausbau zum Atomdorf. Seine grundlegende Frage hinter allen Fakten war: „Vieles hat sich durch die Technologieschübe verändert - aber hat sich dabei auch der Mensch entwickelt?“

Gravierend wirkte sich auch der technologische Fortschritt aus, hatte doch die Differenzierung der Arbeitsvorgänge und der Trend zur Hochqualifizierung Selbstisolierung und Entsoli­dari­sierung in der Arbeiterschaft zur Folge - Symptome, die sich bis heute auswirken. Clara Zetkin sah das Scheitern der Räte-Regierung unter einem weiteren Aspekt: „Das revolutionäre Hanau gehörte zu den wenigen Inseln im Ozean der Klassenunreife. Es war ein vorgeschobener Vorposten der proletarischen Revolution, der zurückgezogen werden mußte, weil die breiten. starken Heersäulen nicht standhielten!“

 

Aufwärtsentwicklung bis 1945

Seit der Gründung der Neustadt durch die französischen und flämischen Reformierten wurde Hanau durch eine rasche wirtschaftliche und industrielle Entwicklung bald zu einer beachtenswerten Geschäftsstadt. Ihre gewaltige Entfaltung zeigte sich nicht nur auf dem Gebiet des Gold- und Silberschmiede-Handwerks mit seinen Nebengewerben (1874 wurde die erste Diamantschleiferei von Friedrich Houy eröffnet), sondern sie entwickelte sehr bald auch ihren Charakter als Stadt des Manufakturei- und Fabrikwesens. Die Teppichfabrik Leis1er und die Tuchfabriken, später auch die Tabakwaren- und Zigarrenfabriken, schickten ihre Waren weit über die Grenzen der engeren Heimat hinaus und begründeten für Hanau den Ruf einer Handelsstadt.

Es entstanden kleinere und größere Fabrikanlagen, von denen sich einige bis auf den heutigen Tag durchgesetzt und teils als Großindustrien sogar Weltgeltung erfahren haben (Dunlop -Heraeus - Quarzlampengesellschaft - Degussa - Hanauer Gummischuhfabrik u. v. a.). Nach dem Zusammenbruch 1918 hatte auch Hanau seine Unruhen; dennoch konnte bereits 1921 - 24 der Mainhafen gebaut und 1928 die Stadtha1le eröffnet werden.

Mit der wirtschaftlichen Entfaltung ging der kulturelle Aufstieg Hand in Hand. Hanau hatte ein Schulwesen, auf das es stolz sein konnte, und sein Theater- und Konzertwesen konnte sich sehen lassen. Der Einfluß des Zuzuges der Emigranten war nicht nur wirtschaftlich zu spüren: Ein neuer Menschenschlag, der Hanauer Typ als der weltoffene, musische, der an südliche Temperamente anklingende, lebhafte und freiheitlich gesinnte Mensch entstand.

 

Niedergang

Als in den frühen Morgenstunden des 19. März im Kriegsjahr 1945 Hanau durch den schweren Bombenangriff zerstört wurde, der Stadtkern ein großes Trümmerfeld bildete und nur noch einige Häuser am Stadtrand übriggeblieben waren, da schien die Geschichte Hanaus beendet, und es war keine Phrase, als man von kompetenter Besatzungsseite dem Stadtoberhaupte den Rat gab. eine neue Stadt außerhalb der bisherigen Stadtgrenzen zu errichten, da es unsinnig und unausführbar sei, über dem Trümmerhaufen mit dem Wiederaufbau zu beginnen.

Am 19. März 1945 wurde in knapp 20 Minuten all das zerstört, was eine strebsame Bevölkerung in Generationen durch Fleiß und mit Entbehrung geschaffen hatte. Die ganze Stadt war ein einziger Trümmerhaufen. Von 14 Schulen stand noch eine. Alle Kirchen waren verschwunden, die Industrie völlig zerschlagen und die Krankenhäuser ganz oder teilweise zerstört. Alle Zeugen der Vergangenheit, Kulturdenkmäler, historische Gebäude waren vernichtet. 85 Prozent der Häuser lagen in Schutt und Asche. Von 42.000 Einwohnern wurden in der Stadt noch etwa 6.000 gezählt. Acht Tage später zogen die Amerikaner ein. Marodeure, Wegelagerer und Gangster trieben in der Ruinenstadt ihr Unwesen. Die paar Menschen, die geblieben, schienen zunächst wie gelähmt und waren unschlüssig.

Eine Erinnerungstafel eines französischen Kriegsgefangenen oder Zwangsarbeiters aus dem Jahr 1942 wurde bei Ebay ersteigert und ist heute beim heute Hanauer Geschichtsverein (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 62). Aus Privatbesitz tauche ein Farbfilm auf, eine 40-minütige Dokumentation, der vermutlich von einem ehemaligen britischen oder US-amerikanischen Soldaten stammt. Dieser war im Mai 1948 zu Gast an Main und Kinzig und hat einzigartige Bilder der zerstörten und im Wiederaufbau befindlichen Hanauer Innenstadt aufgenommen. Darunter sind Aufnahmen vom Marktplatz, Freiheitsplatz, Französischer Allee, aber auch von Schloss Philippsruhe und Wilhelmsbad zu sehen Er ist heute im Medienzentrum Hanau (Martin Hoppe, Objekt der Woche, 207).

 

Der Landrat als brutaler Rädelsführer unter den Nazis 1948

Einen der ersten aufsehenerregenden Prozesse nach dem Zweiten Weltkrieg führte die wiedergegründete, damals noch einzige Strafkammer des Hanauer Landgerichts im Sommer 1948 in einem noch notdürftig wiederhergerichteten Saal des ausgebombten Justizgebäudes. Auf Betreiben der Opfer und des Staatsanwaltes Cordier, der noch weitere Unrechtsfälle aus der Nazizeit aufgriff, mußten sich insgesamt elf Angeklagte wegen gefährlicher und schwerer Körperverletzung im Amt, Aussageerpressung und weiterer Straftaten verantworten.

Sie hatten unter der Rädelsführerschaft des vormaligen Landrates Fritz Löser und Leiters der Staatspolizei, Wilhelm Färber, im Jahr 1933 angebliche oder tatsächliche Kommunisten festgesetzt und unter grausamen Folterungen zu Geständnissen über staatsfeindliche Vorhaben oder Taten gezwungen.

Die Anführer Löser und Färber, die auch aktiv an den Peinigungen teilgenommen haben sollen, wurden nach kurzer Untersuchungshaft und zweiwöchigem Verfahren zu Zuchthausstrafen von fünf und sieben Jahren verurteilt. Ihre Komplizen mußten zwischen 21 Monaten und dreieinhalb Jahren hinter Gitter. Einer der Beteiligten, der als der brutalste Schläger galt und außerdem im Jahr 1938 einen Raubüberfall auf eine Gruppe von Juden beging, erhielt eine Gesamtstrafe von elf Jahren. Drei der Beschuldigten wurden freigesprochen.

Nach der so genannten „Machtübernahme“ 1933 suchten die Nazis, die erlangten Regierungspositionen auch an der Basis und im Verwaltungsapparat zu festigen, wobei die Mehrheit der Beamtenschaft dem neuen Regime ablehnend gegenüberstand. So jedenfalls befand die Hanauer Strafkammer mit den Berufsrichtern Kurt Krotzmann, Dr. Friedrich Raschik und dem späteren Landgerichtspräsidenten Ernst Weigand in der damaligen Urteilsbegründung. Die Staatsdiener seien „viel zu sehr in den Überlieferungen eindeutiger Rechtsstaatlichkeit erzogen und groß geworden, um die von den Nationalsozialisten gewünschten und für erforderlich gehaltenen Methoden mitzumachen“.

Um die Kontrolle zu erlangen und das Machtgefüge der Verwaltung auszuhöhlen, wurden daher immer mehr eigene Leute eingeschleust, zuerst und vor allem bei der Polizei. So wurde in Hanau der spätere Angeklagte Löser als Kreisleiter, Landrat und Polizeidirektor eingesetzt. Mit ihm, aber teilweise auch gegen ihn, agierte der gelernte Maschinenbauer Wilhelm Färber, der bereits 1932 der SS beigetreten war, um auf diese Weise Karriere zu machen.

Diese Parteigruppierung entsandte ihn denn auch nach der „Machtergreifung“ als Verbindungsmann in die politische Abteilung der Kripo, wo ihm schon bald sämtliche Vorgänge der Sachbearbeiter zur Abzeichnung vorgelegt werden mußten. Färber erstattete wiederum dem Kreisleiter Löser regelmäßig Bericht.

Zwischen diesen Protagonisten entwickelte sich im Laufe der Zeit ein persönlicher Machtkampf, was schließlich dazu führte, daß beide gegeneinander intrigierten und sich in der Wahl ihrer Mittel zur Terrorisierung der Bevölkerung zu übertrumpfen suchten. Nach Überzeugung des Gerichts waren auch darin die Gründe für die folgenden Ereignisse zu suchen.

Bei den übrigen Angeklagten handelte es sich ausschließlich um Angehörige der Hanauer SS, darunter der Kaufmann und Sturmbannführer Franz Eckhard, der seinen Keller für die Folterungen zur Verfügung stellte, damit die Schreie der Opfer nicht in der Öffentlichkeit gehört werden sollten. Sein Adjutant war der SS-Scharführer Färber. Einen höheren Rang nahm außerdem der SS-Sturmführer Otto Gräbe, der Schläger in der Gruppe, ein.

Die erste „Aktion“ fand im Juni 1933 statt und richtete sich gegen Kommunisten oder Personen, die dafür gehalten wurden. Offiziell wurde ihnen vorgeworfen, Flugblätter der mittlerweile verbotenen KPD verteilt zu haben. Festnahmen und die anschließende Erzwingung von Geständnissen dienten den Drahtziehern Löser und Färber auch dazu, ihre Positionen gegenüber höheren Parteigruppierungen zu rechtfertigen. Bis dahin hatten sie deren Erwartungen hinsichtlich der politischen Erziehung der Bürger offenbar nicht erfüllt.

Von der Polizei festgenommen worden waren zu dieser Zeit vier Männer wegen angeblicher kommunistischer Umtriebe. Ein strafbarer Tatbestand konnte jedoch zunächst nicht festgestellt werden. Daraufhin wurden sie einzeln in den Keller des Sturmbannführers Eckhard gebracht, verhört, eingeschüchtert und nach Feststellung der Richter „in geradezu unvorstellbarer Weise gepeinigt. Der Gipfelpunkt der völlig verrohten Praktiken war dabei das so genannte Aufhängen. Dem Delinquenten wurden mit einem Strick die Arme am Rücken zusammengebunden, der Strick wurde sodann zwischen den Beinen am Geschlechtsteile nach vorn und oben geführt und die Betroffenen aufgehängt.“

„Ungerührt von den Schmerzensschreien, dem Winseln und schließlich Wimmern der bedau­ernswerten Opfer ließen die entmenschten Peiniger sie stundenlang in dieser Lage hängen, bis sie meist das Bewußtsein verloren, zumal sie vorher schon ergiebig geschlagen worden waren“, heißt es dazu in der Urteilsbegründung. Und weiter: „Es ist klar, daß die Opfer nach diesen Torturen unbesehen unterschrieben und bestätigt haben, was man von ihnen haben wollte.“ Demnach trugen alle vier Gefolterten schwerste Gesundheitsschäden davon und mußten monatelang ärztlich behandelt werden. Einer von ihnen litt noch zum Prozeß, 15 Jahre später, unter einer teilweisen Beinlähmung und epilepsieähnlichen Zuständen. Allerdings konnte nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden, ob diese Beeinträchtigungen von der damaligen Folter oder späteren Mißhandlungen im Konzentrationslager herrührten.

Eine zweite Razzia startete die Hanauer Polizei Mitte Dezember 1933. Zwei V-Leute begaben sich in die Gastwirtschaft Vohwinkel, wo sie sich als flüchtige bulgarische Kommunisten ausgaben und behaupteten, sie wollten einen Vervielfältigungsapparat für Flugblätter in Sicherheit bringen. Um ihr Anliegen echt wirken zu lassen, hatten sie sich aus den Asservaten der Polizeidirektion eine Hektographiermaschine besorgt, die sie einem der Gäste zur Aufbewahrung übergaben. Der nahm sie mit sich nach Hause und versteckte sie in seinem Kleiderschrank.

Mittlerweile hatten Polizei und SS das Lokal umstellt. Sämtliche Gäste, zwischen 30 und 40 Personen, wurden festgenommen. In den folgenden Tagen wurden weitere Menschen verhaftet und „vernommen“. Die spätere Beweisaufnahme ergab, daß sich die Angeklagten dabei „so entsetzlicher und unmenschlicher Mißhandlungen schuldig machten, daß es schwer fällt, vergleichsweise ähnliche Grausamkeiten zu nennen, außer etwa die Zustände in den KZ-Lagern“. Wenn die Gefangenen leugneten, verbotene Druckschriften verbreitet zu haben, wurden sie mit dem Kopf gegen Kanten und Wände geschlagen. Abwechselnd prügelten die SS-Leute unter anderem mit schweren Artilleriepeitschen so lange auf ihre Opfer ein, bis von den Folterwerkzeugen nur noch Stümpfe übrig waren.

Manchen wurden die Kleider herunter gezerrt „und die Peitschenschläge auf den bloßen Leib aufgesetzt, wobei man vereinzelt sogar nasse Tücher auflegte, um die Körperhaut umso eher zum Platzen zu bringen und die Schmerzen noch zu verstärken. Die Schreie der unglücklichen Opfer dieser barbarischen Methoden waren so weit in die Nachbarschaft der Polizeidirektion zu hören, daß draußen Unruhe entstand und Folterungen in ein anderes Zimmer verlegt wurden, welches gegen den Hof zu lag, so daß die Schreie nicht so unmittelbar auf die belebte Straße und in die benachbarten Wohnhäuser dringen konnten.“ Die „unvorstellbare Perversität“, wie sie das Gericht konstatierte, zeigte sich auch darin, daß einer der Verhafteten mit Peitschenhieben auf die bloßen Füße malträtiert wurde und „daß man ihm die Sohlen mit glühender Kohle verbrannte, die man einem angeheizten Ofen entnahm“.

Da nach dem Krieg weder sämtliche Opfer noch Täter ausfindig gemacht und befragt werden konnten, stand für das Gericht zu befürchten, daß die Liste der Grausamkeiten damit noch nicht erschöpft war. Von den Verletzten erstatteten 27 jedenfalls nach ihrer Freilassung Anzeige gegen ihre Peiniger. Das Verfahren wurde allerdings aufgrund des unmittelbar zuvor erlassenen Straffreiheitsgesetzes eingestellt und konnte erst nach der Befreiung wieder aufgenommen werden.

Im Prozeß suchten die Angeklagten, ihre Tatbeteiligung herunterzuspielen oder gar Nichtwissen vorzutäuschen. Lediglich Otto Gräbe gab die Mißhandlungen zu, machte jedoch geltend, er habe aus idealistischen Gründen gehandelt und geglaubt, einer guten und gerechten Sache zu dienen. Reue erkannten die Richter bei keinem der Beschuldigten. Sie wurden schließlich in zwölf von 28 angeklagten Fällen verurteilt.

Das Gericht fand dazu deutliche Worte, ließ sich nicht auf die Annahme eines singulären Ereignisses ein, sondern sprach von scheußlichen Taten, „wie sie eigentlich unter Angehörigen einer Kulturnation undenkbar sein sollten“. Sie seien der Auftakt zu einer Handlungsweise gewesen, die in ihrer Konsequenz „schließlich zu hemmungslosen Massenmorden in den Konzentrationslagern, und nicht nur in diesen, führten. Mit diesem systematischen Einsatz von Gewalt und Terror zu staatlichen Zwecken begann die Entwicklung, die den deutschen Namen in der Welt verächtlich gemacht hat.“

Die hohen Strafen für Löser und Färber, verbunden mit der Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte, begründete die aus drei Berufsrichtern und zwei Schöffen bestehende Strafkammer damit, daß sich beide im „Vollbesitz aller damaligen Machtvollkommenheit befunden haben und diese auf das Übelste mißbrauchten. Besonders der Angeklagte Löser hatte als Polizeidirektor, Landrat und Kreisleiter in einer Person alles daransetzen müssen, um das Recht zu bewahren. Stattdessen hat er erbarmungs- und rücksichtslos das Gegenteil getan.“ Er wurde daher mit der Höchststrafe belegt. Alle Verurteilten mußten ihre Strafen verbüßen.

 

Mit einer vom DKP-Kreisverband Main-Kinzig organisierten Kundgebung mahnten und erinnerten am 3. Februar 2013 (Samstagvormittag) rund 50 Menschen vor der Stadtbibliothek an den 80. Jahrestag der Übergabe der Regierungsmacht an den Faschismus. Dabei gedachte man auch Hanauer Bürgern, die durch die faschistischen Machtorganisationen wie der Gestapo gefoltert und schikaniert wurden. „Dieser Ort hier, der Fronhof, ist der steinerne Zeuge dieser Zeit. Er wurde von der Gestapo als Polizeigefängnis genutzt“, erinnerte der Dörnigheimer Klaus Seibert, Vorsitzender des DKP-Kreisverbands, daran, daß dort NS- Regimegegner eingesperrt, gefoltert und mißhandelt wurden.

Neben Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschaftlern und Christen wurden dort auch Juden, Sinti und Roma sowie Homosexuelle verhört, gequält und später in Zuchthäuser und Vernichtungslager verschleppt. Seibert ging der Frage nach, wie es damals dazu kommen konnte. „Als Hitler zum Reichskanzler wurde und damit den Faschisten die Macht übertragen wurde, begann in den ersten Februar-Tagen die Verhaftungen von Kommunisten und anderen als Gegnern der NSDAP bekannten Menschen. Dies war auch in Hanau der Fall“, wurde bei der Gedenkveranstaltung das Unrecht in Erinnerung gerufen.

Eugen Kaiser, der damalige sozialdemokratische Landrat, wurde abgesetzt. Nach den Wahlen im März 1933 wurden die Stimmen für die KPD gestrichen und ihre Abgeordneten verhaftet. Als Beispiel für Menschen, die sich den Nazis entgegenstellten, wurde bei der Gedenkveranstaltung an vier von ihnen erinnert. Das KPD-Mitglied Karl Hörle - nach 1945 Kreisvorsitzender des Sozialverbands VdK Hanau - wurde in der Haft gefoltert, seine Fußsohlen mit glühenden Kohlen verbrannt.

Der Arzt Dr. Otto Schwabe, Arzt in der Hammerstraße und jüdischen Glaubens, der bedürftige und nicht krankenversicherte Hanauer behandelte, mußte seine Praxis schließen. Im Jahre 1937 wurde er zur Polizeidirektion beordert und vernommen. Im Laufe des Verhörs stürzte Dr. Schwabe aus dem Fenster. Die Gestapo stellte dies als Selbsttötung dar, doch die Anzeichen sprachen dafür, daß er in den Tod getrieben wurde.

Auch der SPDler Hans Kargl (ab 1924 Stadtverordneter und bis Juni 1933 Magistratsmitglied) saß ab 1936 in fünf Gefängnissen, unter anderem im Fronhof sowie in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Dachau. Kargl, der dennoch überlebte, war von 1948 bis 1954 ehrenamtlicher Stadtrat. Er berichtete seinerzeit von unsäglichen Haft- und Hygienebedingungen.

Elisabeth Schmitz, 1893 in Hanau als Tochter eines Lehrers der Hohen Landesschule geboren, forderte in den 30er Jahren als bekennende evangelische Christin den offensiven Widerstand gegen die Judenverfolgung der Nationalsozialisten. Schmitz hatte 1938 selbst um ihre Entlassung aus dem Schuldienst gebeten, da sie ihre Schüler nicht im Sinne der NS-Ideologie unterrichten wollte. Sie kehrte Hanau den Rücken und nahm in Berlin Verfolgte in ihrer Wohnung auf. Nach dem Krieg unterrichtete sie zwölf Jahre als Lehrerin an der Karl-Reh­bein-Schule. Die Stadt richtete Elisabeth Schmitz inzwischen ein Ehrengrab ein.

 

 

Hoffnungsvoller Wiederaufbau

Schon nach kurzer Zeit setzte ein neues Beginnen ein. Zunächst wurden die Trümmer entfernt („Ehrendienst“). Es wurde gebaut, provisorisch und stabil. Fabriken wurden langsam wieder in Gang gebracht. Als am Tage X die Reichsmarkzeit mit ihrer Kompensationswirtschaft zu Ende ging, konnte auch die Stadtverwaltung wieder ordnungsgemäß planen und bauen. Es entstanden Wohnblöcke in Alt- und Neustadt; denn es galt zunächst, die Menschen in Wohnungen unterzubringen.

Sodann mußte man die Schulen wieder aufbauen: es entstanden die schönen und modernen Schulgebäude der Brüder-Grimm-Schule, der Pestalozzi-Schule, der Pedro-Jung-Schule (Hilfs­schule) in rascher Folge. Inzwischen war bereits die Gebeschus-Schule zur Aufnahme der Schülermassen hergerichtet worden. Und die Eberhard-Mittelschule konnte frühzeitig den Wiederaufbau hinter sich bringen. Die Kaufmännischen Schulen konnten ihren schönen Bau am Schloßplatz beziehen. Die Gewerbliche Berufsschule wartete noch auf die Erstellung ihres Schulgebäudes in der Nähe der Staatlichen Zeichenakademie, die bereits seit Jahren wieder neu erstanden ist. Das Gymnasium für Mädchen, das nach beschwerlichen Irrfahrten im Gebäude der Pestalozzi-Schule Asyl gefunden hatte, siedelte in sein neues Gebäude am Schloßplatz übersiedeln.

Geplant sind des Weiteren für die nahe Zukunft zwei neue Volksschulbauten (Freigericht und Westen). Schon in den ersten Jahren des Hanauer Wiederaufbaues erstanden die neue Stadthalle und das Kulturhaus, dessen Stadtbibliothek im Jahre 1953 eine vorbildliche Freihandausleihe unter der Initiative des damaligen Direktors Dr. Beckers einrichtete. Um den Schloßplatz herum ist mit Kulturamt, Schulamt, Stadtarchiv, Stadtbibliothek, Wetterauischen Gesellschaft, Volkshochschule, Kaufmännischen Schulen und Gymnasium für Mädchen ein wahres Kulturzentrum entstanden.

Eine wichtige Aufgabe war mit dem Wiederaufbau des Stadtkrankenhauses, der gewaltige Summen verschlang, zu lösen. Auch das St. Vincenz-Krankenhaus wurde im Laufe der Jahre wieder aufgebaut und modern gestaltet. Man vergaß auch nicht, an die alten Menschen zu denken, und schuf ihnen Altersheime (Hochstädter Landstraße, Martin-Luther-Anlage, Fasanerie).

Für die Jugend entstand in der Philippsruher Allee das „Haus der Jugend“, und im Schullandheim Rückersbach können Hanauer Schulkinder und Jugendliche frohe Stunden bei Spiel, Sport und Wanderung verleben. Aus eigener Initiative und Kraft schufen sich die Angehörigen der Hanauer Polizei schon frühzeitig eine Sport - und Ku1turhalle. Auf dem Gebiete des sozialen Wohnungsbaues gab es seither keine Ruhepause: überall entstanden moderne Siedlungsbauten. Aber auch der private Wohnungsbau wurde wesentlich gefördert.

Die zerstörten Kirchen wurden wieder aufgebaut, neue sind erstanden: Marienkirche, Katholische Kirche, Christuskirche. Johanneskirche (als Gemeindezentrum). Die Niederländische Kirche soll ebenfalls wieder erstehen. Am Altstädter Markt wurde das Rathaus von 1537 als „Deutsches Goldschmiedehaus“ mit ursprünglicher Fassade aufgebaut. Und auf dem Neustädter Markt ist das Barock-Rathaus mit dem netten sechseckigen Uhrtürmchen (von 1755) mit dem Schwan als Wetterfahne im Werden; es wird die Dominante bleiben in dem wiedererstandenen Marktplatz-Viereck.

Am Freiheitsplatz erstanden das imposante Gebäude des Arbeitsamtes an der sogenannten „Gelben Mauer“ neben dem gewaltigen Bau des Kaufhauses „Hansa“, und auf der Südseite ist ein großer Wohn- und Geschäftsblock geplant. Dieser schöne Platz wird durch die Erbauung eines Hochhauses und die Bebauung der Südseite seinen letzten Schliff bekommen. An verschiedenen Plätzen konnten Spielplätze eingerichtet werden. Der Mangel an solchen ist allerdings noch lange nicht behoben. Ebenso fehlen noch immer Turnhallen für Schulen und Vereine. Die Turnhalle für die Hohe Landesschule konnte kürzlich ihrer Bestimmung, übergeben werden.

Der Wiederaufbau der Stadt wurde wesentlich gefördert durch das Wiedererstehen der Industrie. Kurz nach der Zerstörung ließen es sich die Arbeitnehmer der großen und kleinen Firmen nicht nehmen, ihre alten Arbeitsplätze aus dem Trümmerzustande wieder gebrauchsfähig zu machen. Unsere Weltfirmen hatten in kurzer Zeit ihre Positionen wieder eingenommen, und Dunlop-Reifen, „Höhensonnen“ Original Hanau u. a. preisen längst wieder Hanaus hervorragende weltweite Wirtschaft. Die städtischen Versorgungsbetriebe wurden nach der fast völligen Vernichtung im Jahre 1945 sofort wieder in Gang gebracht. Daneben wurde von der Hanauer Straßenbahn AG ein moderner Omnibusbetrieb eingerichtet, und der Mainhafen mit dem Hafenbahnbetrieb verspricht im Zuge der allgemeinen Wirtschaftsförderung eine günstige Aufwärtsentwicklung. Der Schlachthof wurde teilweise wieder aufgebaut, erfordert aber für die Zukunft wesentliche Baumaßnahmen.

Das Fürsorgewesen, insbesondere die Jugendfürsorge. fand in der Wiederaufbauzeit besondere Förderung. Das Kulturleben erreichte ein recht beachtenswertes Niveau. Nicht allein das Bibliothekswesen hat einen gewaltigen Aufstieg aus dem Nichts zu verzeichnen; auch auf dem Gebiete des Theater- und Konzertwesens wurde eine ungeahnte Höhe erreicht. In der Stadthalle konnten in den letzten Jahren bei mäßigen Eintrittspreisen wertvolle Werke kulturell Interessierten aus allen Volksschichten geboten werden. Durch die Errichtung und den Ausbau des Sportplatzes Wilhelmsbad erhielt das Sport1eben neuen Auftrieb. Von der Stadt nicht vergessen wurde die Schaffung von Grünflächen. Insbesondere wurden die Parkanlagen im Schloßgarten und am Schloß Philippsruhe so gestaltet, daß sie zu den schönsten Erholungsstätten weit und breit wurden.

Daß auch sonst alles geschah. um das Stadtbild wieder zu normalisieren und dem zunehmenden Verkehr einigermaßen gerecht zu werden, beweisen die zum größten Teil in guter Verfassung befindlichen Straßen. Allerdings bleiben noch manche Wünsche offen: das Hallenschwimmbad stockt im Aufbau, Turn-, Sport- und Spielplätze, Kindergärten und -horte werden benötigt, Aufgaben, die in naher Zukunft gelöst werden müssen.

Wenn es möglich sein wird, in demselben Tempo wie seither den Wiederaufbau fertigzustellen und wenn auch weiterhin so umsichtige und mutige Oberbürgermeister wie der verstorbene Karl Rehbein und der jetzt an der Spitze der Stadtverwaltung stehende Oberbürgermeister Heinrich Fischer in Verbindung mit einer fortschrittlich gesinnten und tatkräftigen Bürgervertretung die Geschicke unserer so schwer geprüften Stadt lenken, dann wird Hanau seinen alten Ruf als Stadt des edlen Schmuckes, als Stadt der Schulen, als theaterfreudige und konzertliebende Stadt, vor allem auch als Industrie- und Handwerkszentrum, als Tor zum rhein-mainischen Wirtschaftsgebiet behalten.

 

Das Hanauer Bürgerfest wurde 1958 von Oberbürgermeister Heinrich Fischer, dem Magistrat und Hanauer Vereinen ins Leben gerufen, um der Bevölkerung Dank zu sagen für den Wiederaufbau der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Innenstadt. Anfangs fand es im August im Schlosspark Philippsruhe statt.

Wegen der Sommerferien wurde es auf das erste Wochenende im September (Samstag bis Montag mit Feuerwerk), zur Schonung des Parks an das Mainufer und schließlich auf das erste volle Wochenende gelegt (Freitag bis Sonntag, montags konnten die Vereine keine Helferinnen und Helfer mehr gewinnen). Seit Beginn an gab es „Kinderbelustigungen“, zum Beispiel Sackhüpfen. Die Tradition des Kinderfestes lebt heute aktiv im KEKS, dem KinderErlebnisKulturSpektakel in und an der Orangerie, weiter (Abbildung: Sackhüpfen am 1. Bürgerfest 1958, Medienzentrum Hanau).

 

Mund- und Nasenschutz, Fähnchen und Sonderseite in den ukrainischen Landesfarben:

Als Reaktion auf den am 24. Februar 2022 von Präsident Putin begonnenen brutalen Angriffskrieg auf die Ukraine fand am Abend des 4. März auf dem Hanauer Marktplatz eine Kundgebung statt. Rund 2.500 Menschen bekundeten ihre Solidarität mit den Ukrainern und Ukrainern und forderten das sofortige Ende der Kriegshandlungen wie Menschenrechtsverletzungen. Auf der Demonstration verteilte der Hanauer Anzeiger Zeitungs-Doppelseiten, die Stadtverwaltung Fähnchen und Mund-Nasenschutze in den blau-gelben Landesfarben der Ukraine.

 

 

Weitere Artikel in „Hanau, Stadt und Land“:

Hexenverfolgung im Hanauer Land, Seite 363

Eine Hanauer Kolonie (1669), Seite 368

Hessische Soldaten im Dienste Englands (1777), Hanau Stadt und Land, Seite 371

Das Jahr 1813, Seite 375

Vom „Hanauer Krawall“ und dem Krawall-Graben (1830), Seite 378

August Schärttner und seine Hanauer Turnerwehr (1848), Seite 380

Die „Strafbayern“ in Hanau 1850/51, Seite 382

Die Juden in Hanau und ihr Leidensweg, Seite 383

Hanau, die Stadt der Gold- und Silberschmiedekunst, Seite 393

Hanauer Drucker, Seite 394

Hanauer Fayence, Seite 397

Von den alten Hanauer Apotheken, Seite 400

Vom Wein- und Tabakanbau im Hanauer Land, Seite 402

Hanauer Post- und Verkehrsverhältnisse, Seite 405

Die Hanauer Gold- und Zigarrenarbeiter, Seite 406

Kleinbrillanten und Achtkanter, Seite 411

Die Geschichte des Handelshauses Lossow, Seite 412

Ein Hanauer lebte als Reeder in Hamburg, Seite 415

Der Mainhafen und seine Bedeutung, Seite 419

Die Hanauer Großindustrie, Seite 420

Der Hanauer Schlachthof, Seite 427

Die Zerstörung der Stadt Hanau am 19. März 1945, Seite 385

Hoffnungsvoller Wiederaufbau, Seite 388

 

Buch: Hanauer Juden 1933-1945, Entrechtung, Verfolgung, Deportation, 1998

 

Bilder Hanau in: Hanau Stadt und Land

Goldberg, Glockenbecherkultur        Seite 48

Brandgrab Urnenfelderzeit                Seite 52

Dunlopgelände, Hortfund                  Seite 54

Hanauer Wappen                               Seite 82 und 106

Mainkanal und Marktschiff                Seite 369 und 370

Schlacht bei Hanau                            Seite 377

Ehrensäule                                         Seite 392

Fliegendes Pferd Druckerei Wechel  Seite 395

Fayencen Seite                                   Seite 398 f

Stadtschloß, Stuckdecke                    Seite 150

Deutscher Friedhof                            Seite 436

Rathaus Neustadt                              Seite 154

Theater                                               Seite 442

Grimm-Denkmal                                Seite 447

 

 

 

 

 

 

 

Altstadt

 

„Hier war einmal ...“ lautet der Standardsatz, den die Stadtführerin bei ihren Führungen häufig verwendet. Denn oft erinnern nur noch Gedenksteine oder Hinweisschilder an einstmals prächtige Bauten, die allesamt der Bombardierung zum Ende des Zweiten Weltkriegs zum Opfer fielen. Ganze sieben Häuser im alten Ortskern blieben damals verschont.

 

 

Burg

Die Burg ist vermutlich in der Mitte des 12. Jahrhunderts entstanden. Angeblich gibt es schon von 1143 eine Urkunde darüber. Durch chronodendrologische Gutachten wird man nach den Grabungen im Jahr 2001 auf eine Dekade genau sagen können, wann die Eichen geschlagen worden sind, deren Stämme zur Gründung der Wasserburg beziehungsweise Schloßanlagen in den Boden getrieben und gitterartig aufgelegt worden waren (die Stelle der Burg liegt aber außerhalb des Aktionsfeldes der Grabungen).

Die erste ausdrückliche Erwähnung des „Castrum Hagenowe“ fällt in das Jahr 1234. „Hag“ bedeutet dabei „Burg“, und die lag auf der Au. So entstand der Name „Hanau“. Leider läßt sich das Bild der alten Wasserburg nur noch aus Plänen und Ansichten und mit Hilfe archivalischer Nachrichten rekonstruieren. Die Stadtansicht von Dilich aus dem Jahre 1605 zeigt noch den alten Turmabschluß mit dem Zinnenkranz, dem zurückgesetzten Turmaufsatz mit Zinnen und einem Kegeldach.

Die Kernburg hatte die charakteristische Gestalt einer mittelalterlichen Talburg. Sie hatte hohe, um einen kleinen Innenhof mit dem Bergfried sich erhebende Wohngebäude. Umgeben war die Anlage von einem Wassergraben. Wesentlicher Bestandteil der Burg war der sechseckige Bergfried. Nach der „Hanau-Münzen­bergischen Landesbeschreibung von 1720“ trug „ein alter Turm“ die Jahreszahl 1375. An der Nordostecke stand der wehrhafte, dicke Archiv- oder Taubenturm, ein kleinerer zinnenbewehrter Turm war nach Osten hin vorgelegt; die Burgkapelle lag im Erdgeschoß, die Wohnräume im ersten Stock (Abbildungen in: Hanau Stadt und Land, Seite 98, älteste Ansicht der Stadt von 1595, und Seite 139, Plan von 1773).

Eon Wappenstein aus Mainsandstein, ist vermutlich von der alten Wasserburg. Er zeigt das Sparrenwappen der Hanauer Grafen, den Schwan, das Hanauer Wappentier als Helmzier, und eine Ritterfigur, eventuell sogar einen Grafen von Hanau, der am Schloss bauen ließ (im Depot Schloss Philippsruhe)(Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 6).

Schon vom 14. bis ins 16. Jahrhundert hatte die Burg manche Umbauten erfahren. So wurden 1515 Umbauten und Vergrößerungen vorgenommen. Eine Vorburg mit großem Hof legte sich um den alten Kern. Die ganze Anlage wurde durch eine starke Mauer gesichert und mit der Stadtbefestigung verbunden.

Die Burg Hanau war wahrscheinlich aus Buckelquadern erbaut. Sie war genauso von Wasserarmen und Gräben umgeben wie die Burg in Niederdorfelden und die Burgen in Gelnhausen und Büdingen. Ihr ursprüngliches Bild müssen wir uns ähnlich vorstellen wie das der Burg in Büdingen, die in ihrer Gesamtanlage trotz aller Umbauten noch durchaus „romanisch“ ist.

Graf Philipp Ludwig II. wollte zu Beginn des 17. Jahrhunderts aus der kleinen mittelalterlichen Burg ein Renaissanceschloß machen. Aus dem Plan wurde durch den frühen Tod des Grafen (1612) nicht viel. Der Turm wurde umgebaut und ein „Erkerbau“ mit einem Renaissanceportal errichtet.

Kurz darauf wurde der Turm umgebaut: Er erhielt jetzt über den Steingeschossen einen Aufbau, der sich in drei schieferverkleideten Holzgeschossen bis zur abschließenden Haube verjüngte (siehe Abbildung Seite 130). Vorbild für diese „welsche Haube“ war offenbar der Turmabschluß der Marienkirche, der nach einer Inschrift am oberen Steingeschoß vermutlich aus dem Jahre 1568 stammt. Auch die Johanniskirche erhielt 1679 - 1691 einen ähnlichen hölzernen Turmaufbau. Die drei gleichartigen Turmabschlüsse gaben der Altstadt damals ihre charakteristische Silhouette.

Ein Kupferstich aus „Meisners Politischem Schatzkästlein“ zeigt das Schloß im Jahr 1626 mit       dem Titel „Hanau das Schloß am Meyn. Glück verkehrt / Kunst ernehrt“. Im Vordergrund sieht man einen bärtigen Mann und zwei Buben, der in seiner rechten Hand ein schwebendes Buch mit der Aufschrift „Deus est omnia“ (Gott ist alles) und in seiner Linken eine an einer zerspringenden Kette befestigte geflügelte Kugel zeigt. Symbol für das Glück, das sich nicht anketten lässt, sondern flüchtig ist (Abbildung Schloss Philippsruhe)(Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 37) (Graphische Sammlung Schloss Philippsruhe).

Eine Ansicht des Hanauer Schlosses vom Jahre 1693 findet sich in: Hanau Stadt und Land, Seite 130. Heute steht von allen abgebildeten Gebäuden nur noch das Regierungsgebäude (E, mit Storchennest links oben, heute Stadtbibliothek) und der Wasserturm (D, daneben).

Bilder in: Hanau Stadt und Land:

Stadtschloß vom Schloßgarten aus vor der Zerstörung am 6. Januar 1945, Seite 149

Stuckdekoration im Stadtschloß in Hanau, nach 1763, zerstört, Seite 150.

Stadthalle, Seite 172

 

Stadtschloß

Die größte Umbauphase erfolgte wohl unter Graf Philipp Ludwig II. von Hanau-Münzenberg, der hier geboren wurde, aber auch das Schloss zur bemerkenswerten Residenz aufhübschte,, ehe er 1612 starb. Aber dieses Schloß genügte den fortgeschrittenen Ansprüchen der Herrschaften nicht mehr. Vor die alte mittelalterliche Burg wurde ein stattliches Barockschloß mit hohen Räumen und langen Zimmerfluchten gelegt. Dicht neben der Altstadt Hanau wuchs so eine kleine barocke Residenz empor. Schon während der Arbeiten zum Marstall ließ 1713 – 1714 Graf Johann Reinhard III. (der Bruder Philipp Reinhards) mit der Errichtung des Nordflügels des neuen Stadtschlosses, des sogenannten Fürstenbaues anfangen.

Als breite Durchfahrt wurde das prächtige Hauptportal zur damals noch bestehenden Wasserburg erbaut. Dicht dahinter schlossen sich die beiden langen Flügel im flachen Winkel nach innen an. Der dreistöckige mit einem Mansardendach abgeschlossene Bau stellte sich in betonter Schlichtheit dar. Das Hanauer Stadtschloß war künstlerisch kein sehr wertvoller Bau, weder im Grundriß noch in der Ansicht bot sich Bemerkenswertes. Der Speisesaal mit einer mächtigen Holztonne wurde im Jahre 1721 vollendet; der Saal wurde unter Kurfürst Wilhelm II. in zierlichen Formen des späten Empirestiles ausgemalt

Auch der Erweiterungsbau des Schlosses, des sogenannten Friedrichsbaues der im Jahre 1763 (also schon in landgräflich-hessischer Zeit) ausgeführt wurde, brachte keine neuen Momente in die Schloßanlage. Er war genau so schlicht und bescheiden wie der Nordflügel des Schlosses. Im Inneren dieses Südflügels waren einige Zimmer in sehr geschmackvollen Rokokoformen ausgeschmückt. Der Stuck und die Holzverkleidung eines Saales und zweier Zimmer hatten sich erhalten. Die künstlerische Qualität des Stuckes war gut, die Formen standen der leichten und beschwingten Manier des Johann August Nahl nahe.

 

 

 

Im Jahre 1829 wurde unter Kurfürst Wilhelm II. von Hessen-Kassel (leider) das alte Schloß niedergelegt. Bei der Renovierung des Schlosses im Jahre 1829 wurden auch mehrere Zimmer im gleichen Stil ausgeschmückt. Diese Ausstattung hatte große Ähnlichkeit mit Schmuckformen in Schloß Adolfs­eck bei Fulda, das ebenfalls unter Kurfürst Wilhelm II. von Hessen 1825 - 1827 im Inneren ausgebaut wurde.

Das Stadtschloß wurde 1866 der gräflichen Linie Hessen-Philippsthal überlassen und ging 1890 in das Besitztum der Stadt Hanau über. Am 6. Januar 1945 brannten die Schloßbauten aus. Das Stadtschloß wurde 1960 abgerissen. Die Fläche blieb zum Teil unbebaut und wurde ein Teil des Schloßgartens. An der Stelle des Friedrichsbaues entstand die Karl-Rehbein- Schule

Auf dem Gelände des Fürstenbaues wurde in den sechziger Jahren das Bürgerhaus errichtet. Bei den Bauarbeiten im Jahr 2001 wurden parallel zur Heinrich- Bott-Straße die Grundmauern des nordwestlichen linken Flügels freigelegt (zudem wesentlich ältere Reste einer Brücke über den Burggraben). Pflaster kam zum Vorschein: Der Fußboden des Erdgeschosses des Stadtschlosses in der äußersten nordwestlichen Ecke. Man erhofft sich aber auch Aufschlüsse zur Geschichte von zwei deutlich älteren Gebäuden. Sie standen separat, wie auf Darstellungen aus der Mitte des 17. Jahrhunderts zu sehen ist. Beide Häuser wurden dann aber Anfang des 18. Jahrhunderts abgebrochen, um Platz für das Stadtschloß zu schaffen.

Von dem neuen Stadtschloss überstanden nur das Regierungsgebäude mit Wasserturm und der Marstall (Stadthalle) die Bombardements im Zweiten Weltkrieg weitgehend und wurden wieder aufgebaut. Weitere Gebäudeteile mussten für den heutigen Congress Park Hanau und die Karl-Rehbein-Schule weichen. Durch den Anbau des Kongreßzentrums auf der Nordseite und den Vorbau vor dem Marstall an der Südseite wurden die Gebäude ziemlich entstellt.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ließ Erbprinz Wilhelm von Hessen-Kassel die Festungsanlagen zwischen der Alt- und Neustadt Hanau niederreißen. Es entstand ein Paradeplatz und daneben eine mit Lindenbäumen bepflanzte Esplanade zum Promenieren. Im Jahre 1825 verband die Stadtregierung „Parad´“ und „Esplanad´“ zu einem großen Paradeplatz. Die Linden wurden gefällt, Absperrungen abgebaut. Alle Poller und Zierketten fanden vor dem Schloss Philippsruhe eine neue Verwendung – und stehen dort noch heute als Einfriedung der Grünstreifen vor dem Remisengebäude als „Kettenplatz“ (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 169).

Wenn man den Congress Park Hanau am Schlossplatz betritt, fällt im lichtdurchfluteten Eingangsfoyer ein großformatiges Kunstwerk ins Auge: „Hanau Painting I“ von Jon Groom. Der walisische Künstler, 1953 in Powys geboren, international bekannt und anerkannt, hat es 2003 für den Congreß-Park-Hanau geschaffen Ein zweites Gemälde von Groom („Hanau Painting II“) ziert das Klaus Remer-Foyer am Paul-Hindemith-Saal (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 204)

 

Verwaltungsbau Heinrich-Bott-Straße

Nach Nordwesten geht vom heutigen Congress Park die Heinrich-Bott-Straße ab, vormals Marienstraße (Heinrich Bott war Gymnasiallehrer und Orts-Historiker). Dort steht links auf dem Gelände der Störgerschen Turnhalle das alte Verwaltungsgebäude. Der auf einem T-förmigen Grundriß realisierte Verwaltungsbau entstand in traditioneller Weise im späthistoristisch-gotisierenden Stil in den Jahren 1902/1903 durch den Architekten Professor Friedrich Pützer aus Darmstadt (* 25. Juli 1871 in Aachen; † 31. Januar 1922 in Frankfurt am Main). Auf den Jugendstil finden sich an den Fassaden keine Hinweise, jedoch späthisto­ris­tisch-goti­sierenden mit Anteilen im Stil der Renaissance. Das ist der „historistischen Stil“, in dem von 1820 bis 1910 Kirchen und Profanbauten in Deutschland errichtet wurden.

Das Haus hat einen polygonalen Eck-Erker mit gotischem Maßwerkdekor im Brüstungsbereich, und einem als Treppenturm („Schneck)) mittelalterlich gestalteten, rückwärtigen Treppenturm unter pittoreskem Spitzhelm. Die Fassaden mit Fensterbändern, Drillingsstaffeln, Vorhangbogen- und Kreuzstockfenstern in profilierten Sandsteinrahmen. Einen aufwendigen Akzent setzt das von Säulen flankierte Prachtportal aus Buntsandstein unter dem als traditionelles Zeichen kommunaler Bauten übernommenen Verkündigungsaltan im ersten Obergeschoß des risalitartig vortretenden, viergeschossigen Turmbaus.

Im Jahre 1945 wurde das Haus teilweise zerstört und ist bis auf die Umfassungsmauern ausgebrannt. Der Wiederaufbau erfolgte 1949 unter der Leitung von Architekt Kleinert. Das flache Mezzaningeschoß wurde neu ausgeführt und auch das verschieferte Walmdach aufge­setzt, das sich der späthistoristischen Grundform unterordnet. In den Thermogrammen sind die Bombenschäden vom März 1945 erkennbar.

 

Regierungsgebäude:

Über dem Eingang prangt noch immer ein Manifest der Dorfelder Trauungspolitik: ein Allianz­wappen, also ein Herrschaftssymbol zweier durch Heirat verbundener Familien Ehe man aber an den Bau eines Schlosses gehen konnte, wurden erst einmal die Nutzbauten errichtet. Das Regierungsgebäude war das erste große Barockgebäude in Hanau. Philipp Reinhard erbaute dieses Gebäude für Konsistorien, Kanzlei und Ratsstube. Das Erdgeschoß sollte als „Marstall, Kutschen- und Reithaus“ dienen. Die Risse wurden im August 1685 von dem gräflichen Baumeister Johann Philipp Dreyeicher (Architekt beim Neubau der Südfassade der Johanniskirche) und dem Zeugwart Heuringer gemacht. Ein schönes Sandsteinportal mit dem Doppelwappen Philipp Reinhards und seiner Gemahlin Magdalena Claudina von Pfalz-Zweibrücken bezeichnet mit dem am Kranzgesims eingehauenen Datum 1691 die Vollendung des Baues (Bild in: Hanau Stadt und Land, Seite 439).

Durch das stattliche Portal gelangt man zur barocken Treppe des Baues. Dieser erste Bau des Regierungsgebäudes hatte noch nicht so viele Fensterachsen wie heute. Auf der Ansicht des Stadtschlosses aus dem Jahre 1693 sehen wir nur zwei Fensterachsen links und drei Achsen rechts vom Portal.

Das Haus wurde nach 1691 auf beiden Seiten erweitert, auf der Rückseite des Gebäudes erkennen wir heute noch eine Baunaht. Eine Jahreszahl über einem rückwärtigen Eingang des Anbaues neben dem „Wasserturm“ gibt uns das Datum des Erweiterungsbaues an: 1700. Der an das Regierungsgebäude angelehnte Wasserturm an der früheren Marienstraße war einst die Überleitung von der Burgbefestigung zur Stadtmauer der Altstadt.

Das Regierungsgebäude trug nach seiner Erbauung ein einfaches Satteldach. Erst später setzte man ihm ein Mansarddach auf, das nach dem Brand der Stadt im Jahre 1945 wieder durch das „stilreinere“ Satteldach ersetzt wurde.

Das breit gelagerte Gebäude am Schloßplatz ist, wie fast alle Hanauer alten Bauten, aus Basalt gebaut. Man brach diese haltbaren Bausteine in den Steinbrüchen bei Wilhelmsbad, die der Herrschaft gehörten. Die Architekturteile des Regierungsgebäudes sind aus rotem Mainsandstein. Die Rahmungen der Fenster, die steinernen Fensterpfosten und das schöne Portal heben sich gliedernd und schmückend von dem Bruchsteinmauerwerk ab.

 

Als Kulturzentrum war das Haus Stätte naturwissenschaftlicher Arbeiten: Das Ende des 18. Jahrhunderts brachte für die kleine Residenz Hanau eine kulturelle Blüte. Die absolutistischen Fürsten des Barock und Rokoko waren großzügige Förderer aller kulturellen Bestrebungen. Die Beschäftigung mit den Naturwissenschaften, seit der Renaissance in den Vordergrund des wissenschaftlichen Forschens getreten, brachte auch in Hanau an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert gleich­gesinnte Menschen zusammen. Die Vorliebe des Barock, Gegenstände kurioser Art zu sammeln und in Raritätenkabinetten aufzubewahren, war einer systematischen wissenschaftlichen Methode beim Sammeln von naturwissenschaftlichen Gegenständen gewichen.

Einer der führenden Naturwissenschaftler in Hanau war der Mineraloge Carl Caesar Leonhard. Er besaß eine große Mineraliensammlung, und seine Veröffentlichungen brachten ihn bald mit Goethe, der ja auch als Naturwissenschaftler Bedeutendes geleistet hat, in Berührung. Leonhard und andere Naturforscher gründeten in Hanau, mitten in den Kriegswirren unter französischer Herrschaft, im Jahre 1808 eine wissenschaftliche Vereinigung, die „Wetterauische Gesellschaft für die gesamte Naturkunde“. Die Gesellschaft bildete lange Zeit eine Pflegestätte und einen Sammelpunkt für die naturwissenschaftlichen Bestrebungen eines großen Teiles von Mittel- und Süddeutschland. Sie wurde das Vorbild für die berühmte Senckenbergische Gesellschaft in Frankfurt. Goethe erhielt als einer der ersten ein Diplom als Ehrenmitglied der „Wetterauischen Gesellschaft“; er kam mit fast allen führenden Männern und tätigen Mitarbeitern der Vereinigung in Berührung.

Aus den Sammlungen der Mitglieder und durch eine systematische Ergänzung der Bestände hatte die Gesellschaft in Hanau ein bedeutendes naturwissenschaftliches Museum eingerichtet. Die Sammlungen waren zuletzt in dem ehemaligen Regierungsgebäude der gräflich-hanauischen Verwaltung am Schloßplatz aufgestellt. Leider sind die Bestände dem Krieg zum Opfer gefallen. Die Gesellschaft aber ist bemüht, die Tradition ihrer Arbeit weiter leben zu lassen.

Das alte Regierungsgebäude wurde zeitweise als „Kulturhaus“ bezeichnet und beherbergt heute die Stadtbibliothek, das Stadtarchiv und die Räume des Geschichtsvereins und der Wetterau­ischen Gesellschaft (die reichhaltige Bibliothek der „Wetterauischen Gesellschaft“, vorwiegend naturwissenschaftliche Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts, ist gerettet und nimmt die Hälfte der unteren Räume des Gebäudes ein).

Ab 2023 wurde zunächst das Kanzleigebäude für 1,1 Millionen saniert. „Alte Kanzlei am Schlossplatz“ ist der neue Name des zwischen 1685 bis 1691 erbauten Kanzleigebäudes. Als erstes stehen Instandsetzungs- und Ertüchtigungsarbeiten im Erd- und Obergeschoss bei Sanitäranlagen und diversen Elektroinstallationen an. Der Einbau neuer, denkmalgerechter Fenster sowie der Einbau einer Küche für ein Restaurant sollen folgen. Dazu soll es eine Bar geben und Raum für Co-Working, also einen (Büro-)Raum zum Arbeiten, den man auf Zeit nutzt.

 

Westlich des Regierungsgebäudes liegt der Fronhof mit dem ehemaligen Polizeigefängnis westlich (andere Überlieferung: im Turm ein Adelsgefängnis). Rechts davon das Denkmal Winters von Güldenborn, der 1638 die Stadt aus den Händen der Schweden befreite. Südlich des Fronhofgebäudes war die neue Münze. Südwestlich des Regierungsgebäudes war die Fronhofsgasse und südlich davon eine Bebauung, die zur südlich gelegenen Erbsengasse gehörte (Erbprinz Wilhelm gründete im Salzhaus“ in der Erbsengasse ein „Arbeitshaus für leiblich und geistig arme Personen).

Im September 2020 wurde mit der „Wirtschaft im Hof“ die erste Pop-up-Gastronomie in Hanau eröffnet. Seither hat sich hier ein Ort von höchster Aufenthaltsqualität stetig weiterentwickelt und etabliert, sagt Stadtentwickler Martin Bieberle. Regelmäßig finden hier Musik- und Kulturveranstaltungen statt, bereits seit dem ersten Jahr ein Weihnachtsmarkt, viele weitere Märkte folgten von Oster- über Kunsthandwerk- bis Pflanzenmarkt. Diesen Weg wolle man nun nachhaltig und stufenweise weitergehen.

 

Marstall (Stadthalle):

Der Bruder Philipp Reinhards, Johann Reinhard III., vollendete im Jahre 1713 den bereits 1712 begonnenen Neubau des Marstalles, der heutigen Stadthalle. Der schlichte, wohlproportionierte Bau mit Mansarddach hat am Portal zur ehemaligen Reithalle zwei relifierte Pilaster.

Das beachtliche große Portal der Südseite zeigt das gräfliche Wappen und seitlich gute Reliefs von allerlei Reit-Utensilien und Stallgeräten. Das Hanauer Gesamtwappen aus der Lichtenberger Zeit besteht in der oberen Reihe aus den Hanauer Sparren, den Rienecker Balken und dem roten Zweibrücker Löwen in goldenem Feld, in der unteren Reihe aus dem geteilten Münzenberger Schild, dem schwarzen Lichtenberger Löwen im rot eingefaßten silbernen Schild und den silbernen Ochsensteiner Balken in rotem Feld. Der Herzschild zeigt das goldumrandete rote Bitscher Wappen.

Die früheren Herrscher von Hanau arrangierten viele reiche Hochzeiten, um das eigene Einkommen aufzubessern. Auf diese Weise kamen sie auch zu ihrem heutigen Wappentier: der Schwan. Der gehörte eigentlich den Münzenbergern und wurde durch eine solche Heirat erworben. Ansonsten hatten die Hanauer Grafen lediglich ihre - recht langweiligen - roten Sparren auf goldenem Grund als Enblem aufzuweisen. Schwan und Sparren thronen auf dem Giebelportal des ehemaligen Marstalls.

Die Stadthalle am Schlossplatz diente den Adligen als Reithalle und als Stall, weshalb das Gebäude an der Seite über ein großes Portal verfügt. Es wurde unter Graf Philipp Reinhard 1712 begonnen und unter seinem Bruder und Nachfolger Johann Reinhard III. 1713 vollendet. Auf dem Seitenportal aus Sandstein sind noch die Utensilien zu sehen, die zur Pflege der Rösser benötigt wurden. Nur den Tränkeimer hatte der Bildhauer vergessen. Daß sich der Baumeister umgebracht haben soll, als man diesen Fauxpas bemerkte, ist allerdings Legende.

In den Jahren 1926-1928 wurde der Marstall unter Oberbürgermeister Kurt Blaum zur Stadthalle umgebaut. Heute ist sie Stätte der kulturellen Veranstaltungen, der Kongresse und im Winter der Bälle.

Neue und zum Teil unerwartete Funde legten Archäologen im Jahr 2001 vor und in der Stadthalle frei. An der Wand des ungefähr zwei Meter tiefen Grabens reicht der geschichtliche Blick bis in das 13. Jahrhundert zurück, angefangen bei den Sanddünen des Kinzig-Deltas, auf denen die frühe Siedlung gegründet wurde. Einen halben Meter höher erstreckt sich eine ziegelrote Erdschicht, ein Brandhorizont, den man auf das 14. Jahrhundert datiert. Wenn Fachwerkhäuser brannten wird die Lehmfüllung zwischen dem Gebälk zu Ziegelstein. Offensichtlich fielen damals mehrere Häuser den Flammen zum Opfer, ein möglicher geschichtlicher Hintergrund ergibt sich mit der Jahreszahl 1348. Seinerzeit soll der Burgherr die Bürger zu einem Pogrom gegen die Hanauer Juden angestachelt haben, weil diese angeblich das Archiv angezündet haben sollen.

Den Verlauf der verschiedenen Erdschichten dokumentierte man mit hunderten weißen und numerierten Plastiklöffeln, um ihn dann zu zeichnen und zu fotografieren - ebenso wie die Mauerreste kurz vor dem Orchestergraben, die von der Stärke her auf die rund 400 Jahre alten Reste einer Zeugkammer schließen lassen. Aus dem gleichen Jahrhundert datiert man die zwei Erdkeller an der Außenwand, auf denen Fachwerkbauten standen. Vermutlich wurden die Keller, deren Wandung möglicherweise aus Holz und Weidengeflecht bestand, noch in jener Zeit mit Erde und Bauschutt gefüllt. Ob dies geschah, weil das Grundwasser zu oft im Vorratsraum stand, bleibt Spekulation. Möglicherweise wohnten Bedienstete des Burgherrn, etwa Waffenträger, in den Häusern. Grünlasierte Kacheln (von einem Ofen?) zeugen jedenfalls davon, daß dort keine armen Leute lebten.

Der größte Fund ist ein mehrere Meter langer, fast unversehrter Abschnitt einer gepflasterten Straße aus dem 17. Jahrhundert. Sie hat den Querschnitt einer zur Mitte zulaufenden Rinne, in der das Regenwasser abfließen konnte. Erhalten ist auch die dicht darunter liegende Straße, die die Archäologen gut 200 Jahre älter schätzen. Was tragbar ist, wie die Scherben oder die mittelfingerlange Eisenspitze eines Großarmbrustpfeils, wird nach der Dokumentation abgeräumt. Leider wurde auch die Brücke über den Schloßgraben beseitigt. Das einmalige Bauwerk aber an Ort und Stelle zulassen, das hätte in der Tiefgarage sechs Stellplätze gekostet und das sei für die Stadt nicht vertretbar gewesen.

Heute ist das Portal durch den Glasvorbau eingeschlossen. Es wird in der Vertikalen das Reiterportal von zwei Betonsäulen auf Höhe der reich mit kunstvollen Steinmetzarbeiten geschmückten Pilastern und in der Horizontalen von dem Boden des Obergeschosses verdeckt und zerschnitten. Die einstige Forderung des Geschichtsvereins Hanau an den Magistrat, die Stadtverordnetenversammlung und den Denkmalbeirat, das „kunstvoll gestalteten Sandsteinportal ( ... ) zu schützen und für zukünftige Generationen zu bewahren“, ist zwar gegeben, nur mit dem freien Blick auf die Marstallfassade ist es Essig. Je nach Lichteinfallswinkel könne man durchsehen oder nicht. Weil die Glasfassade aber auf der zur Sonne zugewandten Seite liegt, sei davon auszugehen, daß man in den meisten Fällen nicht durchgucken kann. Die Säulen stehen direkt in Blickachse auf die Pilaster und nicht 1,5 Meter weiter rechts oder links.

Aber das Südfoyer sollte das Gegenstück zum Nordfoyer und damit als architektonisch unabdingbar sein. Die Landesdenkmalpflege hat die Pläne des Bauherrn abgesegnet, um die Nutzung des Hauses nicht zu gefährden.

 

Schloßpark:

Die sechs Schwäne und ihre Schwester: Im Schlossgartenweiher am Congress Park Hanau steht heute die Skulptur „Die sechs Schwäne und ihre Schwester“ nach dem gleichnamigen Grimmschen Märchen. Der Künstler ist Albrecht Glenz. Er war Lehrer für freies Modellieren und Elfenbeinschnitzen an der Zeichenakademie Hanau. Im Bestand der Städtischen Museen befinden sich etliche seiner Werke, auch in der Zeichenakademie, der Christuskirche an der Ehrensäule und der Lutherkirche in Wolfgang.

Glenz´ bronzenes Skulpturenensemble wurde 1981/1984 bei der Glocken- und Kunstgießerei Rincker in Sinn gegossen. Im Jahre 1983 standen die Schwäne am Freiheitplatz zwischen altem Karstadt und Nordsee in kleinen Wasserstrudeln, Im Jahre 1984 kam ihr Schwesterchen gegenüber dem Hanauer Anzeiger (heute C&A) hinzu. Die Schwester ist dargestellt in dem Augenblick, da sie auf den Scheiterhaufen gestellt ist, um als Hexe verbrannt zu werden. An diesem Tag ist jedoch die Sechs-Jahres-Frist verstrichen, und die Schwäne kommen herbeigeflogen. Aus der Hand der Schwester empfangen sie ihre Sternblumenhemdchen. Damit ist der böse Zauber besiegt,Seit 2014 fliegen die Schwäne stilecht in das Wasser ein, um ihr Schwesterchen auf der Besucherplattform zu retten, ein idealer, würdiger und höchst angemessener Standort. Das Ensemble im Schlossgartenweiher bildet den Startpunkt des Hanauer Märchenpfads, der sich seit 2016 Dank zahlreicher Sponsoren mit insgesamt 11 Märchenplastiken durch die Innenstadt zieht und viele Einheimische wie Gäste erfreut (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 122)

 

Der Hanauer Märchenpfad: Elf Skulpturen sind zwischen Schlossgarten und Französischer Allee verteilt. Nach einem nationalen Bildhauerwettbewerb mit über 170 Einsendungen von 74 renommierten Künstlerinnen und Künstlern wurden im Frühjahr 2016 elf Märchenskulpturen in der Innenstadt umgesetzt. Spannend ist zu sehen, wie unterschiedlich die Bildhauer die Thematiken umgesetzt haben, von monumental über filigran bis ironisch ist alles dabei.

 

Standort

Märchen

Künstler

Schloßpark

Die sechs Schwäne

Albrecht Glenz

Schlossplatz

König Drosselbart

Hatto und Christoph Zeidler

Altstädter Markt

Von dem Teufel mit den drei goldenen Haaren

Wilhelm Zimmer

Freiheitsplatz, Finanzamt

Daumerlings Wanderschaft

Wilhelm Zimmer

Fahrstraße/Ecke Langstraße

Der gestiefelte Kater

Martin Hardt

Salzstraße/vor Dausien

Tischlein deck Dich

Hatto und Christoph Zeidler

Rosenstraße vor Café Schien

Dornröschen

Annegret Kon/Dietr. Heller

Kölnische Straße/Am Markt

Der goldene Schlüssel

Ralf Ehmann

Französische Allee

Rotkäppchen

Gerold Jäggle

Hammerstraße/Marktplatz

Schneewittchen

Theophil Steinbrenner

Hammerstraße/Freiheitsplatz

Brüderchen u. Schwesterchen

Annegret Kon /Dietr. Heller

 

Zusammen mit den Orten der einstigen Geburts- und Wohnhäuser der Familie Grimm und natürlich dem Nationaldenkmal auf dem Neustädter Marktplatz bilden sie den „Hanauer Märchenpfad“. Die Skulpturen zeigen „Märchen aus der Maingegend“, die den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm einst von Jeanette, Amalie und Marie Hassenpflug für ihre berühmte Sammlung der Kinder- und Hausmärchen erzählt worden sind. Alle hochwertigen Kunstwerke konnten durch Patenschaften von Hanauer Bürgerinnen und Bürgern sowie Hanauer Stiftungen umgesetzt werden. Sie erfreuen täglich viele Hanauerinnen und Hanauer und Gäste aus Nah und Fern.

Auf dem Schlossplatz steht eine Figur des Hanauer Märchenpfads „König Drosselbar“ von Hatto und Christoph Zeidler. Eine weitere Figur steht auf dem Altstädter Markt „Von dem Teufel mit den drei goldenen Haaren“ von Wilhelm Zimmer

 

Denkmal Winter von Güldenbronn:

 An eine wichtige Hauptfigur von 1636/1638 erinnert das sogenannte „Güldenbronn-Denkmal“ im Schlossgarten an der Nordstraße. Es wurde 1888 errichtet und stand bis 1991 am Wasserturm am Kanzleigebäude. Major Johann Winter (1595 – 1668) drang am 12. und 13. Februar an der Herrnmühle in die Festung Hanau ein und befreite den im Stadtschloss von General Jakob Ramsay festgesetzten Graf Philipp Moritz von Hanau-Münzen­berg. So hat er Schloss und Festung Hanau eingenommen und die schwedische Besatzung zur Kapitulation gezwungen Für diesen Einsatz wurde Winter durch Kaiser Ferdinand III. in den Adelsstand erhoben und nannte sich von da von „Güldenbronn“, auch „Güldenborn“ (Martin Hoppe, Objekt der Woche, #167)

 

Schloßplatz

Durch die Kriegseinwirkungen wurden auch die Gebäude im Westen und Süden des Schloßplatzes zerstört. Der Schlossplatz ist der letzte Baustein des 2008 mit dem „Wettbewerbliche Dialog“ begonnenen Stadtumbaus. Das Jahr 2018 war das bauliche Ensemble aus Haus des Handwerks (früher Kaufmännische Schule) und Schule am Schloßplatz, Fronhof und Kanzleigebäude Gegenstand eines Realisierungswettbewerbs. Perspektivisch soll in dem Quartier das Haus des Handwerks der Karl-Rehbein-Schule als Erweiterungsbau dienen. Die Hanauer Innenstadt wird somit, ausgehend von ihrer charakteristischen und geschichtlich bedeutsamen Achse aus fünf großen Plätzen, grundlegend neugestaltet.

Ein wie auch immer gestalteter Hotel-Neubau im Bereich des Schloßplatzes, Fronhofes und hinter dem heutigen Staatlichen Schulamt (Bottstraße) stelle einen erheblichen über- und unterirdischen Eingriff in unmittelbarer Nähe der „Keimzelle“ Hanaus dar, warnt Geschichtsvereinsvorsitzender Hoppe. Durch den geplanten Abriß des so genannten Handwerkerhauses sowie das Anlegen von Kellern und einer dem Vernehmen nach zweigeschossigen Tiefgarage für ein Hotel würden wieder archäologische Untersuchungen nötig. Eds würden mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit neben Stadtmauerresten, Grabensysteme, Straßenpflasterungen und Brunnen die Fundamente der Bücherthaler Renterei, der Hofküferei, des Fruchtbodens, von Remisen, Waschhaus und anderen Gebäuden zutage treten.

 

Im Wohnviereck Ecke Nordstraße / Im Schloßhof wurden im Jahr 2001 zwei der vier Wohn­blocks abgerissen, die anderen zwei sollen saniert werden. Auf einem steht in riesigen rotbraunen Lettern: „Am 19. März 1945 niedergebrannt: Im Jahre 1951 wieder aufgebaut von der Baugesellschaft Hanau.“ Darunter prangt ein Wappen und eine stilisierte Stadtmauer mit Bastionen. Hier ist eine siedlungs- und kulturgeschichtlich bedeutsame Ecke. Beim Wiederaufbau wurde hier die ehemalige Wolfsgasse teilweise überbaut, teilweise mit Trümmerschutt überdeckt.

Zutage traten eher unbedeutende Funde: Bestecke aus den 20er Jahren, Löscheimer, verbrannte Bettfedern. Aber es fanden sich auch die Fundamente eines ehemals zum Schloßambiente gehörenden Barockgebäudes, dessen Keller offenbar im letzten Krieg auch als Luftschutzraum benutzt wurde (davon zeugen die noch sichtbaren Steigeisen).

Hier stand eines der schönsten Gebäude im gesamten Stadtschloss-Ensemble: Das barocke Witwen-Palais der Gräfin Anna Magdalena von Hanau, ein schlichter wie raffinierter, stattlich-behäbiger Bau mit Walmdach und Gauben. Der Bau war später der Sitz der Finanzkammer.

Neben den Barockfundamenten lag in etwa einem Meter Tiefe das historische Kopfsteinpflaster. Unter den Fundamenten fanden sich Gründungen in Form von Rahmen und Rosten, durchaus nicht nur aus Eichenholz, sondern teilweise auch aus Nadelhölzern. Und nicht nur auf senkrechten Pfosten, sondern auch auf Sand, wo die Gründungen nur aufgelegt wurden. Nicht nur die alte Wasserburg, sondern auch die ganze Altstadt war auf höchst unsicherem Grund errichtet worden - moorig, sandig, schlammig.

Noch interessanter war ein gemauerter historischen Abwasser-Kanal, der teilweise freigelegt und auch aufgebrochen wurde: Die letzten Verfüllungen stammen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, die ältesten vom Anfang des 18. Jahrhunderts. Der Kanal liegt direkt neben einer Mauer, die von der Richtung und Struktur her die historische Stadtmauer sein könnte. Schräg durch den Innenhof verläuft nämlich die historische Stadtmauer (natürlich auch nur unterirdisch in Resten). Die eigentlich noch geplante Grabung zur Dokumentation der Stadtmauer ist unterblieben, weil damit eines der Häuser in der Louise-Schröder-Straße gefährdet worden wäre.

Es wurden auch ungewöhnlich gut erhaltene Skelette von Frauen, Männern und Kindern gefunden. Die Menschen sind nach den ersten Erkenntnissen der Archäologen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts gestorben und wurden ganz ordentlich begraben - obwohl es sich bei der Fundstelle durchaus nicht um einen ehemaligen Friedhof handelt, sondern um einen Teil des Zwingers, also eines Trockengrabens der historischen Wehranlage. Daß der Hanauer Stadtmauer einst ein Zwinger vorgelagert war, wußte man bisher nicht, denn auch Merian hat ihn in seinen Stichen nicht dargestellt.

Es handelt sich um Grablegungen in Holzsärgen, wie man aufgrund gefundener Nägel mit anhaftenden Holzresten weiß. Es wurden auch Metallhaken von standardisierten Totenhemden gefunden. Die Gräber werden wohl aus den Jahren 1635/36 stammen, als Hanau während des Dreißig­jährigen Krieges belagert wurde. Es gab ungewöhnlich viele Tote - und keinen Weg raus auf die Friedhöfe. Die Begräbnisstätte könnte früher ein Garten außerhalb der Stadtmauer gewesen sein. Die Gräber sind nebeneinander im rechten Winkel zur Mauer ausgerichtet, in drei hintereinander gestaffelten Reihen. Die Skelette sind so gut erhalten, weil sie unter einer dicken Kalkschicht lagen.

 

Befestigung

Die erste Abbildung Hanaus mit der Neustadt (aus W. Dilich, Hessische Chronika, 1605, in: Hanau Stadt und Land, Seite 126 und 139) zeigt ganz rechts das Schloß mit dem alten Bergfried, dann die Altstadt mit Marienkirche, Rathaus von 1537 / 1538 und den Tortürmen; davor die Neustadt mit den sternförmig vorgeschobenen Wällen. Die wallonisch-niederländische Kirche hat noch kein Dach (ähnlich wie heute stehen also nur die Umfassungsmauern). Hinter der Spitze des Walles links mit dem spitzen Türmchen die Kinzdorfkirche; dahinter Kesselstadt mit Kirche und Schlößchen (ganz links).

Die Stadt Hanau wurde mit einem Mauerring und starken Wehrtürmen umgeben. Windecken erhielt um dieselbe Zeit eine Stadtmauer. Ebenso stammen auch die Mauerringe um mehrere hanauische Dörfer vermutlich aus dem Beginn des 14. Jahrhunderts. Diese erste Stadtmauer Hanaus ist noch an einigen Stellen erhalten. Am schönsten südlich der Johanneskirche in der Schlendergasse, dann im Innenhof eines Wohnblocks der Großen Dechaneigasse (zwischen Metzgergasse und Dechaneigasse?), weiter in einem Seitengäßchen östlich der Marktstraße. Ein etwa 200 Meter langes Stück mit zwei Mauertürmen wurde 1950 beim Bau von Wohnblöcken abgebrochen.

Die alte Stadtmauer hatte zwei befestigte Tortürme: Das Kinzdorfer Tor war im Süden der Stadt vor dem Ausgang der Marktstraße, wo vor der Zerstörung im zweiten Weltkrieg das Gasthaus „Zur Sonne“ stand. Es war ein viereckiger, aus der Mauer heraustretender Torturm mit gewölbter Durchfahrt und mit Pförtnerwohnung und Bürgergefängnis im oberen Teil. Der Turm ist im Sommer 1769 beseitigt worden.

Das Metzgertor wurde auch „Katzenturm“ genannt. Es befand sich an dem westlichen Ausgang der Metzgergasse. In dem runden Türmchen des Tores hing das Armesünderglöckchen. Im Jahre 1510 erhielt das Tor eine „Uhr mit Zeiger“. Abgebrochen wurde das Metzgertor im Jahre 1771 auf Befehl des Erbprinzen Wilhelm, des späteren Landgrafen Wilhelm IX.

Außer diesen beiden Tortürmen hatte die Stadtmauer in den ersten Jahrhunderten ihres Bestehens eine Anzahl (wahrscheinlich acht) Wart- oder Wehrtürme, deren stärkster der „Hexenturm“ war, von dem heute noch ein Stumpf im Knick der Nordstraße steht, zugänglich von dem Weg an der Ghettomauer entlang nördlich der Polizei.

 

Im 15. Jahrhundert entstand eine erste Vorstadt (später Spitalzone), deren Abschluß das 1528 entstandene Spitaltor bildete, ein viereckiger Torturm mit gewölbter Durchfahrt. In den Jahren 1816 und 1817 wurde es als verkehrshemmend abgerissen.

Infolge des Erweiterungsbedürfnisses der Stadt und vor allem auch der Notwendigkeit, durch modernste Befestigungsanlagen Stadt und Bürger in Kriegszeiten besser schützen zu können, wurden neue Befestigungswerke nach dem Basteisystem am Anfang des 16. Jahrhunderts erbaut und damit auch weitere Tore.

Mit dem Ausbau der Bastionen entstanden im Jahre 1531 entstand das Neue Tor (am nördlichen Vordereck des heutigen Behördenhauses, auch Schützentor genannt, mit dem daran gebauten Schützenhaus), die Spitalpforte von 1528 vor dem Spitaltor und das Walltor oder das Rote Tor östlich des Schlosses, das im Jahre 1535 angelegt und erst 1615 fertiggestellt wurde. Mit einem Torturm wurde 1615 auch versehen die 1556 -1559 erbaute Kinzigbrücke, deren Margarethenturm 1829 abgerissen wurde.

Mit dem Bau der Neustadt wurden in den einspringenden Winkeln der Befestigung Tore angelegt:

1. das Frankfurter Tor,

2. das Kanaltor: Das Fundament wurde 1609 gelegt, der Bau erst 1617 vollendet. Als man 1829 bis 1831 ein neues Schlachthaus errichtete, wurden auch am Kanaltor zwei größere Wachthäuser gebaut, die leider in der Nachkriegszeit entfernt wurden, da sie stark beschädigt waren.

3. das Steinheimer Tor: Es wurde bereits im Jahre 1600 begonnen. Im Jahre 1601 war der Torturm fertiggestellt und mit Glocke versehen. Der Dreißigjährige Krieg war die Veranlassung dazu, daß das Steinheimer Tor 1619 geschlossen wurde. Es blieb gesperrt bis 1776. Im Jahre 1827 erhielt es ein eisernes Gittertor, das Tor wurde abgerissen. In diesen Jahren wurden die bis dahin hölzernen Brücken durchweg durch steinerne ersetzt, die wesentlich kleiner waren, da der Wallgraben im Laufe der Zeit auf einen schmalen Wassergraben zusammengedrängt worden war.

Nach der Schleifung der Festungswerke errichtete man an den Ausfallstraßen Torhäuschen, von denen das eine Wachhäuschen vom Nürnberger Tor noch in seinen Umfassungsmauern und dem Säulenvorbau erhalten ist.

4. das Nürnberger Tor: Es wurde in den Jahren 1600 bis 1605 erbaut. Bereits 1604 war die Brücke über den Wallgraben fertiggestellt. Das Jahr 1614 brachte Hochwasser und zerstörte die Brücke und auch den Torbau, die in den Jahren 1615 und 1616 wieder neu hergerichtet werden mußten. Im Jahre 1820 wurde das Nürnberger Tor abgerissen und eine neue Toranlage mit zwei Wachthäuschen und einem schönen Gittertor angelegt. In dem einen Wachthäuschen (Accise­häuschen) war zuletzt das Ehrenmal untergebracht (Bild in: Hanau Stadt und Land, Seite 358).

Am 19. März 1945 wurde die Wache zerstört und 1981-82 von der  gegenüberliegenden Straßenseite auf die Nordseite versetzt.

In dem torlosen Winkel zwischen dem Steinheimer Tor und dem Nürnberger Befestigungswerk, dem sogenannten „Hünnerloch“, stand eine kleine Mittelbastion.

5. das Mühltor: Es wurde nach 1609 erbaut. Es wurde mit Kriegsbeginn geschlossen. Der Durchgang wurde erst nach mehr als zwei Jahrhunderten (1852) als Passage wieder geöffnet.

 

Alle Tore sowohl der Altstadt als auch der Neustadt mit Ausnahme des Frankfurter Tore sind im Laufe der Zeit aus verschiedenen Gründen niedergelegt worden. Nur Straßenbezeichnungen wie „Vor dem Kanaltor“ und „Mühltorweg“ erinnern noch an alte Tore. Auf Befehl Napoleons wurden die Festungswerke im Winter 1806/07 niedergelegt. Damit verschwanden das Nürnberger Tor, das Mühltor und das sogenannte Haustor oder Walltor. Alle anderen Tore sowohl der Altstadt als auch der Neustadt sind im Laufe der Zeit aus verschiedenen Gründen niedergelegt worden (Zeichnungen der Tore in: Hanau Stadt und Land, Seite 356).

 

Altstadtkern

Von der Südseite des Schloßplatzes geht man die Graf-Philipp-Ludwig-Straße (ehemals „Schloßstraße“) entlang in Richtung Altstädter Markt. Im Haus Schloßstraße 11 wohnte der Romanschriftsteller Karl Spindler von 1825 bis 1828. Links geht es in die Steinstraße. Das Eckhaus links, Hausnummer 4, war das „das Edelsheimsche Palais“, weil das Fachwerkhaus um das Jahr 1680 von dem Hanauischen Geheimrat und Regierungspräsidenten Freiherrn Johann Georg von Edelsheim erbaut und von seinen Nachkommen bis 1820 bewohnt wurde. Nach der Steinstraße zu sieht man noch eine Sandsteinskulptur, den Oberkörper eines Mannes, der sich aus dem Haus zu lehnen scheint.

Das "Männlein mit den großen Ohren und dem Zeigefinger auf dem Mund" stützte einst den gotisichen Erker des Hauses Altstädter Markt / Ecke Metzgerstrape. Es mahnt, lieber erst zuzuhören, sich eien Meinung zu bilden und erst dann zu reden. Die Sandsteinarbeit aus dem 15. Jahrhundert befindet ich heute im Schloß Philippsruhe.

 

Beim Wiederaufbau der Altstadt wurde eine Nachbildung des Männleins etwas weiter nördlich am Wohngebäude Ecke Graf Philipp Ludwig-Straße / Steingasse 8 angebracht (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 20). Auch an anderen Gebäuden der Altstadt finden sich beim genaueren Hinsehen solche skurrilen Figürchen; sie wurden bei den Aufräumarbeiten nach dem Krieg aus den Trümmern geborgen.

An der Ostseite des Hauses schräg gegenüber ist ein Stein von 1550 erhalten und ein Stein mit der Inschrift „1992 Baugesellschaft Hanau“. In der Graf-Philipp-Ludwig-Straße Nummer 1 auf der rechten Seite sieht man einen Pfeiler, der noch halb aus der Wand herausragt.

Einige Häuser in der Altstadt Hanau um den Altstädter Markt und in den Hauptstraßen zeigten die gleichen Fachwerkstellungen und kündeten so von ihrem Alter. Die meisten anderen Fachwerkhäuser in der Hanauer Altstadt stammten aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert. Fachwerkhäuser in der Nähe des Rathauses, die mit ihren schmalbrüstigen Giebelfronten nach der Straße standen, ließen den Stilwandel, der im 16. Jahrhundert in Deutschland einsetzte, deutlich werden. Die Häuser der Renaissance zeigten mit ihrer Traufseite nach der Straße, die „Vertikale“ war der „Horizontalen“ gewichen.

 

Alte Johanniskirche

Durch die Straße Johanniskirchhof kommt man Richtung Westen zur Johanniskirche.

Am 25. Mai 1658 wurde der Grundstein für die „evangelischen Kirche Augsburgischer Confession“ (heute Alte Johanneskirche) gelegt. unter Schirmherrschaft des Kurfürsten Johann Georg II. von Sachsen gelegt, der auch Namensgeber des Sakralbaus ist. Johann Georg kam 1658 vom benachbarten Frankfurt, wo er sich anläßlich der Kaiserwahl Leopolds I. aufhielt. Er ließ sich zu einem Abstecher nach Hanau überreden, um der Grundsteinlegung beizuwohnen. In ganz Deutschland habe man damals für die Kirche gesammelt. Und obwohl der Dreißigjährige Krieg die Lande verheerte, reichten die Spenden zumindest für einen Anfang.

Bauherr war Graf Friedrich Casimir von Hanau-Lichtenberg. Der Kupferstich von Frantz Brunn im Schloß Philippsruhe zeigt das denkwürdige Ereignis mit dem Schirmherrn der deutschen Lutheraner, Kurfürst Johann Georg II. von Sachsen, der von der Krönung Kaiser Leopolds I. aus Frankfurt am Main angereist war. Nach ihm wurde das Gebäude schließlich 1818 im Zuge der Hanauer Kirchenunion benannt.

Der Kirchenbau entstand gegen den Protest der reformierten Körperschaften in der Stadt. In den Bau wurde die alte Stadtmauer einbezogen: Ihre Westseite wurde auf die überflüssig gewordene alte Stadtmauer aufgesetzt, eine im modernen Putz der Südfassade ausgesparte Stelle zeigt das Profil der Stadtmauer.

Am 17. Januar 1664 fand die Einweihung der Kirche statt. Als Planleger der Johanniskirche wird Johann Wilhelm aus Frankfurt genannt. Er stammte aus Betzenau im Bregenzer Wald und hatte 1621 in Frankfurt als Zimmermann Bürgerrechte erhalten, 1649 gab er ein Buch, „Architectura civilis“ betitelt, heraus. Bauten kennen wir sonst von ihm nicht. Die Orgel lieferte Abraham Fischer aus Marktbreit.

Der Gründungsbau war eine schmale einschiffige Kirche mit einem Drei-Sechstel-Schluß. Die Fenster des ersten Baues, die sich auf der Ostseite und am Chorschluß noch erhalten haben, sind spitzbogig und schließen mit einfachem Maßwerk. Im Außenbau hatte also dieses Kirchlein durchaus noch den Charakter einer gotischen Kapelle. Ein kleiner Dachreiter saß über der einfachen Südwand. Die Portale waren in den klassischen Ordnungen der Renaissance vorgesetzt worden.

Nachdem sich der ursprünglich kleine Kirchturm nach 20 Jahren als zu schwach für einen Glockenturm erwies, wurde 1679 mit dem Bau eines neuen 57 Meter hohen massiven Turms begonnen. Der gräflichen Baumeister Johann Philipp Dreyeicher erbaut war auch Architekt des Regierungsgebäudes am Stadtschloß.  Das 1691 vollendete Mauerwerk mit seiner bis 1691 kräftigen umlaufenden Sandsteingalerie als Krönung und dem dort befestigten Wasserspeier. Der hohe Turm vor der Kirche mit dem charakteristischen Balustergeländer als Abschluß wurde noch im 17. Jahrhundert mit einer neuen Südfassade vorgesetzt. Über dem dreistufigen Steinsockel saßen, nach oben schmäler werdend, drei Holzgeschosse auf, die eine welsche Haube trugen und so den Turmabschluß der Marienkirche und des Schloßturmes wiederholten.

Graf Johann Reinhard von Hanau-Lichten­berg ließ die Kirche 1727-1729 zur Querkirche mit Platz für 2.000 Gläubige erweitern. Leider zerstörte schon der Umbau aus dem Jahre 1727 den einheitlichen und stilreinen Raumeindruck der Renaissancekirche. Die Westwand der Kirche wurde nach außen geschoben, die Sakristei angebaut und eine Herrschaftsloge mit kunstvollem Wappen und einem neuen Osteingang eingebaut.

Den Umbau zur großen Saalkirche leitete vermutlich der Baumeister Hermann. Während die Grafen von Hanau sich für ihr großes Lustschloß vor den Toren der Stadt auswärtige Baumeister und Stukkateure holten, konnte die kleineren Aufgaben der einheimische gräfliche Baudirektor erfüllen. In dem Baudirektor Christian Ludwig Hermann hatte das Grafenhaus einen vortrefflichen Baumeister gefunden. Nach dem „Dienerbuch“ des Hanauer Archivars Bernhard (Manuskript im Geschichtsvereins-Archiv) kam Hermann in den zwanziger Jahren als Baumeister aus Berlin nach Hanau; er wurde später Baudirektor und starb im Mai 1751 im Alter von 63 Jahren (demnach kann er beim Bau des Stadtschlosses 1712/15 nicht mitgewirkt haben).

 

Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs am 19. März 1945 wurde die Kirche zerstört. Der Bausubstanz konnte der Brand nichts anhaben, die Außenmauern und der schwere Turmsockel blieben erhalten; die Mauern wurden erst 1955 eingerissen (Bild in Hanau Stadt und Land, Seite 155, Aufnahme vor 1945).  Das Gebäude 1955/1956 von Architekt Karl Heinz Doll als zweigeschossiges Gemeindezentrum wieder aufgebaut und 2017 / 2018 grundlegend renoviert. Im Nebenbau (auch von außen zu besichtigen) befindet sich das Stadtmodell von Glasermeister Günter Jacob (1932-2017), das die Altstadt mit Alter Johanneskirche vor 1945 zeigt.

Im Jahre 2012 wurde die stählerne Turmhaube in einer großen Bürgeraktion rekonstruiert. Das 19 Meter hohe und 26 Tonnen schwere Stahlgerüst erinnert an die dreistufige Turmhaube, die bis zur Zerstörung Hanaus durch einen alliierten Luftangriff am 19. März 1945 die Silhouette der Stadt prägte. Den einen ist es Mahnmal gegen Krieg und Vernichtung, anderen steht sie für Werden und Vergehen, Leben und Tod.

Im kleinen Kreuzgewölbe direkt rechts hinter dem Haupteingang hängt ein Wasserspeier von 1691 in Form eines Drachenkopfes. Die künstlerisch wertvoll aus Stein ausgearbeiteten Wasserspeier haben auf vornehmlich kirchlichen Gebäuden des Mittelalters Tradition. Sie sollten vor bösen Mächten schützen, den Einfluss des Teufels auf die irdische Welt symbolisieren oder ganz profan bei Regen das Wasser in einem großen Bogen vom Gebäude her hinwegspucken. Heute heißt so etwas schlicht „Ablaufrinne“ (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 89, 96 und 166).

In den Jahren. 1955/1956 baute man die Neue Johanneskirche an der Frankfurter Landstraße.

 

Der Platz der Alten Johanneskirche liefert ein trauriges Bild. Rund um das frühere Gotteshaus, das heute Gemeindezentrum ist, drängen sich parkende Autos, nebenan steht ein häßlicher flacher Betonklotz, in dem die Sucht- und Drogenberatung untergebracht ist, zwischen beiden Gebäuden prangt eine tiefe tote Ecke. Südlich des Turms der Johanniskirche kommt man in die Schlendergasse. Dort steht noch ein sehr schöner Rest der alten Stadtmauer. Dann kommt man über die Ramsay-Straße (Freiherrn von Ramsay, Verteidiger der Stadt Hanau 1635-1638), der 1638 vor seiner Wohnung im „Weißen Löwen“ am Paradeplatz schwer verwundet wurde) in die Metzgergasse.

 

Am Eckhaus ist ein Sgraffito als Sinnbild des starken Lebenswillens der Hanauer Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Geschäftsgebäude wurde 1953 bis 1958 wieder aufgebaut. Vor dem Krieg befand sich hier ein Fachwerkhaus mit mächtigem Erker samt Konsolstein, in dem es u.a. Eis zu kaufen gab. Die Wandarbeit stammt vermutlich von August Peukert (1912-1986) und stellt ein Bürgerpaar dar, das nach Einkäufen auf dem Altstädter Markt stadtauswärts läuft (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 208). Nach links geht es zum Altstädter Markt. Das Eckhaus links war das älteste Rathaus der Stadt Hanau.

 

Altstädter Markt

Das älteste Rathaus:

An der Ecke zur Metzgergasse stand an der Nordseite auf einem steinernen Untergeschoß mit einer ehemals sicher offenen Halle das alte Fachwerk-Rathaus. Das Rathaus wurde 1484 vorgebaut, damit die Stadtväter vom Ratszimmer im ersten Stock aus die Kontrolle über die beiden Stadttore am Ende der Markt- beziehungsweise der Metzgerstraße hatten. Auf der Zeichnung des Maurermeisters Feldmann vom Altstädter Markt aus dem Jahre 1731 kann man sehen, daß die Ecken des stattlichen Hauses durch kleine, spitze Türmchen hervorgehoben waren. Ein Erker an der Metzgergasse trug eine Aufschrift mit der Jahreszahl 1484. Die Fachwerkbalken des Obergeschosses hatten die typische Stellung des Fachwerkes aus der Zeit um 1480. An das alte Spielhaus erinnert heute nur noch ein Relief an dem neueren Gebäude. Hier war auch das Männlein mit den großen Ohren (siehe oben).

 

Markt:

Im Jahre 1306 erhielt Hanau das Stadtrecht und durfte damit einen Markt abhalten. Das war zwar auch zuvor möglich, allerdings standen die Marktbeschicker nicht unter dem Schutz der Soldaten des Königs und mußten wegen der zahlreichen Wegelagerer im Mittelalter um ihre Waren fürchten. Außerdem wurde Hanau eine beschränkte Selbstverwaltung zuteil, die auch die Rechtspre­chung beinhaltete. Das zeigt sich auch an mehreren Einrichtungen auf dem Markt

  • Gechtigkeitsbrunnen von 1611 vor dem Deutschen Goldschmiedehaus. Bauherr war der Rat der Altstadt, nicht wie oftmals genannt Graf Philipp Ludwig II. Vermutlich haben ihn die Brüder Büttner aus Miltenberger Sandstein gehauen. Aufgerichtet wurde er durch Maurermeister Daniel Fischenich. Das Kleindenkmal war ursprünglich farbig gefasst durch Malermeister Michel Busch. Um den Brunnen herum standen Steinbänke zum Abstellen von Eimern. Den Brunnen flankieren zwei kannelierte Säulen mit korinthischen Kapitellen. Diese sind Auflager eines ganz im Stil der Renaissance mit Medaillons und Diamantverzierungen ausgestatteten Architravs. Dieser dient wiederum als Basis der von Löwenfiguren getragenen Wappen der Hanauer Altstadt und der Herren von Hanau-Münzenberg. Zwischen ist die vollplastische Darstellung der Justitia als Symbol kommunaler Gerichtsbarkeit. Im Jahre 1767 wurde auf Geheiß des Erbprinzen Wilhelm der Brunnen (ohne seinen ursprünglich sechseckigen Trog) in der Fassade des Rathauses vermauert.
  • Vor dem heutigen Goldschmiedehaus war mittwochs und samstags der Hanauer Wochenmarkt Dieser wurde mit dem Stadtrechtsprivileg von König Albrecht I. vom 2. Februar 1303 auf dem Altstädter Markt gestattet. Um herauszufinden, ob auf dem Markt betrogen wurde, war unten am Treppenaufgang mit einer Metallschiene die Hanauer Elle an der Front des Gebäudes angeschlagen, hier 54,38 Zentimeter lang. Jede Stadt hatte ihr eigenes Maß. Der Markt war auch ein Platz für raffinierte Schlitzohren: Da die Elle als Maßeinheit von Stadt zu Stadt unterschiedlich definiert und in Gelnhausen länger als in Hanau war, kauften sie Stoffe in der Bar­ba­rossa­stadt ein, fuhren nach Süden und verkauften sie zum gleichen Preis weiter.
  • Die Stelle des Alt-Hanauer Schandpfahls wird markiert durch einen Sandsteinquader im Pflaster vor dem Rathaus, etwas rechts. Er hat sich glücklicherweise über all die Jahrhundert erhalten. 
  • Die „schwarze Bank“ diente der Verkündigung von Todesurteilen. Bis 1806 wurden von diesem Ort auch Todesurteile verkündet, die am Hochgericht (Hanauer Galgen in der Gemarkung Kesselstadt, später in der Lehrhöfer Heide) vollstreckt wurden.
  • Der Schandpfahl mit „schwarzer Bank“ ist in Zusammenhang mit dem Pranger am Altstädter Rathaus zu sehen. Hier wurden schwerer Diebstahl, Feld- und Forstfrevel, Verstöße gegen den Fisch- und Wildbann, Ehebruch und Gotteslästerung geahndet. An einem Halseisen am Goldschmiedehaus wurden Verurteilte fixiert und mußten sich von den Passanten bespucken. beschimpfen oder schlagen lassen.
  • Das Wappen von Hanau-Münzenberg findet sich am Altstädter Rathaus von 1538 und am Gerechtigkeitsbrunnen (mit dem Rienecker Anteil seit 1556) (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 43, 45, 85, 86).

 

Neues Rathaus:

Im Jahre 1537 ein neues Rathaus gebaut. Offensichtlich war die Stadt Hanau damals sehr reich, sonst hätten sich die Stadtväter das nicht geleistet. In den Jahren 1501 bis 1505 war am Ende der damaligen Vorstadt ein großes Hospitalgebäude mit einer kleinen Kapelle entstanden. (Reste 1951 abgerissen). Im Schloß waren 1515 Umbauten und Vergrößerungen vorgenommen worden. Die Altstadt hatte man 1528 bis 1535 durch eine neuartige Bastionsbefestigung zur starken Festung gemacht. Die Bürger der Stadt konnten es sich leisten, ein stattliches Rathaus zu erbauen. Eine für damalige Verhältnisse ungewöhnlich hohe Summe hat die Stadt 1537 dabei verbaut: 770 Gulden, das waren mehr als 90 Prozent des gesamten Bauhaushalts. Und auch im folgenden Rechnungsjahr verschlang des „new huß“ noch einmal 75 Prozent des Etats.

Das Rathaus war nicht nur Behördensitz, sondern auch Wirtschaftsgebäude. Die städtischen Gremien kamen mit weniger Platz aus als heute und nahmen nur das erste Geschoß in Beschlag.

Dort tagte einmal in der Woche der zwölfköpfige Rat. Er hatte über Steuern zu entscheiden und wählten auch den Bürgermeister. Sie mußten sich aber dem mit einem Vetorecht ausgestatteten Grafen beugen. Zu seinen Aufgaben auch die Justiz zählte - von außen gut erkennbar am Pranger. Für die Bürgerschaft gab es zwei Waagen und eine Tabakpresse im Erdgeschoß, Keller und Böden waren vermietet.

Der Bau des Rathauses nimmt eine Seite des Altstädter Marktplatzes völlig ein. Auf einem steinernen Untergeschoß sitzen zwei von vielen Fenstern durchbrochene Fachwerkwände, die zwischen den hohen steinernen Staffelgiebeln eingespannt sind. Die Rückwand des Hauses ist eine dicke Steinmauer. Die doppelt vorkragende Fachwerkfront mit den Schmuckformen des hessisch-fränkischen Fachwerks wurde von zwei Erkern belebt, die auf hölzernen Knaggen ruhten. Weitere Knaggen vermittelten zwischen der Steinwand des Untergeschosses und dem ersten Fachwerkgeschoß. Kunstvoll skulptierte Steinkonsolen mit Wappen und Fratzen trugen die Knaggen.

Von Anfang an waren die beiden beherrschenden Brandmauern mit den fünfmal terrassenförmig gestaffelten Giebeln das charakteristische Merkmal des Hauses. Das schöne Fachwerk und das steile Dach mit den zweifach reihenweise aufgesetzten Giebeln waren die anderen Charakteristiken, die bestimmend für die Eigenart des Baues wurden. Die zahlreichen Fenster in den beiden Stockwerken mit den zwei Erkern, die steinerne Halle und die breiten Tore prägten im übrigen das Bild dieses imposanten Baues. Auch die doppelte Freitreppe war von jeher auffallend. Sie führte zur Diele neben der rechts und links die Amtsstuben und der Ratssaal lag.

Es war eine städtebaulich genau abgewogene Absicht des Baumeisters zwischen die hohen Steingiebel die leichten Fachwerkwände einzuspannen. Der schwer und breit hingelagerte Baukörper gewann so an Leichtigkeit und Bewegtheit. Der Hanauer Baumeister wollte mit der Fachwerkfront dem Rathaus ein charakteristisches und einmaliges Gesicht geben. Die breite und behäbige Ruhe des nur durch kleine Dachgauben gegliederten Daches stand in starkem Kontrast zur bewegten Sprache der Fachwerkstreben (Bild in Hanau Stadt und Land, Seite 137: Die Fachwerkverstrebungen entsprechen der Zeit und sind Vorläufer des „Wilden Mannes“; die des Hauses rechts sind noch älter, etwa von 1480-1500).

 

Der Rat der Altstadt Hanau ließ im Jahre 1611 durch den Büdinger Bildhauer Konrad Büttner als Gegenstück zu den Neustädter Marktbrunnen auf dem kleinen Marktplatz der Altstadt ebenfalls einen stattlichen Brunnen errichten. Er vermeidet (ebenso wie die gleichzeitigen Fachwerkbauten der Altstadt) bewußt alle Zierformen, die wir in der Neustadt finden: Über kannelierten Rundsäulen mit korinthischen Kapitellen steht auf dem kräftig profilierten Sturz eine „Justitia“ zwischen zwei wappenhaltenden Löwen. Die Justitia verlor im Kriege Schwert und Waage. Die Schilde zeigen die Wappen der Grafschaft Hanau-Münzenberg und der Altstadt halten. Die Bestandteile des Hanauer Wappens vor der Lichtenberger Zeit sind die rot-goldenen Sparren, der rot-gold geteilte Münzenberger Schild und die rot-goldenen Balken von Rieneck. Das Wappen der Altstadt ist ein gespaltener Schild mit den halben Hanauer Sparren und einem goldenen Löwen im schwarzen Feld.

Einschneidende Veränderungen erfuhr Haus 1767 unter Erbprinz Wilhelm, der in Hanau als Bauherr großen Stils auftrat: Der heutige Freiheitsplatz, das im zweiten Weltkrieg zerstörte Stadttheater die Kuranlage Wilhelmsbad mit dem Comoedienhaus gehen auf ihn zurück. In die im Geschmack dem Klassizismus verpflichtet, konnte der Erbprinz dem vom Fachwerk geprägten Erscheinungsbild des Altstädter Rathauses nicht viel abgewinnen. Kurzerhand ließ er die „altmodische“ Fassade unter schmucklosem Putz verschwinden, dabei gleich die Erker abschlagen und die Fenster verändern. Die Brüder Grimm erinnerten sich, daß das Haus ganz scheußlich grau verputzt war. Der Grund für den Anstrich war zum einen der Brandschutz, zum anderen das Vortäuschen von Prestige. Wer reich war, baute aus Stein - unter der Farbe war aber nicht mehr zu erkennen, um welche Bausubstanz es sich handelt.

Ab 1821 wurde das Goldschmiedehaus nur noch als Gerichtsgebäude genutzt. Im Jahre 1835 verlor das Gebäude mit der Vereinigung von Alt- und Neu-Hanau noch seine bisherige Funktion, Verwaltungssitz wurde die modernere Neustadt. Ins Altstädter Rathaus zog das kurfürstliche Landgericht ein - und bereits knapp 30 Jahre später wieder aus. Dabei ließ man die Erkerfront beseitigen und von einer wenig malerischen Putzwand übertünchen.

Ab 1851 wurde es eine Knaben-Schule, ebenfalls nur für 26 Jahre. Danach stand der einstige Mittelpunkt Hanaus stand so gut wie leer und verkam zusehends, bis 1898 Stadtbaurat Johann Peter Thyriot das Gebäude nach originalen Plänen mit seiner alten Fachwerkfassade restaurieren ließ. Im Jahre 1902 machte es sich der Geschichtsverein zu seinem Domizil und blieb 40 Jahre mit dem Heimatmuseum dort. Im Jahre 1942 verschlug es die Deutsche Goldschmiedegesellschaft aus Hamburg an den Altstädter Markt. Dann wurde das ehemalige Rathaus „Deutsches Goldschmiedehaus“.

 

Deutsches Goldschmiedehaus

Treibende Kraft war der Berliner Goldschmied und ehemalige Schüler der Hanauer Zeichenakademie, Ferdinand Richard Wilm. Doch schon drei Jahre nach der glanzvollen Eröffnung mit viel Naziprominenz wurde das Goldschmiedehaus durch den Luftangriff auf Hanau im März 1945 zerstört. Alte Fotografien zeigen die Ruine mit den freistehenden Giebeln, die einsam in den Himmel ragen. Nur das Untergeschoß, die hohen Steingiebel und die Rückwand blieben erhalten.

Der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg ging unter der Schirmherrschaft des damaligen Bundespräsidenten Heuss vonstatten. In einem finanziellen Kraftakt zog die Stadt auf Initiative des damaligen Oberbürgermeisters Karl Rehbein, der selbst gelernter Goldschmied war, das einstige Wahrzeichen Anfang der 50er Jahre wieder hoch, von den Hanauern als Höhepunkt des Wiederaufbaus euphorisch gefeiert. Beim Wiederaufbau werden die beiden Fachwerkwände rekonstruiert.

Für heftige Gemütsbewegungen sorgte bei den Bürgern Anfang der achtziger Jahre noch einmal die Entscheidung, das bisher schwarz-braune Fachwerk rot zu streichen - so soll die originale Farbgebung gewesen sein. Am Giebel nach der Marienkirche zu wurde ein Portal eingebaut, daß sich früher in der Altstraße 2 befand.

Nur geringfügige Veränderungen sind vorgenommen worden, die sich aber so in den Stil und den Rahmen des ganzen Hauses einfügen, daß nichts von der Ehrwürdigkeit des alten Gebäudes verlorengegangen ist. Seit 1958 ist es nun wieder, im alten Glanz, das „Haus der Ratgebung“ für die Gold- und Silberschmiede und für alle Schmuckliebhaber überhaupt.

Das Deutsche Goldschmiedehaus ist ein wahres Schmuckstück. Sein wunderschönes Fachwerk läßt die Herzen der Betrachter höherschlagen. Ihn beeindruckt der mächtige Giebel ebenso wie das schlichte und dennoch so prachtvolle Portal mit der bronzenen Eingangstür. Tritt er durch diese Tür, so ruft das Innere des Hauses sein Erstaunen hervor. Hier ist wirklich mit künstlerischer Hand geschaffen worden und man merkt sofort, daß es den Menschen, die gearbeitet beben, darum gegangen ist, etwas Vollendetes zu schaffen. Vollendet ist hier schlechthin alles, was man in diesem Hause sieht, angefangen von den stilvollen Räumen des Ratskellers über das schlichte Treppenhaus bis zu den Ausstellungsräumen im ersten und zweiten Stockwerk, deren Beleuchtung ebenso wie die des Treppenhauses bei allen Besuchern auf besonderes Wohlgefallen stößt.

Man hat den Eindruck, als sei bei der Gestaltung der Innenräume des Goldschmiedehauses ein besonderer Künstler am Werk gewesen, so harmonisch zusammenkomponiert ist alles. In wirkungsvollem Kontrast zu den Ausstellungsstücken stehen im Gold- und Silbersaal die Parkett­fußböden (in dem einen Saal hell, im anderen dunkel) und die Vorhänge.

Seit mehr als 400 Jahren ist es das Schmuckstück in der Hanauer Altstadt. Das dreigeschossige Gebäude bietet nicht nur Platz für hochkarätige Ausstellungen von Schmuck und Gerät, sondern beherbergt auch eine umfangreiche Sammlung von Fachliteratur und die „Internationale Gesellschaft für Goldschmiedekunst“.

Zwei Ausstellungsräume hat das Deutsche Goldschmiedehaus. Im ersten Stock befindet sich der Silbersaal und darüber, im zweiten Stock, ist der Goldsaal. In den geräumigen Ausstellungsvitrinen werden Schmuck- und Ziergeräte aus zwei Jahrhunderten gezeigt. In den Räumen sind wechselnde Ausstellungen zu sehen, die sich auf Hanaus Tradition als „Stadt des edlen Schmuckes“ beziehen.

In dieses Ganze vom Parterre bis zum Dachgeschoß des Hauses reicht, gehört auch die Gaststätte hinein. Gerade gegen den Einbau dieses Ratskellers hatten viele Bürger Protest erhoben mit der Begründung, im Altstädter Rathaus sei nie ein Ratskeller gewesen. Aber auch die ursprünglichen Gegner haben sich davon überzeugen lassen müssen, daß dieser Ratskeller, so wie er hier errichtet worden ist, dem Haus zur Zierde gereicht und außerdem einem dringenden Bedürfnis nachkommt, denn zu einem Ausstellungshaus gehören auch Restaurationsräume. Und wenn der Stil dieses Gebäudes so gewahrt wird, wie das bei dem Hanauer Ratskeller der Fall ist, dann kann man sich glücklich schätzen.

 

Die Stadt des edlen Schmuckes

Vor allem im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert hatte Hanau weithin einen Namen als „Stadt des edlen Schmuckes“. Der Grundstein dafür wurde nicht von den alt eingesessenen Bürgern, sondern von flämischen und wallonischen, später auch hugenottischen Einwanderern gelegt. Vertrieben aus ihrer Heimat, hatten sie vor 400 Jahren Zuflucht in Hanau gefunden und dort die Neustadt gegründet, wo ihnen Graf Philipp Ludwig das Recht auf freie Religionsausübung und in beschränkter Form auch Gewerbefreiheit zubilligte.

Unter den Glaubensflüchtlingen waren auch einige namhafte Goldschmiede. Bereits bis zum Jahr 1610 war ihre Zahl in Hanau so stark gewachsen, daß sie eine eigene Zunft der Gold- und Silberschmiede gründeten. Ihr Geschäft florierte, begünstigt auch durch die gute Straßen- und Schiffsverbindung zum Handels- und Börsenplatz Frankfurt. Durch den Dreißigjährigen Krieg kam das Gewerbe zwar fast völlig zum Erliegen, erlebte aber knapp 100 Jahre später eine erneute Blüte, als Landgraf Wilhelm ein Patent erließ, das den Fabrikanten Abgaben auf zehn Jahre ersparte und Handelsfreiheit gewahrte. Das zog viele Manufakturen nach Hanau, darunter etliche französische Goldarbeiter und Bijoutiers, die einen neuen Erwerbszweig mitbrachten: die Anfertigung von Galanteriewaren und ähnlichen Preziosen in Gold und Silber, die bisher nur in Paris und Genf hergestellt worden waren. Ihre Kunden verkauften diese Artikel als Pariser Arbeit von Hanau aus in die Welt.

Die Bijoutiers waren es auch, die 1772 die Gründung einer Akademie der Zeichenkunst forderten, die nicht nur Nachwuchs für das heimische Gewerbe garantieren, sondern auch die Grundlage des künstlerischen Lebens in der Residenzstadt bilden sollte - das war die Geburtsstunde der Staatlichen Zeichenakademie in Hanau. Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert gelang der Branche durch die nun mögliche Serienfertigung ein weiterer Aufschwung. Damals wurden einige der heute noch existierenden Betriebe gegründet.

Von den traditionsreichen Betrieben haben nur wenige überlebt: die einer historisierenden Formensprache verpflichteten Silberwarenmanufakturen Schleissner (seit 1816) und Neresheimer (seit 1890), die Firma Otto Klein für Juwelen und Goldarbeiten (seit 1909) sowie die. bereits seit 1759 in Hanau etablierte, auf die Anfertigung von Ketten spezialisierte Firma Bury. Insgesamt gibt es in Hanau noch rund ein Dutzend Betriebe für Gold- und Silberschmiedekunst, darunter Ateliers einzelner Künstler,

Zwei Galerien für selbst entworfenen und gefertigten Schmuck haben in den vergangenen fünf Jahren eröffnet: „Made in Hanau“ in der Innenstadt, eine Ateliergemeinschaft ehemaliger Absolventen der Zeichenakademie ebenso wie „Possible“, eine Galerie mit integrierter Werkstatt in einem ehemaligen Laden in der Nachbarschaft des Deutschen Goldschmiedehauses.

 

 

 

Marienkirche

Links vom Deutschen Goldschmiedehaus geht es in die Marienkirchstraße. Das Haus Nummer 2 (Haus nach dem Eckhaus) hieß früher „Zur Linsensupp“, heute ist dort unter anderem sinnigerweise die „Hanauer Tafel“ untergebracht.

Ein alter Erbteilungsvertrag zwischen zwei Brüdern aus dem Geschlecht der Herren von Dorfel­den und Hagenowe vom Jahre 1234 erwähnt zum ersten Male, daß bei der Burg Hagenowe dem Zisterzienserorden das Recht zum Bau einer Kirche samt dem dazugehörigen Gelände eingeräumt wurde. Der Baubeginn läßt sich nicht genau fixieren, er lag wohl um die Mitte des 13. Jahrhunderts. Als im Jahre 1303 Hanau sein Stadtrecht erhielt, hat die Kirche sicherlich schon gestanden. Urkundlich erwähnt ist die „eclesia Marie Magdalena in Haynoe Moguntine diocesis“ (Maria-Magdale­nen-Kirche in Hanau in der Mainzer Diözese) in drei Ablaßbriefen aus den Jahren 1316 (Ablaßbrief), 1317 und 1322. Fest steht weiterhin, daß im Jahre 1353 bereits fünf Geistliche an der Kirche amtierten.

Der einzige spätgotische Bau im Hanauer Land von besonderer Bedeutung ist der Neubau des Chores der Marienkirche. Reinhard II. wurde 1429 in den Grafenstand erhoben (der erste „Graf“ von Hanau). Die ehemals bescheidene Marien-Magdalenen-Kirche wurde von ihm bereits zwischen 1449 und 1454 größer und prächtiger gebaut. Auch ist wohl um diese Zeit der heute noch stehende Turm erbaut worden.

Um der Erhebung der Pfarrkirche zur Stiftskirche Ausdruck zu geben, war der Anlaß zum Neubau des prächtigen Chores. Die Architektur der Marienkirche weist mit den etwa gleich großen Bauteilen Schiff und Chor eine architektonische Besonderheit auf. Was sofort auffällt, ist ein Kontrast zwischen dem fast wie ein Würfel geschnittenen Kirchenschiff in neuzeitlich wirkender Nüchternheit und dem dahinter hochaufragenden Chor von etwa gleicher Tiefe. Der scheint gleich ein paar Nummern zu groß geraten.

Um dem Grafengeschlecht einen würdigen Ruheplatz zu schaffen verlegte Reinhard II. den Begräbnisplatz seines Geschlechtes vom Kloster Arnsburg nach Hanau und lierß den Chorraum als Erbbegräbnis errichten. Er starb allerdings schon während der Bauzeit 1451 und wurde an Ort und Stelle begraben. Sein Grabstein befindet sich heute noch an der Nordwand. Zu besonderen Anlässen ist die Grafengruft der Marienkirche geöffnet. Der prominenteste Adlige, der unter dem Chor des ältesten Hanauer Gotteshauses bestattet liegt, ist Graf Philipo Ludwig II. von  Hanau-Münzenberg (Sarg etwas erhöht). Er hat „seine“ Gruft noch selbst anlegen lassen – ehe er am 9. August 1612 starb (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 123).

Eine Urkunde vom 30. Mai 1485 besagt, daß die Steinbildhauerarbeiten an Siegfried Ribsche aus Büdingen vergeben worden sind. Der Hanauer Steinmetzmeister Martin Merkel und sein Sohn waren bei dieser Vergebung anwesend. Ob Ribsche der Planleger des Chorneubaues ist, erfährt man nicht. Man muß aber annehmen, daß der erfahrene Bildhauer das kostbare Netzgewölbe, die reichen Steinmetzarbeiten an den Dienstsockeln, das Sakramentshäuschen am Äußeren des Chores und ein verschollenes Sakramentshaus im Innern gearbeitet hat. Siegfried Ribsche ist auch - zusammen mit Hans von Düren - der Meister des 14 Meter hohen Sakramentshauses in der Friedberger Liebfrauenkirche. Die Bauzeit zog sich bis zum Jahre 1492 hin. Das vorher einschiffige Langhaus erhielt zwei Seitenschiffe, die mit den heutigen Ausmaßen übereinstimmen. Die Apsis wurde auf neun Meter Tiefe erweitert.

 

Beim Betreten der Marienkirche über das erst 1963 fertiggestellte Eingangsportal im Westen sieht man über dem Haupteingang das Wappen Philipps III. von Hanau-Münzenberg und seiner Gemahlin aus dem Jahre 1561. Über der Eingangstür liegt innen die Empore mit der 1964 fertiggestellten Orgel. Sie wurde in zwei Abschnitten durch die Firma Hammer aus Hannover erstellt. Unter dieser Empore befinden sich zahlreiche, bei den Ausgrabungen von 1946 sichergestellte Grabplatten. Auch der östliche Schluß des Schiffs enthält wieder in den Boden eingelassene Grabplatten.

Der Chorraum von erstaunlichen Ausmaßen (22 Meter tief, 10 Meter breit und 16,4 Meter hoch) ist überwölbt von einem kunstvollen Netzgewölbe aus profilierten Sandsteinrippen, die in ihrem östlichen Abschluß einen Stern bilden. Er besteht aus vier Jochen und hat einen Drei-Achtel-Schluß. Die Dienste, die die Joche voneinander trennen und das Netzgewölbe vorbereiten, beginnen auf der Höhe der Fensterbrüstungen. Sie stehen auf reich geschmückten Konsolen, die prachtvolle Meißelarbeiten zeigten.

Aus den die Chorwände gliedernden Diensten wachsen unorganisch die Rippen des Netzgewölbes, das den Chor der Marienkirche überspannt. Dieses Netzgewö1be ist der kostbarste Schatz aus dem Mittelalter, der sich in Hanau bewahrt hat. Das System des Gewölbes ist verhältnismäßig einfach. Von jedem Dienst gehen drei Rippen aus, die sich in der Zone des Gewölbescheitels netzförmig überschneiden. An jeder Überschneidungsstelle sitzen Wappensteine, die heraldische Ahnengalerie Philipps des Jüngeren sowie seiner Familienangehörigen.  Die besonders schönen sechs Wappen der Mittelreihe im Gewölbescheitel geben dreimal das Hanauer, zweimal das nassauische und einmal das pfälzische Wappen wieder (Bild in: Hanau Stadt und Land, Seite 134). Die mittleren Schnittpunkte der Rippen sind gekrönt mit den Wappen des Erbauers, seiner Gemahlin, seiner Eltern und Großeltern. Hier findet sich auch das Wappen Philipps des Jüngeren, das heute das Hanauer Stadtwappen ist.

Der Schlußstein im Gewölbe des Chorschlusses zeigt in plastischer Arbeit Christus als Gärtner vor Maria Magdalena. Ein spitzbogiger Triumphbogen, der als Schlußstein das Hanauer Wappen trägt, schließt den Chor gegen das Schiff ab. Unter dem Triumphbogen war ehemals ein Lettner vom Jahre 1492.

Die seitlichen Rippenschnittpunkte tragen 48 kleinere Wappen. Alle Wappen sind als Hochrelief in Sandstein gehauen und bunt gemalt. Auch zwischen den Rippen sind reizvolle Rankenmalereien angebracht. Von gleicher Schönheit ist das Maßwerk der hohen Kirchenfenster, deren Abschluß im Spitzbogen jeweils andere Ornamente zeigt.

Zwischen den Diensten steigen hohe, dreiteilige Fenster auf, die mit Spitzbogen schließen. Reiches Fischblasenmaßwerk füllt die Felder der Spitzbogen. Auf der Südseite der Kirche reichen die Fenster nur bis zum Dachansatz der Sakristei, die sich an den Neubau des Chores anschließt.

 

Vom Schiff aus sieht man in den Chor. Am Chorbogen rechts sieht man das Gedächtnismal (Epitaph) der Adriane von Nassau- Dillenburg (1449-1477). Die Sandsteinfigur von 1477 ist eine der schönsten und besten erhaltenen Epitaphe für eine Gräfin des Mittelalters in der Region. Adriana von Nassau–Dillenburg heiratete am 12. September 1468 Graf Philipp I. von Hanau-Münzenberg. Sie wurde nur 28 Jahre alt. Der Witwer Philipp I. ging nach ihrem Tod flugs eine nicht standesgemäße Beziehung zu Margarethe Weißkircher ein. Diese beiden sind in einem Doppelporträt als sogenanntes. „Gothaer Liebespaar“ dargestellt.

Adriana ist in betender Stellung dargestellt. Sie ist überlebensgroß - fast als Vollfigur - in langem Kleid, knieend unter einem Baldachin aus Sandstein gearbeitet. Sie blickt in Richtung des leider im Zweiten Weltkrieg untergegangenen Hochaltars. In ihren Händen hält sie ein Gebetbuch mit den Anfangsworten des „englischen Grußes“. Er ist seit dem Mittelalter die Bezeichnung für die Worte des Erzengels Gabriel aus dem Neuen Testament nach Lukas, dass Maria den Sohn Gottes gebären werde („Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir“). Von Adrianas Haar mit Flechten geht ein Schleier über die rechte Schulter, der Halsschmuck erinnert an eine Dornenkrone? Ebenso ist ihr Wappen mit herzblattbesetztem Flug zu sehen sowie Schriftbänder, die sich um Baumstämmchen winden und über ihren Tod Auskunft geben. Im Chor der Kirche ist auch ihre Grabplatte erhalten ihrem Wappen, das zwei (hessische) Löwen und zweimal rot-weiß-rote

Balken enthält. Ihr Wappen ist auch in der Kirche in Hochstadt zu sehen, dort hält ein Engel die beiden Wappen des Ehepaares (auch wenn sie bei der Errichtung des Chors wahrscheinlich schon tot war) (Martin Hoppe, Objekt der Woche, #112).

 

Von dem Durchgang in der Chorsüdwand gelangt man in die jetzt links anschließende Sakristei (im 15. Jahrhundert Kapitelsaal der Stiftsgeistlichen, Laurentiuskapelle). In der Ostwand dieses Raumes befinden sich die erst 1945 entdeckten Wandgemälde aus dem 15. Jahrhundert. Bei der Renovierung der Sakristei hat man alte Fresken entdeckt, die sich in der dortigen Altarnische befinden. Sie stellen das Martyrium des Heiligen Laurentius und die Anbetung des Kindes durch die drei Könige dar; darüber sind Gruppen von Heiligen abgebildet. Diese Fresken und einige Weihekreuze an den Wänden wurden restauriert und bilden eine wertvolle Bereicherung der leider nicht mehr so zahlreich vorhandenen kunstgeschichtlichen Zeugnisse einer reichen Vergangenheit

Sehenswert sind auch die spätgotischen Glasmalereien dieser Kirche. Die Kirche bewahrt eine Gruppe von alten Bildfenstern, die zusammen mit der Architektur ein Stück von Hanaus Vergangenheit widerspiegeln. Sie erinnern an Zeiten tiefer Frömmigkeit, in der die Kirche vor allen anderen Bauten mit dem Kostbarsten ausgestattet wurde, und sind Zeugen einer Kunst, die durch die besondere Eigenschaft, Materie in verklärtes Licht aufzulösen, das Mittelalter ganz besonders faszinierte.

 

Der wesentlichste Umbau ist aber Graf Philipp dem Jüngeren, Enkel von Reinhard II. zu verdanken. Von einer Jerusalemfahrt heimkehrend baut er den Chor in den Jahren 1485 - 92 zu seiner heutigen Größe um. In der linken Wand über einem Grabdenkmal ragt ein großer Stein ein wenig hervor, über dessen Bedeutung die Übersetzung seiner Inschrift informiert: „Grundstein zum Neubau des Chores im Jahr 1485 zur heutigen Gestalt“. Der Grundstein zum hohen Chor wurde am 4. August 1485 gelegt.

Schon 34 Jahre später, im Jahre 1485, wollte Reinhards Enkel Philipp der Jüngere noch weit höher hinaus. Er ließ die Marien-Magdalenen-Kirche zu einer Stiftskirche erheben, an welcher ein Kapitel von zwölf Geistlichen und einem Dechanten dienten. Die heutige Sakristei war damals Kapitelraum. Die Pfründen der Stiftsherren sind heute noch in der sogenannten „Hanauer Präsenz“, einer kirchlichen Vermögensverwaltung, im Wesentlichen enthalten.

Die Stellung des Chores zum Schiff - der Chor ist leicht abgewinkelt - läßt darauf schließen, daß der Bauherr wahrscheinlich auch das dreischiffige Langhaus erneut erweitern oder gar ein neues Schiff bauen lassen wollte. Der Plan kam nicht mehr zur Durchführung; die Reformation setzte all diesem Streben um die Verschönerung der Stiftskirche ein Ende. Man erhöhte nur die Seitenwände des Schiffes (1561) und brachte das Dach auf gleiche Höhe mit dem Chordach.

Zur Zeit der Fertigstellung des hohen Chores befanden sich fünf Altäre in der Kirche: Die in den vier Ecken des Schiffes waren „Unserer lieben Frau“, St. Katharina, St. Georg und St. Bartholomäus geweiht, der Hochaltar im Chor der Kirchenpatronin Maria-Magdalena, deren Bild er auch trug (Ölbild des Malers Fyol aus Frankfurt, das später durch ein geschnitztes Retabel ersetzt wurde). An weiteren Ausschmückungen dieser Zeit sind noch zu erwähnen: Die Kreuzwegstationen, deren Ölbergszene noch bis zur Zerstörung der Kirche relativ gut erhalten war. Das Grabmal der Gattin des Chorerbauers, der Gräfin Adriane von Nassau, hat die Zerstörung überstanden, ebenso die geschnitzten Chorwangen, deren eine das Bildnis Philipps selber trägt.

 

Der Chor ist nicht nur atemberaubend schön ist mit seinem Kreuzrippengewölbe und den erwähnten Fenstern, sondern auch Hanaus ältestes original erhaltenes Gebäude. Mit der Einführung der Reformation wurde die Kirche einer ziemlich radikalen Bereinigung von Bildern, Altären und Stationen unterzogen. Der leer gewordene Chorraum wurde mit einer Chorbühne versehen, die in ihrem unteren Teil eine Glasfensterfront zeigte. Auf den oberen Teil der Chorbühne wurde später die prächtige Orgel gestellt. So blieb im Wesentlichen die Gestaltung des Chores bis zum Jahre 1945.

In den Jahren 1559-1561 wurde das Langhaus zum Saalbau umgebaut. Das Kirchenschiff wurde unter Philipp III. im Jahre 1561 erhöht. Das hohe weiträumige Dach konnte dadurch als Lagerraum für die Naturalien aus den Pfründen Verwendung finden, wovon heute noch die vielen Luken und Türen im Oberteil des Westgiebels zeugen. Im Inneren des Kirchenschiffs wurde durch Einbau einer doppelten Emporenreihe und einer erhöhten Kanzel der reformatorische Charakter des Gotteshauses als einer Stätte der Wortverkündigung zum Ausdruck gebracht. In dieser Gestalt blieb die „Hochdeutsche Reformierte Kirche“ seit den letzten drei Jahrhunderten im Wesentlichen unverändert.

Das Gotteshaus der Hochdeutsch-Reformierten diente früher auch als Lagerhaus. In den drei obersten Stockwerken wurden die Vorräte aus den Ernten der Pfarräcker aufbewahrt. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts wohnte im hohen Turm ein Wächter, der eigentlich nie richtig schlafen konnte. Laut Vertrag mit der Stadt mußte der Tag und Nacht alle Viertelstunde Ausschau halten, ob ein Feind heranrückte oder ein Feuer ausgebrochen war. Dann mußte er ins Horn stoßen. Besucher konnten ihm damit eine Freude machen, Kohlen, Wasser oder Nahrungsmittel hinauf in seine Stube zu schleppen.

Nach der Reformation verschwanden auch die zahlreichen wertvollen Schnitzaltäre und mit ihnen die gesamte Ausstattung an Meßgewändern, an Meßbüchern und kirchlichen Geräten. Im Jahre 1595 führten die Calvinisten (zusammen mit den Lutheranern eine der Hauptströmungen des Protestantismus) einen „Bildersturm“ durch. Sie wollten keine Kunst und keinen teuren Schmuck in ihrer Kirche. Also stürmten sie das Gebäude und rissen alles heraus. Besonders Graf Philipp Ludwig Il. räumte 1596 „in calvinischem Eifer“ die Kirche aus. Nur Teile der alten Glasmalereien haben sich erhalten. Eine Rundscheibe mit einem Wappenpagen stammt von dem am Mittelrhein tätigen Hausbuchmeister. Einem anonymen Meister „W. B.“ will man andere Scheiben zuschreiben. Großartig in Komposition und Farbwirkung ist die Scheibe mit dem Heiligen Georg und der Pietà im westlichen Chorfenster der Nordwand.

 

Die Kirche wurde im Zuge der Hanauer Union 1818 der Großmutter von Erbprinz Wilhelm gewidmet: Landgräfin Marie von Hessen, eine am 5. März 1723 in London geborene englische Prinzessin. Nachdem sie am 14. Januar 1772 im Alter von nur 48 Jahren in Hanau starb, wurde sie in „ihrer“ Kirche in der Grafengruft beigesetzt. In der Beletage von Schloss Philippsruhe ist ein Porträt aus der Zeit um 1761 erhalten, wohl aus der Hand von Anton Wilhelm Tischbein (1730-1804). Nach Ehezwistigkeiten mit ihrem Mann Landgraf Friedrich II. wegen seines Religionswechsels zum Katholizismus übernahm sie 1760 nicht nur die Vormundschaft ihrer Söhne für die Grafschaft Hanau-Münzenberg, sondern ließ eifrig am Stadtschloss bauen, schuf dort einen der ersten englischen Landschaftsgärten in Deutschland und förderte die Errichtung des Stadttheaters (am heutigen Freiheitsplatz) (vgl. Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 153). In den Jahren 1847 bis 1849 erfolgte eine „Restaurierung“ ohne jede Rücksicht.

 

Wie durch ein Wunder überstand der Chor der Marienkirche den Bombenhagel der Sprengbomben. Brandbomben setzten das Dach und das Innere der Kirche in Brand. Die Flammen zerstörten das Schiff und die Inneneinrichtung des Chores. Ein besonders großer Verlust war dabei die Zerstörung der im Jahre 1696-1697 von dem Hanauer Orgelbauer Valentin Marekart erbauten Barockorgel auf der breiten Chorbühne.

Die Zinksärge derer von Hanau, die in der Gruft lagerten, überstanden das Feuer einigermaßen unbeschädigt. Einer der Grafen hatte sich hingegen in einem Marmorsarkophag zur letzten Ruhe betten lassen: Der schmolz in der Hitze zur Unkenntlichkeit zusammen.

Nach dem Brand bot sich uns aber der hohe Raum des Chores in seiner alten Reinheit und Größe dar. Die störenden Einbauten waren verschwunden und das mittelalterliche Bild war wiedergewonnen worden, so daß wir heute einen beglückenden Raumeindruck von großer Würde und künstlerischer Qualität finden.

Nach der schweren Kriegszerstörung am 19. März 1945 wurde sie in den drei vorgenannten Bauabschnitten unter großen Opfern wiederaufgebaut. Im Jahre 1946 wurde mit dem Wiederaufbau begonnen. Nach dem Entwurf von Prof. Gruber, Darmstadt, sollte das Kirchenschiff wieder seine ursprüngliche Gestalt einer dreischiffigen Basilika erhalten. Diese, ohne Emporen ausgestattet, ist betont schlicht gehalten, um den hohen Chor in seiner ganzen Schönheit als die beherrschende Dominante des Kircheninneren hervortreten zu lassen. Die neue Orgel wurde auf die Westseite verlegt, damit die Höhe und Tiefe des Chores zu ihrer vollen Geltung kommt.

So ist der Blick frei auf das herrliche Netzgewölbe mit seinen Wappen und dem Schlußstein, der Maria-Magdalena vor dem auferstandenen Herren zeigt. Die wertvollen Glasmalereien aus dem Mittelalter leuchten wieder in ihren kräftigen Farben von den Fenstern. Die Epitaphien der Hanauer Grafen an den Chorwänden sind erneuert, und die Gestühlswangen mit ihren alten Schnitzereien haben wieder ihren Ort gefunden. In der Kirche befindet sich eine Kurzbeschreibung „Kleiner Rundgang“ mit Daten zur Geschichte und Baugeschichte auf der Rückseite.

 

Nachdem im November 2001 bereits der Vertrag mit der spanischen Firma Grenzing über den Neubau einer Orgel für 1,8 Millionen Mark innerhalb von zwei Jahren abgeschlossen wurde, ist inzwischen auch die Gesamtfinanzierung des Kirchenumbaus gesichert. Ausschlaggebend war eine zusätzliche Zuweisung über eine Viertelmillion Mark von der „Stiftung Kirchenerhaltungsfonds“ der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck. Die Marienkirche soll mit dem Neubau der Orgel und der damit zusammenhängenden Umgestaltung der Decke, dem Ausbau der Empore zur Aufführung von Chorwerken - inklusive Erneuerung der Heizung - ein „würdiges Zentrum der Hanauer Kirchenmusik in der Innenstadt“ werden.

Die Finanzierung der mit 942.000 Mark veranschlagten Kosten teilen sich drei Geldgeber: die Landeskirche, der Kirchenerhaltungsfonds und die Evangelische Präsenz Hanau (ein Baukostenträger für evangelische Kirchen, resultierend noch aus Jahrhunderte altem Grafenrecht). Indem der Fonds 250.000 Mark Zuschuß gewährt, teilen sich Landeskirche und Hanauer Präsenz den Rest etwa zu gleichen Teilen.

Der neue Eingangsbereich ist kühl und klar. Ein Foyer ist vom Kirchenschiff abgetrennt durch eine Glaswand und zwei Vitrinen mit Plakaten, Broschüren, Büchern und Informationsmaterial. Die Doppel-Schwingtür aus Glas hat Griffe in Form von senkrechten Edelstahlstäben.

Die spanische Firma Grenzing baut die Orgel nach einem Prospekt-Entwurf des Hanauer Architekten Simon Platt. Mit der neuen Orgel soll sich die Marienkirche zu einem regionalen Kulturzentrum und zu einer touristischen Attraktion entwickeln.

Die Landeskirche von Kurhessen-Waldeck habe vier Schwerpunkte der Kirchenmusik gesetzt: Kassel, Bad Hersfeld, Marburg und Hanau. In Hanau habe man traditionell ein hohes Niveau gehabt, das mit Kantor Christian Mause fortgesetzt werde. Um ihm ein adäquates Spielen auf einem guten Instrument zu garantieren, habe die Landeskirche beschlossen, hier in Südhessen einen ganz besonders bedeutenden Schwerpunkt zu setzen, was sich auch in Zahlen ausdrücke. Im November 2001 war für 1,8 Millionen Mark der Auftrag an die Firma Grenzing gegangen, die bereits rund 150 musikalisch und technisch hochwertige Orgeln nach der seit der Barockzeit bewährten Mechanik gebaut hat, unter anderem für die Kathedrale in Brüssel und die Konservatorien in Lyon und Paris.

Für die Aufstellung der Orgel ist die Decke im Hauptschiff angehoben und - nahezu gotisch anmutend - gewölbt worden. Für die Konstruktion hat sich Rainer Krebs von dem Göttinger Akustik-Spezialisten Dr. Alphei beraten lassen. Die alte Empore hat Krebs so erweitert, das ein hundertköpfiger Chor auf gestuften Podesten Platz hat und davor ein 40-köpfiges Orchester.

Darüber baute der Architekt eine zweite Empore. Auf einem mächtigen Stahlträger ruht eine Betonplatte, die der Grundriß der Orgel ist. Ein Vorsprung in der Mitte trägt die Orgelbank und bietet Raum für einen Solisten. Der schwarz gestrichene Stahlträger ist als solcher zu erkennen, der Beton bleibt nackt, auch in Form von zwei flankierenden Wänden, die nicht nur tragende Funktion haben, sondern auch die Treppen verbergen. „Ich will bewußt zeigen, was neu ist“, sagt Krebs. Die Kirche ist ja eigentlich ein Bauwerk der 50er Jahre. Die Wiederherstellung war 1956 abgeschlossen. Es gab zwar wieder gotische Fenster, aber keine Emporen mehr. Nur der Chor war erhalten geblieben. Er ist heute das einzige original historische Bauwerk der Altstadt.

 

Dieser Bau ist ein herrliches Werk spätgotischer Baukunst. Von dem ursprünglichen Bau stammt nur noch der untere Teil des Turmes bis zur Höhe des Chordachansatzes. Das sauber geschichtete Basaltbruchstein-Mauerwerk durchbrechen schlanke, gekuppelte Fenster aus Sandstein; unter dem spitzbogigen Schluß sind steile Kleeblattbögen.

Mit Blick von Süden auf die Marienkirche erkennt man den Kontrast zwischen Kirchenschiff und spätgotischem Chorbau. Die äußeren Strebepfeiler des Chores aus Sandsteinquadern tragen konkave Pultdächer. An dem nordöstlichen Eckstrebepfeiler des Chores ist auf den Sandsteinquadern eine von zwei Engeln gehaltene gotische Monstranz in Relief ausgehauen. Der übernächste Pfeiler nach Süden zeigt eine hockende vogelartige Figur, ein leeres Spruchband haltend. Von Westen her ist die Giebelfront mit den kleinen rechteckigen Fensteröffnungen zu sehen.

 

An der Marienkirche ist eine Erinnerungstafel für Friedrich Grimm: Die Familie Grimm zog 1791 nach Steinau an der Straße, als Vater Grimm dorthin als Amtmann versetzt wurde. Da waren die Grimm-Buben 5 bzw. 6 Jahre alt. Ihre Vorfahren waren aber schon u. a. als Gastwirte im frühen 17. Jahrhundert in Hanau ansässig. Ein bedeutender Ahn war Pfarrer Friedrich Grimm, der Urgroßvater von Jacob und Wilhelm. Über sein Leben informiert eine Erinnerungstafel an der Marienkirche. Er wurde 1698 als dritter Pfarrer an die Marienkirche berufen, 1701 zweiter und 1706 erster Pfarrer und 42 Jahre Inspektor der reformierten Kirchen der Grafschaft Hanau-Münzenberg (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 133).

 

Wieder zurück auf dem Altmarkt geht man nach Süden in die Marktstraße bis zur Großen Dechaneistraße, die man ein Stück nach links geht. Am Haus Nummer 24 findet sich eine Spolie aus dem 16. Jahrhundert „Mann mit Bart“ Sie bildete einst den Schlussstein einer Toreinfahrt der Brauerei „Zum neuen Rappen“, die hier ihren Sitz hatte (heute „Frau Trude“) (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 63).

Das Haus Nr. 25 an der Südseite heißt das „Geibelhaus“, weil dieses Haus mit seinem Erker das Stammhaus des Dichters Emanuel Geibel gewesen ist. Es gehörte dem Großvater des Dichters, dem Ratsdiener Johannes Friedrich Geibel. Johann Geibel, der Vater Emanuels, wurde 1776 in diesem Haus geboren.

Im westlichen Teil der großen Dechanaigasse sieht man noch ein Stück der ehemaligen Stadtmauer, wo auch der Graben der Altstadtbefestigung sich hinzog. Auch östlich der Marktstraße kurz vor dem Freiheitsplatz ist noch ein Stück der Stadtmauer zu sehen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 Neustadt

 

Neben den kleinen Häuschen und Bauten der Altstadt nahmen die Häuser der Neustadt sich merkwürdig weit und prächtig aus. Man kann sich vorstellen, wie fremd den Bewohnern der Altstadt diese neue Stadt vorkam. Zwei Welten standen sich gegenüber.

Die Neustadt ist ein leicht unregelmäßiges Fünfeck mit quadratischer Blockbebauung und dem Marktplatz als zentraler Fläche. Die Hauptachse bildet die heutige Nürnberger Straße. Die Querachse wird durch einen zweiten quadratischen Platz geprägt, auf dem der Doppelrundbau der Wallonisch-Niederländischen Kirche steht. Die durchdachte Anlage wurde in der kostengünstigen „altniederländischen“ Art errichtet, die sich durch mächtige Erdwälle und breite Wassergräben auszeichnet. An der Außenseite war eine Stützmauer mit der Höhe von einer Rute (3,5 Meter). Die Basaltsteine kamen aus den Steinbrüchen in Wilhelmsbad. Diese Mauer trennte den Wassergraben von einem flachen, begehbaren Niederwall. An diesen schloß sich der eigentliche höhere Wall an, der mit Grassoden gefestigt und mit Dorngestrüpp bepflanzt oder mit einer Brustwehr ausgerüstet sein sollte. Erst im Dreißigjährigen Krieg wurde die Anlage durch Hornwerk im Bereich der Tore verstärkt.

In den Jahren 1807/ 1807 wurde die Wallanlage auf Befehl Napoleons zurückgebaut und man verfüllte den Wassergraben mit dem Erdreich des Walls. Das Bett des Grabens wurde schmaler gemacht und später teilweise mit Mauern gefaßt. Erst in den sechziger Jahren verschwand auch dieses Überbleibsel der Befestigungsanlage, ein letzter Rest war vor der Reichsbank in der Nußallee (Höhe Bleichstraße).

Spektakulär sind die Mauerfunde, die im Frühjahr 2007 auf dem Gelände des Klinikums zwischen den Bauten HA und HC am Mühltorweg gemacht wurden. Gefunden wurde ein 15 Meter langes Mauerteilstück auf einer 20 Zentimeter starken Holzkonstruktion aus Erlenholz. Die Maser war aus Basalt errichtet mit unterschiedlich großen Mörtelpackungen. Die Mauer war 2,20 Meter hoch erhalten und unten 1,60 Meter dick und oben 1,20 Meter.

Beim Bau des Kinocenters in der Straße Am Steinheimer Tor fand man eine Bruchsteinmauer aus Basalt und Sandstein in einer Höhe von 4,30 Meter und einer Breite von mindestens 1,10 Meter.

Im Februar 2009 konnte auf dem ehemaligen Schlachthofgelände (neben Kinocenter) die zweite Ausbauphase der Wallanlage nach 1806 / 1807 erfaßt werden.

Im April 2010 konnte im Bereich des Kanaltorplatzes ein etwa 12 Meter langer Mauerverlauf bis in drei Meter Tiefe dokumentiert werden. Auch an der Ecke Nußalleee / Bleichstraße konnte ein Teil der Stadtmauer dokumentiert werden. Der ersten Bauphase konnten zugeordnet werden: Klinikum, Kinocenter, Bleichstraße. Der zweiten Bauphase 1806 /1807 gehören an: Klinikum, Schlachthof und Kanaltorplatz (Hessenarchäologie 2017, Seite 220 - 223) (Die Ausgrabung an der Bleichstraße ist auf den Seiten 224 - 226 dokumentiert).

 

Baugeschichte

Das 16. Jahrhundert brachte noch in seinen letzten Jahren ein für die kleine Stadt Hanau völlig unvorhergesehenes Ereignis. Religionsflüchtlinge aus den Niederlanden, die in Frankfurt Unterschlupf gefunden und dort eine eigene kirchliche Gemeinde gegründet hatten, wandten sich, an den Grafen Philipp Ludwig II. von Hanau und an seine Vormünder wegen einer Übersiedlung nach Hanau. Sie hatten mit den weltlichen und geistlichen Behörden der freien Reichsstadt Zwistigkeiten bekommen.

In einem Schreiben vom 27. Januar 1597 verpflichteten sich 58 Gemeindemitglieder in einer neu zu erbauenden Stadt je ein bis vier Häuser zu errichten. Ein genauer Plan sollte dem Grafen vorgelegt werden. Dieser wollte den Bau der Befestigungen und Tore und die Anlage eines Kanals übernehmen. Am 1. Juni 1597 unterschrieben die vertriebenen Niederländer und Wallonen die „Kapitulation“, eine in Kapiteln geordnete Urkunde. Dazu gehört noch der „Transfix“ vom 1. August 1601. Die Neubürger verpflichteten sich zum Bau einer neuen Stadt auf dem Garten- und Ackergelände südlich der Altstadt, das durchschnitten war von den vom Neutor ausgehenden Wegen nach dem Kinzdorf, nach Auheim und nach der Lehmkaute. Ab 1601 war Neu-Hanau schließlich eine Stadt mit eigener Selbstverwaltung neben der Altstadt geworden. Sie behielt ihre Eigenständigkeit bis ins 19. Jahrhundert, dann wurden Alt- und Neustadt im Zuge der kurhessischen Verwaltungsreform zusammengelegt (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 13, Abbildung der Urkunde).
 

 

Der Grundrißplan für die gesamte neue Stadt stammte von Nicolaus Gillet. Die Neustadt Hanau ist das typische Beispiel einer auf dem Reißbrett entworfenen Stadt der Renaissance. Überall in Deutschland entstanden bis zum Dreißigjährigen Krieg durch die wegen ihres Glaubens vertriebenen Flüchtlinge solche Städte. Pfalzburg, Hanau, Freudenstadt, Mannheim, Lixheim, Mühlheim am Rhein und Glückstadt waren durch bastionierte Umwallungen befestigt. Der Grundriß all dieser Städte bildet eine regelmäßige Figur oder einen Teil davon. Das Straßennetz ist überall regelmäßig angelegt. Harmonische Zahlenverhältnisse in den Abmessungen der ganzen Anlagen oder einzelner Baublöcke spielen eine große Rolle (Mannheim, Hanau). Die Städte liegen durchweg in der Ebene, wo die Entwicklung des Straßengrundrisses auf keine Hindernisse stößt.

Ein Blick auf einen Stadtplan von Hanau zeigt die Anlage der Neustadt Hanau: Plan der Stadt Hanau 1775 von Johann Jakob Müller: Die Befestigungen zwischen Alt- und Neustadt sind gefallen. An ihre Stelle ist der große Paradeplatz mit Kollegienhaus und Theater getreten (Hanau Stadt und Land, Seite 139).

Vor der kleinen Residenzstadt Alt-Hanau muß ein ungeheurer Baubetrieb eingesetzt haben. Von überall her waren die Bauarbeiter zusammengeströmt, die in notdürftigen Unterkünften hausten. In wenigen Jahren war auf einem freien Felde eine Stadt entstanden. Eine Stadt, die in nichts der Nachbarschaft ähnelte, die in ihrem Grundplan und in ihren Bauten eine völlig neue Zeit repräsentierte.

Die Wohnbauten waren Reihenhäuser vom gleichen Typ. Je nach den Vermögensverhältnissen waren sie mehr oder weniger patrizierhaft ausgestattet mit Zwerchhäusern und Prunkportalen, mit großen Eingangsdielen und breiten Treppenhäusern. Die meisten Häuser der neuen Stadt waren bis zum Jahre 1606 fertig. Sie waren meist zweigeschossig. In den Straßen in der Nähe der Festungswälle durften die Häuser wegen der Gefahr der Beschießung nur ein Stockwerk hoch sein. Einzig um den Marktplatz standen elf Häuser, die dreigeschossig erbaut waren.

 

 

Freiheitsplatz:

Der große Freiheitsplatz trennt weiterhin Alt- und Neustadt. Die Schleifung der Festungsanlagen zwischen Alt- und Neu-Hanau brachte die Voraussetzung für diesen Platz und für die Bauten an seinem Rande. Die neuen Bauten in der Stadt schlossen sich in ihrer strengen Auffassung an die vorher entstandenen Schloß- und Profanbauten in Hanau an. Auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verhielt sich Hanau gegen das süddeutsche Rokoko abwehrend und blieb bei einem strengen und sachlichen Stil. Der Baumeister des Erbprinzen war Franz Ludwig von Cancrin. Er kam 1764 an die Rentkammer in Hanau, wurde dort Assessor, dann Professor der Mathematik am Gymnasium und schließlich auch Leiter des Bauwesens in der Grafschaft.

 

 

 

Bronzeplan von Hanau:

An der historischen Nahtstelle zwischen Alt- und Neustadt, wo die Marktstraße auf den Freiheitsplatz trifft, wurde 2019 ein Bronzeplan von Hanau aufgestellt, an einem auch für Stadtführungen geeigneten Platz. Im Rahmen der Maßnahmen „Kunst und Kultur im öffentlichen Raum“ wurden die Bildhauer Egbert und Felix Broerken aus Welver (Westfalen) beauftragt ein bronzenes Blindentastmodell für Hanau zu schaffen. Als Vorlage diente die Hanauer Vogelschau von August Rumpf und Christoph Metzger aus dem 17. Jahrhundert (Martin Hoppe, Objekt der Woche, #72).

 

Stadttheater („Komödienhaus“):

Wilhelm, Erbprinz von Hessen und Graf von Hanau, der von seiner Mutter, der Landgräfin Marie, die Liebe zur Kunst und besonders zum Theater geerbt hatte, schreibt im Januar 1768 in seinen „Memoires de ma vie“: „Bau des Theaters zwischen Alt- und Neustadt nach Huths Entwürfen als Comédie francaise. Viele Maskeraden und Amüsements in diesem Winter durch Carl angeregt...“

Hier erfahren wir zum ersten Mal von der Absicht, in Hanau ein Komödienhaus zu bauen. Die Ausführung der Pläne des Generals Huth lag in den Händen des im Baugewerbe sehr erfahrenen Münz- und Salzwerkdirektors Franz Ludwig von Cancrin, der sehr viel Verständnis für die Ideen seines Auftraggebers hatte. In Hanau gab es zu dieser Zeit keinen Saal, in dem man größere Feste oder Bälle hätte veranstalten können. Deshalb schuf Cancrin 1768 in dem Theater die Möglichkeit, den Zuschauerraum mit der Bühne auf gleiche Höhe zu bringen, und schenkte so der Stadt Hanau den ersten großen Saal.

Am 17. Oktober 1768 wurde das „Comoedienhaus“ (nördlich der Esplanade“, heute Teil des Freiheitsplatzes) eingeweiht. Einen festlichen Auftakt erlebte dies mit zwei Rängen versehene Theater durch den Besuch des Königs Christian VII. von Dänemark, des Schwagers des Erbprinzen, am 22. Dezember 1768.

Das Theater war ein schlichter Bau in guten Proportionen am anderen Ende des Platzes, das halbrunde Bühnenhaus lag am großen Platz. Die Fürstenloge im Inneren des Theaters war reich geschmückt. Diese Einrichtung blieb 100 Jahre erhalten und wurde erst beseitigt, nachdem das Theater in den Besitz der Stadt übergegangen war.

Über die kurze Bauzeit berichtete ein unter dem Dach des Gebäudes angebrachter Stein, der die Aufschrift „VOM XI. APRIL BIS DEN XXIII. JUNI MDCCLXVIII IST DIESES MAUERWERK AUFGEFÜHRT WORDEN“ trug. Unter diesem Stein fand man bei dem Abtragen der Gebäuderuine im Mai 1954 eine Kupferplatte und eine Blechbüchse. Die Inschrift auf der Platte war lateinisch und lautet, ins Deutsche übertragen: „WILHELM, Landgraf von Hessen, Erbprinz, Graf von Hanau, der fromme glückliche erhabene Fürst hat durch eine hochherzige Spende ein Theater für die zu veranstaltenden öffentlichen Spiele und szenischen Aufführungen dessen Gründung im Anfang des Jahres 1768 und dessen Vollendung im Ausgang des Sommers geschah für den gesamten Chor der Musen und Tugenden geweiht.“

In der Bleibüchse fand man ein größeres und ein kleineres Päckchen von graugrünem Löschpapier, von denen das größere sechs verschieden große silberne und eine kupferne Münze und das kleinere eine Goldmünze enthielt. Alle diese Münzen waren in der Hanauer Münze neben dem Frankfurter Tor geprägt worden.

Von der ersten Aufführung im neuen Komödienhaus erfahren wir in den Memoiren des Erbprinzen, der hier am 17. Oktober 1768 schreibt: „Während meiner Abwesenheit Eröffnung der Comédie francaise im neuen Theater, spielt den ganzen Winter. Direktor Kyraski. Marie hat viel Plaisier, ebenso der Adel, der gratis hingehen darf.“ In der in Hanau erscheinenden „Europäischen Zeitung“ aus dem Jahr 1768 ist über diese Aufführung nichts zu erfahren. Erst in der Ausgabe vom 26. Dezember 1768 wird hier im Zusammenhang mit dem Besuch des dänischen Königs über zwei Aufführungen am 22. und 23. Dezember 1768 berichtet:

„Des Abends (22.) gefiel es dem Monarchen, sich in Gesellschaft unserer gnädigsten Herrschaft in das Comödien-Hauß zu begeben und das auf Höchstdero Befehl aufgeführte Französische Lustspiel ‚La Partie de, Chasse de Henri IV.‘ nebst der Opera Comique ‚Rose et Colas’ aufführen zu sehen; worüber Ihro Majestät Dero gnädigste Zufriedenheit bezeigten.“ - „Gegen 6 Uhr des Abends (23.) erhuben sich Ihro Majestät abermal in die Comödie, wo auf gnädigstes Verlangen die ‚Zaire’ und zum Nachspiel die Comische Oper ‚Le Tonnelier’ vorgestellet wurde. Nach geendigtem Schauspiel und eingenommener Abendmahlzeit nahm der masquierte Bal in dem zu dem Ende herrlich erleuchteten hiesigen Comödien-Hause seinen Anfang und wurde bis 6 Uhr des Morgens fortgesetzt. Ihro Majestät wohnten demselben nebst unseren gnädigsten Herrschaften bis gegen 3 Uhr bey . . .“ Bei diesem Ball ist die Hebevorrichtung des Theaters zum ersten Mal verwendet worden.

Das damalige Theaterrepertoire war vorwiegend französisch; auch die Bernardische Truppe, die 1770 die von Kyraski ablöste, spielte fast ausschließlich französische Werke. Erst nach dem Tode der Landgräfin Marie im Januar 1772 kamen auch deutsche Stücke zur Aufführung.

Im Frühjahr 1777 war Adolf Freiherr von Knigge, aus Kassel kommend, in Hanau eingetroffen. Hier versuchte der Schriftsteller vergeblich in Hofdienste zu treten, so wie er ab 1771 in Kassel Hofjunker und Assessor gewesen war. Sein bekanntestes Werk „Über den Umgang mit Menschen“ wie sein „Roman meines Lebens“ sind teilweise in Hanau geschrieben worden. Im Jahre 1777 wurde unter der Leitung des Freiherrn Adolf von Knigge, der damals als „maitre de plaisier“ am Hofe angestellt war, eine Truppe zusammengestellt. Knigge brachte es dann fertig, daß nicht nur im Hanauer Komödienhaus weiterhin regelmäßig Theater gespielt, sondern auch im Residenzschloß ein Theatersaal eingerichtet wurde, auf dessen Bühne am 28. November 1778 die erste Vorstellung stattfand.

Nach dem Tode des Landgrafen Friedrich II. zog Erbprinz Wilhelm nach Kassel, und damit ging auch die Blütezeit des Hanauer Theaters zu Ende. Nur wenig wissen wir über das Leben und Treiben im Komödienhaus in der Zeit zwischen 1785 und 1877.

Im Jahre 1794 mußten vorübergehend 200 verwundete und kranke Franzosen darin untergebracht werden, da es noch immer keinen geeigneteren großen Saal in der Stadt gab. Nach der Schlacht bei Hanau im Jahre 1813 diente das Theater nochmals als Lazarett. Im Jahre 1817 wurde eine größere Wiederherstellungsarbeit am Gebäude nötig, wobei der südliche Teil wegen schlechter Fundamente abgebrochen werden mußte, dann aber wieder in der alten Form aufgebaut wurde.

Im Jahr 1866 schließlich sollte das Theater für die Zeichenakademie erworben und umgebaut werden.

Doch gelang es nach langen Kämpfen im Jahre 1872, es der Stadt als Theater zuzusprechen. Das bedeutete, daß die Stadt es nun an einen Direktor verpachten konnte. Als erster Theaterdirektor wurde der Hanauer Commissionsrat Daniel Frey, der damals in Berlin lebte, verpflichtet. In der Folgezeit übergab die Stadt die Leitung des Stadttheaters an Direktoren (später Intendanten), von denen einzelne einen vorzüglichen Ruf in der Theaterwelt genossen. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts spielten nur Wandertruppen im Hanauer Theater, die meistens für ein oder zwei Jahre hierblieben. Im Wilhelmsbad errichtete der gleiche Architekt, Franz Ludwig von Cancrin, ein Scheunentheater, das heutige Comoedienhaus. Auf der Innenstadtbühne wurden kleine und große Dramen, Operetten und Schauspiele mit eigenem Ensemble gegeben.

Und dann kam das Ende. Im August 1944 wurden alle Theater geschlossen, auch das Hanauer. Der für die Spielzeit 1944/1945 neu verpflichtete Intendant Gerhard Zimmermann konnte nur noch die Auflösungsarbeiten leiten. Und zuletzt trafen die Bomben das Gebäude am 6. Januar 1945. Die Ruine stand noch bis in den Mai 1954. Aus dem Wiederaufbau wurde nichts mehr; die Trüm­mer wurden beseitigt.

Die kleine Anlage am Stadttheater hieß „Erbprinz-Wilhelm-Anlage“.

Heute steht dort das Ypsilon-Haus.

 

Dank der Stiftung der Sparkasse konnte die Stadt Hanau eine bemerkenswerte Sammlung an Theaterzetteln aus dem beginnenden 20. Jahrhundert erwerben, die nun im Stadtarchiv aufbewahrt wird. Darunter findet sich auch der Hinweis auf die Märchenaufführung „Sneewittchen und die 7 Zwerge“. Die Urfassung der Grimmschen Kinder- und Hausmärchensammlung sprach in der Tat von „Sneewittchen“, nicht Schneewittchen.

Das Märchenspiel am Sonntag, 12. März 1905, dauerte von ½ 4 = 15:30 Uhr ganze zwei (!) Stunden. Keine Ahnung, wie dies die kleinen Besucherinnen und Besucher so lange ausgehalten haben. Die 8 Bilder zählende Aufführung wurde von 10 Schauspielerinnen und Schauspielern auf die Bühne gebracht. Der teuerste Platz in der Loge (halber Preis) kostete 1,80 Mark, in der Galerie zahlte man 0,25 Pfennige. Im Stadtarchiv Hanau befindet sich ein Eintrag in das Freundschaftsbuch der weltweit renommierte Opern- und Konzertsängerin Christa Ludwig, die von 1940 bis 1943 am Stadttheater in Hanau tätig waren. (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 117 und 56).
Bild in. Hanau Stadt und Land, Seite 442: Das Theatergebäude in Hanau, nach dem Umbau von 1904.

 

„Sissis Großmutter“:

Unweit des Stadttheaters am Paradeplatz 17 wurde am 26. Dezember 1874 Clara Rosa Franziska Helene Retty geboren. Sie war verheiratet mit Dr. Karl Albach (1870-1952), Rechtsanwalt und k.u.k.-Artillerie-Oberleutnant. Ihr Vater war der Schauspieler, Bariton und Regisseur Rudolph Retty (1845-1913), wiederum Sohn des Lehrers und Schauspielers Adolph Retty (1821-1885). Rettys hatten wie damals üblich Auftritte an mehreren Theatern und tingelten übers Land. So hatten sie auch Gastspiele am Hanauer Stadttheater. Rosas Geburt in Hanau war damit eher zufällig. Rosa Albach-Retty („Roserl“) war die Großmutter von Romy Schneider. Diese startete ihre Weltkarriere mit der Sissi-Trilogie (mit zwei s), in der ihre Mutter Magda Schneider (1909-1996) die Herzogin in Bayern Ludovika spielte. Im richtigen Leben war Magda Schneider seit 1937 mit dem UFA-Star Wolf Albach-Retty (1906-1967) verheiratet, der wiederum Sohn von Rosa Albach-Retty war. Im Stadtarchiv ist eine Abbildung von Rosa Albach-Retty als „Käthie“ in „Alt-Heidelberg“, Wien 1903, Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 146).

 

Die Hohe Landesschule:

Universitäten und Schulen sind von jeher geistige Mittelpunkte im Leben einer Stadt gewesen. Seit dem 14. Jahrhundert gibt es in Deutschland Universitäten. Nach der Reformation bemühten sich die protestantischen Landesfürsten, durch die Errichtung von neuen Landesuniversitäten dem wissenschaftlichen und kulturellen Leben neuen Auftrieb zu geben. Im heutigen Hessen war es neben der Universität Marburg im 16. Jahrhundert besonders die Hohe Schule in Herborn, die Studenten aus allen reformierten Ländern anzog.

Unter den Schülern der Herborner Schule war auch der junge Graf Philipp Ludwig II. Nach dem Vorbild von Herborn wollte er in Hanau eine Schule errichten. Schon im Frühjahr 1612 hatte man mit den Bauarbeiten am Gymnasium, das eine großangelegte Bildungsstätte werden sollte, begonnen. Als Bauplatz war der Baugrund über dem ehemaligen Stadtgraben vor der Stadtmauer am Ende der Judengasse bestimmt worden, an der heute aber nicht mehr bestehenden Schirn­straße.

Jede kleine Herrschaft versuchte, eine „Hohe Landesschule“ einzurichten, die fast so etwas wie eine Universität sein sollte. Eine repräsentative Schule gehörte zum Staatswesen wie Schloß, Theater oder die zentrale Kirche. Um die Hohe Landesschule zu unterhalten, wurde aber von den Gemeinden der Grafschaft eine Umlage erhoben. Die Gemeinden mußten dann sehen, wie sie das Geld aufbrachten. Die Gemeinden erhoben dann ihrerseits Umlagen. Geldquellen waren der Weinschank und kirchliche Amtshandlungen, besonders bei Sonderwünschen. Die Abgaben dienten auch dazu, die Schule im Bewußtsein der Bürger zu verankern und ihren Stolz auf die Schule zu wecken.

Doch Graf Philipp Ludwig II. starb im Jahre 1612, wenige Wochen nach der Grundsteinlegung zu einem neuen Schulgebäude. Der frühe Tod des kunstsinnigen und humanistisch denkenden Grafen Philipp Ludwig II., des „Gründers der Neustadt“, unterbrach den kaum begonnenen Bau. Das Kellergeschoß und das Sockelgesims des Unterbaues waren allein fertig geworden. Der Sockel des Gymnasiums zeigte schwere Rustikagliederung.

Der Dreißigjährige Krieg verhinderte einen Ausbau der Schule; bei der Einweihung der „neuen Akademie“ im Jahre 1623 bestand der Lehrkörper aus vier „Professoren“. Erst unter Friedrich Kasimir von Hanau-Lichtenberg fand der Schulbau endlich seine Vollendung. Am 28. August 1663 wurde der Baumeister Rumpf mit der Herstellung eines Risses beauftragt. Quader- und Mauersteine, „120 Riegen bretter und 95 böden allerley Gattung Holz“ kamen den Main herunter.

Das Gymnasium war ein dreigeschossiger, hoher Bruchsteinbau. Der Eindruck des gewaltigen Gebäudes war bestimmt durch die harmonischen Proportionen, die klare Gliederung und die großen Fenster. Das steile Schieferdach mit einem Dachreiter und einer volutenverzierten Gaube nach Süden gab dem Steinbau einen architektonischen Akzent.

Den künstlerischen Hauptschmuck des Baues bildete das an der Hofseite gelegene Sandsteinportal. Das in seinem strengen Aufbau altertümlich wirkende Renaissanceportal (Bild in: Hanau Stadt und Land, Seite 438) schuf der Steinmetzmeister Caspar Klunzig, der seinen Namen am Hauptgesims uns überliefert hat. Neben den Wappen in der Portal-Bekrönung unter dem Sprenggiebel steht die Jahreszahl 1665. Auch an diesem Portal finden wir die für die Neustadthäuser so charakteristischen Obelisken. Die Ornamentik um die Schrifttafel und die Wappenbekrönung zeigt Rollwerk, geht aber schon zum Ohrmuschelstil über. Besonders die Fratze als Schlußstein über dem Eingang ist typisch für die Zeit um 1660.

Schulen gibt es zunächst nur in den Städten. Nach dem Dreißigjährigen Krieg wird die „neue Schul“ in Hanau, die Hohe Landesschule gegründet und wird von den Dörfern unterstützt. Hochstadt muß jährlich vier Gulden geben. Beim Weinschank wurde eine Abgabe von dem außer Landes verkauften Wein erhoben, um die Beiträge für die Hohe Landesschule aufzubringen

In der Kirchenrechnung Hochstadt von 1612 erscheint unter „Ständige Ausgaben“: Hohe Landesschule Hanau ein Gulden. Hochzeitleute müssen generell einen Betrag an die Hohe Landesschule zahlen. Der Schulmeister muß am Hochzeitstisch das Geld einsammeln. Die Haustaufen müssen extra bezahlt werden. Außerdem muß auch noch etwas für die Hohe Landesschule gegeben werden. Im Jahre 1803 werden einige Gemeinden von den Zahlungen an die Hohe Landesschule entlastet, aber Hochstadt muß noch zwei Gulden zahlen. Die Zahlungen werden 1820 eingestellt, aber 1822 bekommt die „Hola“ wieder vier Gulden.

Der Herborner Professor Ganterswiler erhielt 1664 seine Bestallung als Professor der Theologie und Philosophie. Zeitweise waren nun an der Schule alle vier Fakultäten mit Professoren besetzt. Heidelberg und Marburg sollten mit ihren Statuten als Vorbild zur Errichtung einer Universität dienen. Doch der Plan des Grafen Friedrich Kasimir, beim Kaiser ein Universitätsprivilegium zu erwirken, scheiterte durch allerlei Intrigen. Das Gebäude war im Jahre 1664 fertig. Die Inauguration der „Hohen Landesschule“, wie die Anstalt nunmehr genannt wurde, fand am 21. Februar 1665 statt.

Die Versuche, in Hanau eine Hochschule oder gar eine Universität zu errichten, gehen neben der Tradition der gräflichen Lateinschule her, die seit dem Jahre 1538 bestand und deren Geschichte man in ununterbrochener Linie bis zur heutigen staatlichen „Hohen Landesschule“ verfolgen kann. Beide geschichtliche Überlieferungen vereinen sich in dem Begriff „Hohe Landesschule“. Seit dem Jahre 1671 waren an der „Hohen Schule“ die Einkünfte der Professoren von denen der Lehrer an der „Trivialschule“ getrennt. Beide Teile der Schule, das „obere Gymnasium“ und das „Pädagogium“ bestanden von nun an nebeneinander bis zum Jahre 1812.

Das Gebäude war schon 1912 durch einen Brand beschädigt worden. Das Dach brannte ab und wurde durch ein Notdach ersetzt. Die schweren Mauern des Gymnasiums überstanden auch gut den Zweiten Weltkrieg. Das Innere war allerdings ausgebrannt, das Portal blieb unbeschädigt erhalten. Erst im Jahre 1954 zerstörte man das Gebäude, indem man die noch festen Umfassungsmauern mit großer Mühe abriß.

Ein kostbares Stück zur Hanauer Kunstgeschichte und ein wichtiges Dokument zur Geschichte der Schule aber hatte sich an der Rückwand erhalten: Es ist das kunstvolle Portal mit den flankierenden Säulen und Obelisken, mit den beiden Wappen und der Inschrift, die von der Existenz der alten Schule kündet. Es wurde vor der Beseitigung der Ruine ausgebrochen und wurde an der neuen Schule am Alten Rückinger Weg eingebaut (Bild in: Hanau Stadt und Land, Seite 147 und 438). (Gerhard Bott in: Hanau Stadt und Land, herausgegeben vom Hanauer Geschichtsverein 1954, Seite 437-438, und Chronik Heckert: Aus dem Leben der alten Hochstädter).

 

Die Hohe Landesschule ist Versammlungsort bei der sogenannten „Hanauer Union“, der Vereinigung der reformierten und lutherischen Kirchengemeinden im Hanauer Gebiet. Am 28. Mai 1818 zieht die Versammlung vom reformierten Konsistorium neben dem Neustädter Rathaus zur Aula der Hohen Landesschule, wo die Vertreter der beiden Konsistorien schon anwesend sind. Die Kirchliche Vereinigung wird beschlossen. Freudentränen fließen bei den Pfarrern der nun vereinigten Kirchen. Am 1. Juni wird die Synode geschlossen. Der Landesfürst bestätigt die Vereinigung am 4. Juli 1818.

Ein Schüler der Hola ist auch Horst Bingel: Sein Vater lehrt später an der Brüder-Grimm-Schule und zieht dann ganz nach Hanau. Horst Bingel besucht die Hohe Landesschule in Hanau bis zur mittleren Reife. Danach macht er eine Lehre im Verlagsbuchhandel. An der Zeichenakademie studiert er zwei Jahre Malerei und Bildhauerei. Nebenbei schreibt er Gedichte. Es erscheint „Der kleine Napoleon“. Gleich nach der Schule wird Horst Bingel Schriftsteller. Sein Äußeres macht ihn im Dorf zum Außenseiter: Die Haare gehen „bis zum Hintern“, wie er selber bei einem späteren Besuch in Hochstadt sagt. Auf dem Fahrrad oder zu Fuß ist er immer in Schlappen unterwegs. Auch am späten Nachmittag kann man ihn noch im Morgenrock über die Straße gehen sehen.

 

Synagoge:

Vom Freiheitsplatz geht man hier ein Stück in die Nordstraße, die bis 1898 „Judengasse“ hieß.

Bereits im Mittelalter bestand eine kleine jüdische Gemeinde. Eine Synagoge, beziehungsweise ein Betraum, war bereits vorhanden, die Synagoge wurde von Ulrich II. von Hanau 1362 als Burglehen verliehen. Im Jahre 1608 konnte eine neue Synagoge erbaut werden. Im Jahr 1845 erstellte man am Platz der alten einen Neubau, die Einweihung der Synagoge war im Herbst 1845. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg plante die Gemeinde einen Neubau auf dem Grundstück des Gymnasiums der Stadt. Der Krieg zerschlug die Pläne, die bestehende Synagoge wurde 1922 umgebaut und erweitert. Sie stand in der Nordstraße (die an der Nordostseite des Freiheitsplatzes beginnt) in der Kurve, wo jetzt eine Autoreparaturwerkstatt ist. Bereits vor dem Novemberpogrom 1938 kam es zu Anschlägen. Im Mai 1938 wurden die Syna­gogen­eingänge zugemauert. Am 9. November 1938 wurde das Haus geschändet und niedergebrannt.

Nach 1945 wurde das Grundstück neu überbaut, eine Gedenkstätte mit Gedenkstein wurde 1964 gegenüber dem Synagogenstandort eingeweiht und 2003 neu angelegt. Zwischen den Hecken einer kleinen Grünanlage befindet sich der Gedenkstein für die alte Hanauer Synagoge, die sich von 1605 bis 1608 an dieser ­Stelle befand. Er befindet sich vor den Mauerresten des Hexen-/ Diebsturms als Teil der mittelalterlichen Befestigung der Altstadt. Die Bronzetafel mahnt mit dem Bibelspruch „Rachel weint um ihre Kinder und will sich nicht trösten lassen“ (Jeremia 31,15). Im Jahre 2006 wurden zwei Text- und Bildtafeln hinzugefügt sowie 2018 zum 80. Jahrestag ein Mandelbäumchen gepflanzt.

Ein prägendes Sgrafitto befindet sich seit den fünfziger Jahren an der Wand des Wohngebäudes Nordstraße 9. Über dem Mauerstumpf der Stadtmauer aus dem 14. Jahrhundert, an der ab 1605 das Hanauer Ghetto durch sogenannte „Judenstättigkeit“ unter Graf Philipp Ludwig II. angelegt wurde, gestalteten die Hanauer Künstler Alexander Harder-Khasán (1901-1985) und August Peukert (1912-1986) eine Erinnerung an Simplizius Simplizissimus. Jakob Christoffel von Grimmelshausen, der bedeutende Barockdichter (1622 – 1676, hat zahlreiche Ereignisse aus dem 30-jährigen Krieg in seinem Hauptwerk „Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch“ (1669) verarbeitet. So auch seinen Aufenthalt in Hanau um 1635 unter Stadtkommandant Ramsay und Belagerer Lamboy. Aus Anlass des 400-jährigen Geburtstages von Grimmelshausen hat die Hanauerin Barbara Mewes-Trageser eine Friedenslinde für den Schlossgarten gespendet und ein Gedicht dazu vorgelegt (abgedruckt bei Martin Hoppe, Objekt der Woche, #115).

Zu den Gedenkstätten gehört auch ein Stück der Gettomaue, an der man vorbeigehen kann an dem Weg nördlich der Polizeidirektion. Hier erinnern seit 2010 individuelle Bronzetäfelchen

an die in Hanau geborenen bzw. wohnenden, zwischen 1933 bis 1945 verfolgten und ermordeten über 240 Jüdinnen und Juden (Martin Hoppe, Objekt der Woche, #84)

 

Kollegienbau / Kaserne / Finanzamt:

Der erste Bau, den Wilhelm 1768 am Paradeplatz errichtete, war der „Collegien­bau“, das Amtsgebäude für die gesamte Verwaltung der Grafschaft. Der monumentale Bau, der die Ostseite des Platzes einnahm, wurde 1858 zur Infanteriekaserne umgebaut bzw. der Collegienbau in die Kaserne eingebaut. Im Jahre 1945 wurde die Kaserne zum Behördenhaus mit dem Finanzamt und anderen behördlichen Stellen. Im Jahre 1954 konnte man die Ausdehnung des Kollegienbaus noch genau in dem Baugefüge der Kaserne erkennen: Ein Mittelrisalit von drei Achsen war vor die Fassade gezogen, eine geschwungene Freitreppe lag vor diesem Mittelteil. Die „neugotischen“ Formen wurden beim Wiederaufbau des „Behördenhauses“ weitgehend beseitigt.

 

An der Südwestecke des Behördenhauses sind heute zwei alte Stadtansichten zu sehen. Obwohl der Plan von Johann Jacob Müller (Hanau Stadt und Land, Seite 23) aus dem Jahr 1780 stammt, sagt er viel über die heutige Stadt aus. Noch heute umfließt die Kinzig in einem weiten Bogen den Stadtkern; die Grünflächen am Fluß haben sich bis heute als Kleingärten und Felder erhalten. Mitten durch die „Milch“ wo einst die Mühlen standen, führt uns der Hessenradweg in Richtung Innenstadt. Wie man auf dem „Müllerplan“ von 1780 sieht, zerfällt Hanau in zwei Teile: Zum einen in die verwinkelte Altstadt, die von der im 12. Jahrhundert erbauten Wasserburg der Herren von Hagenowe ihren Ausgangspunkt nahm und sich entlang einer hochwasserfreien kleinen Erhebung Richtung Süden entwickelte und im Plan auf der linken Seite zu sehen ist.

Diese Altstadt war lange ein bescheidenes Provinznest. Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, daß Hanau 1303 Stadtrechte erhielt, die Grafen die Stadt 1442 zu ihrer Residenz machten und mit dem (wiederaufgebauten) ehemaligen alten Rathaus, dem heutigen Goldschmiedehaus, und der spätgotischen Marienkirche, deren kunstvolles Maßwerk und Fenster wie ein Wunder der Zerstörung entgangen sind, städtische Akzente setzten.

Der entscheidende Umschwung in der Stadtentwicklung trat 1597 ein. Der aufgeklärte junge Graf Philipp Ludwig II. entschied, daß aus den Spanischen Niederlanden vertriebene calvinistische Glaubensflüchtlinge vor den Toren der Hanauer Altstadt eine Neustadt errichten durften. Die Refugies erbauten auf einem im Schachbrettmuster angelegten Grundriß die erste „Idealstadt“ in Deutschland mit vielen repräsentativen Gebäuden, die von der wallonisch-niederländischen Doppelkirche, in der bis zum Jahr 1914 noch in französischer Sprache gepredigt wurde, überragt wurde. Den idealstädtischen Grundriß erkennt man deutlich auf dem „Müllerplan“. Viele Besucher Hanaus glauben, daß diese Struktur den Wiederaufbaubemühungen nach dem Zweiten Weltkrieg zuzuschreiben sei.

 

Wer heute in das Finanzamt Hanau will oder muss wird im Foyer von einem raumgreifenden Wandbild empfangen: „Modernes Leben“ von 1953. Die plastisch aufgeputzte farbige Arbeit wurde von keinem geringeren als Eberhard Schlotter (1921-2014) gestaltet. Rasch steig er zu einem der meistbeschäftigten Künstler im Bereich „Kunst am Bau“ auf. In Darmstadt und Umgebung realisierte er von 1951 bis 1958 rund 30 Wandbild-Projekte. So auch 1953 für das wieder aufgebaute Behördenhaus am Freiheitsplatz mit Darstellungen des modernen Lebens: Berufe und         Freizeitaktivitäten (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 94).

Vor dem Finanzamt steht eine Figur des Hanauer Märchenpfads „Daumerlings Wanderschaft“ von Wilhelm Zimmer. - Das Zeughaus auf dem Platz vor dem Kollegienbau wurde 1777 von Cancrin erbaut. Es war ein reiner Zweckbau. Das hohe Mansarddach gab ihm die charakteristische Silhouette. Es wurde 1945 zerstört.

 

Rosenstraße

Nun ein Abstecher in die Rosenstraße: Der Dichter der Freiheitskriege Friedrich Rückert war von 1812 bis 1814 Lehrer an der Hohen Landesschule und wohnte im Haus Nummer 27, genannt „Zum Rößchen“, in dem sich bis zum Jahre 1945 ein Uhrengeschäft befand.

Ein Modell von Alt-Hanau findet sich bei Matthäus Steiger in einem alten Bürgerhaus in der Rosenstraße 20 (Fiseurgeschäft). In einem kleinen Kellerraum des Friseurgeschäftes sind alte Hanauer Ansichten im Format 1: 52 wiederauferstanden. hergestellt aus Gips, Leim und Balsabrettchen. Auf dem Kirchenvorplatz der Wallonisch-niederländischen Kirche zum Beispiel ist die Übergabe des Kirchenschlüssels mit Zinnfiguren nachgestellt: Umgeben von Alt- und Neubürgern nimmt Graf Philipp Ludwig II., der die Niederlassung der Glaubensflüchtlinge in Hanau förderte, den Gebäudeschlüssel entgegen.

Sein Sohn Joachim, der inzwischen das elterliche Geschäft übernommen hat, brachte eine Figur mit nach Hause. Damit erwachte die Neugier. Die erste Form wurde gekauft, die erste Miniatur gegossen, Literatur für die geeignete Bemalung besorgt. Schon bald reifte die Idee, die Schlacht bei Hanau im Jahr 1813 nachzubauen. Auf vier Etagen sind die einzelnen Abschnitte der Rückzugsschlacht der Franzosen gegen die Bayern verteilt. Allein die Darstellung der Hauptattacke benötigt einen Raum von zwei Quadratmetern. Überhaupt ist der Steigersche Speicher dicht an dicht mit Modellen und Szenerien besiedelt. In Zinn besitzt er übrigens auch eine Reihe von historischen Persönlichkeiten aus Hanau, neben dem Neustadtgründer Philipp Ludwig und Feldmarschall Lamboy, der im Dreißigjährigen Krieg die Belagerung der Stadt leitete, sind das Ulrich Ritter als Gründer der Altstadt, der Revolutionär von 1848 August Schärttner, natürlich die Brüder Grimm und einige weitere Prominente der Vergangenheit. Die Gußformen wurden nach seinen Entwürfen von einem Graveur aus Krakau gefertigt. Fein und aufwendig bemalt von Matthäus Steiger gibt es sie inzwischen als Serie im Stadtladen zu kaufen.

Wiedererstanden ist die älteste Burganlage in der Nähe des heutigen Kongreßzentrums aus dem 13. Jahrhundert, das erste Rathaus das Goldschmiedehaus, die alte Kommandantur (dort steht jetzt die Ludwig-Geißler- Schule), Johannes- und Marienkirche, ein Patrizierhaus und die Hellerbrücke in einer Zeit, als dort noch Wachposten standen und nicht jeden in die Stadt ließen.

Daneben erhebt sich der „Goldene Löwe“ in einer Szenerie der Biedermeierzeit, schließlich die gewaltige Anlage von Schloß Wilhelmsbad. Es folgen weitere historische Darstellungen, etwa der Bau des Walls nach dem Hochwasser am Nürnberger Tor oder eine Revolutionsszene am früheren, runden Stadttheater.

Über das Zinngießen kam Matthaus Steiger vor fast drei Jahrzehnten auch zum Modellbau. Beides ist für ihn wie für andere Hobbybastler keine nostalgische Schwärmerei, sondern eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Geschichte, die akribisch betrieben wird. Sie sind also zugleich Historiker, sich mit dem Leben der Menschen in der abgebildeten Epoche, ihrer Kleidung, ihren Wohnungen, Geräten und Techniken ebenso wie Sitten und Gebräuchen auseinandersetzen. Sie müssen - oder besser: wollen - wissen, wie die Architektur zu jener Zeit aussah, in welchem geographischen Umfeld sich die Vorbilder der Metallfiguren bewegten, ja sogar, in welcher Botanik sich die Szenen abspielten.

Mit Nadel und Stichel werden die auf Schieferplatten durchgepausten Zeichnungen in Vertiefungen umgesetzt. Ein Gußkanal wird eingegraben, ferner kleine Kanäle zum Entweichen der Luft. Dann kann der Probeabdruck mit Plastilin genommen werden, um zu sehen, ob und wie die Feinheiten der Figur rüberkommen. Schließlich folgt der Guß: Der Tiegel mit der Legierung wird in einem Ofen auf 400-Grad erhitzt, die beiden Formhälften aufeinander gepreßt, das geschmolzene Metall läuft hinein, wo es nach wenigen Sekunden erstarrt. Dann werden die Formen auseinandergenommen, die Figur vorsichtig mit einer Zange gelöst. Ist sie gelungen, müssen nur noch die unvermeidlichen Grate abgefeilt werden, ehe die Figur grundiert und bemalt wird. Die Form kann nach dem Guß immer wieder verwendet werden.

 

Südseite des Freiheitsplatzes:

An der Südseite des Freiheitsplatzes liegt ein großer runder Stein mit einer Inschrifttafel. Sie weist darauf hin, daß schräg gegenüber vor dem Kino (heute Stadtmetzgerei) sich das Geburtshaus der Brüder Grimm befand. Hier wurden Jakob Grimm am 4. Januar 1785 und Wilhelm Grimm am 24. Februar 1786 geboren. Ein Holzstich „Geburtshaus der Brüder Grimm“ am Freiheitsplatz 1 aus der Zeit um 1880 befindet sich im Medienzentrum. Hanauer Bürger ließen das Haus im Jahre 1871 mit einem Bronzerelief der Brüder und einer Marmortafel mit Inschrift schmücken. Das Gebäude wurde im Zweiten Weltkrieg am 19. März 1945 wie die gesamte Innenstadt Hanaus durch einen alliierten Luftangriff zerstört. Allein das 1871 feierlich enthüllte Medaillonbildnis der Brüder konnte aus dem Schutt geborgen werden und ist heute im Schloss Philippsruhe ausgestellt (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 47).

 

Am Eingang der heutigen Fahrstraße war die Philipp-Ludwig-Anlage mit dem Röhrbrünnchen. Das Haus Nummer 7 hieß „Zur buckligen Farbe“ (heute: Reformhaus).

 

Bebauung nach dem Krieg:

Obwohl es nach dem Krieg und dem Wiederaufbau der Innenstadt auch Pläne gab, den Freiheitsplatz nach fast 200-jähriger Unterbrechung weiter zu bebauen, sah die Praxis dann doch anders aus. Man setzte, vor allem nach dem Abriß des Stadttheaters eher auf einen Randbebauung. So entstand anschließend an das inzwischen als Kaufhaus Hansa firmierende Warenhaus das Arbeitsamt, anstelle des Stadttheaters wurde zur Marktstraße an der Nordwestseite hin das BfG-Hochhaus errichtet.

Im Süden des Freiheitsplatzes entstand ein Riegel von Wohnblocks, die zumindest zwischen Fahrstraße und Hammerstraße von durchaus hoher architektonischer Qualität sind. Dabei wurde auch die Südseite des Platzes, wo sich früher die Philipp-Ludwig-Anlage befand, „begradigt“. Damit wurde aber auch die heutige Platzsituation sozusagen zementiert, die Anlage hatte sich einst zur Neustadt hin geöffnet, heute hat der Platz eher einen „Handtuchcharakter“. Wo der Erbprinz einst ein repräsentatives Zentrum seiner Residenzstadt Hanau geplant hatte, sollten fortan die Autos parken und Busse halten.

 

Karstadt-Kaufhaus

Dem automobilen Zeitgeist der frühen Bundesrepublik entsprechend, befand sich das Kaufhaus Hansa, später Hertie, heute Karstadt also genau an der richtigen Stelle an der Westseite des Platzes, nämlich dort, wo der Verkehr hinfloß.

Als das Haus als „Kaufhaus Wronker“ am 28. Mai 1929 an der Ecke Sternstraße/ Platz der Republik in einem neu errichteten Gebäude eröffnet wurde, war es zugleich ein markantes Stück Architektur, voll auf der Höhe der Zeit. Ganz in der klaren, dem rechten Winkel verpflichteten Architektursprache des Bauhauses errichtet, setzte das neue Warenhaus in der damals weitgehend in ihren ursprünglichen Strukturen und Bauformen erhaltenen Hanauer Innenstadt einen deutlichen Akzent.

Nicht anders übrigens als das nahezu gleichzeitig errichtete Haus der Konkurrenz: Der Kaufhof baute damals an der Ecke Nürnberger und Hirschstraße ein gleichfalls stark am Bauhaus-Stil orientiertes Warenhaus. Beide Gebäude überlebten den Bombenhagel des Zweiten Weltkrieges schwer beschädigt und wurden wieder neu aufgebaut. Ecke Nürnberger und Hirschstraße Der Kaufhof entschied sich in den späten 1950er Jahren jedoch für einen Neubau am Marktplatz, der „alte Kaufhof“ erfuhr in den folgenden Jahren eine unterschiedliche Nutzung, ehe er in den späten 1970er Jahren dem heutigen Parkhaus weichen mußte. Das Haus am Freiheitsplatz erfuhr indes lediglich mehrfach kosmetische Veränderungen, etwa durch eine vorgehängte Fassade. Damit waren aber beide markanten Zeugnisse der Bauhausarchitektur in der Hanauer Innenstadt verschwunden.

Als Wronker 1927 mit der Planung für sein Hanauer Warenhaus begann, stellte sich die Platz­situation am ehemaligen Paradeplatz völlig anders dar als heute. Der schlecht proportionierte Platz, einst durch die Schleifung der Befestigungsanlagen zwischen Alt- und Neustadt entstanden, war nach den Plänen des Hanauer Erbprinzen Wilhelm in den 1760er Jahren für eine Bebauung vorgesehen. Als Wilhelm jedoch 1785 nach Kassel ging, um seinem Vater als Landgraf Wilhelm IX. von Hessen in der Regierung zu folgen, schliefen diese Pläne ein.

Lediglich drei Bauwerke waren auf dem riesigen Areal verwirklicht worden: Die neue Kanzlei, später Infanteriekaserne im Osten (heute Behördenhaus mit Finanzamt), das Zeughaus, das sich an von der Einmündung der Nordstraße parallel zur heutigen Bebauung auf dem Busbahnhof erstreckte und nach dem Zweiten Weltkrieg beseitigt wurde und das im Krieg stark beschädigte und Anfang der fünfziger Jahre beseitigte alte Stadttheater an der Einmündung der Bangertstraße.

Durch das Kaufhaus Wronker bekam der Freiheitsplatz eine andere optische Gewichtung. Bis dahin gab es nur eine niedrige Bebauung an der Ecke Sternstraße und anschließend daran die so genannte „Gelbe Mauer“, die ein Gartengelände abschloß. Der Infanteriekaserne gegen­über­liegend, stellte der Kubus einen gewichtigen Platzabschluß dar, der zugleich durch seine Funktion als „Publikumsbringer“ die Hammerstraße quasi verlängerte und die Innenstadt in Richtung Bangertstraße/ Altstadt erweiterte. Zugleich bildete er ein Gegengewicht zum Behördenhaus.

In der Sternstraße hatten die Häuser 8, 10 und 12 die Namen „Zum kleinen Stern“, „Zum Stern“ und „Zum hohen Stern“ (später war hier Karstadt).

 

Oppenheim-Denkmal:

Im Juli 2015 erfolgte die offizielle Einweihung des Oppenheim-Denkmals, das Robert Schad gemeinsam mit seinem Bildhauer-Kollegen Pascal Coupot erschaffen hat. Als Hommage an den in Hanau geborenen jüdischen Maler Moritz-Daniel Oppenheim hatte vor allem die elf Meter hohe Stahlskulptur mit ihren dickwandigen Vierkantstahlsträngen immer wieder zu heftigen Diskussionen geführt. „Wirr“ „ungreifbar“ oder „Sieht aus wie Pommes Frites“ befanden anfangs deren Gegner. Diese Stimmen scheinen weitestgehend verstummt. Das Oppenheim-Denkmal gefällt, so der Tenor der Einweihungs-Gäste, von denen viele nicht müde wurden, sich vor Moritz oder dem tanzenden Bild fotografieren zu lassen. Unter ihnen befanden sich auch Patricia und Stephane Lewin aus Paris, deren Ururgroßvater Moritz Daniel Oppenheim war.

Das Denkmal nimmt Bezug auf ein Erlebnis von Moritz Oppenheim, als er bei einem Spaziergang ein Bild in viele Linien zerfließen so, so daß er im Grunde die erst hundert Jahre später aufkommende abstrakte Malerei vorweggenommen hat. Eine nähere Beschreibung findet man an dem linken Gebäude (von Osten her gesehen).

Jetzt ist dem Leben und Werk des international bekannten Malers inmitten der Stadt ein unübersehbares Denkmal gesetzt. Es wertet den neu gestalteten Freiheitsplatz auf und positioniert Oppenheims Persönlichkeit nachhaltig in Hanaus Mitte. „Er schien mir ein Mann aus der Mitte der Gesellschaft zu sein“, erklärte Robert Schad den Grund, weshalb der Standort für sein Werk so passend sei. Zudem sehe er Moritz und das tanzende Bild als aktiven Partner des Forums an. Der Künstler verriet, daß sich die Skulptur bei Sonneneinstrahlung als Schatten auf dem Boden fortsetze und auch bei Nacht dank eines ausgeklügelten Beleuchtungskonzepts deutlich sichtbar sei. „Hanau setzt mit dem Werk ein urbanes, selbstbewußtes Zeichen“, befindet Schad.

Bis zur Errichtung des neuen Wahrzeichens war es allerdings ein weiter Weg. So hatte 2007 das Stadtparlament entschieden, dem Maler der Stadt mit einem Monument in der Innenstadt zu huldigen. Im Jahre 2012 wurde durch das Gesamtkonzept „Kunst und Kultur im öffentlichen Raum“ von Magistrat und Stadtverordnetenversammlung auch der finanzielle Weg geebnet (damals war ein Etat von 350.000 Euro vorgesehen). Im Frühjahr 2013 entschied sich eine Fachjury und kurze Zeit später der Magistrat für den Schad-Entwurf - sechs Entwürfe waren insgesamt eingereicht worden. Im Jahre 2014 schließlich wurde von Parlament und Kulturausschuß die endgültige Realisierung beschlossen. Die Kosten für das Werk konnten komplett durch Sponsoring getragen werden.

Die Brüder-Grimm-Stadt untermauere damit ihren Anspruch, Kulturhochburg im Osten der Rhein-Main-Region zu sein. Das Oppenheim-Denkmal trage zum Wunsch bei, der Innenstadt ein unverwechselbares Gesicht zu geben. „Unser Oppenheim. Denkmal ist einzigartig“, könne man nun mit Stolz sagen. Hier sei ein Ort der Reflexion und Kommunikation mitten in der Stadt geschaffen worden, ein Denkmal zum Denken und Nachdenken.

Für Professor Alfred Jacoby, dem Vorstandsmitglied des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden in Hessen, demonstriert das Werk die Integrationskraft jüdischer Kunst: „Für den Mut, dieses Kunstwerk zu realisieren, kann ich der Stadt nur danken. Danke, daß sie einem jüdischen Bürger Einzug in die Mitte der Stadt gewährt haben.“ Diese Ansicht teilte auch Schad und betonte, es sei an der Zeit, Aus- und Abgrenzungen zu überwinden: „Wir leben alle auf einem Stern, den es zu bewahren gilt.“

 

Bangert/Katholische Kirche:

Westlich des Freiheitsplatzes ist der „Bangert“. Der baumbestandene Platz zwischen Frankfurter und Hospitalstraße heißt „der Bangert“, weil zu Beginn des 16. Jahrhunderts um die Altstadt und die älteste „Vorstadt“ (heute: Hospitalstraße) eine neue Wallbefestigung angelegt wurde. Damals entstand auch der Bangert, d. h. Baumgarten. Er lag zwischen dem alten Kinzdorfer Tor und dem Spitaltor und war ursprünglich und während des 16. bis zum 18. Jahrhundert der Gemüsegarten für den herrschaftlichen Hof.

Im Jahre 1851 wird die Bezeichnung „Der Bangertgarten“ in „Bangert“ umgewandelt. Um diese Zeit wurden verschiedene Parzellen des „Bangerts“ verkauft. Das nördlich der Hospitalstraße liegende Terrain zwischen Stadtmauer und Wall bildete ebenfalls einen größeren baumbesetzten Schloßgarten. Das Haus Bangertstraße 6 hieß zum „Zum Affen“ (östlich der Kirche, heute der Stadtkirchnerei gehörend).

Um das Jahr 1750 hatten sich in Hanau die ersten katholischen Familien nach der Reformation angesiedelt. Den Gottesdienst konnten sie nur in den kurmainzischen Orten Großauheim und Groß-Steinheim besuchen. Der jungen Gemeinde erwuchsen rührige Laienhelfer, besonders Hofrat Johann Jakob Bernay de Merville, der Fabrikant Johannes Eckstein, Kaufmann Georg Anton Waltz, Andreas Schulz und die Gebrüder Stöcklein.

Als ersten Erfolg konnten diese wackeren Männer die Genehmigung zu eigenem Gottesdienst verzeichnen, die Landgraf Wilhelm von Hessen-Kassel am 20. April 1787 erteilte. Als Notkirche wurde der obere Stock des Hauses „Am Birnbaum“ in der Gärtnerstraße für 160 Gulden jährlich gemietet. Pfarrer Kuhn von Steinheim weihte den Betsaal ein, wobei Vikar Menninger vom Bartholomäusstift in Frankfurt über Johannes 13,35 predigte.

Der Wunsch nach einem eigenen Gotteshaus verstärkte sich. Die genannten Männer unternahmen Bettelreisen nach Holland, Spanien und Portugal. Andreas Schulz sammelte in Köln von Haus zu Haus. Sogar an Papst Pius VI. erging die Bitte um eine Kollekte im Kirchenstaat. Pius sandte der Gemeinde Hanau ein huldvolles Schreiben mit dem Versprechen, die Kollekte zu unterstützen, doch unterblieb sie wegen der Umständlichkeit (Dieses wertvolle Schreiben ist mit vielen anderen bedeutenden Urkunden und Archivalien leider am 19. März 1945 verbrannt).

Am 14. Juli 1809 gründete Napoleon die katholische Pfarrei Hanau, die dann Fürstprimas Karl von Dalberg von Regensburg aus errichtete. Die Seelsorge der jungen Gemeinde übte zuerst Pfarrer Kuhn von Steinheim aus. Ihn unterstützte der spätere Bischof von Fulda, Johann Adam Rieger, Stadtpfarrer in Kassel. Er wohnte in Wilhelmsbad und hielt den dortigen französischen n Gottesdienst für die Zugewnderten. Vorübergehend pastorierte in Hanau der Universitätsprofessor Dr. Kaspar Müller und der pensionierte Vikar des Petristiftes zu Fritzlar, Kaspar Henzerling. Letzterer wurde bald Hofkaplan des Königs „Lustik“ von Westfalen in Kassel, später Ehrendomherr.

Mit der Anstellung des ersten Pfarrers Adam Ruppert im Juli 1809 begannen die Streitigkeiten um einen geeigneten gottesdienstlichen Raum. Napoleons Beamte boten die Hospitalkirche an. Wegen Hochwassergefahr wurde sie abgelehnt. Die Gemeinde bat um die französische Kirche, konnte aber mit dieser Bitte nicht durchdringen. Karl von Dalberg, jetzt Großherzog von Frankfurt, versprach, einen Teil des Marstalls im Schloß zu einer Kirche umbauen zu lassen. Die Schlacht von Leipzig setzte seiner Herrlichkeit ein Ende. Pfarrer Ruppert verlor seine Staatseinkünfte, für die sich dann als Minister Freiherr vom Stein, der Reorganisator Preußens, einsetzte, und zwar mit gutem Erfolg. Am 15. März 1828 starb Pfarrer Ruppert, betrauert von arm und reich.

Die Tätigkeit des neuen, erst 27 Jahre alten Pfarrers Johann Franz Schaum galt der brennendsten Hanauer Seelsorgefrage, der Kirchennot. Zehn Jahre lang wandte sich der unermüdliche, mit 32 Jahren zum Dechant ernannte Pfarrer Schaum mit Bittschriften an die Regierung um einen geldlichen Zuschuß. Oberbürgermeister Eberhard unterstützte ihn. Schaum betonte immer wieder das Recht auf Staatsunterstützung, da die Staatskasse durch Einziehung der säkularisierten Klostergüter der Grafschaft Hanau bereichert worden war.

Die Bemühungen Schaums waren von Erfolg gekrönt. Sammlungen in allen Orten des Kurfürstentums erbrachten erkleckliche Summen. Besonders zu rühmen ist, daß die drei evangelischen Gemeinden Hanaus eine beträchtliche Summe opferten. Die Katholiken der Stadt und die Pfarreien des Bistums standen nicht zurück. So hatte die restlose Arbeit Schaums einen verhältnismäßig hohen Betrag zusammengebracht.

Als Bauplatz hatte Schaum sofort den Bangert ins Auge gefaßt, Domänenbesitz der kurhessischen Regierung. Aber der Platz war für ein Polizeigebäude oder eine Kaserne vorgesehen. Die Regierung schlug nun der Gemeinde der Reihe nach die Mühlenschanze, den Umbau des Stadttheaters und den Platz neben der Niederländischen Kirche vor; doch alle diese Pläne zerfielen. Schließlich einigte man sich doch auf den Bangertplatz.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wandte man sich rückwärts und zog einen erneuerten „gotischen“ Stil hervor. Die Katholische Kirche am Bangert in ihrer ursprünglichen Gestalt ist ein Bau dieser Zeit.

Am Mittwoch, dem 11. August 1841, begann der Neubau. Am 2. Mai 1842 wurde der Grundstein unter dem rechten Portal gelegt. In ihm sind verschlossen die Urkunde der Grundsteinlegung auf Pergament, zwei Flaschen Wein von 1798 und 1841, eine Schaumünze von 1821 und mehrere Silbermünzen. Der Aufbau ging rasch seinem Ende entgegen; da stürzte das Gebäude am 14. Januar 1843 abends zwischen sechs und sieben Uhr zusammen. Ein Wirbelwind soll die Ursache gewesen sein. Ein kunstvoller Turm war geplant gewesen, wie auch die Höherführung des Mittelschiffes um einige Meter mit Oberfenstern, was später beim Neuaufbau unterbleiben mußte. (Das Holzmodell befand sich noch in einem Schrank der rechten Sakristei und ist leider ebenfalls verbrannt).

Der so verdiente Pfarrer Schaum mußte die Trümmer seiner jahrzehntelangen opferreichen Tätigkeit mit eigenen Augen sehen. Fast das ganze Kapital war verbaut, und nun brach diese schwere Heimsuchung über Pfarrer und Gemeinde herein. Niemand brachte Hilfe. Weitere Zuschüsse unterblieben; ein neuer Plan wurde verworfen. Das neue Gotteshaus lag fünf Jahre als Trümmerhaufen da, von 1843 bis 1848. Dechant Schaum mußte seine Gemeinde in solch trostlosem Zustand verlassen. Er wurde nach Fritzlar versetzt und starb in den sechziger Jahren als Domkapitular in Fulda.

 Erst sein Nachfolger konnte den Kirchenbau zu Ende führen; am 28. August 1850 wurde die Kirche feierlich geweiht. Die Stadtpfarrkirche „Mariae Namen“ war eine dreischiffige gotische Basilika mit sechs Fensterachsen. Der ursprünglich quergestreiften Fassade mit blauem und rotem Sandstein diente die italienische Gotik, hier besonders die Dome von Orvieto und Siena, als Vorbild (Bild in: Hanau Stadt und Land, Seite 469: Die katholische Kirche im Bangert in Hanau, erbaut 1841-1850, Stich von W. Lang nach einer Zeichnung von L. Rohbock 1850).

Am 7. Dezember 1944 wurde das Gotteshaus durch eine Luftmine zerstört und, brannte am 19. März 1945 vollends aus. Mit dem Wiederaufbau des Gotteshauses wurde am 1. Oktober 1951 begonnen. Am 8. Juni 1952 war die Kirche zunächst ohne Turm fertiggestellt, am 9. Juni 1952 wurde sie neu geweiht. Im Jahr 1956 wurde der Turm gebaut. Zur Ausstattung der Kirche gehören ein großes holzgeschnitztes Kreuz von Wohlfahrt aus Steinheim, ein Kreuzweg von Prof. A. Weckbecker, München, der Marienaltar mit einer modernen Marienfigur von Roland Friedrichsen, München, ein St. Joseph-Altar mit einer modernen Josephfigur von Schwester Eberhardis (Honnef). Der Hauptaltar aus Anröchter Dolomit mit Sepulcrum und Kreuzchen, Ambo aus Anröchter Dolomit mit Lesepult in Bronzeausführung, Tabernakelstele aus Anröchter Dolomit in Bronzeausführung, Ewiglicht-Halter in Bronze mit Glas. Eine Orgel ist ebenfalls vorhanden. Zum Katholischen Stadtpfarramt gehören auch die Hauskapelle des St. Vincenz-Krankenhauses und die Hauskapelle des St- Elisabethen-Hauses (Altersheim).

 

Archäologische Funde:

Wegen der Umgestaltung des Freiheitsplatzes waren Bodeneingriffe auf einer Fläche von 300 mal 100 Meter nötig. Archäologisch betrafen sie vor allem die südliche Befestigung der Altstadt.

Bei einer der Probebohrungen an der Nordseite des Freiheitsplatzes ist im März 2010 ein Stück Stadtmauer zum Vorschein gekommen. In vier Metern Tiefe hat das Grabungsteam die drei letzten Steinlagen der unteren Fundamente und damit einen 40 bis 50 Zentimeter hohen Rest der Stadtmauer freigelegt. Mit einem solchen Fund hat man gerechnet. Allerdings erstaunte, daß die Festungsmauer viel schmaler sei als nach den historischen Plänen zu erwarten war.

Legt man den historischen Plan von Christoph Metzger aus dem Jahr 1735 an, liegt das freigelegte Stück Mauer nicht genau dort, wo Stadtmauer oder die der Mauer vorgelagerten Rondelle einst verlaufen sind. Entweder haben die Pläne und Stiche bei der Befestigung rund um die Altstadt überzogene Größenmaße vorgegaukelt oder die gefundenen Steine gehörten zu Mauerresten. die in der Nähe der Stadtmauer verliefen.

Auf zeitgenössischen Karten ist bildlich dargestellt, wie am Freiheitsplatz bis Mitte des 18. Jahrhunderts die Befestigungen der Alt- und der Neustadt aufeinandertreffen, geprägt durch Bastionen und getrennt durch Wassergräben. Erbprinz Wilhelm ließ diesen militärisch überflüssigen Abschnitt der Befestigung beseitigen und eine Esplanade anlegen. Sie sollte der zentrale Stadtplatz seiner Residenzstadt werden und im östlichen Teil (heute Busbahnhof) als Paradeplatz dienen. Doch blieben die Ausbaupläne in den Anfängen stecken, denn 1785 beerbte Wilhelm seinen Vater und ging als Landgraf nach Kassel.

 

Das ursprüngliche Gelände hat dort früher etwa anderthalb Meter tiefer gelegen und wurde später verfüllt. Es gibt Fundamentreste von beeindruckendem Ausmaß, die zu einer äußeren und einer inneren Festungsmauer im Bereich der Bastion in der Verlängerung der Marktstraße gehören.

Dies wurde im Zuge der „Aufrüstung“ der Hanauer Altstadt im frühen 16. Jahrhundert der mittel­alterlichen Stadtmauer vorgelagert. Davor wiederum lagen die Äcker, Gärten und Wingerte der Altstadtbewohner, die 1597 der Neustadt weichen mußten.

In diesen Zusammenhang ist möglicherweise auch eine vor den Festungsmauern verlaufende gepflasterte Straße zu sehen, die jetzt deutlich unter der heutigen Geländeoberkante freigelegt wurde. Ihre tiefen Spurrillen lassen auf eine lange Benutzung schließen. Sie wurde beim Bau des großen Rondells samt Wassergräben von 1527 bis 1531 nicht ausgebaut und blieb innerhalb der Bastion erhalten.

Um 1850 wurde quer über den Paradeplatz ein Kanal verlegt. An dessen nördlicher Seitenwand nutzte man die innere Festungsmauer. Die Kanaldecke sowie ein freigelegter Revisionsschacht sind gleichfalls aus dem Bruchsteinmaterial der Festungsmauer errichtet.

Doch auch die jüngere Geschichte spiegelt sich in der Grabung wider. Reste der ausbetonierten Splittergräben aus dem Zweiten Weltkrieg kamen ebenso zutage wie verfüllte Bombentrichter. Zur Sicherheit hatte vor Grabungsbeginn erst einmal der Kampfmittel-Räumdienst das Gelände begutachtet und grünes Licht für die Arbeiten gegeben.

Daß man sich in der Bastion am Ende der Marktstraße befindet, ist sicher. Jetzt fehlen nur noch die Details. Der Ausgräber braucht einen markanten Punkt, etwa eine Gebäudeecke, um den Verlauf der Mauern anhand der historischen Pläne exakt einmessen zu können.

Man hat erwogen, das Pflaster durch ein so genanntes „archäologisches Fenster“ in der geplanten Bebauung oder bei der Neugestaltung des Platzes sichtbar zu machen. Die Kleinfunde wie Keramikteile, Murmeln und ein Hufeisen sollten ihren Platz in Vitrinen des neu entstehenden Portals Stadtgeschichte der Stadtbibliothek finden.

Wider Erwarten ist kein Fließwasser festgestellt worden, wie oftmals von alten Kinzigarmen vermutet. Über die Jahrhunderte und Jahrzehnte muß der Grundwasserspiegel in dem Bereich erheblich gesunken sein.

 

Bei den Grabungen am Nordrand des Platzes im Juli 2012 sind die Archäologen auf die Reste der uralten Wehrtürme und Mauern der Altstadt gestoßen. Dabei legten sie auch eindrucksvolle Belege für die Lage der Stadt Hanau an verschiedenen Fernstraßen frei. Teile dieses Gassenpflasters sind ausgesprochen gut erhalten. Einer in den Archiven verwahrten Handwerkerrechnung aus dem Jahr 1476 kann nun exakt das dazugehörige Mauerstück zugeordnet werden. Und diese Mauer kappt gewissermaßen eine zeitlich davor existierende Straße. Das zeugt davon, daß nicht nur heute, sondern bereits vor über 500 Jahren gravierende Veränderungen im Weltgeschehen stattgefunden haben.

 Zu Beginn der Renaissance erforderte die Verteidigung einer Stadt ganz andere Parameter als zuvor, bedingt durch das immer stärkere Aufkommen von Feuerwaffen. So fand man eine perfekt erhaltene Schießscharte aus Sandstein, bei der sogar noch die Führungen für zusätzliche Verschmälerungen zu erkennen sind. Ein Beweis: Musketen ersetzten Kanonen. An jenen Turm mit der Schießscharte reichte einst auch der Wassergraben heran, gebildet von einem alten Kinzig­arm.

Im Jahr 1768 aber war diese Wehranlage bereits Geschichte. Nach der Schleifung gründeten sich auf seinen Fundamenten auch jene des alten Gewandhauses, das ein Teil des historischen Hanauer Theaters war. Später stand in etwa auf jenem Gebiet das „Central-Kino“ und heute das Rodenbacher Theater „Steins Tivoli“ an. Möglicherweise legen die Steins die Außenmauer des Gebäudes teilweise frei, und dann stehen die erhaltenen Reste der Stadtmauer an dieser Stelle auch wieder im Lichte der heutigen Zeit.

Es gab Überlegungen, aus der Ausgrabungsstelle am Freiheitsplatz ebenfalls eine Art Freilichtmuseum zu machen, so etwas wie einen „Geschichtspark“. Die Idee stößt allerdings auf ein gravierendes Problem: die Bodenhydraulik. Durch aufsteigende Feuchtigkeit würde das Gebilde schnell zum „Gewächshaus“ für Algen, die Mauern genau das tun, was sie über 500 Jahre lang nicht getan haben: verrotten. Und die Reste der historischen Hanauer Stadtmauer aus der Renaissancezeit werden ohnehin verschwinden, denn dort liegt genau die Parkebene eins der geplanten Forums-Tiefgarage. Man denkt aber auch an die Möglichkeit, etwa Teile der versunkenen Wehranlage auszugraben, zu konservieren und andernorts auszustellen.

Von all diesen Plänen ist nur die Rekonstruktion einer vormittelalterlichen Straßenkreuzung in einem Betonblock an der Nordseite vor dem ersten Bau (Kulturforum) vorgesehen. Leider ist auch die Symmetrie der Plätze in der Neustadt gestört, denn die neuen Bauten auf dem Freiheitsplatz stehen auf der Höhe des Marktplatzes. An der Ecke zur Hammergasse ist noch ein Baum stehen geblieben, unter dem Tische und Stühle zum Verweilen stehen. Ein Übergang im ersten Stock führt zu den Geschäften auf dem ehemaligen Karstadtgelände, an dessen Ende das Parkhaus ist.

Eine militärische Karte war vom Vermessungsamt der Stadt skaliert und auf den modernen Katasterausschnitt der südlichen Altstadt Hanaus übertragen worden. Aber weder die Ausmaße noch die genaue Lage der mittelalterlichen und renaissancezeitlichen Befestigungen stimmte mit der Planprojektion überein. Die Ungenauigkeit ist darauf zurückzuführen, daß die Plangrundlage zu einem Zeitpunkt entstanden war, bevor große bauliche Eingriffe und zuletzt auch noch die Kriegszerstörung das lokale Stadtbild nahezu vollständig verändert hatten. Zudem war jetzt im Ergebnis zu konstatieren, daß auch die Plangrundlage zwar die wesentlichen Bestandteile der Befestigungen zeigte, eine Maßgenauigkeit in sich jedoch nicht gegeben war.

Dieser südliche Befestigungsabschnitt der Hanauer Altstadt hatte schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts seine Funktion verloren. Mit der Projektierung der Hanauer Neustadt am Ende des 16. Jahrhunderts und der Gesamtbefestigung von Alt- und Neustadt mit bastionierten Festungswerken des Barock lag dieser Befestigungsabschnitt nun zwischen der Altstadt Hanau und der Neustadt Hanau.

 

Umbau und Erweiterung der Befestigungsanlage erfolgten ab den 1520er Jahren und wurden von Graf Philipp II. und Baltasar von Hanau-Münzenberg beauftragt. Nach dem Tode Graf Philipps II. im Jahre 1529 übernahm der zeitweilige Vormund seiner Kinder, Graf Reinhard von Solms, die Ausführung des Baus. Letzterer war bereits als Festungsbaumeister in Büdingen und Lich tätig gewesen.

Die spätmittelalterlichen Mauern waren einem Angriff mit den zu dieser Zeit neuartigen Feuerwaffen nicht gewachsen. Es wurden vor den Mauern Bastionen angelegt, die zum einen zur Aufstellung von Kanonen dienten und zum anderen bei Beschuß nicht gleich zu Breschen führten. Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts wiesen die Bastionen eine halbrunde Form auf (sogenannte „Rondelle“), danach setzte sich eine spitzwinklige Bauweise durch (Bastion im engeren Sinn). An der Festung Hanau können beide Formen festgestellt werden: Nach Süden ragten drei Rondelle aus der Umfassung der Altstadt hervor, im Osten und Westen wurde die spitzwinklige Variante gebaut.

Im Bereich des heutigen Freiheitsplatzes mit dem östlich angrenzenden Busbahnhof befanden sich das mittlere und das östliche Rondell. Auf der Darstellung von Abraham Saur aus dem Jahr 1595 ist ein Blick auf die Festung Hanau von Süden dargestellt. Im Vordergrund sind die Bastionen mit dem vorgelagerten Wassergraben erkennbar. Das Innere des mittleren Rondells war mit Erde aufgeschüttet und wies keine Bebauung auf. Auf das östliche Rondell führte eine schräg über den Graben verlaufende Brücke. Laut einer bis nach 1945 erhaltenen Inschrift war das „Neue Tor“ auf der östlichen Bastion 1531 fertiggestellt worden.

Der aus dem Jahr 1636 stammende Merian-Plan zeigt im Bereich des heutigen Freiheitsplatzes ein von zwei Türmen flankiertes Gebäude mit Satteldach. Möglicherweise handelte es sich bei dem Gebäude bereits um das Zeughaus. Auf dem sogenannten Metzgerplan von 1684 / 1735 ist das Zeughaus als annähernd quadratischer Bau mit einem weiteren Turm im Süden dargestellt. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde die Bastion zwischen Alt- und Neustadt niedergerissen Es entstand ein freier Platz mit Esplanade, der lange weitgehend unbebaut blieb.

 

Noch bevor im Herbst 2012 am Freiheitsplatz die große Aushubmaßnahme begann, waren die im Platz befindlichen Leitungsbahnen durch neu verlegte in den um den Freiheitsplatz verlaufenden Straßen ersetzt worden. Als erste große Gräben im Straßenraum nördlich des Freiheitsplatzes ausgehoben wurden, kamen Mauerbefunde aus Basaltbruchstein zum Vorschein, deren Abbruchkronen unmittelbar unter dem modernen geringmächtigen Straßenaufbau lagen (Straßenniveau um 104 Meter ü. NN).

Es handelte sich dabei um die noch in spätmittelalterlicher Tradition ausgeführte Vorstadtberingung aus dem ausgehenden 15. Jahrhundert. Ihrem Verlauf folgten die Bangertstraße und die Schirnstraße (heute „Am Freiheitsplatz 6-12“) auf der Südseite der Altstadt noch bis in die Moderne. Die Vorstadtmauer diente in den folgenden Jahrhunderten zumeist als Rückseite von Bürgerhäusern. Dieser Umstand war der Erhaltung des spätmittelalterlichen Berings zum Teil abträglich. Große Teile und Abschnitte blieben jedoch erhalten. Im Süden der Altstadt verlief der spätmittelalterliche Vorstadtbering in einer Entfernung von etwa 30 - 40 Meter vor der mittelalterlichen Stadtmauer.

 

Die Marktstraße vor dem mittelalterlichen Kinzigtor hatte man nach Süden um etwa 40 Meter verlängert. Dort war ein weiter Torzugang in der Vorstadtbefestigung angelegt worden. Bewehrt war dieser Zu- und Ausgang mit zwei Türmen. Der östliche Turm wurde genau in der heutigen Achse der Marktstraße angetroffen. Die Schirnstraße, die seit 1945 nicht mehr existiert, folgte von diesem Ostturm aus dem Mauerverlauf bis zum „Neuen Tor“.

Der gleich zu Anfang im Bereich der ehemaligen Schirnstraße (heute „Am Freiheitsplatz 6 - 12“) freigelegte Mauerzug hat eindeutig einen Abschnitt der am Ende des Spätmittelalters gebauten Vorstadtbefestigung gebildet. Der Mauerzug konnte in den Bauflächen am Freiheitsplatz über 140 Meter weit nachgewiesen und über einen Großteil dieser Strecke auch archäologisch bearbeitet werden. Dieser zuerst angetroffene Mauerzug (etwas östlich zur Einmündung in die Marktstraße) zeigte eine Stärke von insgesamt etwa 2,50 Meter.

In der Oberflächenstruktur der Abbruchkrone wies er eine Baufuge auf, die den Baukörper etwa  2 : 1 teilte. Es handelte sich demnach um zwei aneinandergefügte Mauerkörper, deren Verlauf W-O orientiert war. Die nördliche Setzung erreichte nach etwa 1,30 Meter unterhalb der modernen Straßenoberfläche ihre Fundamentierung (102,85 Meter ü. NN). Drei horizontal parallel verlaufende langrechteckige Hohlräume gehen an der Fundamentbasis auf eine einstmalige Mauergründung mittels Holzrost im anstehenden sandig-kiesigen Sediment der Sandbank zurück. Die Hölzer waren vergangen, die Hohlräume und die Balkenabdrücke am Mörtel sind sichtbar geblieben. Die Hölzer bestanden den Resten zufolge aus Nadelholz, waren quadratisch zugerichtet worden und hatten Kantenlängen von 15-20 Zentimeter aufgewiesen. Weitere Hohlräume waren unter dem nördlichen Bauteil der Mauer festzustellen.

Bei der Untersuchung dieser Befunde stellte sich heraus, daß die Hohlraumbildung unter der nördlichen Mauer von vergangenen Pfahlbündeln herrührte, die hier eingerammt gewesen waren. Sie bildeten punktuelle Anker und stützten sowohl Rost als auch Mauerwerk. Demnach bestand im nördlichen linear verlaufenden Mauerteil ein anderes Konstruktionsprinzip als an dem angesetzten südlichen Mauerzug, dessen Unterkante vorerst nicht erreicht wurde. Die rund 0,70 Meter hoch erhaltene Mauer ließ sich auf nahezu 30 Meter verfolgen.

 

Der südliche Mauerkörper, der sich durch eine klare Trennlinie auf dem Niveau der Abbruchkrone absonderte, war deutlich schmaler und wie eine Blende vorgesetzt worden. Diese schürzenartige Mauersetzung war nicht absolut senkrecht, sondern sprang nach unten vor. Der Winkel von der Grabenseite aus betrug etwa 95 Grad, das heißt auf vertikales Gefälle von zwei Metern betrug der Versatz der Mauer etwa 20 Zentimeter nach Süden. Die Mauerschürze zeigte auf ihrer südlichen Seite eine sehr gute Oberflächenerhaltung. Diese Sichtseite wies einen Pietra-Rasa-Verputz auf. Dieser zeigte nahezu keine Verwitterungsspuren, daher ist anzunehmen, daß er nur wenige Jahre oder Jahrzehnte sichtbar gewesen war. Die Erhaltungstiefe der Mauer betrug zwischen zwei und drei Metern und unterschnitt ein davorliegendes Grabensediment. Ihr Gründungsniveau lag auf 100,5 Meter ü. NN, also etwa 2,30 Meter tiefer als ihr Gegenpart im Norden.

Die Dimension des Grabens war baubedingt nur schwer zu erfassen. Einzig im Bereich des Vorstadttores an der Marktstraße konnte der westliche Grabenkopf in seiner ursprünglichen Weite erkannt werden. Dort hatte sich das spätmittelalterliche Laufniveau erhalten, das eine ursprüngliche Grabenbreite von etwa 7 Meter belegte. Es handelte sich um einen einfachen Sohlgraben von 2 - 2,50 Meter Tiefe, der nach seiner Auflassung im Südabschnitt flächig und schnell mit Sand und Kies einplaniert worden war. So kamen in seinem humos geprägten schwarzbraunen Sediment nur wenige Artefakte zutage. In einem östlich gelegenen Abschnitt konnten jedoch noch im Sediment eingeschlagene Pfosten festgestellt werden, die für eine dendrochronologische Bestimmung vorgesehen wurden.

Der Grabenkopf jedoch wies eine andere Verfüllung auf. Er strich in seiner Form leicht halboval an der Oberfläche aus und die Sohle steigt aus dem Bett schräg nach oben an. Hier waren hauptsächlich Basaltbruchsteine eingefüllt worden, die mit einer Sand-Kiesschicht abgedeckt worden waren. Dieses Grabenende mündete an einem Pflasterbereich, der auf eine Erdbrücke gesetzt worden war. Der zu erwartende östliche Grabenkopf ließ sich nicht mehr feststellen, da der Zeughausbau und die Bastionierungen aus dem 16. Jahrhundert das spätmittelalterliche Grabensystem überprägt hatten.

Das Pflaster zeigte tief eingeschliffene Fahrspuren und gehörte zu einem Straßenkörper, der sich auch noch in der Mittelbastion des Festungskörpers befand. Die Straße führte durch die Toranlage der spätmittelalterlichen Befestigung zur Marktstraße.

Die Toranlage war in ihrer Basis erhalten, denn sie war in der nachfolgenden Festungsarchitektur ein integrierter Bestandteil geworden. Sie bestand aus zwei Turmbauten, die eine massive Mauer verband. Die offene Weite des Tores betrug 3,50 Meter. Die unteren Eckquader der Torleibung bestanden aus Buntsandstein und zeigten gegenständig zur Stadtseite hin jeweils eine vertikale rechteckige Aussparung zur Aufnahme der Balken für den Rahmen. Die Toreinfahrt befand sich jedoch nicht mittig zwischen den beiden Türmen, sondern war nach Osten versetzt, sodaß sich zum Westturm ein Abstand von fast 19 Meter ergab, während derjenige zum Ostturm gerade einmal 2,60 Meter betrug. Die Toröffnung war mit massivem Mauerwerk geschlossen worden.

Unter den verwendeten Basaltbruchsteinen befanden sich einzelne Exemplare mit einer durchschnittlichen Kantenlänge von 0,60 Meter. Das Zusetzen der Toranlage hatte auf der Außenseite zu einem massiven Bauschuttklotz geführt, der sich mit seinen Mörtelanteilen fest mit dem Untergrund, nämlich dem Straßenpflaster, verbunden hatte und einen festen Block aus Steinabschlägen, einzelnen Bruchsteinen und Mörtel bildete. Das Zumauern des Tores ist sicherlich mit der Quelle von 1476 zu verbinden, als Graf Philipp der Jüngere seine Zuwendung an die Maurer hatte dokumentieren lassen („2 Alb. schenkte mein Herr den Maurern, da sie die Pforte gen Kinzdorf zumachten“).

 

Das Gelände südlich der nun zugemauerten Toreinfahrt blieb jedoch weiterhin in Nutzung. In einer Phase zwischen dem Zusetzen dieses Tores und dem Bau der Festung ab 1528 umfing ein in der Fläche rechteckig ummauerter Platz diesen Bereich. In der südlichen Mauersetzung waren zwei Zugänge zu beobachten. Davon wies der kleinere eine offene Weite von etwa 1,50 Meter auf, der etwas größere, weiter westlich gelegene eine Weite von etwa 2,20 Meter. Die Erstreckung dieses mauerumfaßten Bereiches nach Osten ist nicht mehr zu ermitteln, da die Ostmauer des Zeughauses den Baubefund dort störte.

Damit ergab sich ein noch faßbares Areal von über 300 Quadratmeter innerhalb des späteren Zeughauses, wobei die östliche Grenze nicht der tatsächlichen Grenze dieser Bauphase entsprach. Das Mauerwerk der Umfassung war aus Basaltbruchsteinen gesetzt und hatte eine Stärke von etwa 0,80 Meter. Interessanterweise schnitt sie den Grabenkopf auf eine Länge von 10,50 Meter ab, als sie das Gelände umfing. Es hatte fast den Anschein, als sei der westliche Grabenabschnitt in dieser Zeit auch nicht mehr genutzt worden. So zeigte die westliche Mauer in dem Abschnitt, in dem sie den Graben schnitt, keine Anhaftungen eines Grabensediments. Die westliche Mauer dieser Umfassung ist tief gegründet und stimmte auf ihrer Fundamentbasis mit der ehemaligen Grabensohle überein. Wäre der Graben also beim Bau noch wasserführend gewesen, hätte dies seine Spuren hinterlassen. Daß jedoch beim Bau Rücksicht auf den Graben genommen wurde, zeigen zwei vergangene Balkensetzungen in der Grabenzone. die in der Mauer zu deren Stabilisierung eingebaut worden waren.

Die beiden Türme waren hinsichtlich ihrer Ausführung und Positionierung im Befestigungssystem der Vorstadt unterschiedlich. Sie standen rund 26 Meter einander gegenüber und waren über eine Mauer verbunden. Der westliche Turm ragte etwa zu zwei Dritteln aus der Befestigungsmauer heraus, wohingegen der Ostturm etwa mittig in der Vorstadtmauer eingebaut war. Die weiter aus der Mauer vorragende Position ergab sich aus dem Richtungswechsel der Vorstadtmauer nach Nordwesten. So hatte der Westturm sich in einer Eckposition im Mauerverlauf befunden und nicht nur einen Teil der Südseite dem Kinzigtor kontrolliert, sondern auch noch den Mauerabschnitt bis zum Hospitaltor im Nordwesten. Dadurch war eine bessere Kontrolle des Umfeldes gegeben. Der Turm war im frühen 19. Jahrhundert als Fundamentbereich bei der Erweiterung des Comoedienhauses genutzt worden.

Hinsichtlich ihrer Durchmesser unterschieden sich die beiden Türme um nahezu einen Meter, wobei der östliche zwar schlanker als der westliche war, jedoch über stärkere Außenmauern verfügte. Die Wandstärke am Ostturm lag bei rund zwei Metern, am westlichen Turm war sie 0,70 Meter geringer. Beide Türme bestanden aus einem Mauerwerk aus Basaltbruchsteinen, vereinzelt waren auch Buntsandsteine verbaut. Die Außenseiten des Ostturmes zeigten einen ursprünglichen Verputz, wie er auch an der Grabenschürze der Vorstadtmauer sichtbar geworden war.

Der Westturm wies einen Flächenputz auf, der vermutlich noch aus dem 18. Jahrhundert stammte. Auf der Höhe der Abbruchkronen waren noch Schießscharten festzustellen. Im Westturm hatte sich noch der vollständige Unterbau der Scharte erhalten. Sie war aus behauenen Buntsandsteinquadern gesetzt und bildete im Mauerschnitt eine sanduhrförmige Konstruktion aus. Die Verjüngung in der Mitte der Schießscharte war mit einer Nut zur Aufnahme einer Platte versehen worden. Die Schartenform ist typisch für die Zeit, in der Feuerwaffen in Gebrauch waren. Bearbeitungsspuren lassen darauf schließen, daß hier eine frühere Ausbauphase ersetzt wurde.

Im Ostturm konnten noch drei Schartenplätze nachgewiesen werden. Sie zeigten nach Osten, Westen und Süden. Hier waren noch kleine, im Grundriß trapezoide Nischen im Mauerwerk eingezogen, die sich von 1,56 Meter auf einen Meter verjüngten und bis auf etwa die Hälfte des Mauer­werkkörpers reichten. Nur auf der Südseite des Ostturmes befand sich noch ein Buntsand­steinrest der eigentlichen Scharte. Demnach muß es sich hierbei um eine andere Schartenform als im West­turm gehandelt haben. Gemäß der Rundung im Buntsandstein handelte es sich um eine Schlüsselscharte. Dieser Schartentyp ist für das Spätmittelalter typisch; die Rundungen, die als Schlitzerweiterungen dienten, waren schon durchaus für die Läufe von Büchsen vorgesehen.

Die beiden Türme sind aufgrund der genannten Unterschiede somit nicht als Baueinheit mit dem Kinzigtor der Vorstadtmauer zu betrachten. In der nachfolgenden Festung ab 1528 bildeten sie jedoch die nördlichen Ecken des Zeughauses aus.

 

Es zeigte sich, daß die Mauer der mittleren Bastion - anders als auf den historischen Plänen dargestellt - keine exakte halbrunde, sondern eine polygonale Form aufwies. Das Rondell hatte einen Durchmesser von etwa 82 Meter. Die Längen der geraden Abschnitte zwischen den Mauerknicken waren sehr unterschiedlich. Einige betrugen 3 Meter, den westlichen Abschluß hingegen bildete ein 28 Meter langer gerader Abschnitt.

Es ließen sich keine vertikal verlaufenden Baufugen unterschiedlicher Bauphasen erkennen. Auf der Außenseite befanden sich zwei Reihen aus bossierten Basaltquadern. Letztere maßen jeweils etwa 100 mal 40 mal 30 Zentimeter. In einigen Bereichen waren bereits Quader der oberen Reihe herausgebrochen, wohl im Zuge der Schleifung der Anlage Ende des 18. Jahrhunderts, sodaß nur noch die Abdrücke erkennbar waren. Die Schauseiten der Bossenquader waren unterschiedlich stark profiliert. Es konnte zwischen fast vollständig flachen Oberflächen und 10 - 15 Zentimeter hoch herausragenden Buckeln unterschieden werden. Im Aufbau ließ sich jedoch keine regelhafte Verwendung unterschiedlich bearbeiteter Steine feststellen.

Eine Vielzahl von Quadern wies spätgotische Steinmetzzeichen auf. Diese dienten zur Abrechnung der erbrachten Leistung der einzelnen Meisterbetriebe. Es können drei Meister, die am Bau der renaissancezeitlichen Anlage beteiligt waren, anhand ihrer Zeichen unterschieden werden. An einigen Quadern konnten Ergänzungen der Steinmetzzeichen um ein Kreuz festgestellt werden. Die genaue Bedeutung dieser Ergänzung ist nicht klar. Möglicherweise waren die betreffenden Quader von einem für die Baustelle hinzugezogenen Gesellen hergestellt worden, der durch die Ergänzung hatte nachweisen können, wie viele Steine er gefertigt hatte.

Oberhalb sowie unterhalb der Quaderreihen befand sich kleinteiliges Mauerwerk. Hauptsächlich wurde die Mauer aus 5 - 50 Zentimeter großen Basaltbruchsteinen errichtet. Vereinzelt wurden auch rote Sandsteine verwendet. Eine hohe Konzentration roter Sandsteine konnte im geraden westlichen Abschnitt beobachtet werden. Dort sowie im Südosten hatte die ein Meter breite Mauer noch eine erhaltene Höhe von gut 2,50 Meter.

Die gesamte äußere Rondellmauer ruhte auf einem Rost aus Holzbalken. Dieser bestand aus zwei Balkenreihen, die in unregelmäßigen Abständen durch quer verlaufende Balken verstärkt wurden. Die Lage der inneren, längs verlaufenden Balkenreihe entsprach nicht der Mauerkante. Sie war etwa 50 Zentimeter in die Mitte der Mauer versetzt. Die Querbalken wiesen schwalbenschwanzartig verbreiterte Enden auf, welche eine Verzahnung mit den Längsbalken gewährleisteten. An der Westtangente ließ sich deutlich erkennen, daß der Bau des Rondells - vermutlich aufgrund der Feuchtigkeit des Untergrundes - sehr schnell hatte erfolgen müssen.

Die Holzbalken waren verrutscht, woraus sich entweder Lücken zwischen den Balken ergaben oder diese bis zu 10 Zentimeter seitlich unter der Mauer herausragten. In die Lücken zwischen den Balken war Baumaterial nachgerutscht, was ein Zeichen dafür ist, daß die Lücken nicht nachträglich, sondern bereits beim Bau der Mauer entstanden waren. Die nach außen verrutschten Balken wurden zum Teil anhand kleiner in den Boden getriebener Pfosten gestützt. Den nördlichen Abschluß des Rondells bildeten zwei gerade verlaufende Mauern sowie mittig ein kleines Rondell.

Die östliche Mauer verlief von NO - SW, hatte eine Länge von etwa 32 Meter und war ein Meter breit. Das kleine Rondell wies einen Durchmesser von 21 Meter auf. Die westliche Mauer hatte einen Verlauf von NW - SO und war etwa 30 Meter lang. Ähnlich wie das große Rondell verliefen die nördlichen Mauern nicht symmetrisch. Die westliche Mauer traf fast rechtwinklig auf die innere Rondellmauer. Die östliche hingegen verlief in einer Kurve, die im kleinen Rondell mündete.

Anders als bei der äußeren Rondellmauer befanden sich unter der nördlichen Mauer keine Holzbalken, wie an der Nordwestecke beobachtet werden konnte. In den Fundamentbereich waren zur Stabilisierung der Mauer Basaltbruchsteine bis zu einer Größe von 80 mal 50 mal 50 Zentimeter eingebracht worden.

Da die westliche Mauer als Wand für einen im 18. Jahrhundert angelegten Kanal gedient hatte, war sie noch höher als das äußere Rondell erhalten. Dort war ein nach Süden weisender bossierter Quader eingebaut. Davon ausgehend, daß der Quader sichtbar gewesen war, muß er oberhalb der Rondellmauer gesessen haben. Daran ist abzulesen, daß die ursprüngliche Oberfläche des Rondells etwa bei 101,75 Meter ü. NN. gelegen haben muß, also etwa 2,30 Meter unterhalb der heutigen Geländeoberfläche.

Westlich und östlich des großen Rondells erstreckte sich jeweils eine kleinere Rundbastion. Auf der östlichen - die im Bereich des heutigen Busbahnhofs zu lokalisieren ist - hatte sich ab 1531 der südliche Zugang zur Festungsanlage befunden. Eine Steinbrücke verlief den Plänen nach schräg über den Graben. In dem bereits untersuchten nördlichen Teil des Busbahnhofs wurden ein Brückenpfeiler sowie die von NW- SO verlaufende Bastionsmauer angetroffen. Die eigentliche Brücke bestand am Übergang zur Bastion aus Holz und ist daher nicht mehr erhalten. Lediglich die Auflageflächen konnten dokumentiert werden. Es handelte sich uni drei Konsolen aus rotem Sandstein, die in einem Abstand von 1,30 Meter aus der Mauer hervorsprangen.

Zwischen den Konsolen waren rote Sandsteinquader eingebaut. Oberhalb dieser erstreckte sich eine zweite Lage aus Sandsteinquadern, die gegenüber der Mauervorderkante um etwa 20 Zentimeter zurückversetzt waren. Etwa 50 Zentimeter nordwestlich der Konsolen wurde eine 50 mal 70 Zentimeter große Aussparung in der Mauer angetroffen, die vermutlich zur Auflage eines massiven Holzbalkens gedient hatte. Nach Südosten lief die Bastionsmauer aus der Untersuchungsfläche heraus. Vermutlich konnte trotzdem die gesamte Breite der Brücke erfaßt werden, da sich südöstlich der Konsolen kein weiterer Sandsteinquader mehr anschloß. Demnach läßt sich eine Breite von etwa 5,50 Meter ermitteln. Möglicherweise war der hölzerne Abschnitt der Brücke mit einem Zugmechanismus ausgestattet gewesen, da der Abstand zum Brückenpfeiler lediglich 3,20 Meter betrug und daher leicht zu überwinden gewesen wäre. Eine Zugbrücke verschloß den Eingang und wurde nur bei Bedarf heruntergelassen.

In ihrem weiteren Verlauf nach Nordwesten konnten auf der Südwestseite der Bastionsmauer zwei stumpf angesetzte Stützpfeiler beobachtet werden. Die Pfeiler entsprachen hinsichtlich ihrer Form den Pfeilern des Zeughauses. Da die Mauern im Bereich des Busbahnhofes nur so weit freigelegt wurden, wie sie von der Verlegung des neuen Kanals betroffen waren, wurde die Bastionsmauer nicht auf ihrer gesamten Höhe und Länge erfaßt.

Der Brückenpfeiler war der Bastionsmauer nach Südwesten vorgelagert. Er befand sich an der südlichen Grenze des Untersuchungsbereichs und konnte daher nicht vollständig untersucht werden. Die Nordostseite des Pfeilers war aus roten Sandsteinquadern errichtet worden, die an der Nordecke bossiert waren. Anders als die bossierten Basaltquader wiesen die Sandsteinquader keine Steinmetzzeichen auf. Südwestlich der Sandsteinquader hatte man den Brückenpfeiler aus Basaltbruchsteinen erbaut. Der Abschluß des Mauerwerks verlief leicht bogenförmig, was darauf hindeutet, daß ab der betreffenden Stelle die Brücke aus Stein bestanden hatte. Auf dem sogenannten Metzgerplan von 1684 / 1735 sind Bögen zwischen den Brückenpfeilern dargestellt, die eine Brücke mit Geländer tragen.

Die Rondelle waren durch gerade verlaufende Mauern, sogenannten „Kurtinen“ verbunden. Die westliche Kurtine konnte auf einer Länge von 110 Meter dokumentiert werden. Ein Abschluß der Mauer wurde jedoch nicht erreicht. Die Mauer wies eine Breite von 1,30 Meter auf und war an einigen Stellen über 4 Meter hoch erhalten. Ihr guter Erhaltungszustand ist darauf zurückzuführen, daß die Mauer zum Fundament für moderne Mauern genutzt worden war, etwa für einen Stromverteiler der Stadt Hanau, der sich im Nordwesten der Untersuchungsfläche befand und unmittelbar auf der renaissancezeitlichen Mauer gründete. Die östliche Kurtine erstreckte sich vom Bereich des „Forum Hanau“ bis auf das Gelände des zentralen Busbahnhofs. Sie hatte eine Gesamtlänge von etwa 129 Meter

Sowohl die östliche also auch die westliche Mauer knickten im Bereich des Freiheitsplatzes um etwa 90 Grad nach Norden ab und stießen an die bereits im Spätmittelalter errichteten Türme. Die Schauseiten der Kurtinen wiesen zwei Reihen roter Sandsteinquader auf. Ähnlich wie die bossierten Basaltquader an der Rondellmauer dienten diese Quader der Machtdemonstration. Daher waren sie auch nur im sichtbaren, nicht vom Rondell verdeckten Bereich verwendet worden. Gegründet waren die Mauern wiederum auf einem Holzrost.

Auf dem sogenannten Metzgerplan ist im Bereich des mittleren Rondells ein annähernd quadratischer Bau dargestellt, der leicht schräg zum Rondell angelegt ist. Dabei handelt es sich um das Zeughaus. Während der Ausgrabungen konnte für das Gebäude eine Innenfläche von 26,5 mal 27,2 Meter festgestellt werden. Die Mauern hatten eine Mächtigkeit zwischen 1,50 und 1,60 Meter und waren an einigen Stellen fast 5 Meter hoch erhalten. Das Fundament ruhte nicht erwartungsgemäß auf einer Konstruktion aus Holzbalken, sondern wurde durch bis zu 50 mal 80 Zentimeter große Basaltbruchsteine verstärkt. West- und Ostwand wiesen zusätzlich an der Innenseite drei oder vier mit den Mauern verzahnte Stützpfeiler auf. Vermutlich trugen diese Pfeiler den Unterbau für das dargestellte Flachdach. An den Außenseiten der Mauern befanden sich weitere Stützpfeiler (Ost- und Westmauer 3 Pfeiler, Nordwand 1 Pfeiler), die jedoch lediglich als Zierelemente gedient hatten. Die Pfeiler waren stumpf an die Mauern angesetzt und sprangen nach unten immer weiter von den Wänden vor. An den Ecken der Pfeiler saßen bossierte Basaltquader, welche die gleichen Steinmetzzeichen wie am Rondell aufwiesen.

Der Innenraum wurde durch zwei N - S verlaufende Mauern gegliedert, die einen Zugang zum südlich vorgelagerten halbrunden Turm bildeten. Die westliche stammte vermutlich von einem ins Spätmittelalter datierenden Vorgängerbau des Zeughauses. Der Turm war über eine Treppe aus roten Sandsteinquadern begehbar. In der dem Turminneren zugewandten Zeughauswand konnten auf der Höhe der unteren Treppenstufe Balkenlöcher des Dielenbodens festgestellt werden. Nach Westen und Osten wiesen Schießscharten in die Grabenzone, die zu einem späteren Zeitpunkt zu Fenstern umgebaut worden waren.

Der Wassergraben südlich der Bastion hatte etwa eine Breite von 30 Meter Das Breitenmaß konnte lediglich in der Südostecke der Untersuchungsfläche ermittelt werden, da dort ein etwa 5 Meter langer Abschnitt der Kontreeskarpe untersucht werden konnte.

Die Kontreeskarpe war nur 65 Zentimeter hoch erhalten und gründete anders als die Rondell­mauer nicht auf Holzbalken. An der Grabensohle konnte noch das dunkelbraune bis schwarze, etwa 0,6 - 0,7 Meter mächtige Grabensediment beobachtet werden. Oberhalb des Grabensediments befanden sich Planierschichten mit Keramikmaterial aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als die Anlage geschleift worden war. Neben Keramik, Glas und Metallfunden kam organisches Material in Form von Leder zutage, dessen Erhaltung das feuchte Milieu begünstigte hatte. So wurden zahlreiche Schuhsohlen gefunden.

Aus dem 15./16. Jahrhundert stammte eine Bauernwehr, die in der Grabenzone angetroffen wurde. Das einschneidige Hiebmesser saß in einer Lederscheide, auf deren Außenseite sich ein kleines Einsteckmesser befand. Beide Messer waren in einem sehr guten Zustand und vermutlich kaum benutzt worden. Bei einer Bauernwehr handelte es sich um eine typische Verteidigungswaffe der zivilen Bevölkerung. Da das Tragen von zweischneidigen Schwertern und Dolchen in der beginnenden Renaissance dem Adel vorbehalten war, führten Bauern und Händler oftmals solche Hiebmesser mit sich.

Besonders zahlreiche Funde konnten in der südöstlichen Grabenzone geborgen werden. Vermutlich resultiert die Funddichte aus einer Verengung des Grabens durch eine Wehr. Geht man davon aus, daß der Graben regelmäßig gereinigt worden war, müssen Wehre zur Schließung einzelner Grabensegmente existiert haben. Im Süden des Rondells konnte möglicherweise ein Teil eines solchen Wehrs dokumentiert werden. Es handelte sich um einen 2,30 Meter breiten Steg, der etwa 7 Meter in die Grabenzone hineinragte. Errichtet worden war der Steg aus Basaltbruchsteinen und handlichen Quadern aus rotem Sandstein. Am Rand konnten Aussparungen festgestellt werden, die auf weitere Bauteile aus Holz schließen lassen. Neben der Interpretation als Wehr erscheint es auch denkbar, daß es sich um eine Brücke handelte, jedoch ist in keiner bildlichen Darstellung der Stadt Hanau in diesem Bereich der Anlage eine Brücke verzeichnet.

Trotz der recht guten Quellenlage zur renaissancezeitlichen Stadtbefestigung Hanaus konnten die Ausgrabungen neue Erkenntnisse liefern. So zeigte sich, daß die existierenden Pläne nicht der Realität entsprechen, sondern ein geschöntes Bild darstellen. Das Rondell, das auf den Plänen eine halbrunde Form aufweist, hatte eigentlich einen polygonalen Umriß mit unterschiedlich langen geraden Abschnitten. Das Zeughaus ist auf dem sogenannten Metzgerplan als quadratischer Bau mit Flachdach dargestellt. Die vorgelagerten Stützpfeiler sind auf keiner Abbildung wiedergegeben. Andere Pläne unterschlagen das zur Zeit ihrer Erstellung bestehende Zeughaus offenbar ganz bewußt. Dies unterstreicht zum wiederholten Mal die Notwenigkeit, auch die Neuzeit anhand archäologischer Methoden zu erforschen. Bis in die Moderne hinein sind immer wieder Perioden und Räume zu verzeichnen, in denen Baulichkeiten bewußt nicht schriftlich oder zeichnerisch dokumentiert wurden.

 

 

Straßen südlich des Freiheitsplatzes

 

Hammerstraße:

Die Schreibweise „Hammerstraße“ ist an sich falsch, weil die Straße nach dem Erbauer des Hauses Nr. 5 (heute: Sauerwein, schon in der Nähe des Marktplatzes), dem Bürgermeister und Colonel Hamer genannt worden ist. Sie müßte also „Hamerstraße“ heißen (allerdings wurde der Name auch „Hammer“ geschrieben).

Im September 1972 wurde die Straße umgewidmet und ging als erste permanente Fußgängerzone Hanaus in die Geschichte ein (Eine Postkarte ist dem Ereignis gewidmet). Der damalige Oberbürgermeister Hans Martin enthüllte die entsprechenden Verkehrsschilder, die Geschäfte spendierten 1.000 Würstchen, Fußbälle, Luftballons und ein Gewinnspiel mit 75 attraktiven Preisen. Im Jahre 1988 folgte die Rosenstraße als weitere innerstädtische Fußgängerzone (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 131).

In der Hammerstraße in der Nähe des Freiheitsplatzessteht steht eine Figur des Hanauer Märchenpfads. "Brüderchen und Schwesterchen" von Annbegret Kon und Dietrich Heller. Elf Skukptiren sind zwischne Schloßgarten ubd Französischer Allee auf dem Hanauer Märchenpfad verteilt. Nach einem nationalen Bildhauerwettbewerb mit über 170 Einsendu gen von 74 renommierten Künstlerinnen und Künstlern wurden im Frühjahr 2016 zehn MMärchenskulpturen.in der Innnestadt umgesetzt. Spannend ist zu sehen, wie unterschiedliche Bildhauer die Thematiken umgesetzt haben, von monumental über filigran bisv ironscih ist alles dabei.

 

Zusammen mit den Orten der einstigen Geburts- und Wohnhäuser der Familie Grimm und natürlich dem Nationaldenkmal auf dem Neustädter Marktplatz bilden sie den „Hanauer Märchenpfad“. Die Skulpturen zeigen „Märchen aus der Maingegend“, die den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm einst von Jeanette, Amalie und Marie Hassenpflug für ihre berühmte Sammlung der Kinder- und Hausmärchen erzählt worden sind. Alle hochwertigen Kunstwerke konnten durch Patenschaften von Hanauer Bürgerinnen und Bürgern sowie Hanauer Stiftungen realisiert werden. Sie erfreuen täglich viele Hanauerinnen und Hanauer und Gäste aus Nah und Fern.

In der Mitte der Hammerstraße auf der Westseite war früher das Haus des „Hanauer Anzeiger“, dessen Gelände sich noch bis weiter hinter das Haus ersteckte. Heute ist er im Osten der Stadt in der Donaustraße.

 

 

Langstraße:

Die erste Querstraße zur Hammerstraße ist die Langstraße. Am Eckhaus Langstraße 47 Hofbuchhandlung Alberti) wurde 1825 Friedrich Karl Hausmann. Ab 1870 war er Direktor der Zeichenakademie, unter seiner Leitung entstand im gleichen Jahr der Neubau an der Akademiestraß (Fotografie aus der Zeit um 1880 im Medienzentrum). Bekannt sind seine Deckengemälde zur hessisch-hanau­ischen Geschichte in der ehemaligen Bibliothek von Schloss Philippsruhe von 1875-1880. (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 26).

 

Weiter östlich in der Langstraße 41 (heute: Stadtladen) stand das Haus „Zur Grünen Linde“. Hier wohnte die Familie Grimm bis zum Jahre 1791 und hier wurde Ludwig Emil Grimm am 14. März 1790 geboren. Erst durch die Illustrationen der Kinder- und Hausmärchen durch Ludwig Emil Grimm, der ebenfalls gewannen die Ausgaben an optischem Wert und Reiz. Seine aquarellierte Federzeichnung zu „Brüderchen und Schwester“ entstand 1818 und schmückte als Verzierung die zweite Auflage von 1819. Sie misst nur 11,8 x 9,5 Zentimeter und befindet sich heute im Schloss Philippsruhe (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 90).

Bereits 1791 zog die Familie nach Steinau an der Straße um, wohin der Vater zum Amtmann befördert wurde. „Louis“ studierte an den Akademien in Kassel und München, stieg 1832 zum Professor auf und wurde ein bedeutender Vertreter der Romantik. Das Doppelbildnis seiner Brüder ist sein wohl bekanntestes Werk. Er porträtierte aber auch Clemens und Bettina von Arnim, Dorothea Viehmann, Nicolo Paganini, aber auch Katzen, Hunde und Mäuse. Eine seiner Spezialitäten waren Karikaturen der Verwandtschaft und skurrile Begebenheiten.

In der großen Grimm-Sammlung Schloss Philippsruhe findet sich etwa das Bild eines mit einer Botanisiertrommel ausgestatteten Männleins, das einen Fliegenpilz begutachtet. Auf seinem Hut sind Schmetterlinge und (Hirsch-)Käfer aufgespießt. Auch erinnert ein Bronzedenkmal vor dem „Hotel zum Riesen“ am Heumarkt an den Maler, Radierer und Kupferstecher, der dort 1819 Gast des Silvesterballs war, wie er in seinen lesenswerten Lebenserinnerungen schreibt. Er starb am 4. April 1863 in Kassel (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 206)

Das ehemalige Wohnhaus war jedoch kaum ausfindig zu machen. Zu finden war nur ein kleines leicht zu übersehendes Hinweisschild. Im offiziellen Stadtführer der Brüder-Grimm-Stadt wird die Adresse nur in einem Nebensatz zusammen mit dem Geburtsdatum 14. März 1790 des Malers und Zeichners Ludwig Emil Grimm, des Bruders der Brüder Grimm erwähnt.

Deshalb wurde im Juni 2015 angeregt, das Haus als einen authentischen Ort Hanauer Geschichte hervorzuheben. Von dem ehemaligen Wohnhaus ist nichts mehr zu sehen. Es ist wie die gesamte Innenstadt bei einem alliierten Luftangriff zerstört worden. Heute befindet sich dort ein Nebeneingang des Rathausgebäudes. Das alte Haus kann man nicht wieder rekonstru­ieren. Aber man kann einige Elemente wieder sichtbar und erlebbar machen. Immerhin ist Verschiedenes überliefert: Das Aussehen und die hellrote Farbe des früheren Gebäudes sind noch bekannt.

In Biographien sind Erinnerungen der Brüder Grimm an das Hanauer Wohnhaus noch gegen­wärtig. Jacob Grimm beschreibt die Mutter, wie sie zumeist in der Wohnstube auf einem Tritt am Fenster saß. Sie habe dort in den Spiegel gesehen, der draußen fest war und worin man alle Leute auf der Straße sehen konnte. Der Malerbruder Ludwig Emil Grimm hat die Mutter schließlich in einer Federzeichnung abgebildet, wie sie dort saß.

Die Fläche für die Illustration des Wohnhauses ist vorhanden. Die ausreichend große Betonwand an der Rathausrückseite lädt dazu ein. Die Hanauer Künstlergruppe „Hanau Radau“ hat sich in einem Projekt die Frage gestellt, wie man das zerstörte Wohnhaus wieder insoweit sichtbar machen kann, daß man sich einige Teile des Hauses wieder vorstellen kann. Das Haus soll mit einer Illusionsmalerei wieder erlebbar gemacht werden: Das Wohnhaus der Grimms zum Anfassen wardas Ziel. Der Künstlerentwurf will Ausschnitte des Wohnhauses lebensecht aufbereiten. Bestimmte Bauelemente wurden nicht nur gemalt. sondern mir realen Elementen hervorgehoben. So wird beispielsweise die bisherige Informationstafel auf die nachgebildete Tür montiert. Die Ereignisse im Wohnhaus wurden illustriert und in das Objekt eingebaut. Die Langstraße war Dreh- und Angelpunkt in der Kind­heit der Brüder Grimm. Hier spielten sie, besuchten ihre Verwandten und lauschten den Hanauer Bürgern bei ihren Erzählungen. Auch ihre Tante Schlemmer, die ihnen Lesen und Schreiben beibrachte, wohnte nicht weit entfernt in der Fahrstraße.

 

Fahrstraße:

An der Ecke Langstraße /Fahrstraße steht eine Figur des Hanauer Märchenpfads „Der gestiefelte Kater“ von Martin Hardt. Dies ist die Lieblingsskulptur der Hanauer, denn dieses Werk des ortsansässigen Künstlers Martin Hardt hatte bei der Bürgerwahl zur Einweihung des Pfads die meisten Stimmen bekommen.

 

Rosenstraße:

Noch ein Stück weiter quert dann die Rosenstraße. Der Rose zu Ehren wurde 1992 in Höhe Ecke Langstraße ein Rosenbrunnen errichtet. Bildhauer Hagen F. Häuser (1943–2017) setzte eine stilisierte Edelblüte aus Bronze auf einen roten Granitblock, der im Sommer durch kleine Fontänen Wasser führt (Über den Namen und das südliche Ende vergleiche Nürnberger Straße).

 

Das Haus Langstraße 34 (neben Reisebüro Neckermann) hieß „Das Wasserweibchen“ und zeigt noch heute an der Fassade Reste von Sandsteinschmuck.

 

Salzstraße:

Nach Süden geht es in die Salzstraße /östlich des Markts. Vor dem Haus Salzstraße 18 (Dausien) steht eine Figur des Hanauer Märchenpfads „Tischlein deck Dich“ von Hatto und Christoph Zeidler

 

 

Marktplatz

Unter der Leitung des kommissarischen Oberbürgermeisters Karl Molitor und Direktors des Arbeitsamtes Philipp Daßbach wurde von März 1946 an der sog. „Ehrendienst“ eingeführt: Ohne Arbeiten gab es keine Lebensmittelkarten. Hätte man den 850.000 Kubikmeter fassenden Schutt auf dem Marktplatz aufgerichtet (120 mal 80 Meter Grundfläche), wäre eine Pyramide von 180 Metern Höhe entstanden (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 75. Bild von der Trümmerräumung, Marktplatz Hanau 1946 im Medienzentrum).

 

Neustädter Rathaus:

Pläne für einen Rathausbau der Neustadt Hanau existierten schon bei Stadtgrün­dung. In einem Plan von 1597 taucht ein zu erbauendes Rathaus der Neustadt auf, an der Nordseite des Marktplatzes blieb ein Bauplatz frei. Die Ratsherren der Neustadt mußten abwechselnd in ihren Privathäusern tagen. Aber an der, an dem am 31. Juli 1606 der Grundstein für ein Rathaus gelegt und eine Mauer zum Abschluss des Rathausplatzes errichtet wurde. Wegen fehlender Haushaltsmittel mussten aber die weiteren Bauarbeiten ruhen. Die freie Stelle diente in der Folgezeit als Holzhof und Lagerplatz. Später wurde hier eine provisorische Bürgerwacht errichtet.

Erst über hundert Jahre später, 1725 bis 1733, wurde das barocke „Neustädter Rathaus“ realisiert und damit die Häuserzeile geschlossen.

 

Baudirektor des Neustädter Rathauses war Christian Ludwig Hermann. Am 11. Juni 1725 wurde im Beisein von Graf Johann Reinhard III. von Hanau-Lichtenberg ein neuer Grundstein gelegt. Der „Herr Hermann, Bau-Meister ihro Hochgräflichen Gnaden zu Hanau“, machte einen Riß „vor das Neu erbauende Rathaus nach dem Grundriß 3 Stockwerk hoch mit Läng 88 schuh, Breit 46 Schuh, mit einem französischen Dach“. Hammer und Kelle von der Grundsteinlegung des Neustädter Rathauses in Jahre 1725 sind im Bestand des Historischen Museums Hanau Schloss Phil­ippsruhe erhalten (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 128)

Gebunden an die Weisungen des Rates, der seine Vorstellungen berücksichtigt sehen wollte, stand er hier vor der Aufgabe, ein repräsentatives Gebäude zu schaffen. Gleichzeitig mußte er die ältere Bebauung des Platzes berücksichtigen. Es galt, das Ge­bäude in die Häuserzeile einzufügen aber dennoch als Sitz des Rates hervorzuheben. Lei­der geben die Hanauer Akten nicht darüber Auskunft, inwieweit Hermann, auch über die Fertigung der Risse hinaus, noch Einfluß auf die Ausgestaltung nahm. Es existieren in den Bauakten einige Detailzeichnungen. so u. a. zum Balkongitter, die aber alle ohne Signatur sind und dort, wo Erläuterungen zu diesen Entwürfen gemacht wurden, sind die Schrift­züge nicht identisch mit denen Hermanns. Belegt ist er demnach nur als Architekt, der Fassade und Raumaufteilung gestaltete.

 

Der Rohbau war bereits 1726 fertiggestellt. Bis Ende 1726 war der Rohbau ausgeführt und unter ein „französisches“ Dach gebracht. Der weitere Ausbau ging jedoch wesentlich langsamer voran. Im Frühjahr 1728 schienen die durch Baurechnungen belegten Weißbinderarbeiten auf ein baldiges Ende der Bauzeit hinzuweisen-. Als bauleitende Ratspersonen sind I. S. Baron senior und Heinrich van Alphen überliefert. Die Gesamtkosten betrugen 20.022 Gulden. Die festliche Einweihung fand am 5. November 1733 statt.

Acht Jahre später, im Jahre 1733, war auch der Innenausbau vollendet. Erst am 5. November 1733 konnte die Einweihung des Gebäudes gefeiert werden. Wieder war der Graf erschienen, diesmal begleitet von der Gemahlin seines ver­storbenen Bruders. Ein Bild dieses 1733 eingeweihten Rathauses kann man sich anhand der Zeichnungen in der Chronik Dhein machen. Die Aufrißzeichnung zeigt uns das Rat­haus mit dem ursprünglichen Dach. ohne das Uhrtürmchen und mit zwei mächtigen Schornsteinen auf dem Dachfirst.

 

Baubeschreibung: Das Neustädter Rathaus ist ein herrlicher Barockbau mit einem Dreiecksgiebel, Wappenschmuck und einem schönen sechseckigen Uhrtürmchen. Der dreigeschossige querorientierter Bauwendet sich mit seiner Hauptfassade dem Marktplatz zu. Ursprünglich in eine Baulücke eingepaßt. d. h. in seiner Ausdehnung an vorgegebene Bedingungen gebunden, konnte es 23,74 Meter breit werden. Die Tiefe des Gebäudes beträgt 18 Meter und es erreicht bis zum Abschlußgesims eine un­gefähre Höhe von 12,50 Meter.

Die Hauptfassade, die völlig mit rotem Sandstein verblendet ist, zeigt eine strenge Gliederung.

Die neun Achsen der Vorderfront, die in je drei Fensterachsen geschieden sind, ergeben ein harmonisches Verhältnis der einzelnen Teile. Die drei mittleren sind zu einem leicht vorsprin­genden Risalit zusammengefaßt. Wie beim Frankfurter Tor werden die Geschosse durch einfache Sand­steinbänder getrennt. Die Ecken werden durch breite genutete Lisenen betont. Das Erdgeschoß wird gebildet von neun Arkaden.

 

Der Dreiecksgiebel mit dem Wappenschmuck in qualitätvoller Steinmetzarbeit hebt den Mittelteil zusammen mit dem Balkon im ersten Obergeschoß aus der Front. Der Dreiecksgiebel über den drei Mittelachsen zeigt plastischen Schmuck aus hellgrauem Sandstein. Die Wappenkartusche mit dem farbig hervorgehobenen Allianzwap­pen des Grafen Johann Reinhard III. (1665 – 1736) und seiner Gemahlin Dorothea Friederike von Brandenburg-Ansbach (1676 – 1731 wird von zwei sitzenden Gestalten flankiert. Wir sehen Justitia mit Waage und Zepter. Ihr zu Füßen ein Adler mit Schwert. Die Frauenfigur auf der rechten Seite symbolisiert den Frieden. Sie hält Fackel und Buch und wird von einem Kra­nich begleitet. Im Balkongeländer des ersten Stockes ist das Wappen der Neustadt, die vor den Hanauer Sparren sitzende „Belgia“, zu sehen. Der erst 1755 aufgebaute Glockenturm wird vom Hanauer Wappentier, dem Schwan, als goldene Wetterfahne bekrönt (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 127)

 

Erstes und zweites Obergeschoß sind ähnlich gestaltet. Die Fenster zeigen hier eine schlichte Sandsteinrah­mung und auch ihr Brüstungsfeld wird durch einen plastisch vorspringenden Rahmen be­tont. Das erste Obergeschoß wird durch die hier ein wenig höheren Fenster und den Bal­kon mit dem wappengeschmückten Gitter betont. Der Balkon ist durch drei Türen zugäng­lich, die durch ein „Bekrönungsgesims“ hervorgehoben werden.

Das geschieferte Mansarddach wird von mehreren Gauben durchbro­chen: drei zu jeder Seite des Frontispiz und zwei kleinere hochovale in der darüberliegenden Dachzone. Das Türmchen wurde später aufgesetzt und der Dachfirst war ursprünglich nicht so hoch.

Heute öffnen sich die drei mittleren zu Eingängen, während die seitlichen jeweils eine leicht zurückge­setzte Fensteröffnung zeigen. Ursprünglich waren nur die drei linken Arkaden ge­schlossen, die übrigen sechs öffneten sich zu einer schmalen Vorhalle. Man blickte durch diese Arkaden auf die zurückliegende Wand, deren Tür- und Fensteröffnungen - durch ein blindes Fenster ergänzt - Symmetrie vortäuschen sollten.

Die klare und ruhige Verteilung der Akzente, die beinahe klassizistische Sachlichkeit der Architekturglieder und der strenge Aufbau geben dem Rathaus eine gewisse Monumentalität. Es ist dem Architekten ausgezeichnet gelungen, das barocke Rathaus in die etwas trockene Atmosphäre der Neustadt Hanau an die gerade Platzwand des Marktes einzufügen. Das Rat­haus hat nichts von dem sprudelnden deutschen Barock der süddeutschen Bauten an sich, seine Haltung ist durch den französischen Einfluß am Hanauer Hof bestimmt, der früher als an allen anderen deutschen Höfen schon mit dem Bau von Philippsruhe um 1700 einsetzte (Bild in Hanau Stadt und Land, Seite 154).

 

Die ursprüngliche Raumaufteilung ist verschwunden. Da wir - wie schon erwähnt - die Grundrisse aus der Chronik Dhein besitzen. wissen wir von der Aufteilung, die Hermann vornahm. Es galt, in diesem Gebäude die Räume des Rates und der Bürgerwacht unterzubringen. Ein langgezogenes Vestibül in der Mitte zerlegte das Erdgeschoß in zwei Hälften. Rechts waren die Räume der Bürgerwacht untergebracht, die durch die davorge­legene offene Halle zugänglich waren. Die linke Gebäudehälfte stand dem Rat zur Verfü­gung. Die den vorderen Teil einnehmende große Ratsstube war ebenfalls direkt von der Vorhalle aus zu betreten, während der Zugang zu den übrigen Räumen durch das Vestibül erschlossen wurde. Die Treppe zu den oberen Geschossen fand Platz in dem rückseitigen Risalit.

Im ersten Stock befanden sich die repräsentativen Räume, so im vorderen Bereich ein großer Ratssaal, im zweiten Stock sehen wir dagegen eine kleinere Raumaufteilung. die ich ähnlich auch für die Mansarde vermuten möchte. doch liegen hier keine Pläne vor.

In den fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts wurde das Dach des Rathauses umgestaltet. Man setzte auf das Rathaus ein Türmchen auf, das Raum für eine Uhr mit Glockenspiel bot. Am 22. Dezember 1751 war ein Polizeidekret erlassen worden, das dem Rat der Neu­stadt nahelegte, eine Uhr auf dem „...Rathaus oder sonstigem schicklichen Orthe...“anzu­bringen. Die Stadtväter hatten es aber mit der Anschaffung dieser Uhr nicht sehr eilig. Erst als die Stadt von der Herrnhuter Brüderkolonie bei Büdingen eine Uhr samt Schlagwerk günstig kaufen konnte, kam man der Aufforderung nach. Das Rathaus erhielt sein Türmchen. gleichzeitig wurde der Dachfirst erhöht, auch wurden die auf Dheins Ansicht zu sehenden Schornsteine nach hinten versetzt

Auch im Innern wurde das Rathaus umgestaltet. In der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hunderts muß ein Umbau stattgefunden haben. Der Grundriß, der der Chronik Dhein beigefügt ist, zeigt uns die ursprüngliche Raumaufteilung. Gegen Ende des 19. Jahrhun­derts war die Halle, die hinter sechs zunächst offenen Arkaden lag, verschwunden und es öffneten sich nur noch die mittleren drei zu einem kleinen Vorraum.

 

Zum Neustädter Rathaus gehörte ursprünglich ein separater Hinterbau, der das Grundstück nach der heutigen Langstraße hin abschloß. Aus der obenerwähnten Bauakte erfährt man, daß Hermann auch die Pläne zu diesem Gebäude lieferte, das dann in den Jahren 1739 bis 1741 gebaut wurde. Aus einem Ratsprotokoll vom 16. Juni 1739 geht hervor, daß Baudirektor Hermann einen Riß zum Hinterbau geliefert hat, den man ganz aus Stein errichten will und der Ratsdienerwohnung, Gefängnis und Archiv beherber­gen soll. Karl Dilmann beschreibt den Bau in einem Aufsatz. Es war demnach ein dreistöckiges Gebäude mit einer Tordurchfahrt, die den Zugang zum eigentlichen Rathaus von der Langstraße her ermöglichte.

Auf einem Foto ist zu erkennen das dunkle Bruchsteinmauerwerk, und man sieht den Torbogen der bei Dielmann erwähnten Durchfahrt, die mit einem schlichten Sandsteinrahmen versehen und von einem Wappenstein ge­krönt war. Als man den modernen Verwaltungsbau errichtete, beseitigte man die Reste des Hin­tergebäudes. Der Wappenstein über dem Torbogen kam ins Historische Museum im Schloß Philippsruhe und erinnert dort an ein Bauwerk von Hermann, das heute spurlos verschwunden ist.

 

Die Rückfront des Rathauses zeigt sich als Putzfassade mit Sandsteingliederung. Eck­quaderung und die auch hier zu sehenden schmalen horizontalen Bänder aus rotem Sandstein heben sich stark vom hell verputzten Mauerwerk ab. Auch die Rückfront zeigt neun Fensterachsen. Wieder sind die drei mittleren zu einem Risalit zusammengefaßt, doch springt dieser Risalit so weit vor, daß in jedem Stockwerk ein zusätzliches Fenster bzw. im Erdgeschoß einmal eine Tür an seinen beiden Seitenwänden Platz findet.

Die Fenster ent­sprechen denen der Vorderfront. Sie zeigen eine schlichte Rahmung und werden durch ein einfaches Brüstungsfeld. beides aus rotem Sandstein, betont. Etwas abweichend sind die Fenster des Erdgeschosses. Sie werden nach oben hin durch einen Segmentbogen nicht ge­rade abgeschlossen. Entsprechend der Vorderfront zeigt das Dach je drei Dachgauben links und rechts des Mittelrisalites.

Bei der Wiederherstellung in den sechziger Jahren wurde eine kleine Veränderung vorge­nommen. An Stelle des Mittelfensters des Risalites war hier im Erdgeschoß ursprünglich, wie auf alten Fotografien zu sehen ist, der Kellerzugang mit einem darüberliegendem quer-ovalen Fenster. Die ursprünglich verbauten Seitenwände erhielten in den 60er Jahren Fenster im zweiten Stock und in der Mansarde. Auch hier sieht man heute schmale Sandsteinbänder zwischen den Geschossen.

 

Das Innere des Rathauses zeigt heute keinerlei Ähnlichkeit mit dem Hermannschen Bau. Man nutzt das Gebäude heute in erster Linie für Repräsentations- und Ausstellungs­zwecke. Im Eingangsbereich des Rathauses steht heute das Uhrwerk der Wallonisch-Niederländischen Kirche aus dem 16./17. Jahrhundert: Das schmiedeeiserne Meisterwerk mit zwei Messingglocken kam ursprünglich aus dem Steinheimer Tor aus der Neustadtbefestigung und wurde am 11. November 1611 im ehemaligen gemeinsamen Turm der Doppelkirche montiert. Die Waaghemmung ist 1742 auf die zeitgemäßere Pendelregulierung umgestellt worden. Die Gewichte im Keller werden mit Tauen durch Schlitze im Fußboden verbunden (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 125).

 Uhrmacher war Heinrich Joost, Hof-, Stadtuhr- und Großuhrmacher. Im Jahre 1809 wurde es renoviert. Im Jahre 1899 hatte das Uhrwerk ausgedient, denn es konnte nicht mehr ohne besondere Regulierung den Anforderungen der Neuzeit folgen und die mittlere Zeit auf die Sekunde bestimmen. So wurde es dem Hanauer Geschichtsverein für sein Museum im Altstädter Rathaus, dem heutigen Gold- schmiedehaus, überwiesen. Schlossermeister Adam Wörner hat es dort vermutlich am 1. Mai 1905 zusammengebaut, so eine eingeschlagene Marke.

Aufgrund seiner Größe und Gewichts war das Uhrwerk während der Luftangriffe und der Zerstörung Hanaus zu Ende des Zweiten Weltkrieges nicht ausgelagert worden. Hugo Birkner konnte es in den Nachkriegsjahren aus den Trümmern bergen. Die Einzelteile waren bis Anfang der 1980er Jahre in einem Kellerraum des ehemaligen Gefängnisses im Fronhof gelagert.

Von dort wurden sie in das Depot des Historischen Museums Hanau Schloss Philippsruhe gebracht.

Der Zahn der Zeit ging an dem eisernen Koloss aus dem Mittelalter nicht spurlos vorüber. Diplom-Restaurator John-Ernst Ludwig säuberte das schmiedeeiserne Meisterwerk im Dezember 2018 fachmännisch. Im Jahre 1990 restaurierte Gerhard Conrads, Uhrmachermeister aus Aachen. Dank der großzügigen Unterstützung der Frankfurter Sparkasse 1822 wurde das Uhrwerk 1999 erneut überholt und schließlich im Hanauer Stadtladen aufgestellt. Eine Informationstafel im Eingangsbereich informiert seitdem über die Geschichte des Meisterwerks (MHB 24.12.2018).

 

Als am 19. März 1945 ein großer Luftangriff die Stadt Hanau fast vollständig zer­störte, wurde auch das Neustädter Rathaus nicht verschont. Es brannte völlig aus und nur das Mauerwerk blieb erhalten. Erst in den Jahren 1962 bis 1965 wurde das Bauwerk wieder hergestellt. Beim Wiederaufbau erhielt das Rathaus äußerlich das Aussehen von 1755, d. h. es wurde wieder ein hohes Uhrtürmchen auf das Dach gesetzt. Der zuständige Archi­tekt, Theo Pabst aus Darmstadt, löste das Rathaus aus dem Verband der Häuserzeile und ließ es isoliert stehen. Es wird heute hufeisenförmig von einem modernen Rathausbau umgeben, mit dem es aber nicht direkt verbunden ist

 

Die Oberbürgermeisterkette der Stadt Hanau wurde am 24. Oktober 1924 anlässlich der Er- öffnung des Hanauer Mainhafens von Firmen aus Industrie, Handel und Gewerbe auf Anregung der IHK gestiftet und am 24. Juni 1927 im Hanauer Stadtschloss an Oberbürgermeister Dr. Kurt Blaum überreicht wurde. Sie gilt als eine der schönsten in Deutschland. Der Entwurf stammt von Professor Hugo Leven (1874-1956), dem damaligen Direktor der Staatlichen Zeichenakademie Hanau. An der Ausführung beteiligt waren mehrere Lehrer der Zeichenakademie. Die sechs Hauptkartuschen zeigen Hanauer Wahrzeichen (Neustädter Rathaus, Marienkirche, Altstädter Schloss, Altstädter Rathaus, Frankfurter Tor, Wallonisch-Niederländische Kirche) und werden umrahmt von je zwei Figuren der Stadtgeschichte (darunter Philipp II. und Juliane von Hanau, Graf Philipp Ludwig II. und Catharina Belgia von Hanau-Münzenberg, General Jakob Ramsay, Turnerführer August Schärttner). Der vordere große Anhänger trägt das Hanauer Stadtwappen, der rückwärtige eine Ansicht des Hanauer Hafens, die restlichen Bleikristallarbeiten zeigen Szenen aus Industrie, Handel und Handwerk Martin Hoppe, Objekt der Woche # 87).

 

 

 

 

Brüder-Grimm-Denkmal:

Die Stadt ist stolz auf ihre berühmten Söhne. Deswegen war kurz nach dem Tod der beiden klar, dass Jacob und Wilhelm einem Denkmal geehrt werden sollten. Zunächst mal musste sich Hanau als Geburtsort gegen Wirkungsstätten der Grimms durchsetzen - auch Kassel, Göttingen und Berlin hatten Interesse angemeldet. Aber die Spenden kamen zusammen und auch die Zusage für großzügigen Zuschuss vom preußischen Staat.

Bereits 1853 - noch zu Lebzeiten der Grimms - hatte der Hanauer Bürger Pedro Jung die Idee, den beiden Märchensammlern und Sprachforschern ein Denkmal in ihrer Geburtsstadt zu errichten und stellte dafür 500 Gulden zur Verfügung. Er lag mit seinem Vorschlag im Trend der Zeit, war es im 19. Jahrhundert doch zur regelrechten Manie geworden, geschichtliche Größen mit Standbildern zu würdigen.

Jungs Initiative blieb allerdings erfolglos, ebenso wie die der Hanauer Zeitung im Jahr 1870 und die von Oberbürgermeister Rauch elf Jahre später. Die entscheidende Anregung lieferte schließlich der Gymnasialoberlehrer und Archäologe Dr. Georg Wolff auf Versammlungen des Hanauer Geschichtsvereins und der Wetterauischen -Gesellschaft im Januar 1884. Schon wenig später wurden ein großes Komitee und ein Grimmverein gegründet und das Vorrecht der Geburtsstadt Hanau gegenüber den Wirkstätten Kassel, Göttingen und Berlin gesichert.

Für das Hanauer Nationaldenkmal warben die Organisatoren in lokalen und überregionalen Zeitungen um Spenden. Allein das „Ministerium der geistlichen und Medicinalangelegenheiten“ sagte einen Zuschuß von 25.000 Mark zu - eine stattliche Summe, auf die Komitee und Grimmverein aber später nicht zurückgreifen konnten. Denn das Berliner Ministerium hatte quasi als „Gegenleistung“ Mitsprache bei der Wahl des Entwurfs gefordert. Elf Bildhauer hatten im Jahre 1888 ihre Modelle bei einem eigens ausgeschriebenen Wettbewerb eingesandt. Die Jury entschied zunächst - auch ganz im Sinne des preußischen Spenders - indem es dem Hanauer Professor Max Wiese, der Direktor der Zeichenakademie war, den ersten Preis zuerkannte.

Doch die Bevölkerung angestachelt - auch von der Hanauer Zeitung, die in zahlreichen Artikeln kräftig Stimmung machte - war mit diesem Votum nicht einverstanden. Den Siegerentwurf fanden die Hanauer unmöglich. Wie Jacob da väterlich die auf die Schulter seines sitzenden Bruders legt! Als würde Wilhelm leiden! Und überhaupt, wie Anarchisten sähen die aus, verschlagen geradezu!

In die erbitterten Streitigkeiten, die monatelang das Thema Nummer eins in der Stadt waren, schaltete sich schließlich auch Hermann Grimm ein: „Jakob würde nie so dagestanden, Wilhelm nie so dagesessen haben“, lästerte er über Wieses Modell. Beleidigt zog das Ministerium 1890 sein Geld-Versprechen zurück.

Die Bürger favorisierten die Entwürfe, die auf Platz zwei und drei gekommen waren: den des Berliner Künstlers Gustav Eberlein und den des Münchner Bildhauers Syrius Eberle. Das Komitee beugte sich dem Furor Volks und war bereit, von seiner Festlegung abzurücken. Stattdessen sollte Wilhelm Grimms Sohn Herman entscheiden - ein Kunst- und Literaturhistoriker - wie Denkmal auszusehen hatte. Der fand den drittplatzierten Entwurf am besten, und so wurde es schließlich gebaut. „Dieses Denkmal wird Hanau, Hessen und Deutschland zur Ehre gereichen“, befand Hermann Grimm 1894 enthusiastisch. So machte schließlich der Entwurf von Eberle das Rennen. Das realisierte Modell kann heute im Historischen Museum Hanau Schloss Philippsruhe besichtigt werden. Ende der achtziger Jahre wurde eine Kopie des Monuments samt Neustädter Rathaus für das japanische Glücks-Königreich auf der Insel Hokkaido nachgebildet (Martin  Hoppe, Objekt der Woche, # 81)

Es mußte weiter gesammelt werden. Es dauerte noch weitere Jahre, bis das Denkmal endlich vollendet und auf dem Markplatz plaziert werden konnte. Es ist 6,45 Meter hoch und sieben Tonnen schwer. Es hat 95.000 Mark gekostet. Als es am 18. Oktober 1896 enthüllt wurde, nahmen die Festredner das publikumswirksame Ereignis zum Anlaß, deutsch-nationales Kaisertum zu feiern - ein Gedankengut, das mit den Grimms herzlich wenig tun hatte: Ihre politischen Leitgedanken waren Freiheit und Demokratie.

Die schweren Bombenangriffe im zweiten Weltkrieg konnten dem Denkmal nur wenig schaden. Auch den verheerenden Bombenangriff auf die Stadt am 19. März 1945 überstand es weitgehend unbeschadet. Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges bildete das Standbild der Brüder Grimm deshalb ein beliebtes Fotomotiv für amerikanische Soldaten, die sich vor den monumentalen Märchensammlern ablichten ließen. Heute ist das Denkmal umgeben von Verwaltungs- und Geschäftsgebäuden. Die Wiederherrichtung hat der Hanauer Geschichtsverein übernommen. Während sich das Gesicht des einstmals in sich geschlossenen Marktplatzes in den vergangenen hundert Jahren völlig verändert hat, steht das Nationaldenkmal immer noch an seinem ursprünglichen Platz.

Zum Zeichen der Hoffnung wurde die Doppelstatue, als nach Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg die Hanauer Innen in Schutt und Asche lag. Alles war kaputt, nur Jacob und Wilhelm blieben wie durch ein Wunder unzerstört auf ihrem Sockel stehen. Und nach den rassistischen Anschlägen vom Februar 2020 wurde das Denkmal zum zentralen Platz für die Trauer um neun tote Menschen. Und so ist dieses Monument für die Hanauer nicht nur einfach eine Statue, sondern ein Symbol gelebter Geschichte in Stadt - in guten wie in schwierigen Zeiten. Man erzählt sich: In der Silvesternacht tauschen die Brüder miteinander. Dann darf sich der andere für ein Jahr lang hinsetzen.

 

Grimmdenkmal: Höhe: 6,45 Meter, 1896.

Bildhauer der Figurengruppe: Syrius Eberle / München,

Sitzende Figur: Wilhelm Grimm und Sockel: Ruppsche Erzgießerei / München;

Stehende Figur Jacob Grimm: Gießerei von Miller / München;

Steinsockel aus schwedischem Granit: Dykerhoff & Naumann / Wetzlar;

Klassizistischer Bronzesockel und Ziergitter: Architekt Friedrich August von Thiersch.

Aufstellungsarbeiten: Jäger & Stumpf / Hanau.

Wer steht, wer sitzt? Die „Hanauer Mär“ besagt, dass sich die Brüder an Silvester um 0 Uhr abwechseln, weil es sonst auf Dauer ungerecht wäre (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 81)

 

Wochenmarkt:

Mit der Erteilung der Stadtrechte für Hanau am 2. Februar 1303 durch König Albrecht an Graf Ulrich I. von Hanau erhielt die Stadt auch das Marktprivileg. Mittwochs wurde ein Wochenmarkt zum Nutzen jeder Art von Handel gehalten und den reisenden Marktleuten Schutz zugesichert. Der Markt war einst auf dem Altstädter Markt. Mit dem Marktprivileg verbunden war auch das Recht, zwei Jahrmessen abzuhalten, die erste Messe fand allerdings erst 1589 statt.

Aufgrund der Lage Hanaus mit seinen Grenzen zur Freien Reichstadt Frankfurt, zum Erzbistum Mainz auf der anderen Mainseite, zu isenburgischen und anderen Grenzen waren verschiedene Maße und Gewichte und Münzen nicht ungewöhnlich. Am heutigen Goldschmiedehaus findet sich noch die eiserne Elle, ein Längenmaß, als verbindliche Einheit für die Marktleute damaliger Zeit. In den damals offenen Arkaden des Gebäudes befand sich die Waage. Auf dem Platz steht noch der Ziehbrunnen, der Gerechtigkeitsbrunnen, zur Wasserversorgung.

In der „Capitulation“, dem Vertrag zur Neustadtgründung zwischen und wallonischen und niederländischen Neubürgern und dem Grafen Philipp Ludwig II. von Hanau, war in Artikel 16 das Recht auf einen Markt für die Neustadt vereinbart. Mittwochs und Samstag wurde Markt gehalten. Der Rat der Stadt bestimmte einen Marktmeister zur Aufsicht, der Betrug mit Maßen und Gewichten verhindern sollte.

In der neueren Geschichte der Stadt entwickeln sich spezielle Märkte. So wurde ein Fruchtmarkt (Kornmarkt) zeitweise auf dem Platz des Heumarktes gehalten: Ein Weinmarkt war um den Kran am einstigen Mainkanal. Der Fleischverkauf fand bei den Metzgern an der Schirn, der heutigen Nordstraße, statt. Ein Viehmarkt wurde am Sandhof, (dem heutigen Heinrich-Fischer-Bad) gehalten.

Heute heißt es, der Hanauer Markt er sei der schönste Wochenmarkt Hessens. Zu Füßen des Brüder-Grimm-Denkmals liegend dreht sich auf dem Neustädter Marktplatz jeden Mittwoch und Samstag alles um Obst und Gemüse, Wurst und Käse, Blumen und Kräuter, bevorzugt aus der Region. Und es geht ums Sehen und Gesehenwerden. Im Jahre 2016 feierte der Samstagsmarkt sein 400-jähriges Bestehen (nur der Markt am Samstag, nicht der Markt überhaupt

Daß der zweite Markttag in der Neustadt auf einen Samstag gelegt wurde, hat nach Meises Vermutung mit den jüdischen Hanauern zu tun. „Während der Frankfurter Fettmilchunruhen des Jahres 1614 hatten viele Frankfurter Juden ihre Zuflucht in Hanau gefunden. Nach einer amtlichen Zählung am 4. Oktober 1614 waren zu den 49 Hanauer Haushalten (212 Personen) noch zusätzlich 50 Familien (209 Personen) aus Frankfurt gekommen Die Judengasse war übervölkert. Sie alle besuchten die Hanauer Wochenmärkte, waren dort aber nicht sonderlich gern gesehen. Deshalb versuchte sowohl die Alt- als auch die Neustadt, mit Hilfe einer besonderen Judenfahne die Zeit, die den Juden zum Marktbesuch zur Verfügung stand, einzuschränken. Erst wenn die rote Fahne mit dem gelben Ring, dem traditionellen Erkennungszeichen der Juden, aufgezogen war, durften Juden den Markt besuchen.

Die Räte der Neustadt haben wohl auch deshalb den Samstag als Markttag ausgewählt, weil an diesem Tag, dem jüdischen Sabbat, sicher keine Juden auf den Markt gingen. Damals habe man „unter sich“ bleiben wollen. Die bis heute ungebrochene Attraktivität des Hanauer Wochenmarkts wird durch die große Vielfalt und Frische regionaler und internationaler Qualitätsprodukte garantiert. Doch die Besucher schätzen auch die Lebendigkeit, das Markttreiben, die umtriebige Geschäftigkeit. Peter Krebs, Vorsitzender des Wochenmarktvereins, liefert eine weitere Antwort auf die Frage, warum die Hanauer ihren Markt so sei lieben: „Unser Wochenmarkt hat ein ganz besonderes Ambiente und Flair, er ist, obwohl mit nahezu 80 Ständen relativ groß, dennoch familiär.“

 

Am Markt 18 (westlich des Rathauses):

An dem Haus befindet sich seit 2015 eine Gedenktafel an den Naturforscher Heinrich Kuhl (1797-1821). Der international bekannte Naturforscher starb im September 1821 während einer

Expeditionsreise auf Java. Er entdeckte, sammelte und zeichnete hunderte Tierarten; zahlreiche Amphibien, Fische, Reptilien, Säugetiere, Vögel, Wirbellose und Pflanzen tragen seinen Namen (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 77)

 

Krämerstraße:

In westlicher Richtung vom Markt geht die Krämerstraße ab. Das Eckhaus Hammergasse 1 trägt eine Erinnerungstafel und ist das Geburtshaus von Luise Kiesselbach (1863-1929). Sie war Armenpflegerin, Frauenrechtlerin und Sozialpolitikerin als Stadträtin in München (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 61).

Im gleichen Haus war Pinhas Benjamin Oppenheimer (1836 –1911) ab 1863 als Frucht- und Getreidehändler tätig. Als Wohnadresse sind im Stadtarchiv die Rosenstraße 7 (1876) und die Nürnberger Straße 3 (1888) vermerkt. Sein Sohn Julius Seligmann wurde am 12. Mai 1871 in Hanau geboren, besuchte bis 1886 die Oberrealschule und war ebenfalls als Kaufmann tätig. Im Jahre 1888 stellte die Familie einen Auswanderungsantrag in die USA. In New York heiratete Julius Oppenheimer 1903 Ella Friedmann (1869-1931), eine Kunsterzieherin und Malerin, deren Familie bereits in den 1840er Jahren aus Bayern in die Staaten auswanderte. Sie betrieben einen sehr erfolgreichen Textilimporthandel in New York.

Ihr Sohn Julius Robert Oppenheimer kam 1904 zur Welt, studierte Physik und wurde 1927 innerhalb von nur drei Wochen bei Max Born promoviert. Er war der „Der Vater der Atombombe“. Mit dem „Trinity“-Test am 16. Juli 1945 in New Mexico begannen jedenfalls das Atomzeitalter und die Geschichte der Nuklearwaffenexperimente. Aber Robert Oppenheimer war spätere Kritiker der Massenvernichtungswaffe (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 183).

 

Die jüdische Familie von Friedrich Mayer wohnte bereits um 1900 in Hanau. Sein Vater Siegmund war als Prokurist beim Bankhaus Stern angestellt und avancierte 1930 zum Direktor der Dresdner Bank in der Krämerstraße, ehe er 1933 vom NS-Regime aus dem Amt gedrängt wurde. Der Sohn Friedrich flüchtete 1936 auf einem Frachtschiff in der Nähe des Maschinenraums mit anderen jüdischen Kindern und Jugendlichen in die USA (Kalifornien). Bruder Wilhelm konnte nach England entkommen, seine Eltern folgten und siedelten später weiter in die Nähe von San Francisco. In Übersee avancierte Friedrich (1921- 2006): – nun Frederick – Mayer, zu einem der bedeutendsten Universitätsprofessoren für Philosophie, Erziehungswissenschaften, globalen Humanismus und Kreativität. Im Jahre 2007 kam das Gedenkbuch „Schöpferische Expansion“ heraus. Die Stadt Hanau hat Dr. Franek eine umfangreiche Büchersendung von Werken Mayers zu verdanken, die in der landeskundlichen Abteilung Hanau-Hessen der Stadtbibliothek aufgenommen wurden (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 73).

In der Hammerstraße in der Nähe des Marktplatzes steht eine Figur des Hanauer Märchenpfads „Schneewittchen“ von Theophil Steinbrenner.

 

Hof- und Schwanenapotheke, Markt 17-19:

Sie bildete mit dem Nachbarhaus an der Westseite des Marktplatzes eine Einheit. Die niederländischen „Jubilierer“ Cornelius van Dahl und Hektor Schelckens ließen sich die beiden Häuser am Markt bauen. In das Doppelhaus führten zwei geschmackvolle Portale. Das Portal an der Hofapotheke überstand den Brand der Neustadt, auch Teile vorn Portal des Nebenhauses wurden gerettet. Die Zwerchhäuser gaben dem Haus das charakteristische Gesicht. Durch den großen Giebel in der Mitte des Doppelhauses ging genau die Grenze zwischen beiden Grundstücken. Voluten und abwippende Schnörkel, Obelisken und Hausteinbänder, das „Beschlagwerk“ der Zeit um 1600 und die großen Muscheln in den Giebeln der Gauben waren die stilistischen Merkmale der Renaissance, ebenso wie die beiden Portale für diese Zeit typisch sind. Das bürgerliche Wappen des Portals am Haus Nr. 19 zeigt einen Diamantring, für uns eine Erinnerung an die Tradition Hanaus als Schmuckstadt (Bild in: Hanau Stadt und Land, Seite 141).

 

Johann Dietrich Hoffstadt war Doktor der Medizin und Inhaber der Apotheken „Zum goldenden Schwan“ am Neustädter Markt (1677) und „Zum weißen Schwan“ am Altstädter Markt (1682). 

In seiner Apotheke am Neustädter Markt hing vermutlich das Gemälde „Der himmlische Theriak“ als Werbung. Das großformatige Ölgemälde (147 x 207 Zentimeter) von Johann Dietrich Hoffstadt aus dem Jahre 1693 zeigt die Arbeitsgeräte und Zutaten für die Herstellung des Theriaks: Destillierapparat, Waage, Mörser, Flaschen, Kannen, Krüge und Becher. In der Mitte halten zwei Hanauer Schwäne das Spruchband: „Sechs sind in der Arzneikunst, die des Stieres Kraft besiegen: Zucker, Biebergeil, Eisen, Kampfer, Weinstein, Gold“.

Das „wunderbare Allheilmittel“ ist seit der Antike bekannt, sein griechischer Name bedeutet „Arznei von wilden Tieren“. Ab 1595 wurde die Herstellung des dicken Breis, Pflaumenmus ähnlich, in einem mehrtägigen Spektakel in Venedig zelebriert. Als Bestandteile werden Blumen, Heilpflanzen, Rinden, Wurzeln, Harze, Balsam, Myrrhe, Honig und Gewürze, aber auch Opiate, Edelsteine und Viperngift genannt. Hoffstadt hantierte zudem mit Schlangenfleisch, Korallen, Perlen, Geweih, menschlichen Hirnschalen, Opium, spanischem Wein, Baldrian, Honig und Goldstaub (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 141)

 

Ecke Lindenstraße:

Als Johannes Hassenpflug zum Stadtschultheiß der Neustadt Hanau berufen wurde, bezog die Familie am 14. Oktober 1789 eine Wohnung im „Haus Amsterdam“ über der „Specereyhandlung“ Lossow am Neustädter Markt / Ecke Lindenstraße. Am 15. April 1799 siedelten Hassenpflugs nach Kassel über, wohin Johannes Hassenpflug als Finanzaufseher versetzt wurde. Ihre Tochter war Marie Hassenpflug, geboren in Altenhaßlau. Das Ölgemälde eines Unbekannten aus dem Jahre 1812 findet sich in GrimmsMärchenReich im Schloss Philippsruhe.

Mit ihren Schwestern Jeanette, Amalie und Susette zählt Marie zu den bedeutendsten Beiträgerinnen der Grimmschen Kinder und Hausmärchensammlung, insbesondere mit französischen Anleihen. Ihre Mutter Marie Magdalena, geborene Dresen, stammte aus der hugenottischen Einwandererfamilie Droume. Hassenpflugs trugen die „Märchen aus der Maingegend“ und damit aus der Hanauer Region bei: „Dornröschen“, „Der Froschprinz“, „Schneewittchen“, „Der goldene Schlüssel“, „Rumpelstilzchen“, „Die sieben Raben“.

Ich Bruder Ludwig Hassenpflug (1794-1862) amtierte von 1832-1837 und 1850-1855 als kurhessischer Staatsminister des Inneren, der Justiz und Ministerpräsident. Er war mit Lotte, der Schwester der Brüder Grimm, verheiratet. Wegen seiner antiliberalen Grundhaltung wurde er von der Bevölkerung „Hessen-Fluch“ genannt. An Marie Hassenpflug erinnern Gedenktafeln am Haus Lossow und am Congress Park Hanau. Marie Hassenpflug war auch Namensgeberin des Museumscafés „Marie“ im Schloss Philippsruhe Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 3)

 

Am Neustädter Marktplatz kam auch die Dichterin und Übersetzerin Louise von Ploennies (1803-1872) zur Welt (Fotografie um 1860 in der Landeskundliche Abteilung der Stadtbibliothek). Die Tochter des Hanauer Arztes, Naturforschers und Mitgründers der Wetterauischen Gesellschaft Jean Philippe Achilles Leisler (1772-1813) und der Ernestine Charlotte Sophie von Wedekind (1783-1807) kam am 7. November 1803 zur Welt. Zu ihren Werken zählen Liebes- und Landschaftsgedichte, die in zahlreichen Zeitschriften erschienen (Musenalmanach, Das Vater-land, Lewalds Europa, Morgenblatt etc.) und von Johann Karl Gottfried Loewe vertont      wurden, Sonettenkränze und biblische Dramen wie Maria Magdalena (1870) und David (1873 postum). Auch trat sie als Übersetzerin englischer Texte hervor, publizierte die Gedichtsammlungen Britannia (1843) und Englische Dichter (1867). Ihr wohl bekanntestes Werk ist „Mariken von Nymwegen“ (1853) – eine Art weiblicher Faust (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 95)

 

Brunnen:

Vier Ziehbrunnen aus rotem Sandstein. standen früher an den Ecken des Marktplatzes Im Jahre 1605 hatte der Büdinger Steinmetz Conrad Buttener den ersten dieser Brunnen errichtet, und zwar war dies der Fischbrunnen, der an der Südwestecke seinen Platz hatte. Er diente den drei anderen Brunnen zum Vorbild, die in den Jahren 1615 bis 1621 geschaffen wurden. Sie hießen Rabeneck­brunnen, Schwanen- und Zangenbrunnen. Später gesellte sich noch ein fünfter Brunnen hinzu: der im Jahre 1768 errichtete Röhrenbrunnen, dessen Obelisk von der steinernen Figur des hessischen Löwen gekrönt wurde. Als jedoch das Denkmal der Brüder Grimm seinen Platz einnahm, mußte der Röhrenbrunnen weichen und in die Philipp-Ludwig-Anlage am heutigen Freiheitsplatz umsiedeln.

Fast alle Brunnen wurden im vergangenen Krieg zerstört. Übrig blieben auf dem Marktplatz. nur ein Rest des Fischbrunnens (des letzten Brunnens, der noch Wasser gespendet hatte), und der Schwanenbrunnen von 1616, allerdings stark beschädigt. Der Schwanenbrunnen wurde restauriert von dem fast 70jährigen Steinmetz Josef Hutsteiner. Der Schwanenbrunnen ist heute an der Südseite des Platzes in der Achse Rathaus-Paradiesgasse aufgestellt. (Bild in: Hanau Stadt und Land, Seite 142).

 

 Haus „Zum Paradies“:

Die Grundsteinlegung des von den calvinistischen Glaubensflüchtlingen erbauten Hauses „Zum Paradies“ („Le Paradis“) war am 1. Juni 1597. Die Paradiesgasse, die vom Markt zur Wallonisch-Niederländischen Kirche führt, trägt ihren Namen nach diesem ersten Haus der Neustadt. Es stand nicht gleich an der Ecke, sondern es handelt sich um das Haus Nummer 7 an der Westseite der Straße. Die Bauinschrift blieb erhalten: „DAS ERSTE GEBAVT HAVS BIN ICH ZVM BAREDEIS MAN HEISET MICH VOR BRANT VND NOT MICH GOT BEIWAR DAS SELBICHE AVCH AN MEINEN NESTEN NIT SBAR 1597“ Das zweite Haus hieß „Zur Hoffnung“ („L´Espérance“).

 

Haus „Zum braunen Fels“, Markt 5: 

Das Eckhaus östlich der Paradiesgasse war das Haus „Zum braunen Fels“, Es wurde im Jahre 1599 erbaut. Der Giebel lag nach der Paradiesgasse. Sieben Achsen bildeten die Vorderfront nach dem Marktplatz. Die mittelst Fensterachse war als Risalit aus der Fassade herausgehoben. Auf diesem Mittelrisalit saß die Achse nach oben verlängernd, eine steinerne Dachgaube, die mit Bauornamentik reich geschmückt war. Unter dem kleinteiligen großen Doppelfenster saß eine Steinbalustrade. Zu beiden Seiten der Gaube standen spitze Obelisken. Zwei Voluten stiegen vom Dachgesims auf und trugen einen Architrav, auf dem ein Giebelfeld aufgesetzt war. Den Giebel begrenzten wieder zwei steigende Voluten, die eine Muschel trugen, die von einem Obelisk bekrönt war. Alle diese Bauornamente entsprachen dem Stilgefühl der Renaissance. Das Untergeschoß war durch eine Rustika-Struktur gegliedert. Auch an den Ecken des Hauses stiegen Rustika-Bänder auf. Das Portal mit den gedrehten Säulen und dem reichen plastischen Schmuck stammte aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts (Bild in: Hanau Stadt und Land, Seite 140).

 

Kaufhof

Der Kaufhof stand ursprünglich an der Ecke Nürnberger und Hirschstraße (Nürnberger Straße 18), Hier stand früher das bekannte Gasthaus „Zum braunen Hirsch“ und hier fuhren einst die Postkutschen vor. Am 24. April 1929 eröffnete nach neunmonatiger Bauzeit ein neuzeitlicher Warenpalast, ein stark am Bauhaus-Stil orientiertes Warenhaus. Die Eröffnung des Kaufhauses Tietz war am Mittwoch für Hanau eine Sensation. „Tausende aus der Stadt und dem Landkreis hielten die Straßen besetzt“, jubelte die Lokalzeitung. Rund 4.000 Quadratmeter - von den anfänglich nur die Hälfte für den Verkauf genutzt wurde - umfaßte die moderne Eisenbetonkonstruktion des Hanauer Möbelfabrikanten Friedrich Kling. Auf 25 Jahre sollte sie an die Firma Leonhard Tietz vermietet werden, die zwei Jahre zuvor an der Ecke Hammerstraße/Langstraße ihr erstes kleines Geschäft in Hanau eröffnet hatte. „Wir sind wichtig für 90 Prozent der Bevölkerung“, notierte die Firma in einer Anzeige. Im Jahre 1905 wurde der Familienbetrieb zur Aktiengesellschaft umgewandelt.

Aber in der Nazizeit mußte das Haus unter Geschäftsboykott und Enteignung leiden. Das Kaufhaus in Hanau wurde 1943 Ausweichlager der Firma Heraeus, noch ein paar Monate wurde bescheiden am Markt weitergehandelt, dann fielen die Bomben. Nur wenige Wochen nach dem Krieg zog das Haus als eines der wenigen von Sprengbomben verschonte der Innenstadt wieder Einzelhändler an. In Ladengemeinschaft übernahm der Kaufhof die Versorgung der auf 9.000 Einwohner zusammengeschmolzenen Bevölkerung.

Der Kaufhof entschied sich 1957 jedoch für einen Neubau am Marktplatz, der „alte Kaufhof“ Ecke Nürnberger und Hirschstraße erfuhr in den folgenden Jahren eine unterschiedliche Nutzung, ehe er in den späten siebziger Jahren dem heutigen Parkhaus weichen mußte. Erneut wurde das Warenhaus am Marktplatz für neue Technik und moderne Einrichtung gelobt. „Städtebaulich hat der Kaufhof Hanau durch die in Aluminium gefaßte grüne Glasfläche dazu beigetragen, eine für seine Zeit modernen Kontrast zum romantischen Renaissancestil des Marktplatzes zu setzen, hieß es zum 100. Firmenjübiläum 1979.

Zu diesem Zeitpunkt war das markante Gebäude schon wieder mehrfach erweitert und um eine Tiefgarage unter dem Marktplatz ergänzt worden. Mit dem Wirtschaftswunder erlebte das Haus in den sechziger Jahren seine Blütezeit. Mehr als 600 Mitarbeiter kümmerten sich um das Sortiment von etwa 70.000 Artikeln. Zuletzt investierte der Konzern 1998 noch einmal 14 Millionen in den Standort und wertete das Haus zur Galeria-Kaufhof mit neuen Sortimenten und Markenshops auf. Die Optik des Gebäudes blieb davon unberührt. Die für den Fünfziger-Jahre-Stil typische Fassade steht mittlerweile unter Denkmalschutz.

 

Ecke Kölnische Straße: Ehemalige Einhorn-Apotheke:

Über 250 Jahre lang prägte die gräfliche Hofapotheke der Familie Heraeus das Stadtbild von Hanau. Isaac Heraeus erwarb 1668 am Marktplatz ein ansehnliches Fachwerkhaus und nannte seine neue Apotheke „Zum weißen Einhorn“. Über mehrere Generationen wurde diese Tradition erfolgreich fortgeführt. Im Jahre 1851 übernahm der Chemiker Wilhelm Carl Heraeus (1827–1904) von seinem Vater Esay Carl Heraeus die väterliche Einhorn-Apotheke. In dieser Zeit war Platin in der Schmuckerzeugung bereits ein begehrtes Edelmetall, doch es mangelte an industriell verwertbaren Mengen. Im Jahre 1856 änderte sich dies: Wilhelm Carl Heraeus konnte mit einem eigenentwickelten Knallgas-Gebläsebrenner Platin erstmals in Kilogramm-Mengen schmelzen. Mit der „Erste Deutsche Platinschmelze W. C. Heraeus“ legte er den Grundstein für den heute international tätigen Technologiekonzern Heraeus. Seit 1891 befindet sich der Hauptsitz des Weltunternehmens in der Heraeusstraße in Hanau.

Erster Ehrenbürger von Hanau wurde am 1. Juli 1898 kein geringerer als Wilhelm Carl Heraeus

In der Begründung wurden seine Verdienste um „die Förderung sozialer Bestrebungen und humanitärer Einrichtungen, u.a. die Stiftung zum Zweck der Gründung einer Lungenheilanstalt und zur Förderung von Jugendspielen“ hervorgehoben.

Das Stammhaus an der Ecke Nürnberger Straße / Kölnische Straße wurde am 19. März 1945, zerstört. Dr. Wilhelm Heinrich Heraeus ließ es 1951/1952 wieder aufbauen. Über dem Eingang wurde in Erinnerung an die Einhorn-Apotheke ein Fabelwesen in Bronze angebracht, samt Gedenktafel Das Einhorn taucht übrigens im Grimmschen Märchen „Das tapfere Schneiderlein“ auf – ebenfalls ein Hanau-Bezug. Leider ist der Künstler oder die Künstlerin nicht an dem Kunstwerk auszumachen (Martin Hoppe, Graphik der Woche, # 121 und 170).

In der Kölnische Straße/Am Markt steht eine Figur des Hanauer Märchenpfads „Der goldene Schlüssel“ von Ralf Ehmann

 

Nürnberger Straße 39:

Eine Tafel erinnert in der Nürnberger Straße 39 an den ehrwürdigen buddhistischen Lehrer, Übersetzer und Autor, Ñyāṇaponika Mahāthera. Er wurde am 21. Juli 1901 hier als Siegmund Feniger geboren und am 19. Oktober 1994 in der Forest Hermitage in Kandy (Sri Lanka) verstarb. Im Jahre 1932 war er im „Zentralausschuss der deutschen Juden für Hilfe und Aufbau“ Berlin, verhalf jüdischen Freunden zur Flucht. 1935 Auswanderung mit seiner Mutter über Österreich nach Ceylon. Im Jahre 1936 trat er in den buddhistischen Mönchsorden von Ñyāṇatiloka als Novize ein. Im Jahre 1937 wurde er zum vollordinierten buddhistischen Mönch mit Namen Ñyāṇaponika („zur Erkenntnis geneigt“) geweiht. Er gilt als führende Gestalt für die Erneuerung des Buddhismus in Asien, insbesondere in Sri Lanka, wo ihm größte Wertschätzung entgegengebracht wird (Martin Hoppe, Graphik der Woche, # 173).

 

Rosenstraße:

Von der Nürnberger Straße zweigt nach Norden die Rosenstraße ab. Sie hat ihren Namen vom Haus Nr. 1 „Zur Rose“, das bis zu den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg an der Ecke Nürnberger Straße stand. Der aus Antwerpen stammende Juwelier und Goldschmied Daniel de Hase hatte es um 1600 erbaut. Er war seit 1601 Ratsherr und einer der Höchstbesteuerten der Neustadt. (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 189)

In der Rosenstraße 3 vor Café Schien steht seit 2016 die Figur des Hanauer Märchenpfads „Dornröschen“ von Annegret Kon und Dietrich Heller (Bremen) unter Patenschaft von Familie Lucas aus Hanau (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 189).

 

Nürnberger Straße 31:

Im Kunstkaufladen Tacheles erinnert eine Gedenktafel an die Rauchtabak- und Zigarrenfabriken Hosse. Das Unternehmen wurde 1808 von Philippine Gertraude Hosse (1774-1834) in der Nürnberger Straße 31 gegründet (nicht von ihrem Mann, wie lange berichtet wurde). Die Fabrik zog später in die Römerstraße 8-10 / Glockenstraße, gründete Außenstellen in Steinheim (Villa Stokkum), Gelnhausen, Kälberau, Lieblos, Roth und Langenselbold. Damit stieg der der Betrieb zu einem der größten und bekanntesten für Zigarren in Hessen auf. Das Porträt „der Hosse“, en Ölgemälde von 1830, von bisher unbekannter Hand, befindet sich in Privatbesitz (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 107)

 

Die Wallonische und Niederländische Gemeinde:

Wieder zurück in der Nürnberger Straße kommt man nach Süden über die Kölnische Straße zum

Platz der Wallonisch-niederländischen Kirche. Graf Philipp Ludwig II. von Hanau-Münzenberg hat schon 400 Jahren fremdsprachigen Religionsflüchtlingen erlaubt, eine Kirche zu bauen. Und zwar mitten in der Neustadt, die von calvinistischen Heimatvertriebenen aus Frankreich und den damals spanischen Niederlanden besiedelt wurde.

Eines der Hauptanliegen der „Fremden“, die mit Philipp Ludwig II. die Gründung einer neuen Stadt neben der Altstadt Hanau vereinbart hatten, war der unbehindert den Gottesdienst und ein freies kirchliches Leben nach der Art, wie sie es in ihren Herkunftsländern auf reformierte - calvinische - Weise angenommen hatten. Vaterland und Heimat, Haus und Hof hatten sie aufgegeben, jahrzehntelange Irrfahrten auf sich genommen, bis sie hier in Hanau endlich eine eigene Stadt gründen und eine bleibende Statt finden durften. Wen nimmt es da Wunder, daß das erste der stattlichen Gebäude am Marktplatz „Zum Paradies“ genannt wurde und die vom Markt nach der Kirche führende Straße „Paradiesgasse“?

Die Wallonen und Niederländer kamen aus dem heutigen Nordost-Frankreich, aus Belgien und Holland, aus den reichen, blühenden Handelsstädten Brabants und Flanderns, die für die damalige Zeit wohl an der Spitze standen, was die Entwicklung von bürgerlichen Freiheiten, bürgerlichem Stolz und Selbstbewußtsein angeht. Handel und Gewerbe, wie auch die Schiffahrt auf Flüssen, Kanälen und den Meeren, waren sie gewohnt; sie waren zum Teil stolze Handelsherren mit weitreichenden Verbindungen, vermögend, wenn nicht gar reich.

Und nun hatten sie ein neues Vaterland, einen neuen Landesherrn gefunden in dem Manne, der ihnen als Gemahl von Catharina Belgica, der Tochter des Niederländischen Edlen Wilhelm von Oranien, glaubensmäßig verbunden war! Die Fürstin ihres neuen Vaterlandes entstammte der gleichen Heimat, war ihres Volkes und Glaubens.

Streitfragen mit staatlichen oder anderen kirchlichen Stellen ließen sich im Laufe der Geschichte nicht vermeiden. Sie wurden beigelegt oder sie sind als Spannungen, gewollt oder ungewollt, vorhanden. Jedenfalls beruhen auch heute noch die Existenz und die Freiheiten der beiden Gemeinden auf ihren alten Privilegien, die bei Wechsel der Landesherren und politischen Änderungen - wie Übergang der Grafschaft Hanau an die lutherische Linie Hanau-Lichtenberg, an Kurhessen und schließlich an Preußen - stets neu bestätigt oder durch höchstrichterliche Entscheidungen anerkannt wurden.

Beide Gemeinden hatten sich ausbedungen, ihre Pfarrer frei wählen zu dürfen. Da Französisch und Holländisch bis gegen Ende des letzten Jahrhunderts die Kirchensprachen waren, wählten sie ihre Pfarrer zumeist aus Frankreich, der Schweiz oder Holland. Diese mußten der staatlichen Gewalt vorgestellt werden und ein Treuegelöbnis ablegen. Unter preußischer Herrschaft wurde dann verlangt, daß der Pfarrer auch die Staatsangehörigkeit annahm. Mit dem Ende des Königreiches Preußen hat dessen Rechtsnachfolger, die Landesregierung, auf die Vorstellung der Pfarrer verzichtet, so daß die Wahl und Einsetzung eines Pfarrers ganz allein bei der kirchlichen Leitung der beiden Gemeinden liegt. Beide Gemeinden sind in der Verwaltung und Anlage ihres Vermögens frei, ohne staatliche Aufsicht, natürlich auch ohne jede staatliche Unterstützung und staatlichen Zuschuß.

Neben Gottes Segen, der allem Menschenwerk beigegeben sein muß, wenn es Bestand haben soll, ruhen die Wurzeln des Gemeindelebens der Wallonen und Niederländer in ihren Bekenntnisschriften, „daß sie nämlich ihres Glaubens nach der Art, wie sie in den reformierten Kirchen Frankreichs und Hollands sich herausgebildet hatte, leben dürften.“ Als wichtigste davon seien hier nur für die Wallonen „die französische Kirchenordnung von 1559“, für die Niederländer die „Middelburger Artikel von 1581“ genannt. Beide atmen den gleichen Geist, sind sinnverwandt in der Auffassung, wie eine christliche Gemeinde und Kirche nach reformierter Art aufgebaut, verwaltet und geleitet wird.

Drei kirchliche (geistliche) Ämter sind zur Leitung und Verwaltung einer Gemeinde notwendig: Pfarrer, Älteste und Diakone. Aber nicht ein einzelner steht an der Spitze der Gemeinde, sondern eine Körperschaft, das „Consistorium“, die „venerable Compagnie“. In ihr sitzen Pfarrer, Älteste und Diakone zusammen, jeder mit einem bestimmten Aufgabenbereich betraut und dafür verantwortlich. Der Vorsitzende der Ältestenschaft, auch „Ministerium“ genannt, vertritt gemeinsam mit dem Pfarrer die Gemeinde nach außen hin, in dessen Verhinderung auch allein. Beide allein oder zusammen sind aber an die Beschlüsse des Consistoriums gebunden. Die Ältesten leiten und verwalten die Angelegenheiten der Gemeinde; die Diakonie ist speziell mit der Armenpflege und Liebestätigkeit betraut. In der Regel finden die Sitzungen gemeinsam statt, eben als „Consistori­um“, und werden vom Pfarrer geleitet. Auf allen kirchlichen Zusammenkünften haben Pfarrer und Älteste gleiche Rechte.

Anfangs konnten die Hanauer Consistorien an zahlreichen Synoden, also Kirchenversammlungen, teilnehmen. Doch durch die Wirren des Dreißigjährigen Krieges rissen die Verbindungen ab. Dazu kamen dann noch staatliche Einflüsse, die die Beschickung von Synoden schwierig machten. Als letzte und oberste kirchliche Instanz hat sich bei den Hanauer Gemeinden daher und gewissermaßen als Ersatz für die verlorengegangenen Synoden das sogenannte „Große Consistorium“ herausgebildet, eine Versammlung aller Glieder, die der Gemeinde mindestens einmal die vorgeschriebenen Jahre als Ältester oder Diakon gedient haben.

Wählbar zu den Ehrenämtern als Ältester oder Diakon ist jedes unbescholtene männliche Gemeindeglied. Zuerst bei der Niederländischen Gemeinde, dann auch bei den Wallonen, wurden Frauen in einem bestimmten Verhältnis als Älteste und Diakone zugelassen. Das Consistorium ergänzt sich durch Wahl, indem diejenigen Ältesten und Diakone, deren Dienstzeit beendet ist, ausscheiden; die neu zu Wählenden werden der Gemeinde vom Consistorium vorgeschlagen (Cooptation).

In Deutschland gibt es noch einige wenige reformierte Gemeinden, deren Freiheiten und Rechtsstellung ähnlich der beiden Hanauer Gemeinden sind. Diese haben sich Ende der zwanziger Jahre zu einem „Bund freier reformierter Kirchen“ zusammengeschlossen, der durch Anschluß der Reformierten Kirche Bayerns Verstärkung erhielt. Dieser Bund hält auch wieder Synoden ab, bildet also gewissermaßen eine reformierte Kirche und ist auch der Evangelischen Kirche in Deutschland angeschlossen.

Einen beträchtlichen Zuwachs erhielt besonders die Wallonische Gemeinde aus Frankreich nach 1685 durch die Aufhebung des Ediktes von Nantes. Doch kehrten manche der damals eingewanderten Familien in ihr altes Vaterland zurück, nachdem sich die Verhältnisse dort beruhigt hatten. Eine reiche Liebestätigkeit entfaltete die Diakonie jahrzehntelang bei dem Durchzug hugenottischer Flüchtlinge nach der Mark Brandenburg, die dem hochherzigen Angebot und Ruf des Großen Kurfürsten und seiner Nachfolger folgten oder in andere deutsche Fürstentümer zogen, deren Landesherren das Beispiel des großen Kurfürsten nachahmten.

Daher auch die innere Verbundenheit der Hanauer Gemeinden, deren Gründer, geschichtlich gesprochen, „Geusen“ waren, zu Hugenotten und Waldensern. Hugenottische und waldensische Gründungen und Siedlungen wurden daher auch jederzeit von den Hanauer Gemeinden unterstützt. Hier seien nur die Orte Frankenthal in der Pfalz, Friedrichsdorf und Dornholzhausen im Taunus, Rohrbach, Wembach und Hahn im Bezirk Darmstadt, Walldorf bei Frankfurt und Wal­densberg im Kreis Gelnhausen angeführt.

Hatten die Gemeinden in den ersten Jahren ihres Bestehens oft mit Geldsorgen zu kämpfen, so kamen sie durch Stiftungen, Schenkungen und Vermächtnisse im Laufe der Zeit zu ansehnlichem Vermögen. Es war Generationen hindurch ein edler Brauch, bei Errichtung eines Testaments auch die Ministerien- und die Diakoniekasse zu bedenken. Nachdem durch die Inflation große Verluste entstanden waren, gingen die Gemeinden dazu über, auch von ihren Angehörigen einen Beitrag zur Verwaltung und für die Armenpflege zu erbitten, der sich in Höhe der üblichen „Kirchensteuer“ hält. Nachdem Hanau in Schutt und Asche gesunken war, erwarben die Gemeinden mit dem Rest ihres Vermögens das Anwesen Nußallee 15, die ehemalige „Städtische Kinderkrippe“, die auf eine Stiftung der beiden Gemeinden an die Stadt (1897) zurückgeht.

Sind auch die Namen der alten Familien im Mannesstamme verlorengegangen, so ist das Blut der Gemeinde doch in zahlreichen Familien unserer Stadt von Frauenseite vererbt, und mancher Familienforscher wird sich freuen, bei Aufstellung von Stammbäumen und Ahnentafeln feststellen zu können, daß er zahlreiche „hugenottische“ Vorfahren hat. Ihnen in der Glaubenshaltung und der daraus resultierenden Einstellung zum Leben nachzueifern, soll innere Verpflichtung sein! Psalm 92, Vers 13: „Der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum“ ist der Wappenspruch beider Gemeinden durch eine über 350jährige Geschichte.

 

Wallonisch-Niederländische Kirche:

Noch vor dem Rathaus errichteten die Zugezogenen eine Doppelkirche mit der Sakristei in der Mitte. Das Gotteshaus in der Französischen Allee 12, das sich durch sein hohes Dach in der Silhouette Hanaus abhob und zu einem Wahrzeichen der Stadt wurde, hieß im Volksmund „Die französische Kirche“. Sie war eine Doppelkirche, bedingt durch die Zweisprachigkeit der Gemeinde, die jedoch ihre religiöse Einheit durch die bauliche Verbindung unter einem Dach hervorhob. Das größere, nach Westen gelegene, auf zwölfeckigem Grundriß erbaute Gotteshaus war die Wallonische Kirche. Das kleinere, nach Osten gelegene, war die niederländische Kirche.

Die Erbauung des Gotteshauses erfolgte zwischen 1600 bis 1609 und war ein Denkmal derer, die nicht gewillt waren, sich einem fremden Joch zu beugen und um ihres Glaubens und ihrer Gewissensfreiheit willen ihre Heimat verließen.

Das Problem war: Die beiden Gruppen hatten zwar denselben Glauben, unterhielten sich aber in unterschiedlichen Sprachen. So gab es zwei Gemeinden, die irgendwann natürlich auch ein Gotteshaus wünschten. Also einigte man sich schließlich, eine Doppelkirche zu bauen. Der größere Teil für die Wallonen, der kleinere als angebautes Achteck für die Niederländer, aber „durch eine gute Mauer“ getrennt. im Lauf der Jahrhunderte verschwanden aber Französisch und Flämisch aus den Gassen der Hanauer Neustadt, weswegen auch Gottesdienste mehr und mehr auf Deutsch gehalten wurden.

 

Über die Baugeschichte der merkwürdigen Doppelkirche geben das handschriftliche Werk des Wilhelm Sturio: „Jahrbücher“ der Neustadt Hanau und Grafschaft Hanau-Münzenberg (1597- 1620) und die Ratsprotokolle der Neustadt eingehend Auskunft: Die feierliche Grundsteinlegung der Doppelkirche wurde am 9. April 1600 vollzogen. Die Fertigstellung des Baues zog sich bis zum Jahre 1608 hin, der Innenausbau noch länger. Als Architekten werden vor allem René Mahieu, daneben Johann d’Hollande und Daniel Soreau genannt.

Der erste Gottesdienst fand am 29. Oktober 1608 in der Wallonischen Kirche statt. Der Bau als solcher war gerade eben erst roh unter Dach; die Fertigstellung der Innenräume, besonders der Niederländischen Kirche, zog sich aber noch Jahre, bis in die Anfangsjahre des Dreißigjährigen Krieges, hin (Bild in: Hanau Stadt und Land, Seite 143).

 

Der Grundriß der beiden „Neustädter“ Kirchen, der Zentralbau, stellt den idealen Typ einer protestantischen Predigtkirche dar. Den Erbauern der Hanauer Doppelkirche an der Wende zum 17. Jahrhundert bot sich keine ausgeprägte Stilrichtung an, nirgends konnte man gültige Vorbilder kopieren, der protestantische Kirchenbau war ohne eine große Tradition. So griff man auf spätgotische Formen zurück. Baugeschichtliche Verwandte der beiden Kirchen sind die „Temples“ der Hugenotten in Frankreich, die als Zentralbauten aus Holz errichtet worden waren. Aber nur der „Temple de Lyon nommé Paradis“ hat sich uns in seinem Aussehen durch einen Kupferstich erhalten.

Die Idee des protestantischen Zentralbaues wurde in Deutschland in der großen Doppelkirche weit vor den anderen Versuchen vorbildlich ausgesprochen. Das Innere der Kirchen hatte sich ganz von dem gotischen Stilvorbild gelöst. Die Emporen, die ringsum liefen, wurden von toskanischen Rundsäulen getragen, die sich über den Emporen als Deckenstützen fortsetzten. Die weitgespannten Decken in beiden Kirchen waren durch Unterzüge gegliedert, in den Feldern waren reiche Stuckornamente in einfachen geometrischen Formen. Eine technische Meisterleistung war die Dachkonstruktion; ohne Mittelstützen ruhte das Dach allein auf den Außenwänden und den in geringem Abstand von der Wand innen umlaufenden Säulen. Das Dach und die Decke waren „in sich selbst aufgehängt“.

Die hohen Kirchenfenster der Wallonisch-Niederländischen Kirche in Hanau zeigen dasselbe reiche Maßwerk wie etwa die spätgotischen Fenster der Marienkirche; allerdings wurde der Spitzbogen aufgegeben und die Fenster schwingen in einen Rundbogen aus. Seltsam muten diese Fenster über den ganz in den strengen Ordnungen der Spätrenaissance komponierten Portalen der Kirche an.

Am 19. März 1945, als kurz vor Kriegsende das alte Hanau in Schutt und Asche gelegt wurde,

überstand die mächtige Doppelkirche das alliierte Bombardement nicht. Die kleinere niederländische Kirche wurde in den Jahren 1957 - 1960 wieder aufgebaut und ist seitdem das Gotteshaus der seit 1960 vereinigten Wallonisch-Niederländischen Gemeinde. Zwischen beiden Kirchen befinden sich zwei eingebaute Treppentürmchen. Der größere wallonische Teil sollte als Mahnmal im zerstörten Zustand bestehen bleiben. Nach der Umgestaltung des Areals in den vergangenen Jahren ist rund um die Kirche einer der schönsten Plätze der Hanauer Innenstadt entstanden. Und mit der Ruine eines ehemaligen Flüchtlings-Gotteshauses symbolisiert er alles, was Hanau seit Jahrhunderten ausmacht: Weltoffenheit, Liberalität, aber auch Verwundbarkeit.

 

Im wiederhergestellten Innenraum der Niederländischen Kirche war man bemüht, dem „Alten“ Rechnung zu tragen, indem die Pfeilererstellung, der Emporeneinbau, die Treppenanlagen, die Raumeinheiten, Orgel und Kanzel an ihrer gewohnten Stelle blieben. Das Kircheninnere ist calvinistisch schlicht gehalten, jedoch modern. Die Orgel wurde von der Firma Willi Peter, Köln, hergestellt. Zwei kleine Glocken befinden sich in einem freihängenden Glockenstuhl in der Ruine.

 

Auf Einladung von August Schärttner und der 1837 gegründeten Turngemeinde Hanau fand am 3. April 1848 der 1. Deutsche Turntag in der Wallonischen Kirche statt. Unter Vorsitz von Theodor Georgii aus Esslingen und in Anwesenheit von „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn wurde zugleich der Deutsche Turnerbund gegründet. Zum 2. Turntag im Juli 1848 spaltete sich der „Demokratische Turnerbund“ unter Führung von Schärttner ab. Am 3. und 4. April 1948 wurde in der Wallonisch-Niederländischen Kirche an das historisch bedeutende Ereignis erinnert. Davon zeugt die damals herausgegebene Postkarte, gedruckt bei Firma Illert in Klein-Auheim. In der Ruine der Wallonischen Kirche wurde anläßlich des 2. Deutschen Turntages zu Pfingsten 1952 eine Schärttner-Gedenktafel angebracht (Martin Hoppe: Objekt der Woche, # 157)

 

Denkmal für Philipp Ludwig II:

Anlässlich des 300-jährigen Bestehens von Neu-Hanau wurde am 1. Juni 1897 nach einem Festgottesdienst vormittags um 9 ½ Uhr das Philipp Ludwig-Denkmal auf der Französischen Allee eingeweiht. Stifter waren Wallonische und Niederländische Gemeinde. Max Wiese (1846 – 1925) hat es nach Vorlage eines zeitgenössischen Porträts von Jean Jenet geschaffen. Der Bildhauer kam 1884 aus Berlin an die Königlich-Preußische Zeichenakademie Hanau und war 1887 bis 1905 deren Direktor.

Unterhalb der Büste sind das Wappen von Hanau-Münzenberg und eine Reliefplatte angebracht, die die historisierende Übergabe der Kirchenschlüssel an Philipp Ludwig und seine Gemahlin Catharina Belgia 1608 zeigt. Als Vorbilder für die Gestaltung der 28-teiligen Personengruppe auf der Bronzetafel dienten Mitglieder der beiden Konsistorien und Prinzessin Sybille von Hessen.

Wenn man das Porträt betrachtet, mag man kaum glauben, dass Philipp Ludwig II. im Alter von nur 36 Jahren verstarb. Aber das liegt daran, daß Max Wiese sich hier selber als älteren Staatsmann porträtiert hat. Die Realisierung des Denkmals kostete damals 11.935 Mark. Im Jahre 1988 erfolgte mit Hilfe der Stiftung der Sparkasse Hanau eine grundlegende Renovierung des Denkmals. Mit der neuen Platzgestaltung 2020 und“ ist das Ziergitter um das Denkmal entfernt worden, um den Grafen näher bei den Menschen zu haben (Martin Hoppe: Objekt der Woche, # 114).

 

Neugestalteter Platz an der Wallonisch-Niederländischen Kirche:

Gekrönt wird die Neugestaltung durch das begehbare Kunstwerk „Neustadtplan“, mit dem Professor Claus Bury den Grundriss der 1597 gegründeten Hanauer Neustadt aufnimmt. Nach anderthalb Jahren Bauzeit - inklusive umliegender Straßen - wird die neue Grünanlage am Freitag, 25. September 2020 eröffnet.

Rund 3,3 Millionen Euro hat die Stadt in die Umgestaltung des letzten Hanauer Platzes investiert, weitere 3.9 Millionen in die umliegenden Straßen. Drei Bäume sind um das Neustadt-Relief gepflanzt und kommen zu den 29 neuen hinzu, die dem Platz mit 3.800 Quadratmetern Fertigrasen ein eigenes Flair geben. Die Amber- sowie Schnurbäume und Silberlinden sollen einmal 20 bis 25 Meter hoch werden und eine Kronenbreite von 12 bis 18 Metern erreichen. Damit sie hohe Sonneneinstrahlung besser vertragen können, erhalten alle Stämme einen weißen Anstrich. Auf einem nicht gepflasterten Schotterstück zwischen dem Denkmal von Neustadtgründer Graf Philipp II. und der großen Linde auf der Ostseite entsteht noch eine Boulebahn.

Ungewöhnliches hat der Platz auch auf den ihn unmittelbar säumenden Straßen zu bieten: Heller, gegen Aufheizung wirkender und Laternenlicht gut reflektierender Asphalt wie auf der Ostseite und der Südostseite kommt nun auch auf der West- und Südwestseite hinzu - ebenso zeitgleich in der Lindenstraße. Die Nordseite ist seit langem schon gepflastert und bleibt ohne Autoverkehr; ein Behindertenparkplatz befindet sich auf der Nordostecke neben der Gas- und Trafostation, die im Oktober mit einer Einhausung versehen wird. Dieser Parkplatz ist ebenso mit kleinen silberfarbenen Tellern im Asphalt markiert wie die in der Französischen Allee.

In der Französischen Allee sind auf der Ostseite bereits die Sitzlinsen angebracht, die außer zum Ausruhen auch dazu dienen sollen, zu forsches Abbiegen um die Straßenecken zu verhindern wird. Insgesamt sind 20 solcher Sitzlinsen um den Kirchplatz vorgesehen. Auf dem Platz selbst kommen sechs Bänke mit hölzerner Sitzfläche auf der Nordseite und fünf Natursteinblöcke hinzu, um sich darauf niederlassen zu können. Parkscheinautomaten werden demnächst installiert. Eine Ladestation auf der südlichen Französischen Allee dient dem Betanken von Elektrofahrzeugen. Für Fahrräder stehen am Platz und in den umliegenden Straßen 36 Abstellbügel zur Verfügung.

Der gesamte Kirchplatz wird zur Fußgängerzone, das gilt auch für die Paradiesgasse. Französische Allee, Lindenstraße und Karl-Röttelberg-Straße werden zu verkehrsberuhigten Bereichen, wobei die Karl-Röttelberg-Straße als letzte möglichst noch in diesem Herbst umgebaut wird. Die Lautenchläger, Schützen-, Alt- und die Hahnenstraße werden zu Tempo-30-Zonen.

Zwischen Gehsteigen und Fahrbahn gibt es insgesamt 42 Parkplätze. Die Gebühren für die neuen Parkflächen rund um die Wallonisch-Niederländische Kirche - Französische Allee West, Ost und Süd - sind denen in der Tiefgarage am Markt angepasst. Pro fünf Minuten werden demnach 20 Cent fällig. Eine entsprechende Ergänzung der Hanauer Parkgebührenordnung hatte der Haupt- und Finanzausschuss in Vertretung der Hanauer Stadtverordnetenversammlung in seiner jüngsten Sitzung abgesegnet. Alle Fraktionen mit Ausnahme der Grünen votierten dafür. Sascha Feldes erklärte die Enthaltung seiner Fraktion mit der Überzeugung, dass die Parkplätze dort per se eine ausgesprochen schlechte Idee seien. „Der Stau vor der Tiefgarage am Marktplatz wird sich dann in einen Suchverkehr rund um die Wallonisch-Niederländische Kirche wandeln“, prophezeite Feldes.

 

Häuser rund um den Platz:

Die Straßen rund um die wallonisch-niederländische Kirche gehören alle zur Französischen Allee

  • Haus Nummer 2 (Südostecke) „Zum großen Hirschsprung“ Bild in: Hanau Stadt und Land).
  • Hauszeichen am Hause „Zur Stadt Mailand“ (Französische Allee), 1945 zerstört. (Bild in „Hanau Stadt und Land“, Seite 434).
  • Haus „Zum Ochsenkopf“, Philipp-Ludwig-Anlage Nr. 11 (Südwestecke): Hier wohnte Geheimer Obermedizinalrat Dr. Johann Heinrich Kopp, der Mitbegründer der Wetterau-    ischen Gesellschaft und medizinischer Schriftsteller, bis zu seinem Tode im Jahre 1858.
  • Am Gebäude der Baugesellschaft an der Französischen Allee wurden in den fünfziger Jahren die Märchen-Motive „Fundevogel“ und „Das tapfere Schneiderlein“ (Baum mit Figuren) angebracht
  • Das Sgrafitto schuif Alois Bergmann-Franken (1897-1965) (Martin Hoppe: Objekt der Woche, # 108).

 

Hausnamen und Hausnummern in Hanau:

Wie bei den Familiennamen ging auch hier der Adel wegweisend voran. Er ließ nicht nur sein Wappen an seiner Burg in Stein einmeißeln, sondern gab ihr auch einen stolzen Namen. Und selbst in den Städten, wo sich im Umkreis einer Burg Adlige niedergelassen hatten, wurden die Wappen an dem Torbogen angebracht. Warum sollte der Bürger der Stadt, der, durch geschäftlichen Verkehr zu Wohlhabenheit gekommen, immer sicherer und selbstbewußter geworden war, diesen Brauch nicht nachahmen! Manche Wohnhäuser in der Stadt standen den Häusern der Adligen nicht nach. Wahrscheinlich gingen die Wirtshäuser mit diesem neuen Brauche voraus, und sie haben ja diese Gepflogenheit bis auf den heutigen Tag erhalten.

In der Altstadt hatten nicht alle Häuser einen Namen. da das Recht, ein Schild zu führen, genehmigungspflichtig war. Die Genehmigung kostete Geld. Der Kronenwirt zum Beispiel mußte 15 Gulden bezahlen. Unter 371 Häusern der Altstadt waren nur etwa 72 mit Namen und diese Zahl genügte durchaus, da durch diese Häuser die Richtungspunkte für den Suchenden gegeben waren. In der Judengasse hatten die 80 Häuser alle Namen, da die Juden damals noch keinen Familiennamen führten.

In der Neustadt waren Hausnamen häufiger, einmal, weil die neuen Bürger aus Frankreich, Belgien und Holland kamen, wo dieser Brauch stärker verbreitet war, und dann, weil die neuen Gewerbe, die diese Hugenotten aus ihrer Heimat mitbrachten, viele auswärtige Geschäftsleute anzogen. Schilder über den Geschäften mit Hausnamen gaben Auskunft, wo der Gesuchte zu finden war.

Die Hausnamen wählte man, um geschäftliche Obliegenheiten anzudeuten. Eine zweite Gruppe war gewählt worden, um gewisse örtliche Ereignisse festzuhalten. Eine Gruppe zeigt Hausnamen, die der Einbildungskraft und der Laune der Hausbesitzer entsprungen sind. Gold als Beiwort spielt bei der Namengebung eine große Rolle: 91 mal kommt es vor! Alle bekannten Tiere sind vorhanden, und zwar in natürlichen und unnatürlichen Farben! Eine Reihe von Straßen Hanaus dankt ihren Namen den Hauszeichen und Hausnamen!

Es gab in Alt- und Neu-Hanau im Jahre 1865 1.474 Hauptgebäude, die alle numeriert waren. Die Nummern sprangen von einer zur anderen Seite, je nachdem, wie die Häuser entstanden waren - ein sehr unpraktisches Verfahren. So brachte die städtische Steuerverwaltung im Jahre 1840 den Antrag ein, diesen Zustand abzuändern; er wurde jedoch abgelehnt, da als Folge der Umnume-     r­ierung auch die Einträge im Grundbuch, bei der Feuerversicherung und anderen Behörden geändert werden mußten. Außerdem wären die Kosten sehr erheblich gewesen.

Aber 1865 wurde endlich Ernst gemacht, daß alle Hauptgebäude straßenweise numeriert wurden. Auf der linken Seite wurde mit der ungeraden, auf der rechten Seite mit der geraden Zahl begonnen. Das Hauptgebäude wurde in derjenigen Straße eingetragen, in der sich der Hauseingang befindet.  Am 25. Juli wurde in der Gärtnergasse (Südrand der Neustadt) am Haus Nr. 1, dem „Blasebalg“, begonnen, und Mitte 1867 war die Numerierung fertig. Straßenschilder und Hausnummern wurden auf Kosten der Stadt ausgeführt und befestigt.

In der Glockenstraße stand das Haus „In der silbernen Glocke“ (Die angegebene Hausnummer 25 kann aber nicht stimmen, denn die Nummer gibt es gar nicht). In der Fischerstraße war Nummer 11 das Haus zur „Zur silbernen Kette“, Inhaber Ochs & Bonn (heute: Hauptpost). In der Altstraße war die Nummer 20 das Haus „Die Hechel“ (heute: Maschinenbau Semmler).

 

Römerstraße:

Über die Lindenstraße am westlichen Rand des Platzes geht man nach Norden wieder zum Markt, wo links die Rosenstraße abgeht. Der Name „Römerstraße“ hat nichts mit den Römern zu tun, sondern sie wurde so benannt, weil der in den Jahren 1617 bis 1629 als Ratsherr und 1629 als Bürgermeister der Neustadt amtierende Franz Römer die Tochter des Francois de la Boé (verwitwete Chombart) heiratete, die aus dem Hause Nr. 34 (später: Römerstraße Nr. 9) stammte.

 

An der Ecke Am Markt / Lindenstraße (Südwestecke) befindet sich an dem Haus an der Ostseite ein Sandsteinskulptur „Römer-Eck 1788“: Zwei Knaben füllen Weinreben in ein Römerglas.

 

Die Häuser Römerstraße 5 und 7 wurden 1599 erbaut und standen auf der Südseite der Straße östlich vor der Einmündung der Steinheimer Straße (eventuell identisch mit Haus „Zum Bären­eck“ von 1599 an der Ecke Römerstraße/Steinheimer Straße oder auf der anderen Ecke der Einmündung). Das Haus Römerstraße 7 war bis zum Jahre 1914 noch beinahe unverändert in seinem ursprünglichen Zustand erhalten geblieben. Man betrat durch ein schönes Portal die mächtige Diele, die von einer schweren eichenen Kassettendecke überdeckt war. Die Diele maß 12 zu 6 Meter. Rechts neben der Diele lag das Büro des Handelsherrn mit dem Kamin, gegenüber lag das quadratische Speisezimmer, dahinter lag, ganz wie in Alt-Amsterdam, die große Küche. Eine kunstvoll geschwungene Holztreppe führte zum Obergeschoß in den Empfangsraum, der eine Tür auf den Balkon über dem Portal hatte.

 

Das Geburtshaus des Franciscus Sylvius, Nr. 15:

Von der Römerstraße zweigt nach links die Glockenstraße ab. Nichts erinnert an der schmucklosen Kreuzung Römerstraße / Glockenstraße heute noch an das prachtvolle Haus „Zur Stadt Amsterdam“, das hier einst stand. Bauherren waren zu Beginn des 17. Jahrhunderts der Calvinist Isaac de le Boé und seine Frau Anne Vignet aus Cambrai (Nordflandern), die wegen seines Glaubens aus dem Norden des heutigen Frankreichs fliehen mussten. Ihr Haus „Zur Stadt Amsterdam“ errichteten sie 1602 an der Ecke Römerstraße/Glockengasse.  

Im Jahre 1614 kam Isaacs Sohn Francois de le Boë zur Welt. Das genaue Geburtsdatum ihres Sohnes François ist leider nicht belegt, aber die Taufe am 10. März 1614 in der Wallonischen Kirche. Er verließ Hanau später, um in Basel und Leiden Medizin zu studieren. Dort in Südholland machte er Karriere: Im Jahre 1658 wurde er zum Professor für Medizin an der Universität Leiden ernannt, amtierte als deren Rektor und gründete dort das erste chemische Laboratorium an einer europäischen Universität. Weil es unter Medizinern damals schick war, legte er für seine wissenschaftlichen Publikationen sich den lateinischen Namen Franciscus Sylvius zu (Boë = Bois = Wald = Sylvius).

Sylvius gilt als Begründer der naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin, klinischen Chemie und Neuroanatomie. Nach ihm wurde etwa das Chlorkalium Sylvin und das daraus zum Teil bestehende Gestein Sylvinit benannt.

Sein besonderes Augenmerk galt der menschlichen Verdauung, die er mit Wacholder verbessern wollte. Davon hatte er aus Italien gehört, experimentierte mit den entsprechenden Beeren, Alkohol und Koriander und schuf den Genever, der später unter dem Namen „Gin“ ein riesiger Erfolg werden sollte. Denn die englischen Soldaten, die die Holländer im Krieg gegen Spanien unterstützten, brachten Getränk nach Großbritannien und von dort aus in die ganze Welt. Allerdings dürfte es dabei wohl eher um Geschmack und Genuß als um Magenheilung gegangen sein

 

Um an die Erfindung des Herrn Sylvius zu erinnern, sind Hanauer auf den Zug aufgesprungen und lassen seit ein paar Jahren den „Francois Dry Gin“ produzieren. Hergestellt wird er in Brennerei Dirker, angereichert mit jeder Menge Pflanzen. Er schmeckt so gut, dass er zum Mixen fast zu schade ist. Im Jahre 2017 kreierten die Hanauer Rocky Musleh, Lutz Hanus und Edelbrenner Arno Dirker den „François – Hanau Dry Gin“, wobei Wacholderbeeren, Koriander, Eisenkraut, Hibiskusblüten, Lorbeerblüten, Mukatellersalbei, Basilikum und als besondere Finesse Blutorange zum Einsatz kommen. Im Jahre 2019 spendeten Musleh und Hanus zusammen mit den Hauseigentümern Gebrüder Janka eine Erinnerungstafel zu Ehren des Namenspatrons am Nachfolgebau Römerstraße 15 (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 137,  Abbildung: Franciscus Sylvius, Stich aus dem 17. Jahrhundert, Privatbesitz).

In diesem Haus gründeten 1661 Jacobus van der Walle und Daniel Behaghel die erste deutsche Fayencemanufaktur, die bis 1807 bestand. Das Gebäude wurde kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs beim schwersten alliierten Luftangriff am 19. März 1945 zerstört.

 

Heumarkt:

Die Fortsetzung der Glockenstraße ist nach Norden die Straße „Heumarkt“. Das Gerippte Museum: Jörg Stier schreibt: Immer das Gejammer der Nicht-Hessen, die mit unserem Wein nicht umgehen können. Da lassen sie sich zu zweit einen Sechser-Bembel bringe, am beste noch mit einem Speierling-Anteil, und machen beim ersten Schluck ein Gesicht, als wenn ihnen einer ein unreifes Quittenstück in den Mund gesteckt hätte. Dann lassen sie sich eine Limo kommen und wundern sich, wenn ihnen der Kellner einen schlappmäulischen Spruch sagt.

Darum, ihr Zugezogenen, holt euch professionelle Hilfe, bevor eure erste Begegnung mit unserm Stöffche zum Fiasko wird. Der Jörg Stier hat in seinem Laden am Heumarkt mehr als 30

unterschiedliche Sorte im Angebot. Da ist wirklich für den lumpigsten Labbedubbel noch etwas dabei.

Und wenn ihr schon da seid, dann lasst euch in den hinteren Räumlichkeiten einmal die Rekord-Utensilien zeigen. Im angeschlossenen Museum hat der Verein „Apfelwein Centrum Hessen“ (ACH) nämlich des größte „Gerippte“ (Apfelweinglas) der Welt stehen, mehr als 80 Zentimeter hoch und oben ein Durchmesser von fast einem halben Meter und mit Platz für 84 Liter Apfelwein. Das haben sie in der Glashütte von Limburg produziert. Daneben steht gleich der weltgrößte Bembel, der sogar 690 Liter fasst und aus dem Kannenbäckerland stammt. Er ist natürlich schwer und steht deshalb auf einem riesigen „Faulenzer“, einem schwenkbaren Ständer aus Eisen. Aber wer sich ans Nationalgetränk herantastet, schafft das auch ohne Ausstellungsstücke

(auch Martin Hoppe: Objekt der Woche, # 103).

 

 Haus Hotel „Zum Riesen“:

An der Ecke Am Heumarkt 8, Ecke Krämerstraße steht das Hotel „Zum Riesen“. Es ist trotz der nach wie vor noch etwas schillernden Lage wieder zu einer gediegenen Adresse geworden. Am 11. Dezember 2001 feierten die Besitzer - Ritva und Wolfgang Knof - mit zahlreichen Gästen und etlicher Prominenz das 375. Jubiläum - und präsentierten einen neuen, künstlerisch gestalteten Riesen, der nun das stattliche Haus repräsentieren und bewachen soll.

Vermessen und verkauft worden ist das Grundstück nach Kenntnissen von Dr. Wolfgang Knof bereits im Jahr 1619. Erstmals urkundlich erwähnt wurde das Haus 1625/26 als Pferdeumspannstation und Herberge - vermutlich im Zuge der seinerzeit bedeutendsten Handelsstraße von Frankfurt nach Leipzig. Am 16. Dezember 1812 hat der Franzosenkaiser Napoleon Bonaparte im Riesen übernachtet. Davon kündete auch eine schlichte Messingtafel. Hier ließ sich der kleinwüchsige Franzosenkaiser laut Überlieferung übrigens Sauerkraut und Solber schmecken.

Lokal- und kulturgeschichtlich bedeutsam ist dann wieder der 25. November 1898. Der Riese ist das erste Haus in Hanau, das elektrischen Strom von den städtischen Elektrizitätswerken bezieht.

Im Jahr 1912 wird der Riese durch das Ehepaar Repp erworben, den Urgroßeltern von Wolfgang Knof. Doch in der Bombennacht zum 19. März 1945 fällt auch der Riese in Schutt und Asche. In den 50er Jahren wird eine Baracke errichtet und provisorisch als Gaststätte betrieben. In den Jahren 1961/62 erfolgt der Wiederaufbau als Hotel und Wohnhaus.

Seit 1992 haben Wolfgang Knof und seine Frau Ritva schon das Heft am Heumarkt in der Hand: „Ich dachte damals, ich führe das Hotel halbtags und arbeite die andere Hälfte an der Uni in Frankfurt.“ Pustekuchen: Der promovierte Mathematiker und seine Frau, die ihre Doktorarbeit im bereits laufenden Hotelbetrieb schrieb, stellten schnell fest, daß sie sich einen Fulltime-Job fürs Leben ans Bein gebunden hatten.

Immerhin übernahmen die beiden nach dem Auszug der Hähnchen-Braterei „Wienerwald“ (1961-1991) ein Haus in bemerkenswertem Zustand. Sie mußten alles neu machen, Elektrik, Fenster, Türen. Im Gegensatz zu 1945 standen aber wenigstens die Mauern noch, und es war ein Dach drauf. Inzwischen verfügt das Haus über vier Sterne, renovierte Zimmer in mehreren Gebäuden und Tagungsräume. Und, das Wichtigste für einen Hotelier, ein gerütteltes Maß an Stammgästen.

Von 1998 bis 2001 wurde aufgestockt und erweitert. Das Haus ist mit drei Sternen klassifiziert. Die Riesenskulptur am Haus ist von Joerg Eyfferth entworfen, von Helmut Kunkel und Frank Luther ins Dreidimensionale umgesetzt und von Jörg Grundhöfer gegossen worden. Der französische Kaiser Napoleon I. machte mehrfach Station in Hanau und übernachtete im „Hotel zum Riesen“ am Heumarkt. 1807, 1808 und auch im Mai 1812, als er von Moskau nach Paris reiste, meist inkognito. 

Der 270 Zentmeter große bronzene Riese stützt sich auf einen Wanderstab, der rechte Fuß ruht auf einem Gebäude, dem „Hotel Zum Riesen“. In dessen Eingang steht ein kleiner Napoleon mit Reisetasche. Hanua trat der Vereinigung der Napoleonstädte bei. Zur Eröffnung der Sonderausstellung „Die Franzosen kommen!“ im Schloss Philippsruhe kam 2013 Charles Bonaparte, Ururenkel von Jérôme Bonaparte, Napoleons I. Bruder, besser bekannt als „König Lustigk von Westphalen“ (Martin Hoppe: Objekt der Woche, # 110).

 

Am westlichen Arm des Heumarkts gibt es die Gedenktafel zum 19. Februar 2020: Am 19. Februar 2020 sind neun Menschen von einem rassistischen Attentäter in Hanau ermordet worden. Die offizielle Gedenktafel am ersten Anschlagsort Heumarkt hat ein Pendant am Kurt-Schumacher-Platz, dem zweiten Ort der rassistisch motivierten Morde. Dort wurde auch ein Gedenkkreuz für Vili-Viorel Păun errichtet. Auf dem Hauptfriedhof an den Ehrengräbern befindet sich eine weitere Gedenktafel mit den Lebensdaten der Opfer (Martin Hoppe: Objekt der Woche, # 203).

 

An der Kreuzung Ecke Krämerstraße / Heumarkt stand das Haus „Zum Löwen“ von 1599. später eine Apotheke.

In der Langstraße 86 stand das Haus „Zum fliegenden Pferd“. Der Pegasus, das Dichterroß, war das Buchdruckerzeichen. Hier war von 1600-1712 die Buchdruckerei Aubry-Wechel, die die erste Druckerei in der Hanauer Neustadt hatten (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 32)

 

 

Postcarré:                                                                                                     

Über die Herrntraße nach Süden kommt man zum Postcarrée. So heißt das neue Einkaufszentrum zwischen Westbahnhof und ehemaliger Hauptpost am Beginn der Römerstraße. Am ersten Adventswochenende 2010 begrüßte das Postcarré die ersten größeren Besucherströme. In gut einem Jahr ist Hanaus neuer Einkaufsmagnet entstanden. Investor auf dem einstigen Schlachthofgelände am Westbahnhof ist die Hanseatische Betreuungs- und Beteiligungsgesellschaft (HBB). Wo es einst Rindern und Schweinen an die Gurgel ging, bestimmen heute ein nierenförmiger Bau und warme Orangetöne das Bild. Lange Zeit hatte das Gelände ein Schattendasein gefristet. Nachdem im Jahr 2004 auch die Zwischennutzung als Veranstaltungshalle für junge Leute beendet war, stand es gänzlich leer. Viele Jahre boten die Altbauten einen häßlichen Anblick und dies an exponierter Innenstadtlage. Schließlich kristallisierte sich die HBB  als Investor heraus. 40 Millionen Euro nahmen die Lübecker in die Hand, um hier in verkehrsgünstiger Innenstadt-Randlage auf mehr als 20.000 Quadratmetern „Flächenrecycling“ im besten Sinne umzusetzen.

Nach dem Grundstückserwerb des Schlachthofs und weiteren Zukäufen (unter anderem Haupt­post und Marmor-Zimmermann) dauerte es bis Ende 2008, bis die Schlachthofmauern geschleift wurden. Viel Lärm und Dreck mußten die Anlieger seitdem hinnehmen. Die dichte Bebauung zwischen dem Postgebäude und angrenzenden Wohnhäusern und die unter Denkmalschutz stehende einstige Brackerhalle erwiesen sich als Herausforderung für die Architekten.

Um schließlich das Eintrittsportal am westlichen Rand der City aufzuwerten, entschied sich die Stadt, den Kanaltorplatz neu zu gestalten. Rund 1,1 Millionen Euro flossen in dieses Projekt.

Das Konzept kommt in erster. Linie der Nahversorgung zugute und erwies sich für die Vermieter als gelungen.

Schon beim Richtfest im Juni konnte sich HBB-Chef Harald Ortner darüber freuen, daß von den mehr als 16 500 Quadratmetern Nutzfläche nur noch ein winziger Happen von 125 Quadratmetern zu haben war. Und dafür gab es seinerzeit drei Bewerber. Mittlerweile war auch diese Fläche vermiete.

Beim Richtfest sang man ein Loblied auf den Standort und den Angebotsmix, auch mit Blick auf die nordmainische S-Bahn, die ab dem Jahr 2016 (wie man damals meinte) mit dem Haltepunkt Westbahnhof. Als sogenannte „Ankermieter“, die bald die Regale der Großflächen des Postcarres füllen werden, wurden ein Aldi-Markt auf dem früheren Zimmermann-Gelände und eine zur Lidl-Gruppe gehörende Kaufland-Filiale gewonnen. Weitere Mieter des Ensembles sind der Drogerie­fachmarkt Rossmann, ein Biomarkt, diverse Restaurants und Cafés, eine Metzgerei. eine Bäckerei, ein Sonnenstudio, ein Blumengeschäft und eine Sparkassenfiliale. Die Brackerhalle wird sich als Einkaufspassage darstellen.

Weiter in der Akquise ist man bei der Vermietung des Hauptgebäudes. Die oberen Geschosse werden für Büronutzungen angeboten. Auf den Bau der ursprünglich geplanten Wohnungen im Postcarré sei in Laufe der Planung verzichtet worden. Erschlossen wird Hanaus neues Einkaufszentrum über die Straße „Am Steinheimer Tor“. Wie dieser Punkt die Verkehrsströme verkraftet, wird sich ab dem Eröffnungstag am Donnerstag, 25. November, zeigen. Insgesamt stehen auf dem Postcarré gut 420 Parkplätze zu Verfügung, 240 davon in einem zweigeschossigen Parkdeck, 180 ebenerdig. Hinzu kommen die Abstellplätze der Discounter (25.10.10).

 

Westbahnhof:

Eine Tafel an der Westbahnhofunterführung erinnert an den Beginn der Kanalisation in Hanau und den Einstieg in das unterirdische Tunnelsystem. Das Projekt „Sielbau“ wurde 1889 begonnen und 1892 unter OB Dr. Eugen Gebeschus abgeschlossen. Kein geringerer als der „britische Kanalisationspapst“ Ingenieur William Heerlein Lindley (1853 – 1917) hatte die Leitung. Er realisierte in 36 europäischen Städten Wasserversorgungs- und Kanalisationsprojekte, darunter in Bad Homburg, Mannheim, Hamburg, Prag, Baku, Warschau und eben Hanau. Sichtbare Zeugen seiner Wirkungszeit in Hanau sind die Kanalpumpstation Kesselstadt, Reste der Klärbecken und ein kleines Pumpenhaus an der Landstraße.  Das Kanalsammelbauwerk wurde 1976 anlässlich der Bahnhofsunterführung umgestaltet und 1982 mit einem zu einem Wasserspiel umfunktionierten Ausgussrohr verziert. Es diente einst zum Befüllen städtischer Wasserwagen der Straßenreinigung vor dem Schlachthof gegenüber (Martin Hoppe: Objekt der Woche, # 147).

 

Am Westbahnhof gibt es auch das Wasserspiel an der Westbahnhofunterführung, den sogenannten. „Kanaltorbrunnen“, Er wurde von Gerhard Schumm, ehemals stellvertretender Leiter des Tiefbauamtes 1982 aufgestellt. Historisch ist die gusseiserne, blau lackierte, Säule. Sie stand einst vor dem Schlachthof gegenüber und diente dem Befüllen der städtischen Wasserwagen der Straßenreinigung, Sprengwagen des Grünflächenamtes und auch Tanks der Feuerwehr (Martin Hoppe: Objekt der Woche, # 172).

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Außenbezirke

 

Westbahnhof:

Eine Tafel an der Westbahnhofunterführung erinnert an den Beginn der Kanalisation in Hanau und den Einstieg in das unterirdische Tunnelsystem. Das Projekt „Sielbau“ wurde 1889 begonnen und 1892 unter Oberbürgermeister Dr. Eugen Gebeschus abgeschlossen. Kein geringerer als der „britische Kanalisationspapst“ Ingenieur William Heerlein Lindley (1853 – 1917) hatte die Leitung. Er realisierte in 36 europäischen Städten Wasserversorgungs- und Kanalisationsprojekte, darunter in Bad Homburg, Mannheim, Hamburg, Prag, Baku, Warschau und eben Hanau. Sichtbare Zeugen seiner Wirkungszeit in Hanau sind die Kanalpumpstation Kesselstadt, Reste der Klärbecken und ein kleines Pumpenhaus an der Landstraße.  Das Kanalsammelbauwerk wurde 1976 anlässlich der Bahnhofsunterführung umgestaltet und 1982 mit einem zu einem Wasserspiel umfunktionierten Ausgussrohr verziert. Es diente einst zum Befüllen städtischer Wasserwagen der Straßenreinigung vor dem Schlachthof gegenüber (Martin Hoppe: Objekt der Woche, # 147).

 

Am Westbahnhof gibt es auch das Wasserspiel an der Westbahnhofunterführung, den sogenannten. „Kanaltorbrunnen“, Er wurde von Gerhard Schumm, ehemals stellvertretender Leiter des Tiefbauamtes 1982 aufgestellt. Historisch ist die gusseiserne, blau lackierte, Säule. Sie stand einst vor dem Schlachthof gegenüber und diente dem Befüllen der städtischen Wasserwagen der Straßenreinigung, Sprengwagen des Grünflächenamtes und auch Tanks der Feuerwehr (Martin Hoppe: Objekt der Woche, # 172).

 

 

Martin-Luther-Anlage:

Die erste Aufbauphase Hanaus wurde 1958 mit der Einweihung der Skulptur „Wo das Recht gebrochen wird, stirbt die Freiheit“ von Bildhauer Otto Crass in der Martin-Luther-Anlage und der Wiedereröffnung des Deutschen Goldschmiedehauses abgeschlossen.  Der Bildhauer Otto Crass (1893 – 1969) kehrte 1941 nach Hanau zurück und lehrte ab 1947 an der Zeichenakademie. Von ihm stammen die Puttenfigur „Schifffahrt“ am Hafenblock / Ecke Canthalstraße, die Kleinplastik „Römereck“ an der Ecke Marktplatz / Lindenstraße und die „Stelzenläuferin“ auf dem Hof der Wilhelm-Geibel-Schule in Kesselstadt.

Das Mahnmal für die Opfer des Faschismus wurde am 19.  März 1958 offiziell von der Stadt Hanau eingeweiht. Sie zeigt ein stilisiertes zerborstenes Kreuz und eine auseinandergerissene Familie. Der Sinnspruch auf dem Sockel „Wo das Recht gebrochen wird, stirbt die Freiheit“ stammt vom damaligen Oberbürgermeister Heinrich Fischer (1895-1973). Im Jahre 2022 wurde das Denkmal saniert und auch die Gedenklatte für die Heimatvertriebenen des Stadt- und Landkreises Hanau nur wenige Meter entfernt (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 102). Als Dank für die Wiederaufbauleistung der Bevölkerung fand erstmals am 16. und 17. August 1958 das Bürgerfest im Park von Schloss Philippsruhe statt.

 

 

Land- und Amtsgericht:

Justizgebäude:

Das Gerichtswesen in Hanau hat eine lange Tradition. Die Stadtväter legten schon im 19. Jahrhundert großen Wert auf eine eigenständige Justiz und waren bereit, dazu auch große finanzielle Opfer zu bringen, um die Konkurrenz aus Frankfurt und Fulda abzuwehren. Anläßlich der Generalinstandsetzung der Gebäude in der Nußallee blickt die Zeitung „Frankfurter Rundschau“ auf die wechselvolle Geschichte zurück, gestützt auf die Recherchen des Rechtsanwaltes und Hobbyhistorikers Hans Katzer sowie auf Nachforschungen des ehemaligen Landgerichtspräsidenten Felix Lesser.

Eine Justizchronik existiert bislang nicht und über die Zeit des Nationalsozialismus gibt es offenbar überhaupt keine Aufzeichnungen mehr. Dies lag allerdings offenbar weniger daran, daß die Gebäude bei einem Luftangriff der Alliierten am 19. März 1945 schwer beschädigt wurden, als daran, daß viele Unterlagen und Akten unmittelbar nach Kriegsende von Bediensteten verbrannt worden sein sollen.

Bekannt ist demnach nicht einmal mehr, wer zur damaligen Zeit Gerichtspräsident war. Ende der 30er Jahre soll ein Landtagsabgeordneter aus Pommern die Geschäfte geführt haben, der dann von einem Nazi abgelöst wurde, weiß Richter Ulrich Scheuermann, der sich als Baubeauftragter für die Generalinstandsetzung zwangsläufig auch mit der Historie beschäftigte. Genaueres müßte man dem Staatsarchiv entnehmen, und das sei eine sehr mühselige Arbeit.

Mehr über die Zeit davor hat Felix Lesser (1887 - 1974), Landgerichtspräsident von 1945 bis 1960, herausgefunden. Demnach gab es in der Grafschaft Hanau seit der Übernahme des römischen Rechts und der Bildung eines gelehrten Richterstandes eine ordentliche Gerichtsbarkeit. Seit dem Mittelalter kam den Stadträten die Aufgabe zu, auch als Organe der Rechtspflege tätig zu sein. Nach dem kurhessischen Organisationsedikt von 1821 - es trennte Judikative und Exekutive - verloren sie diese Aufgabe. Aus dem vormaligen Hofgericht wurde ein Obergericht, das von 1822 bis 1850 im Altstädter Rathaus (heute: Goldschmiedehaus) residierte, ehe ein neues, dreigeschossiges Gebäude im herrschaftlichen Baumgarten, dem heutigen Bangert, errichtet wurde. Ihm unterstanden 15 Justizämter, die Vorläufer der Amtsgerichte. Als höchste Instanz fungierte das Oberappellationsgericht in Kassel.

Zum Gerichtsbezirk zählten damals nicht nur die ehemaligen Kreise Hanau, Gelnhausen und Schlüchtern, sondern zusätzlich die Gemeinden Bergen, Bockenheim, Fechenheim, Ginnheim, Preungesheim und andere. Sie gehörten damals zum Hanauer Land und wurden erst später nach Frankfurt eingemeindet. So fand ein Prozeß im Gefolge der deutschen Revolution 1848 vor dem neu geschaffenen Schwurgericht in Hanau statt, weil die Beschuldigten aus Bockenheim und Ginnheim stammten. Sie sollen für den Tod zweier Abgeordneter der Nationalversammlung verantwortlich gewesen sein. Im Jahre 1866 kam auch das bis dahin königlich bayerische Amtsgericht Bad Orb hinzu.

Aufgrund der Zersplitterung Deutschlands in Duodez-Fürstentümer und der kriegerischen Aus­einandersetzungen, die noch im 19. Jahrhundert zu ständigen Grenzänderungen führten, änderte sich die Rechtsprechung zuweilen von Dorf zu Dorf. Je nachdem wo man sich in der „Provinz Hanau“ befand, konnte demnach Gemeines Recht, Hanauer Recht, Isenburgisch-Birsteiner, oder Isenburgisch-Meerholzer, Fuldaer oder Althessisches Recht, Mainzer Landrecht oder die Fränkische Landesordnung gelten.

Mit Gründung des Deutschen Reichs 1871 wurden die bis dahin unterschiedlichen Strukturen und Instanzenwege vereinheitlicht. Dem Reichsgericht in Leipzig unterstanden nun die Oberlandesgerichte (Kassel), gefolgt von den Landgerichten und schließlich den Amtsgerichten. Zu jener Zeit entstand eine Rivalität zwischen Hanau und Fulda, die zumindest im Denken an beiden Gerichtsstandorten bis in die jüngste Vergangenheit fortwirkte. Die Planungen sahen zunächst vor, Hanau mit Frankfurt zusammenzulegen und Fulda als selbständiges Landgericht zu installieren.

Hiergegen setzte sich der Hanauer Magistrat vehement und mit mehreren Eingaben an Justizminister und den preußischen Landtag zur Wehr. Sie argumentierten mit der Größe und auch der kommerziellen Bedeutung der Stadt. Zudem seien ausreichend Gebäude mit Erweiterungsmöglichkeiten vorhanden. Daß Fulda den natürlichen Mittelpunkt im Kurfürstentum Hessen-Kassel darstelle, wurde bestritten. Dort gebe es im Übrigen nur Landwirtschaft und kaum Industrie. Nach einer ersten, knappen Abstimmungsniederlage entschied sich der Landtag schließlich doch noch für die Grimm-Stadt. Das Kreisgericht Fulda wurde aufgelöst, der Bezirk mit den Kreisen Fulda, Gersfeld, und Hünfeld wurde Hanau zugeschlagen. Die Richter wurden allerdings nicht dorthin versetzt, sondern in alle Winde verstreut, wahrscheinlich, um möglichen Animositäten vorzubeugen.

Das Landgericht war nun für 22 Amtsgerichte zuständig, wodurch das Behördenhaus am Bangert aus allen Nähten platzte und das Hanauer Amtsgericht 1880 in ein Gebäude „Am Markt 18“ umziehen mußte. Bockenheim wurde 1895 aufgelöst und der Stadt Frankfurt einverleibt.  Bevölkerungszunahme, wirtschaftlicher Aufschwung und die damit verbundene Zunahme der Geschäftstätigkeit - man denke allein an Handelsregister, Grundbuch- und Katasteramt - machten weitere räumliebe Veränderungen erforderlich, auch um Amts- und Landgericht wieder zu vereinigen. Erneut sah Fulda seine Chance gekommen, die alte Scharte auszuwetzen und pochte auf seine zentrale Lage im Bezirk.

Die gewitzten Hanauer Stadtväter aber machten dem preußischen Justizfiskus ein Angebot, das er nicht ablehnen konnte. Einerseits boten sie 300.000 Mark für den Kauf der bisher genutzten Immobilie, andererseits stellten sie ein rund 10.000 Quadratmeter großes Grundstück, den 1846 geschlossenen Friedhof aus dem 30jährigen Krieg zwischen Nußallee, Fischerhüttenweg und Katharina-Belgica-Straße als Baugrund zur Verfügung. Die Belgica-Straße war übrigens schon damals nach der Tochter des Prinzen Wilhelm von Oranien und Witwe des Grafen Ludwigs II. von Hanau benannt, die sich zu jener Zeit für die ausgeplünderte Bevölkerung, insbesondere im fast völlig zerstörten Flecken Rumpenheim einsetzte.

Im Vertrag verpflichtete sich die Stadt zur unentgeltlichen Überlassung des 98 Ar großen Areals, wovon etwa zwei Drittel bebaut werden sollten. Die verbleibende Fläche war als Park gedacht, in den die alten Grabdenkmäler des Friedhofes integriert werden sollten. Für die Unterhaltung der Grünanlagen ebenso wie die Erschließung hatte demnach die Stadt zu sorgen.

Bei allem Entgegenkommen baute der Magistrat aber auch die Rückversicherungsklausel ein, wonach der Staat eine Entschädigung von 200.000 Mark zu leisten habe, falls das Landgericht doch noch woanders hin verlegt werden sollte. Am 5. März 1906 wurde das Abkommen zwischen dem geheimen Oberjustizrat Louis Kappen als Landgerichtspräsident und dem Ersten Staatsanwalt Max Lehmann als Vertreter des preußischen Justizfiskus einerseits und dem Hanauer Oberbürgermeister Dr. Eugen Gebeschus anderseits unterzeichnet. Mit dem Projekt konnte begonnen werden.

Das Gericht wurde als eines der jüngsten preußischen Landgerichte ab 1908 errichtet. Dafür wurde der 1846 aufgelassene Deutsche Friedhof an der Nussallee genutzt. Architekten waren Baurat Rudolf Mönnich vom preußischen Ministerium für öffentliche Arbeiten und der königliche Landbauinspektor Friedrich Bode. Einweihung des äußerst repräsentativen Komplexes war im Oktober 1911.

 

Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts herrschte in Hanau ein regelrechter Bauboom, bei dem eine ganze Reihe repräsentativer Gebäude entstand. Im Nordosten wurden die weitläufigen Kasernenkomplexe hochgezogen. Im Südosten entwickelte sich das Industriegebiet. Im Westen, der vor allem durch Wohnbebauung geprägt war, wurden Schulen, Krankenhäuser, Büros und Theater errichtet.

Geld schien dabei keine Rolle zu spielen. So können die Verantwortlichen für die laufende In­standsetzung des Landgerichts nur mit blankem Neid die historischen Fotos aus der Zeit kurz nach der Fertigstellung einer der letzten großen Baumaßnahme der preußischen Justizverwaltung betrachten, während sie bei der aktuellen Sanierung jeden Cent umdrehen müssen (grünes Linoleum in den Fluren).

Eine Mischung aus Jugendstil und Barock leistete man sich damals, sowohl was die prächtige Außenfassade, als auch, was das Interieur betrifft. Und damit alles noch ein bißchen größer und protziger wirkte, wurde sogar ein wenig geschummelt, wie der heutige Baubeauftragte Ulrich Scheuermann zu erzählen weiß. Durch die vertikale Anordnung der Fenster etwa wurden von außen höhere Geschosse vorgetäuscht als tatsächlich vorhanden. Erst im Inneren wird der Betrug offensichtlich: Befindet sich die Fensterunterkante im Souterrain noch in Kniehöhe, so braucht man im zweiten Stock schon lange Arme, um die Öffnungsgriffe zu erreichen. Auch wurde das Gelände von der Straße zu dem Gebäude bewußt abschüssig gestaltet, um die gleiche Wirkung zu erzielen.

Majestätisch wirkte der dreitorige Eingang, der heute verglast ist, um mehr Sicherheit zu gewährleisten. Über den sechs Sandsteinsäulen mit den reichverzierten Fenstern dazwischen erhob sich ein klassizistischer Giebel mit dem schwarz-weißen Hoheitszeichen Kaiser Wilhelms II. in der Mitte, darüber die Kaiserkrone aus Sandstein als Abschluß. Zumindest bis zur Abdankung des Regenten nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und der Ausrufung der Weimarer Republik prangte auf dem Wappen zusätzlich ein goldenes, verschnörkeltes „W II.“

Wie im oberen Strafkammersaal umgab das ovale Signum der lateinische Sinnspruch „suum cuique" (Jedem das seine), geprägt vom römischen Rechtsgelehrten Cicero, später mißbraucht von den Nationalsozialisten.

Dieser Giebel wie auch die gesamte obere Etage fielen der Bombardierung im Zweiten Weltkrieg zum Opfer und wurden danach nicht mehr aufgebaut. Geld und Material reichten nur noch für ein unscheinbares, flaches Walmdach. Inzwischen wurden auch Überlegungen, wenigstens den Giebel im Zuge der Generalinstandsetzung zu rekonstruieren, verworfen.

Kaiser Wilhelm II. höchstselbst soll damals Einfluß auf die Pläne genommen haben. Sichtbarer Ausdruck soll demnach die Gestaltung des Türmchens zwischen ehemaligem Beamtenwohnhaus und Untersuchungsgefängnis in der Katharina-Belgica-Straße gewesen sein. Die verschieferte Haube erhielt auf seine Forderung hin die Form eines Geschosses.

Davon ist nichts mehr geblieben, wie auch von der gesamten dritten Etage, in der unter einem Tonnengewölbe die Gefängniskapelle und ein Strafkammersaal untergebracht waren. Die schwere, mit Beschlägen versehene Tür zu diesem Raum wurde, ebenso wie der Schwurgerichtssaal darunter, von einer steinernen Justitia mit Schwert und Gesetzbuch bewacht. Wände und Decken waren, wie auch im übrigen Gebäude, freskenartig bemalt.

Das Gewölbe der Kapelle war mit hellen, verzierten Holzkassetten getäfelt. Wirkten diese beiden Räume im Obergeschoß filigran und beinahe heimelig, so vermittelte der große, zwei Stockwerke hohe Schwurgerichtssaal im Zentrum des Gebäudes eine Präsens allgegenwärtiger Macht; den Eindruck, wie klein doch der Mensch vor den Schranken des Staates sei. Schwer ruhte die holzgeschnitzte Decke auf massigen Konsolen - ein fast schon erdrückendes Bild für jeden armen Sünder, der sich hier verantworten mußte. Wegen der jetzt anstehenden Teilung wird der Saal bald nur noch halb so hoch sein.

Bereits die Wandelgänge und Aufgänge signalisierten, daß für das Walten der preußischen Justiz keine Kosten noch Mühen gescheut wurden. Auch hier Türrahmen, Säulen und Brüstungen, zuweilen gekrönt mit mannshohen Obelisken, aus rotem Main-Sandstein, gebrochen oberhalb von Miltenberg, reichverzierte wuchtige Rundbögen und Pfeiler, ein großzügiges, lichtdurchflutetes Treppenhaus, abgeschlossen wiederum von einer prunkvollen Kassettendecke - ein Konglomerat verschiedenster Bau- und Kunststile. „Jede einzelne Säule in diesem Hause ist ein handwerkliches Meisterstück“, schwärmte der Chronist und ehemalige Landgerichtspräsident Felix Lesser

Die Sandsteinsäulen und -einfassungen sind noch vorhanden. Ansonsten lassen nur noch historische Aufnahmen ahnen, wie sich die Staatsgewalt vor beinahe hundert Jahren manifestierte. An wenigen Stellen haben Studenten vor einiger Zeit im Rahmen eines Forschungsauftrages die alten Ornamente unter dem weißen Putz hervorgekratzt. Sie sollen nach Möglichkeit im Rahmen der laufenden Sanierung für die Nachwelt erhalten bleiben.

Der Architekt muß, so der Baubeauftragte Scheuermann, neben seinem Handwerk auch viel von den Abläufen der Justiz verstanden haben. So wurden eigens schmale Gänge und Treppen eingerichtet, um die Beschuldigten unbehelligt, aber auch ohne die Möglichkeit des Entweichens vom Gefängnis auf die Anklagebank in der ersten, zweiten oder dritten Etage zu leiten, ebenso um Zuhörer auf direktem Weg von der Straße aus in den Publikumsraum gelangen zu lassen, ohne daß sie mit den übrigen Abläufen im Gebäude in Kontakt treten konnten.

Im August 1908 begannen die Arbeiten für das langgestreckte Gerichtsgebäude entlang der Nußallee, Gefängnis für 70 bis 80 Personen, Beamtenwohnhaus und Nebenanlagen. Als Baustoff wurden vor allem rote Backsteine verwendet, die später hinter Putz und Stuck verschwanden.

Ein Jahr benötigten die Handwerker unter Leitung von Oberbaurat Bode für den Rohbau, zwei weitere Jahre für die Innengestaltung der insgesamt fünf Geschosse. Das Souterrain wurde als Wohnung für Hausmeister und Heizer ausgelegt. Hinzu kamen Vorratsräume. Das Erdgeschoß wurde für Amtsgericht, Amtsanwälte und Gerichtskasse vorgesehen. Darüber und in einem Flügel der zweiten Etage residierten das Landgericht mit Straf- und Zivilkammern. Im zweiten Stock hatte die Staatsanwaltschaft, die schon vor vielen Jahren ausgelagert wurde, ihr Domizil. Im Dachgeschoß waren neben den erwähnten Räumen die Schreibstuben der jeweiligen Behörden untergebracht.

Die Gebäude bildeten damals wie heute ein unregelmäßiges Viereck, das einen großen Hof erschließt. Er wird von einer hohen, inzwischen mit Stacheldraht bekränzten Mauer in zwei Hälften geteilt, eine davon dient den Häftlingen als Grünfläche, um sich dort die Beine vertreten zu können.

Während der Bauarbeiten kam es nur einmal zu einem Zwischenfall, als eine Decke einstürzte und mehrere andere mit sich riß. Gleichwohl kam, wie auch während der übrigen Zeit, niemand der Arbeiter zu Schaden. Am 13. Oktober 1911 - übrigens ein Freitag - wurde der Komplex bei einem Festakt im Schwurgerichtsaal von Oberlandesgerichtspräsident von Hassell seiner Bestimmung übergeben. Die Gesamtkosten beliefen sich auf eine Million Mark. Was diese Summ damals tatsächlich bedeutete, läßt sich daran ermessen, daß allein die jetzige Instandsetzung - ohne Prunk und Pomp - mindestens 15 Millionen Euro erfordern wird.

 

Justiz in der Nazizeit:

Im Jahre 1944 wurde das Hanauer Landgericht aus der Oberhoheit Kassels ausgegliedert und dem Oberlandesgericht Frankfurt zugeordnet. Fulda und Hünfeld wurden Kassel zugeschlagen. Damit wurden die Gerichtsgrenzen den sogenannten ,,Gauen“ der Nazis angepaßt. Als gesichert kann aber gelten, daß Behördenteile wie Grundbuchamt, Kammer für Handelssachen, Nachlaßgericht und andere Einrichtungen, die das tägliche Leben regelten, ohne wesentliche Veränderung weiterarbeiteten. Anders dürften sich die neuen Verhältnisse auf die Strafgerichtsbarkeit ausgewirkt haben. So geht aus Erzählungen von Zeitzeugen hervor, daß auch in Hanau eine Reihe von politischen Todesurteilen gefällt wurden, obwohl es hier keine Sondergerichte gab.

Berichtet wird beispielsweise aus dem Jahr 1933, daß die Gefängnisse im Fronhof und das des Landgerichtes nach der Machtübernahme des Hitler-Regimes „hoffnungslos überfüllt“ gewesen seien. Im Jahre 1936 wurden mehrere Hanauer Sozialdemokraten wegen „Hochverrats“ zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Betrieben wurden die Verfahren allerdings von der Kasseler Generalstaatsanwaltschaft. Vor dem dortigen Oberlandesgericht fanden auch die Prozesse statt.

Erwähnung fand des Weiteren, daß ein Frankfurter Sondergericht eine Frau zu eineinhalb Jahren Zuchthaus verurteilte, weil sie eine gefälschte Kleiderkarte benutzte. Im Februar 1942 schreibt die „Kinzig-Wacht“ (Nachfolgeorgan des zum damaligen Zeitpunkt eingestellten Hanauer Anzeigers) über einen Dieb, der Winterkleidung, die für die Ostfront gesammelt worden war, beiseitegeschafft hatte. Er wurde demnach hingerichtet. Vier Monate Gefängnis gab es für einen „Panscher“, der Milch vor dem Verkauf verdünnt hatte. Wer Hühner hielt und die Eier verkaufte, mußte aufpassen, daß es nicht zu wenige waren, weil er sonst in Verdacht von Schiebereien geriet.

Gegen Kriegsende beklagten die Behörden den drastischen Anstieg von „Obst- und Felddiebstahl“. Auch wurden immer mehr Fahrräder entwendet. Für Schlagzeilen sorgte außerdem der Diebstahl von 11.000 Zigaretten aus einem Lagerhaus. Inwieweit die Hanauer Justiz mit solchen Fällen befaßt war, darüber gibt es allerdings keine Angaben.

 

Wiederaufbau des Gebäudes:

Nach der Zerstörung der Innenstadt zu Ende des Zweiten Weltkriegs wurde der Haupttrakt des Gerichts mit vereinfachter Fassade 1951/1952 wieder aufgebaut. Das Gericht bestand ursprünglich aus drei Gebäudeflügeln, die einen unregelmäßig-viereckigen Hof umschlossen.

Der Industriestandort und Verkehrsknotenpunkt Hanau war bereits 1943 mehrfaches Ziel alliierter Luftangriffe. Das Gerichtsgebäude wurde bis dahin kaum beschädigt. Beim großen Bombenangriff am 19. März 1945 wurde es jedoch von Minen und Brandbomben schwer getroffen und brannte weitgehend aus. Nur die massive Bauweise verhinderte, daß die Mauern komplett einstürzten. Gewaltige Druckwellen müssen das Haupthaus erschüttert haben, wie die zahlreichen Risse in den derzeit freigelegten Backsteinwänden bescheinigen. Die Statiker wundern sich noch heute, daß sie Stand gehalten haben.

Nach der Befreiung durch die US-amerikanische Armee übernahmen die Besatzungstruppen zunächst auch das Justizwesen, zumindest, was die Strafrechtspflege angeht. Die bisherigen deutschen Bediensteten wurden zu Aufräumungsarbeiten herangezogen. Aber schon im September 1945 wurde das Land- und Amtsgericht Hanau wieder eröffnet, auch wenn nur einige Kellerräume und wenige Zimmer im Erdgeschoß benutzbar waren. Einen Sitzungssaal gab es vorderhand keinen. Am 8. September wurden die ersten Nachkriegsrichter im Schloß Philippsruhe vom Kommissar der Militärregierung vereidigt.

Der Wiederaufbau begann im Herbst des gleichen Jahres, im darauffolgenden Frühjahr war die Zivilverwaltung wieder soweit hergestellt, daß das hessische Staatsbauamt die Koordination der Arbeiten übernehmen konnte. Zunächst fehlte es nicht an Geld, aber das war im Zuge der galoppierenden Inflation wenig wert. Dafür fehlte es an Arbeitskräften und Baumaterialien. Angesichts der starken Zerstörung in ganz Hanau und der zusätzlichen Belastung durch Flüchtlinge aus dem Osten gab es besseres zu tun, als den Staatsapparat wiederherzustellen. Wichtiger war in diesen Monaten ein Dach über dem Kopf. So wurde zwar am 22. August 1946 Richtfest gefeiert, doch die Arbeiten zogen sich hin.

Immerhin gelang es dem Staatsbauamt, einen auswärtigen Unternehmer aus dem Altkreis Gelnhausen zu finden, der den Wiederaufbau übernahm. Felix Lesser, der am 1. September 1945 zum Landgerichtspräsidenten bestellt worden war, rühmte „die Pflichttreue der Arbeiter, die täglich aus den Dörfern zu uns kamen und als Entgelt nichts anderes erhalten konnten als Papiergeld“. Ein paar Kartoffeln für die Familie zu Hause und ein warmes Essen wären ihnen wahrscheinlich lieber gewesen.

 

Wiederaufbau der Justiz:

Ein Glücksfall für die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg war mit Sicherheit die Ernennung von Dr. Felix Lesser zum ersten Landgerichtspräsidenten durch die Alliierten am 20. August 1945. Lesser war ein ausgewiesener Gegner der Nationalsozialisten gewesen. Der gebürtige Berliner war ein Garant dafür, daß sich die unseligen Traditionen einer kaum gewendeten Nachkriegsjustiz, wie sie andernorts bis in die 70er und 80er Jahre hinein für Negativschlagzeilen sorgte, zumindest im Gerichtsbezirk Hanau nicht fortsetzten.

Felix Lesser, geboren 1887 in Berlin, war im Ersten Weltkrieg Offizier und wurde bei Kämpfen schwer verwundet. Danach arbeitete er zunächst als Staatsanwalt in Berlin, später war er bei der Reichsanwaltschaft in Leipzig tätig. Als „Nicht-Arier“ wurde er 1933 nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nach Hanau strafversetzt. Schlimmeres blieb ihm zunächst aufgrund seiner Kriegsauszeichnungen erspart.  Anfang 1936 wurde Lesser zwangsweise in den Ruhestand versetzt, danach als einfacher Arbeiter dienstverpflichtet. 1943 kam er ins Konzentrationslager Theresienstadt, wo er einen Tag vor Kriegsende von den alliierten Truppen befreit und bereits im August als geeignete Person damit betraut wurde, die materiell wie personell zerschlagene Justiz in Hanau unter demokratischen Vorzeichen wieder aufzubauen.

Schon im September 1945 wurden die Geschäfte auf Betreiben des US-amerikanischen Stadtkommandanten Turner - im Zivilberuf Rechtsanwalt in Los Angeles - wieder aufgenommen, wobei das Amtsgericht mangels geeigneter Räume zunächst in der alten Kesselstädter Schule untergebracht wurde.

Die Alliierten ließen die deutschen Gesetze, abgesehen von den Unrechtsregelungen der Nationalsozialisten, die Verurteilungen auch nach dem „gesunden Volksempfinden“ ermöglichten, weitgehend unangetastet. Allein schon aus praktischen Gründen blieb die Kriegswirtschaftsverordnung bestehen, die beispielsweise Schwarzschlachtungen oder Verstöße gegen das Zuteilungswesen im Lebensmittel- und Textilbereich verhindern sollte.

Für die Handvoll unbelasteter Richter, die aus allen Teilen des zerstörten Deutschlands nach Hanau kamen und von den Amerikanern akzeptiert wurden, gab es erheblichen Nachholbedarf, nachdem die Akten im Keller des zerstörten Gerichtsgebäudes aufgefunden und entstaubt wurden, vor allem eine Fülle anstehender Scheidungsfälle, die zwischen 1939 und 1945 als kriegsunwichtig eingestuft und daher nicht weiter bearbeitet worden waren.

Eine der ersten Akten, der sich der spätere Landgerichtspräsident Ernst Weigand als Referendar annahm, betraf einen Reifungsprozeß gegen ein Hutgeschäft Ecke Hammerstraße/ Freiheitsplatz. Das Gebäude war jedoch derart zerstört, daß eine Räumung überhaupt nicht mehr angeordnet werden konnte. Gestritten wurde aber immer noch um die Kosten.

Der einzige Richter, der bis Kriegsende in Hanau geblieben war und danach wieder eingestellt wurde, war Landgerichtsrat Thomas, der den Alliierten den Vorschlag machte, Felix Lesser zum Präsidenten zu berufen. Es dürfte Lesser viel Improvisationstalent und Überredungskunst gekostet haben, die nach der Bombardierung am 19. März 1945 übriggebliebenen Umfassungsmauern des Landgerichts in den kommenden Jahren wieder in ein nutzbares Justizgebäude verwandeln zu lassen. Als der Wiederaufbau in einer Feierstunde am 10. Mai 1954 begangen wurde, war der Chef bereits 67 Jahre alt. Dennoch führte er die Behörde noch sechs Jahre weiter und bekleidete außerdem zeitweise das Amt des Präsidenten des Hessischen Staatsgerichtshofs. Lesser starb im April 1974 im Alter von 86 Jahren.

Auf seinen Wunsch hin wurde Dr. Gerhard Otto am 1. April 1960 zum Nachfolger bestimmt. Jahre 1908 im Herzen Sachsens geboren, promovierte Otto 1933 und wurde zehn Jahre später zum Landgerichtsrat in Liegnitz ernannt. Nach seiner Einberufung und Kriegsgefangenschaft verschlug es ihn nach Hessen, wo er 1946 in den Justizdienst übernommen wurde. In seine Amtszeit fiel die Auflösung der Amtsgerichte Bad Orb, Wächtersbach, Salmünster, Langenselbold und Steinheim, ferner die Erweiterung des Justizkomplexes im Bereich Fischerhüttenweg und die Übernahme des früheren Gemeindehauses der Wallonisch-Niederländischen Kirche. Im Kinzigtal gebe es mehr Amtsgerichte als Gastwirtschaften, hatte Stadtkommandant Turner dazu einmal spöttisch geäußert.

Von 1960 bis 1965 war Gerhard Otto Vorsitzender des Landesverbandes im Deutschen Richterbund. Darüber hinaus beherrschte er fließend mehrere Sprachen und Musikinstrumente, war literarisch bewandert und universell gebildet. Im Jahre 1973 wurde er pensioniert. Er starb am 22. August 1989.

Wiederum auf Betreiben seines Vorgängers avancierte im Oktober 1973 mit Ernst Weigand, ein echter Hanauer Bub, zum neuen Landgerichtspräsidenten. Schon immer hatte den Sohn eines Lehrers an der Gebeschusschule der imposante Gerichtsbau beeindruckt. Und schon als 15-Jähriger faßte er den Beschluß, hier einmal tätig zu werden.  Nach dem Abitur an der Hohen Landesschule nahm Weigand 1937 sein Jurastudium auf, wurde allerdings bereits mit Kriegsbeginn eingezogen und noch im gleichen Jahr schwer verwundet. Während eines Fronturlaubs legte er 1941 die Erste Staatsprüfung ab. Nach der Befreiung geriet er in amerikanische Gefangenschaft, durfte aber noch im Jahr 1945 nach Hanau zurückkehren. Zwei Jahre später, nach dem Zweiten Staatsexamen, wurde er hier zum Richter ernannt. Zwischenzeitlich ans Oberlandesgericht Frankfurt abgeordnet, kehrte er 1963 in seine Heimat zurück. Er war in den folgenden Jahren an einer Reihe spektakulärer Strafprozesse als Mitglied und Vorsitzender der Schwurkammer beteiligt.

Immer aber war es dem heute 83-Jährigen ein Anliegen, Frieden zu stiften und die Justiz als demokratisches Element zu fördern. Wobei er zugesteht, daß gerade in seinem Berufsstand in der Nachkriegszeit aus falsch verstandenem Korpsgeist zahlreiche Fehler in der Aufarbeitung der Vergangenheit gemacht wurden. „Das hätte energischer bereinigt werden müssen“, sagt Weigand.

Gleichwohl, seinen Werdegang hat er nie bereut: Es ist ein erstrebenswerter Beruf, den ich wieder ergreifen würde. Aber es ist auch ein schwerer Beruf. „Es gibt keine schlimmere Belastung als das Gefühl, jemandem Unrecht getan zu haben.“ Vielleicht war es diese Belastung, die Weigand in seinem Privatleben trieb, sich zum Ausgleich in vielfältiger Weise karitativ, ob als Kirchenvorstand oder in der Martin-Luther-Stiftung zu engagieren, wo er bereits seit 1954 dem Vorstand angehört.

Beruflich befand sich der Landgerichtspräsident in einer Zwitterrolle, einerseits als Behördenleiter, andererseits als Vorsitzender der Berufungskammer. In seine Amtszeit fielen beispielsweise die Einführung des Familiengerichts bei den Amtsgerichten und mehrere organisatorische Veränderungen. Am 31. Dezember 1983, einen Tag nach seinem 65. Geburtstag, wurde Ernst Weigand in den Ruhestand versetzt.

 

Alte Friedhöfe:

Auf Bitten der Bürgerschaft schenkte Graf Philipp Moritz der Bürgerschaft im Jahre 1633 einen Acker vor dem Frankfurter Tor, der dann 213 Jahre lang den Altstädtern als Kirchhof diente. Der alte Friedhof im Kinzdorf mußte militärischen Belangen weichen, im Dreißigjährigen Krieg brauchte die Fes­tung Hanau freies Schußfeld. Überdies wa­ren die Leichenzüge der Altstadtbürger, die zwangsläufig durch die Neustadt führ­ten, ständig Anlaß für Ärgernis. Knapp 200 Jahren war das Gelände des heutigen Gerichtskomplexes Begräbnisstätte der Hanauer Altstadt, die der Neustädter, der „Französische Friedhof“ befand sich un­weit davon in der heutigen Martin-Luther-Anlage, dort sind noch Steine der Wallonisch-Niederländischen Gemeinde erhalten.

Im Jahre 1846 wurde der Deutsche Friedhof aufgelassen aus Furcht vor ausschwemmenden Totengiften (Er lag ja im Überschwemmungsgebiet). Am 22. Juni 1846 fand in beiden Friedhöfen eine Gedächtnisfeier statt. Dann wurde der neue Friedhof an der Dettinger Straße seiner Bestimmung übergeben. Einige Grabdenkmäler der alten christlichen Friedhöfe wurden 1898 nach deren Schließung auf den neuen Hauptfriedhof südöstlich der Stadt überführt.

Eine große Zahl der alten Grabsteine verblieb jedoch in der Nußallee. Dem Landbaumeister Bode, dem damals die Bauleitung oblag, ist es zu verdanken, daß eine große Zahl von Grabmälern, allesamt Kleindenkmale von Rang und Doku­mente ihrer jeweiligen Zeit, gerettet wur­den, anstatt als Unterbau unter der Nußal­lee in der Erde zu verschwinden. Mit eige­nen Mitteln - denn schon damals zeigte sich die Stadt knauserig gegenüber ihrem his­torischen Erbe - ließ Bode die wichtigsten Steine als Teil einer Mauer zum Fischer­hüttenweg hin aufstellen. Seither begrenzt sie in einem sich stetig verschlechterndem Zustand den in städtischem Besitz verblie­benen Park neben dem Gericht.

Nach Ablauf der Ruhefrist wurde das Gelände zur Bebauung freigegeben und der Preußische Justizfiskus erwarb den größeren Teil des Areals, um darauf im Jahre 1908 das Gericht und das Gefängnis zu errichten.

Im Jahre 1911 hat man 70 prachtvolle Grabmale an die Außenmauer gestellt. Diese an sich sehr begrüßenswerte Erhaltung der Grabdenkmäler hat aber im Laufe der Zeit den Steinen großen Schaden zugefügt, da sie alle ihre Vorderseite der Wetterseite entgegenstellen und so stark verwittert sind. Inschriften und plastischer Schmuck des weichen Sandsteines sind abgeblättert; und Wind und Wetter werden weiter an ihnen nagen. Obendrein stehen die Platten einen Großteil des Jahres im Nas­sen, weil die Bodennässe nicht abziehen kann, weil vor Jahrzehnten der hinter der Mauer verlaufende Fischerhüttenweg höher gelegt wurde und eine Asphaltdecke erhielt.

Die anfängliche Idee eines kompletten Neu­aufbaus der Mauer wurde ver­worfen, denn damit verändere sich ihr Er­scheinungsbild. So wurde die zweischalige Mauer abschnittsweise saniert und dabei die Grabtafeln ausgebaut. Nachdem die Risse und bröseligen Kanten gerei­nigt und mit eingefärbtem Mörtel verputzt waren, wurden die Steine auf einen Sockel ge­stellt. Was an Inschriften und Orna­menten nicht mehr existiert, wurde nicht ersetzt.

Die Geringschätzung der Klein­denkmale gipfelte in den frühen neunziger Jahren in der offiziell bekundeten Absicht, sie „ihrem natürlichen Verfall“ zu überlassen. Es war der Ehrenvorsitzende des Han­auer Geschichtsvereins, Dr. Eckhard Mei­se, der seit über 20 Jahren immer wieder den Finger in diese Wund gelegt hat und dabei lange auf taube Ohren stieß. Erst beim Umbau des Gerichtsgebäudes vor we­nigen Jahren wurde offenbar auch der Po­litik klar, welcher historische Schatz hier von akutem Verfall bedroht ist.  Der spätere Bürgermeister Klaus Kaminsky griff 2004 die Initiative des Geschichtsver­eins auf und verhalf dem Restaurierungs­projekt über eine Anschubfinanzierung durch die Stiftung der Sparkasse Hanau zu einem, wenn auch späten, so doch jetzt von erstem Erfolg gekröntem Start.

Der Hanauer Geschichtsverein hat zwanzig Jahre gemahnt, bis die Stadt für ein Sanierungsgut­achten bei der Sparkassen-Stiftung 7.500 Euro locker machte. Dabei geht es hauptsächlich um die Konservierung der rund 50 Meter langen Bruchsteinmauer, in die beim Bau des Amtsgerichtes Grabsteine eingesetzt wurden. Die Grabsteine sind ein bedeutendes Zeugnis der bislang viel zu wenig beachteten bürgerlichen Tradition in Hanau. In der Vergangenheit ist bei der Erhaltung von historischen Hinterlassenschaften vornehmlich auf eine fürstliche Abstammung geachtet worden, was die Stadtgeschichte in ein falsches Licht rückt. Der einstige Gottesacker ist deshalb besonders erhaltenswert. Der Friedhof soll Schulklassen „anschaulichen Geschichtsunterricht“ bieten.

Die in ihr eingemauerten Grabsteine sind ein Spiegel der Althanauer Bürgerschaft und - vor allem nach dem alliierten Bom­benterror des Zweiten Weltkrieges - die let­zen baulichen Relikte des bürgerlichen Hanau.

 

Folgende Grabsteine sind noch zu erkennen:

1. Das Bäckerwappen vom Grabstein des Bäckers David Button aus dem Jahre 1705 zeigt wie üblich Löwen als Wappenhalter und unter der Krone eine Brezel, ein geteiltes Brötchen und einen „Stutzweck“ (Bild in: Hanau Stadt und Land, Seite 436).

2. Das Wappen des Johann Philipp Dengler, gestorben um 1690, zeigt sein Handwerkszeug als Stadtpflasterer, und der Hofkellermeister Nikolaus Will, gestorben 1706, hat sich eine Weintraube als sein Berufszeichen auf seinen Grabstein meißeln lassen.

3. Der Adelmannsche Grabstein vor dem Sei­tenflügel des Justizgebäudes. Die zwei Tonnen schwere Erinnerung an den 1829 verstorbenen Adam Adelmann steht jetzt an der Fassade des Justizgebäudes. Matthias Winterstein von der gleichnamigen Gartenbaufirma barg den Stein gegen eine Spendenquittung. Als Rehbein-Schüler war er begeistert von den Geschichts- und Lateinstunden von Eckard Meise gewesen. Die Kosten für die Aufstellung des Steins - 1000 Euro - übernahm die Landesdenkmalpflege.                

4. Hier war ursprüng­lich Grabdenkmal des in der Schlacht von Hanau 1813 gefallenen Prinzen Karl von Oettingen-Spielberg hier aufgestellt, die sterblichen Überreste wurden aber im Jahr 1847 nach Oettingen in Bayern verlegt.

 

.Grabstein für Oberst von Haller, Alter Deutscher Friedhof von 1830. Als auf dem Gelände um 1900 das Land- und Amtsgericht gebaut wurde, hat Landbaumeister Bode ihm erhaltenswert erscheinende Grabsteine am Fischerhüttenweg neu postiert. Darunter findet sich auch eine eindrucksvolle Säule mit aufgesetztem Helm und aus dem Sandstein gehauenem Wappen für Oberst von Haller. Von Haller wurde am 11. Mai 1770 geboren und „verstarb nach kurzer schmerzhafter Krankheit“ (so die Hanauer Zeitung) am      18. November 1830 in Hanau (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 88).

 

Hanaus Oberbürgermeister Claus Kamin­sky gestand offen Versäumnisse der Stadt Hanau bei der Erhaltung dieses Kultur­denkmals ein. Doch habe ein einstimmiger Stadtverordnetenbeschluß 2003 ein Umdenken eingeleitet, 2004 sei eine Schadens­analyse erstellt, 2005 Sicherungsmaßnah­men ergriffen worden. Auf insgesamt 450.000 Euro belaufe sich die Schätzung für das Gesamtprojekt, knapp zehn Prozent davon hätten Spender und Patrone inzwi­schen beigesteuert. Auch städtische Mittel fließen in die Sanierung.

Die Stadt Hanau selbst hat es sich nicht nehmen lassen, den ersten Grabstein des Deutschen Friedhofs, der am 19. März 1633 dem Studiosus Philipp Elias Wehner ge­setzt wurde, als Pate zu übernehmen. Zwei weitere Steine, die jetzt gesichert und res­tauriert sind, haben die Sparkasse Hanau und die Interessengemeinschaft Hanauer Altstadt zusammen mit Dr. Eckhard Meise zum Paten. Es handelt sich um den Stein der Bäckerfamilie Ihm vom August 1660 und dem der vierjährig gestorbenen Sybil­le Magdalena Rößler von 1676.

Die Stadtgärtnerei Hanau pflegt den alten „Deutschen Friedhof“ der Altstädter Gemeinde, der heute eine großzügige gärtnerische Anlage ist.

 

Strahlenportal am Hanauer Gerichtsgebäude in der Nussallee:

Durch das „Strahlenportal“ mit Hakensteinrahmung am Fischerhüttenweg gelangte man zu den Beamtenwohnungen. Der Trakt wurde 2010 samt Gefängnis durch einen Neubau ersetzt. Das Portal konnte beim Niederlegen des Gebäudes gerettet und nahe des Haupteingangs neu aufgestellt werden (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 80).

 

„Katharina-Belgica-Straße“ (westlich der Nußallee):

Zur Erinnerung an die geistvolle und weitblickende Gemahlin des Grafen Philipp Ludwig II. (Gründer der Neustadt). Katharina Belgica (richtiger: Belgia) war die Tochter Wilhelms von Oranien.

 

 

Neustädter Hospital / Vincenz-Krankenhaus:

Auch in der Neustadt gab es schon bald nach der Gründung der Stadt ein Hospital. Es wurde auch in der Nähe eines Tores errichtet. Einer der Gründer der Neustadt versprach dem Rat der Stadt, 1.000 Gulden zum Bau eines Hospitals zu stiften. Die Bür­gerschaft spendete weitere 3.888 Gulden. Das Grundstück am Frankfurter Tor wurde zum Bauplatz bestimmt (damals Frankfurter Straße Nr. 30, „Zum Greif“ genannt).  Im Jahre 1609 war der Bau vollendet. Man hatte aber bald erkannt, daß das Grundstück mancherlei Mängel hatte. Eine weitere Ausdehnung war zu kostspielig, und so entschloß man sich schon im Jahre 1615 zum Ankauf eines Hauses in der Leimen­straße. Aus diesem Hause entstand dann das heutige Stadtkrankenhaus, das die weiten Flächen des eingeebneten Wallgeländes zum Ausbau benutzte.

 

Frankfurter Tor:

Nachdem die Neustadt Hanau in den Verteidigungsbereich Hanaus einbezogen werden mußte, entstanden auch hier neue Tore. In den einspringenden Winkeln der Befestigung wurden fünf Tore eingelegt: das Frankfurter-, das Kanal-, das Steinheimer-, das Nürnberger- und das Mühltor.

Schon beim Aufbau der Befestigungsanlagen zu Beginn des 17. Jahrhunderts erhielt Neu-Hanau ein Stadttor, das die Stadt für die von Frankfurt kommenden Reisenden öff­nete. Das erste Frankfurter Tor wurde 1603/04 erbaut und mußte bereits 1608 und 1615 repariert werden.

Dieses Tor, ein Turmbau mit enger Durchfahrt mußte im 18. Jahrhundert einem re­präsentativen Neubau weichen. Unter dem Grafen Johann Reinhard III. hatten die Bauarbeiten unter Baudirektor Christian Ludwig Hermann 1721 begonnen, die Vollendung zog sich bis 1723 hin. Damit wollte der Graf ein repräsentatives Eingangstor für seine Residenzstadt schaffen. Wie das Rathaus zeigt auch das Frankfurter Tor das Allianzwappen des Grafen und seiner Gemahlin. Der Wappenschmuck an der Feldseite muß von dem gleichen begabten Steinmetz stammen, wie der Schmuck im Giebel des Neustädter Rathauses.

Auch das Frankfurter Tor trägt ein französisches Dach, ein kleines achteckiges Türmchen belebt seine Silhouette und bildet einen gewissen Gegensatz zur Nüchternheit der Fassade. Die unteren Räume des Tores dienten eine Zeitlang der gräflichen Münze, die seit 1740 dort eine „Müntz­mühl, so die metalle strecket“, unterhielt.

Es gibt nicht viele barocke Stadttore, und das Frankfurter Tor kann sich in dieser kleinen Reihe durchaus mit den anderen Beispielen messen. Heute hat Hanau nur noch dieses eine Stadttor als wertvolles Monument der alten Zeit.

Mit dem Frankfurter Tor präsentiert sich uns ein Stadttor, das nicht mehr wie sein Vor­gängerbau aus fortifikatorischen Gründen nur möglichst engen Durchlaß zuließ, sondern als repräsentativer Eingang zur Stadt diente. Es ist 15,60 Meter breit und 12,90 Meter tief und erreicht mit seinem Dachturm eine Höhe von mehr als 20 Metern. Man sieht einen mehrgeschos­sigen Bau mit reicher Sandsteingliederung. Das Erdgeschoß, das mit seinen drei Torbögen die Durchfahrt ermöglicht, bildet zusammen mit dem ersten Obergeschoß und dem niedri­geren Attikageschoß den Baukörper, über dem sich ein geschwungenes Mansardendach, gekrönt von einem sechseckigen Türm­chen, erhebt.

Die rote Sandsteingliederung prägt das Äußere des Torbaus. Breite, genutete Sandsteinlisenen, die aus abwechselnd höher- und tieferliegenden Steinschichten gebildet werden, an den Ecken des Gebäudes und zwischen den drei Torbögen verlaufend, unterteilen die beiden Fassaden in vertikale Felder. Schmale, schlichte Bänder aus dem gleichen Material trennen die Geschosse und gliedern somit in der Waagrechten. Alle Öffnungen zeigen eine schlichte Sandsteinrahmung. Dies gilt auch für die Fenster der Seitenwände, die in den Obergeschossen zu sehen sind und wie die Fenster von Haupt- und Stadtfassade gestaltet wurden.

Es gelang dem Architekten, die sich nach außen wendende Fassade hervorzuheben. Neben der reicheren Verwendung von Sandstein wird dies vor allem durch den plastisch ausgestalteten Dreiecksgiebel in Höhe des Attikageschosses erreicht. der scheinbar getra­gen von den beiden Sandsteinlisenen, die das Mitteltor flankieren, den Mittelteil der Fas­sade als Risalit erscheinen läßt.

Beide Fassaden zeigen im Erdgeschoß je einen breiten Mittelbogen und zwei schmale seitliche. die die kreuzgewölbte Durchgangspassage eröffnen. Es kam im Kapitel der Bau­geschichte schon zur Sprache, daß die Seitenöffnungen auf der Feldseite ursprünglich ge­schlossen waren. Alle Torbögen erreichen annähernd die gleiche Höhe, die ein wenig nied­rigeren Seitentore gleichen den unterschied mit einem etwas größeren Schlußstein aus, so daß jeder Torbogen mit diesem Stein an das Gesimsband stößt, das Erdgeschoß und erstes Obergeschoß trennt.

Im ersten Obergeschoß zeigen die beiden Fassaden je vier Fenster, die durch schlichte Brüstungs- und Bekrönungsfelder betont werden. Verbunden sind die Fenster durch ein Sandsteinband in Höhe der Fensterbank. Das Geschoß wird durch die vorspringende Traufkante abgeschlossen.

Die darüber liegenden Fenster des Attikageschosses stoßen mit ihrem oberen ge­schwungenen Abschluß in die Dachzone vor. Wie schon das erste Obergeschoß, zeigt auch das Attikageschoß stadtseitig vier Fenster. Die ehemalige Feldseite zeigt nur zwei. Die beiden mittleren wurden hier durch den Dreiecksgiebel ersetzt.

Dieser Giebel zeigt das Allianzwappen Johann Reinhards III. und seiner Gemah­lin Dorothea Friederike von Brandenburg-Ansbach. Die Wappenkartusche sprengt die Giebelbasis und reicht weit in das erste Obergeschoß hinein. Die sie flankieren­den Tiere - Adler und Löwe - reichen ebenfalls bis in dieses Stockwerk und scheinen hier auf der Bekrönung der Mittel­fenster zu stehen. Die Giebelspitze ragt über die Attikazone hinweg, so daß dieser Giebel Verbindung vom ersten Obergeschoß über das Attikageschoß bis zum Dach herstellt.

Das Dach mit seinen geschwungenen Formen und dem hoch aufragenden Türmchen bildet einen beschwingten Gegensatz zu den strengen geraden Formen des Baukörpers. Den oberen Abschluß bildet der vergoldete Schwan, das Wappentier der Stadt. der über dem Turmknopf seine Flügel spreizt.

Von den Räumen. die der Hermannsche Bau in den oberen Stockwerken beher­bergte. weiß man nichts Konkretes. Die heutige Raumaufteilung wurde vom jetzigen Ver­wendungszweck bestimmt und geht nicht auf den Vorkriegszustand zurück. In der Literatur hat es sich eingebürgert, daß das Frankfurter Tor dem Hanauer Baudirektor Christian Ludwig Hermann zugeschrieben wird. Eine Reihe von Gründen läßt sich aufführen. die das Frankfurter Tor als Werk Hermanns ausweisen. Wen anderes, wenn nicht den Direktor seines Bauwesens, sollte der Hanauer Graf mit den Plänen für diesen repräsentativen Eingang zur Stadt betrauen. Zudem empfiehlt sich dieser Baudirektor als Baumeister in militärischem Rang, der für die Betreuung der Festungswerke zuständig war.

. Stilistisch läßt sich der Torbau gut in das uns bekannte Werk Hermanns einordnen. Gerade der Vergleich von Neustädter Rathaus und Frankfurter Tor ließ Winkler und Mitteldorf annehmen. daß Hermann der Baumeister beider Gebäude war und auch Gerhard Bott bescheinigt beiden Gebäuden „...die gleiche strenge Formenspra­che“.

Bis zum Zweiten Weltkrieg überdauerte das Frankfurter Tor die Zeiten nahezu unver­ändert. Im 19. Jahrhundert fanden Veränderungen statt. Auf der Feldseite war zunächst nur der mittlere Torbogen offen, während die beiden seitlichen durch Fenster geschlossen wurden. Auch der alte Plan aus dem Marburger Staatsarchiv verdeutlicht dies. Zur Stadt hin waren drei Torbögen ge­öffnet. zum Feld hin war auf Grund der schmalen Brücke, die lediglich die Breite des mitt­leren Bogens erreichte, nur die mittlere Passage geöffnet. Man kann annehmen, daß die Öffnung der seitlichen Bögen vorgenommen wurde, als man 1833 die Holzbrücke vor dem Tor durch eine breitere Steinbrücke ersetzte. Möglicherweise wurde auch die Traufkante des Tores im Laufe des 19. Jahrhunderts nach unten versetzt. Man sieht auf der obenerwähnten Zeichnung zwischen erstem und zweitem Obergeschoß, dort wo heute die Traufe zu finden ist, nur ein einfaches Sandsteinband. Dies würde bedeuten, daß die Fenster des Attikageschosses ursprünglich nicht so sehr der Dachzone zugeordnet waren.

Als der Bombenangriff vom 19. März 1945 die Stadt Hanau in Trümmer legte, wurde auch das Frankfurter Tor nicht verschont. Es brannte aus, doch überstanden das äußere Mauerwerk und die Gewölbe der Durchgangspassagen das Feuer.

Nach dem Krieg blieben die Überreste zunächst dem Verfall preisgegeben. Nachdem zunächst alles darauf zu deuten schien, daß man die Reste abtragen würde, entschloß man sich 1953 doch zur Wiederherstellung. Im Jahre 1955 erhielt das Tor im Äußeren sein altes Aussehen. Das Dach, das vorher nur provisorisch abgedeckt worden war. wurde mit Schiefer gedeckt und die Schä­den am Mauerwerk ausgebessert.

Heute steht das Frankfurter Tor vor einer kleinen Grünanlage und wird nur noch von Fußgängern durchquert. Lange Zeit stand es ungenutzt. Erst in den achtziger Jahren Tagen erfolgte ein neuer Innenausbau. Das Frankfurter Tor beherbergt nun Schulungsräume des benachbar­ten Krankenhauses. Im Rahmen dieser Baumaßnahmen wurde auch das Äußere verän­dert. Der Zugang zu den Schulungsräumen erhielt eine auffällige Überdachung, und das graue Bruchsteinmauerwerk, das zumindest seit Ende des 19. Jahrhunderts, wenn nicht sogar seit der Erbauung des Tores zu sehen war, wurde verputzt.

 

Hospitalstraße:

Die Verbindungsstraße von der Straße „Am Frankfurter Tor’“ (früher Frankfurter Straße) zur Hospitalstraße hieß „Brücken­gasse“, weil sie bis 1880 ein Durchgang von der Hospitalstraße zur Frankfurter Straße war und nach einer ehemaligen Bastion „Esel“ ge­nannt wurde. Im Jahre 1818 erhielt der Durch­gang die Bezeichnung „Kommu­nikationsbrückengasse“, weil der Übergang über den Stadtgraben mit einer gewölbten Brücke ver­sehen wurde. Nach 1866 wurde daraus kurz „Brückengasse“.

Die Hospitalstraße ist benannt nach dem Haus Nummer 26 (früher 46), das 1501 unter Graf Reinhard IV als Armen- und Versorgungsanstalt und Hospital erbaut wurde. Die Straße begann offenbar früher am Altmarkt (heute: Metzgergasse). Dort gab es Gasthäuser, deren Inhaber die reich­sten Leute Alt-Hanaus waren. Es waren die Gasthäuser:

Das im Jahre 1557 als „Zur Krone“ erwähnte Gasthaus „Zur goldenen Krone“ (früher Hospitalstraße 24, Einfahrt zur EAM), das im Jahre 1511 als „Her­berge zum Swan“ erwähnte Gasthaus „Zum Schwan“ von 1540 und das Gasthaus „Zum Bären“.

Die Vorstadt war in die zweite Stadtbefestigung von 1528-50 einbezogen. Die zweite Hanauer Vorstadt ging bis zur Kinzig, sie entstand im 17. und 18. Jahrhundert. Sie trägt den Namen noch heute. 

 

Das Alt-Hanauer Hospital:

Die Hospitäler waren die sozialen Institute der Städte des Mittelalters. Immer lagen ihre Häuser in der Nähe der Stadtmauer am fließenden Wasser, damit für die nötige Reinigung der Kranken gesorgt werden konnte. So lag das erste Hanauer Hospital dicht beim Kinzdorfertor in der Marktgasse; nach der Entstehung der ersten Vorstadt erhielt es im Jahre 1505 seinen neuen Platz am Hospitaltor und gab der Vorstadtstraße den Namen.

Das Hospital am Ende der damaligen Vorstadt entstand in den Jahren 1501 bis 1505 (Toreinfahrt 1545) ein großes Hospitalgebäude mit einer kleinen Kapelle. Über der Tür war das Hanauer Wappen - die drei Sparren - ausgehauen. Darüber aber erhob sich nicht wie sonst der Hanauer Schwan, sondern eine sanfte Taube, das Zeichen des Heiligen Geistes. Der Wappenstein kam nach dem Abbruch des im letzten Krieg zerstörten Hospitals in das Historische Museum Hanau.

Von dem spitzen Türmchen des Alt-Hanauer Hospitals bimmelte das Glöckchen zum Nachmittagsgottesdienst in dem kleinen Kirchenraum des Hospitals zum Heiligen Geist; dann konnten die armen Leute ihre Gaben in Empfang nehmen. Das Hospital übernahm im Mittelalter nicht nur die Pflege der Kranken und Gebrechlichen, sondern hatte auch die Verpflichtung, sich der armen Leute anzunehmen. Die Armenpflege wurde als religiöse Pflicht angesehen, und die kirchliche Gemeinde hatte den größten Teil der Lasten zu tragen. Die Reste des Gebäudes wurden 1951 abgerissen (Bild in: Hanau Stadt und Land, Seite 431: Das Hospital der Altstadt Hanau). Eine Postkarte aus der Zeit um 1920 zeigt das Althanauer Hospital (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 70).

Der Gebäudekomplex war mit einer kleinen Kapelle verbunden und bestand aus Waisenhaus, Hospitalhaus, Scheune und Garten mit Landwirtschaft und Viehzucht. Auf dem Areal befand sich bis 1833 auch ein Schweine-/Ochsenschlachthaus, am Hospitalgarten seit 1835 die Badeanstalt Ulrich. Noch 1938 lebten in der Hausnummer 46 insgesamt 28 Pfründner/innen, die aus der Stiftung dauernde Unterkunft und Pflege erhielten. Von 1952 an bestand an der Ecke die Farben- und Lackfabrik Schadt (Daniela Schadt, die Frau von Bundespräsident Gauck stammt aus dieser Hanauer Familie) und ein Betriebsgelände der EAM. In den Jahren 2019 / 2021 entstand hier einen bemerkenswerten Wohn- und Bürokomplex.

 

In der Hospitalstraße am „Gelnhäuser Bau“ war auch das Geschäft des Seidenstrumpf- und Handschuhfabrikanten Nikolaus Fuchs.Johann Wolfgang von Goethe hat 1815 dort seine Ware bestellt. Es war eine der bedeutendsten Hanauer Seidenstrumpfmanufakturen. Der Geschäftszweig hatte 1815 rund 450 Arbeiter in ganz Hanau. Goethe bestellte zudem Teppiche „vors Sofa“, Ordenskettchen, Ordenssterne und Ringe bei hiesigen Firmen.
In seiner Schrift „Über Kunst im Altertum in den Rhein- und Maingegenden“ widmete Goethe Hanau ein ganzes Kapitel. Er besuchte u. a. mehrmals die Wetterauische Gesellschaft für die gesamte Naturkunde, die ihn bereits 1808 zum Ehrenmitglied ernannten. Dem in Hanau geborenen ersten akademisch ausgebildeten jüdischen Maler Deutschlands, Moritz Daniel Oppenheim, vermittelte er den Professorentitel. Mit dem ebenfalls in Hanau geborenen Maler Friedrich Bury war er gut bekannt, die beiden wohnten in den 1780er Jahren bei ihrem Italienaufenthalt in Wohngemeinschaft bei Wilhelm Tischbein; aus Burys Hand existiert ein sehr bekanntes Goethe-Porträt.

(Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 5).

 

Vorstadt:

Am Haus Vorstadt 14 ist eine Gedenktafel für Paul Hindemith  (1895-1963) angebracht, einen der bedeutendsten Komponisten der Neuzeit. Er wurde am 16. November 1895 in der Hanauer Vorstadt Nr. 14 geboren. In der Pestalozzischule an der Ramsaystraße wurde 2015 im Eingangsbereich das Hindemith-Denkmal von Faxe M. Müller eingeweiht. Hindemiths Leben und Werk     werden auch in der Abteilung „Modernes Hanau“ im Schloss Philippsruhe thematisiert.

Eine Fotografie Paul Hindemith zeigt (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 33).

Vor der Kinzigbrücke (früher: An der Kinzigbrücke): Der Besitzer des Wirtshauses „Zum weißen Roß“, das 1566 erwähnt wird, war seit 1640 Johannes Grimm aus Bergen, ein Urahn der Brüder Grimm.

 

Kinzigbrü>Über die Kinzig führte zunächst die hölzerne Kinzigbrücke. Als diese durch ein Hochwasser zerstört worden war, wurde sie in den Jahren 1556 bis 1559 neu in Stein erbaut und mit 1615 einem Torturm versehen. Dieser Torturm stand auf dem zweiten Brückenpfeiler und wurde „Margarethenturm“ genannt. Im Jahre 1829 wurde er abgebrochen (Bild in: Hanau Stadt und Land, Seite 99).

An der Kinzigbrücke befindet sich auf der südöstlichen Seite ein Gedenkstein für General Wrede, der sich 1813 dem auf dem Rückzug befindlichen Napoleon entgegenstellte und verwundete wurde. In der Feldherrnhalle in München ist er als einer von zwei bedeutenden bayrischen Feldherren dargestellt. In der Bruchköbeler Landstraße, wo rechts die Straße „Vor der Kinzigbrücke“ abzweigt, steht ein weiterer Gedenkstein an die Schlacht von 1813.

 

Ehemaliges Landratsamt:

Durch die Rückertstraße kann man auf einem Steg über die Kinzig gehen und kommt in die

Eugen-Kaiser–Straße.  Sie ist benannt nach einem Landrat der Weimarer Republik, der in den letzten Jahren der Naziherrschaft sein Leben lassen mußte.

Das Landratsamt Eugen-Kaiser-Straße 17 a wurde 1908 bis 1910 nach Plänen des aus Hanau stammenden Architekten Georg Clormann gebaut. Wegen seiner kulturhistorischen Bedeutung ist es auf die Denkmalliste des Landes Hessen gerückt. Es ist nun ein anerkanntes und geschütztes Kulturdenkmal.

Im einstigen Amtsgebäude, einem Jugendstilaltbau, eröffnete kürzlich das „Stadtteilzentrum an der Kinzig“. Der Komplex, der aus dem alten Behördenhaus, einem umgestalteten Neubau und einem komplett neu errichteten Gebäude besteht, will mehr sein als ein Altenheim. Es sieht sich laut Eigendarstellung als „modernes Dienstleistungszentrum für ältere Menschen“. Neben den Altenwohnungen befindet sich im Haus auch ein Senioren-Fitnesszentrum, das auch Bürgerinnen und Bürgern offensteht. Nach umfangreichen Sanierungs- und Umbauarbeiten entstanden darin 32 barrierefreie Appartements für das Service-Wohnen. An der Außenfassade hängt eine Plakette. Heimleiter Friedhelm Preis sagt dazu: „Wir haben beim Umbau stets darauf geachtet, die historische Struktur des Gebäudes zu erhalten.“ Auch der Eigentümer des Hauses, Franz Schnagl, war zur Anbringung der Denk­mal­schutz-Plakette gekommen.

 

Heinrich-Fischer-Bad.

An der Stelle des heutiegen Heinrich-Fischer-Bades stand ein Häuserkomplex, der sogenannte Sandhof. Das dreiteilige Gehöft mit einer Mühle und Gemüsegärten befand sich zwischen dem Stadtkanal (heute Eugen-Kaiser-Straße) und der Kinzig. Es stand in einem ausgedehnten Areal, das im 17. und 18. Jahrhundert nutzbar gemacht und als „Haingassengärten“ bezeichnet wurde. 

Im Südwesten lagen bis zur Kinzigbrücke die Bleichgärten zum Trocknen und Hellen von Wäsche. Die Bezeichnung „Sandhof“ bezieht sich wohl auf die Bodenverhältnisse; es wurde dort auch Sand als Baumaterial gefördert. In erster Linie diente das Gehöft als Wirtschaftshof für die Nutzgärten (Abbildung: Sandhof in Hanau, um 1940, von Doris Glattacker) (Martin Hoppe: Objekt der Woche, # 193).

 

Das Heinrich-Fischer-Freibad („HeiFischBad“) wurde am 19. März 1961 eröffnet und steht damit auch heute für den Wiederaufbauwillen der Stadtväter nach dem verheerenden Luftangriff. Es war das erste kombinierte Hallen- und Gartenschwimmbad in Deutschland! In der Schwimmhalle befinden sich großformatige Wandplastiken von Reinhold Ewald (1890-1974).

Eine dekorative Säulenfolge unter geschwungener Schrift und eine feingliedrig strukturierte, vorkragende Glasfassade sind die baulichen Erkennungszeichen des Heinrich-Fischer-Bades, dessen Foyer und Schwimmbadhalle von der Tagespresse 1959 überschwenglich als „Symbol des Wiederaufbaus“ gefeiert wurden. Nicht nur den Schick der Fünfziger Jahre hatte das Bad zu bieten - etwa eine Milchbar und einen modernen Friseursalon -, sondern auch eine künstlerisch hochwertige Ausstattung in der hohen Schwimmbadhalle, die der angesehene Hanauer Künstler Reinhold  Ewald geschaffen hatte.

Zugegeben:  Heute verbirgt sich etliches hinter jüngeren Schichten. Das beschwingte Mosaik der Milchbar mit seinen heiteren Strand- und Badeszenen ist zu großen Teilen hinter einer modernen Bar verschwunden, die einstige Kassenwand wurde Aquarium und die ovale Bar gleich daneben der heutige Eintritts- und Kassenbereich. Dennoch zeigen die verschiedenen Ausstattungsstücke noch anschaulich, daß das Heinrich-Fischer-Bad seinerzeit tatsächlich eine Anlage war, wie es damals deutschlandweit nur wenige gab.

Erhalten blieben auch die Ewald-Reliefs im Vorraum der Umkleiden im Oberstock, sie sind Auftakt und Einstimmung für die überkörpergroßen, beeindruckenden Lehmstuckreliefs in der Schwimmbadhalle. Vor tiefblauem Grund zeugen sie noch heute vom meisterlichen Umgang Ewalds mit dem Baustoff Lehm, dem er trotz seiner material-eigenen Zähigkeit Leichtigkeit und zeichnerische Qualitäten abgewann. Die in einer Ecke der Halle plazierte „Schreitende“ bekrönte ursprünglich einen Brunnen vor dem Bad, der bedauerlicherweise wegen des stetigen Vandalismus abgebaut werden mußte.

Das freitragende Becken mit wellenförmigem Boden war seinerzeit eine kleine Sensation; leider ist die bewegte Wellenform heute nur noch vom Kellerraum aus zu bestaunen.  Die mit tiefblau glasierten, den Schall dämmenden Ziegeln verkleideten Hallenwände überstanden jedoch mit-

samt der integrierten Duschkabinen, der Heizkörperverkleidung aus eloxiertem Aluminium und den farbigen, dekorativ gesetzten Seifenschälchen die Jahre vollkommen ungestört und gestalten den Badebesuch heute zu einem Streifzug durch die Stilvielfalt der fünfziger Jahre. Zeitzeuge ist auch der Badewannentrakt des Heinrich-Fischer-Bades, ein Luxus, den man sich damals gerne zu günstigen Preisen für einige Minuten gönnte. - In den Sammlungsbestand der Städtischen Museen wurden bei der Renovierung 2023 übernommen: Eine Umkleidekabine aus der Anfangszeit, ein Startblock, diverse Hinweisschilder - und ein Rettungsring (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 192)

 

Das Mäuerchen gegenüber des Fischer-Bads ist ein Rest einer kleinen Flutbrücke, die 1886 am Ende der Marienstraße (heute Heinrich-Bott-Straße) errichtet wurde. Diese führte zum alten Stadtgraben, der früher Teil des Befestigungssystems rund um die Alt- und Neustadt Hanau war. Der Wasserlauf wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zugeschüttet. Die Brückenteile blieben erhalten und stehen unter Denkmalschutz.

Heute befindet sich über dem alten Wassergraben der sogenannte Innenstadtring. Sein Verlauf von Eugen-Kaiser-Straße, Wilhelmstraße, Nordstraße, Mühltorweg, Julius-Leber-Straße, Kurt-Blaum-Platz, Friedrich-Ebert-Anlage, Am Steinheimer Tor und Nussallee ist durch „Haken“ charakterisiert – wie der Alleenring entlang der ehemaligen Landwehr in Frankfurt am Main. Die Windungen sind durch die einstige Fortifikation mit ihren Bastionen, Hornwerken und Ravelins (Wallschilden) begründet Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 210) .

 

„Türkische Gärten“: 

Östlich des Schwimmbads legte der baulustige Graf Johann Reinhard (1665/ 1712-1736) einen Lustgarten an im Geschmack der spätbarocken Gartenbaumode. Er hatte ein im türkischen Stil erbautes Gartenhäuschen und hieß deshalb „Türkischer Garten“ Als sich eine Straße bildete, erhielt diese 1882 den Namen „In den Türkischen Gärten“.

 

„Antoniterstraße“ (hinter der Wilhelmsbrücke nach der Krummen Kinzig):

Die Antoniter von Roßdorf, die „Tönges-Herren“, besaßen nördlich der Krummen Kinzig größeren Besitz an Ackerland, der das „Töngesfeld“ hieß.

 

Corniceliusstraße:

Die Corniceliusstraße geht links und rechts von der Eugen-Kaiser-Straße ab.

Friedrich Ludwig Cornicelius wurde 1787 in Weimar geboren, kam ursprünglich als Sattlergeselle auf Wanderschaft 1807 nach Hanau. Sein zeichnerisches Talent wurde früh erkannt. Er war einer der ersten Schüler des neuen Inspektors der Hanauer Zeichenakademie Conrad Westermayr (der ebenfalls aus Thüringen kam) und wurde als Porzellanmaler sowie Musterzeichner ausgebildet. Von ihm stammen auch Architekturansichten und Stadtveduten in Aquarell, Radierungen und Aquatinten, darunter der Neustädter Marktplatz, die Wallonisch-Niederländische Kirche und das Schloss Philippsruhe.

Von ihm ist eine Lithografie „Panorama von Hanau“, verlegt bei Friedrich Kuhl, Hanau 1833:

Der Turm der 1316 erstmals erwähnten Marienkirche inspirierte Friedrich Cornicelius 1833 zu einem Panorama von Hanau. Deutlich zu erkennen sind die Hohe Landes­schule, dahinter der Paradeplatz mit Esplanade und die Wallonisch-Niederländische Kirche (3 Uhr), das Stadttheater (5 Uhr), das Altstädter Rathaus (6 Uhr), die Johanneskirche (7 Uhr) und das Hanauer Stadtschloss (9-11 Uhr) (Martin Hoppe, Objekt der Woche, #17)

Mit Antonette Dietz, einer Tochter des Schultheißen in Hemsbach an der Bergstraße, hatte Friedrich Cornicelius er vier Kinder, darunter Georg Cornicelius (1825-1898). Dieser war Maler und seit 1872 Ehrenmitglied der Zeichenakademie, seit 1888 Königlich Preußischer Professor. Er gilt als der bedeutendste und meistbeschäftigte Hanauer Maler des 19. Jahrhunderts. Von ihm sind Landschaften-, Historien-, Genre- und vor allem Porträtbilder erhalten. Georg Cornicelius wurde am 28. August 1825 in Hanau geboren. Ab seinem 13. Lebensjahr besuchte er die Zeichenakademie und erhielt in der von Theodor Pelissier geründeten Malschule „Selekta“ intensiven Unterricht. Nach seiner Rückkehr von Studienreisen mietete er das geräumige Gartenhaus der „Weißen Schlange“ (Mühlstraße 12) und ließ es zu einer privaten Malschule herrichten. Ab 1854 war er mit seinen Werken auf den meisten großen Kunstausstellungen in München, Düsseldorf und Berlin vertreten.

Im März 1859 heiratete Cornicelius die Kesselstädter Gastwirtstochter Sophie Eberhard (1839-1904). Das Paar zog in die Langstraße 45 mit Atelier und hatte zwei Töchter, Toni und Lulu, die auch malten. Im Jahre 1872 wurde er Ehrenmitglied der Hanauer Zeichenakademie und 1888 zum Königlich-Preußischen Professor ernannt.  Werke befinden sich u. a. in der Kunsthalle Hamburg, im Städelmuseum Frankfurt an Main, in der Nationalgalerie Berlin – und natürlich in den Sammlungen des Historischen Museums Hanau Schloss Philippsruhe. Darunter viele Porträts der Hanauer Bürgergesellschaft, aber auch von Turnvater Ludwig Jahn und des Kommandeurs des Freicorps der Hanauer Turner Carl Röttelberg 1848. Cornicelius selbst war Mitglied der 1837 gegründeten Hanauer Turngemeinde. Zeitgenossen beschreiben ihn als hervorragenden Turner.

(Martin Hoppe, Objekt der Woche, #18) („Selbstbildnis“ von 1858, Schloss Philippsruhe).

 

Eine Erinnerungsplakette an das Geburts- und Wohnhaus von Dr. Elisabeth Schmitz (1893-1977)

ist am linken Arm der Corniceliusstraße Nummer 16. Sie war eine bedeutende Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus. Die  Ehrenurkunde „Gerechte unter den Völkern“ von        2011 ist im Stadtarchiv (Martin Hoppe, Objekt der Woche, #21)

In rechten Arm der Corniceliusstraße war in der Nummer 12 die Privatwohnung von Dr. Leo Koref: Am 10. November 1938 war die Hanauer Familie Koref ein Opfer der Pogrome. Eine bedeutende Fotoschenkung an den Hanauer Geschichtsverein 2012, die im Stadtarchiv aufbewahrt wird, erinnert an Rechtsanwalt Dr. Leo Koref. Am 23. Januar 19021903 wurde er Rechts­anwalt beim Landgericht Hanau. Als Sozius von Rechtsanwalt Dr. Malkmus bezog er sein Büro am Marktplatz 16, am 11. Juni 1920 wurde Dr. Koref zum Notar ernannt. Am 7.  Juni 1933 wird Dr. Koref aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ aus seinem Amt als Notar entlassen, am 30. November 1938 verliert er die Zulassung als Rechtsanwalt. In seiner Privatwohnung in der Corniceliusstraße 12 darf er vom 1. November 1938 bis 31. März 1939 nur noch als „Rechtskonsulent von Juden für die Landgerichtsbezirke Hanau und Marburg“ tätig sein. 

In den Abendstunden des 13. November 1938 drangen mehrere maskierte Nationalsozialisten in die in der ersten Etage gelegene Wohnung ein, bedrohten die Mutter mit einer Pistole, misshandelten Leo mit Faustschlägen, zerschlugen eine Flasche auf seinem Kopf, zerbrachen seine Krücken, zerstörten und plünderten die Einrichtung, stahlen Schmuck, mehrere Tausend Reichsmark und eine Schreibmaschine, zerschnitten Teppiche und Polstermöbel. Trotz sofortiger Anzeige wurden die Täter nie ermittelt. Am 18. August 1942 wurde er zusammen mit seiner Mutter Recha in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Sein Bruder Fritz erfuhr von einer Krankenschwester, die Theresienstadt überlebt hatte, dass seine Mutter dort gleich nach der Ankunft und Leo Koref am 17. Oktober 1942 umkamen (Martin Hoppe, Objekt der Woche, #188) (Foto: Dr. Leo Koref an seinem 50. Geburtstag 1926, Stadtarchiv Hanau).

 

Friedberger Straße 9 (westlich des Nordbahnhofs):

Richard Steiff, ein Neffe der Plüschtiererfinderin Margarete Steiff, begann im Zuge des Fahrrad-Booms 1920 die industrielle Massenproduktion von Fahrrad-Ventilen (!). Die von ihm aufgebaute Firma Alligator übernahm 1998 die EHA-Ventilfabrik W. Fritz GmbH & Co. KG in Mühlheim am Main.

EHA ist die Abkürzung für „Erste Hanauer Präzisions-Schraubenfabrik“. Sie wurde 1931 von Heinrich Maier jun. und Wilhelm Fritz in der Hanauer Wredestrasse 4 (heute Friedberger Straße 9) unter dem Namen „Erste Hanauer Präzisionsschrauben- und Fassondreherei“ gegründet.

Die Firma erfand die „Hanauer Maus“, die nach dem Standort der Gründungsfirma in Hanau benannt wurde. Das ist eine „Wasserfüll- und Entleerarmatur für Traktorreifen“. Anstelle von Zusatzgewichten, welche die Hinterachse belasten, wird empfohlen, Wasser in die Traktorreifen zu füllen. Der Schwerpunkt verlagert sich durch das Wasser im Traktorreifen nach unten. Somit verringert sich auch die Kippgefahr des Traktors bei Schrägfahrten an Hängen.

Dass der Aufstieg hier startete liegt auch an Dunlop (Reifen), den Bauer-Werken in Klein-Auheim (Fahrräder und Mopeds), Bautz in Großauheim (Traktoren) und dem Militärstandort. Mit den patentierten EHA-Ventilen steckt somit noch heute in fast jedem Auto-, Fahrrad- und Traktorreifen ein kleines - aber ungemein wichtiges - Stück Hanau (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 149).

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Gedenkstein Karl-Marx-Straße:

Leich am Beginn der Lamboystraße geht rechts die Karl-Marxstraße ab. Vor dem Haus Nummer 36 steht einem Gedenkstein mit der Aufschrift „Schlacht am 30. Oktober 1813. Deutsches Zentrum“. Der Stein erinnert an eine Schlacht gegen Napoleon. Die Schlacht bei Hanau kann sich rühmen, eine der ganz besonders überflüssigen gewesen zu sein. Denn eigentlich war Napoleon mit seinem Heer schon auf dem Rückzug. Zwei Wochen vorher hatte der kaiserliche Feldherr in der Völkerschlacht bei Leipzig eine böse Niederlage erlitten und war nun auf dem Weg zurück nach Frankreich und sollte noch eine Überraschung erleben. Dafür verantwortlich waren die Bayern, die erst Tage zuvor ihr Bündnis mit den Franzosen gekündigt hatten und auf die Seite der Alliierten (Preußen, Russland, Österreich) gewechselt waren. Ende Oktober 1813 besetzten die bayerische Truppen Hanau, um Napoleon den Weg abzuschneiden und ihre Treue zum neuen Bündnis zu untermauern. Niemand hatte sie darum gebeten, mit fast 50.000 Mann zwischen Kinzig und Lamboywald auf den Feind loszustürmen - personell zwar überlegen, aber mit zu wenig Munition ausgestattet.

Der französische Feldherr hatte am 29. Oktober 1813 mit seinen Truppen in Langen­selbold gestanden, der bayerische General Wrede dagegen in Hanau zwischen Kinzig und Lamboy­wald. Wrede machte allerdings den Fehler, von einem kleinen französischen Heer auszugehen. So bot der Bayer dem Korsen die Schlacht an und wurde prompt geschlagen. Napoleon ließ in der Nacht vom 30. auf den 31. Oktober die Stadt Hanau beschießen und in Brand setzen. Doch Wrede gab nicht auf und stürmte die Stadt; die Franzosen zogen ab. Die sinnlose Aktion endete mit rund 15.000 Toten auf beiden Seiten und dem letzten Sieg Napoleons auf deutschem Boden.

Deswegen hat Hanau auch die zweifelhafte Ehre, namentlich auf dem Pariser Triumphbogen verewigt zu sein. In fast 50 Metern Höhe gesellt sich die Stadt zu 29 weiteren Orten, an denen der Imperator seinerzeit militärische Erfolge feierte.

Im Jahre 1857 hielt es der „Verein für Geschichte und Erdkunde“ - ein Vorläufer des Geschichtsvereins - für angemessen, dieser Schlacht Denkmäler zu setzen. Der Hanauer Steinmetz Friedrich Adelmann erhielt den Auftrag, fünf Gedenksteine aus Sandstein zu meißeln. Sie sollten an den Orten aufgestellt werden, wo die einzelnen Flügel des erfolgreichen Heeres standen - wie das „Deutsche Zentrum“ in der heutigen Karl-Marx-Straße. Die Steine wurden wohl „ohne Feierlichkeit“ eingesetzt. Das Mal in der Karl-Marx-Straße ist nicht mehr im Original-Zustand: Zwar ist der Korpus noch der alte, die Tafel mit der Inschrift wurde jedoch Ende der 80er Jahre ausgetauscht.

Ein weiterer Gedenkstein ist an der Nordbahnhofunterführung (Lamboystraße) und ein weiterer in der Robert-Blum-Straße westlich des Lamboyparks (nördlich der Lamboystraße). Diese Straße ist nach einem Mann benannt, der als Politiker und Publizist nur eine Generation nach Napoleons Feldzügen in Deutschland gegen die frankreichfeindliche Stimmung kämpfte, ist nach so viel Blutvergießen zumindest ein kleines Zeichen der Versöhnung.

Zwei weitere Steine stehen in der Bruchköbeler Landstraße nahe der Kinzigbrücke, wo rechts die Straße „Vor der Kinzigbrücke“ abzweigt. An der Südostseite der Kinzigbrücke steht der Gedenkstein für den bayerischen General Wrede an der Stelle, wo er verwundet wurde. Einen weiteren Stein für den „Deutschen rechten Flügel“ gab es in der Leipziger Straße, der aber laut einem Vermerk beseitigt wurde.

 

Schwarzenbergstraße:

Fast unbemerkte „Zeitzeugen“ des sinnlosen Geschehens von 1813 stehen zwischen Schwarzenbergstraße und Johann-Kaiser-Ring nördlich der Lamboystraße: Vier knorrige Eichen, die als offizielle Naturdenkmale eingetragen sind und deshalb besonderem Schutz obliegen. Die Schwarzenbergstraße ist übrigens nach Carl Philipp zu Schwarzenberg benannt, österreichischer Feldmarschall und Oberbefehlshaber der verbündeten Streitkräfte gegen Napoleon in der Schlacht bei Leipzig 1813. Johann Kaiser war ein verdienter Hanauer Flugzeugpionier (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 187).

 

Hessen-Homburg-Kaserne

Die Kasernengebäude nördlich der Lamboystraße wurden Anfang des 20. Jahrhunderts von der Stadt Hanau gebaut. Im Jahre 1912 zog das 3. Eisenbahn-Pionierregiment ein. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs verbot der Versailler Vertrag die Stationierung von Militär in Hanau. Die Kasernen blieben zunächst leer. Die Eisenbahntruppe wurde aufgelöst, die Kasernengebäude schließlich für gewerbliche Zwecke und als Wohnungen vermietet. Unter anderem liefen dort eine Eisengießerei, eine Drahtfabrik, eine Diamantenschleiferei.

Ab 1937 war in der Kaserne deutsche Infanterie stationiert. Von 1945 bis Anfang der neunziger Jahre nutzten amerikanische Pioniertruppen Häuser und Gelände. Von 1992 bis 1994 brachte das DRK bosnische Kriegsflüchtlinge unter. Im späteren Gebäude der Bildstelle war während dieser Zeit eine Hundertschaft des Bundesgrenzschutzes stationiert. Das ehemalige Wachgebäude der Francois-Kaserne ist heute die Gaststätte „Zur alten Wache“.

 

Lamboystraße: Schütten von Haarer:

Die Firma für Reformküchenmöbel wurde 1921 von den Brüdern Richard und Otto Haarer in Frankfurt am Main gegründet und zog ein Jahr später in die Hanauer Lamboystraße um. 1925 entwickelte der Ingenieur Otto Haarer auf der Grundlage von arbeitswissenschaftlichen Untersuchungen die „wirtschaftliche Küche“. Die Architektin Margarete Schütte-Lihotzky (1897-2000, konnte bei ihrer Entwicklung der „Frankfurter Küche“ auf die Erfahrungen der Firma Haarer mit Kochkisten, Topf- und Vorratsschränken und neuartigen Lebensmittelbehältern aufbauen. Mit der patentierten Aluminiumschütte „Original Haarer“, die die Eigenschaften einer Schublade mit denen einer Gießkanne vereinte, wurden ab 1926 zehntausend Einbauküchen in den Frankfurter Wohnsiedlungen von Ernst May ausgestattet. In der Weltwirtschaftskrise 1929 ging die Firma in Konkurs. Danach produzierte Otto Haarer Teile seiner Reformküchen, insbesondere die Schütten, in der Maschinenfabrik Emil Möhn in der Ruhrstraße. Drei Objekte sind im Museum Großauheim für Kunst- und Kulturgeschichte ausgestellt (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 156).

 

Ulanenkaserne / Frncoisgärten

Südlich der Lamboystraße war die Ulanenkaserne. Eine Postkarte vom Juli 1912 war ein Gruß aus der Hanauer Ulanenkaserne,: Ein gewisser Fritz Hertel, schickte am 25. Juli 1912 diese Postkarte an Familie Keiper in Langenschwalbach am Taunus. Der Gefreite der 4. Eskadron des Reiterregiments 6 grüßt hoch zu Ross an vierter Position von rechts aus der Ulanenkaserne an der Hanauer Lamboystraße (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 118)

Noch weiter südlich sind die Francoisgärten, #Teil der Landesgartenchau 2002. Hier stehen etwas unvermitteltzwei Eisenbahn-Prellböcke.Einst markierten sie die Enden von Eisenbahnstrecken, die zum Proviantamt der Ulanen-Kaserne im Stadtteil Lamboy führten. Das war aber noch nicht seit Beginn der Militärbauten um 1900, sondern erst ab 1935, als der Konsumverein auszog und die Wehrmacht in das Gebäude einzog (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 199).

 

Tümpelgarten:

Noch weiter südlich ist der Tümpelgarten. Der Name geht auf die Freilandanlage der Hanauer Aquarien- und Terrarien-Freunde e.V. zurück. Am 8. August 1913 nahm dessen Vorsitzender Wilhelm Friedrich Misset den Spatenstich vor. An das Ereignis erinnert ein Hochrelief mit dessen Abbild, geschaffen von Ziseleur, Zeichner und Bildhauer Jean Wagner (1882-1963). 

Im Jahre 1913 pachtete Misset für die Aquarien- und Terrarien-Freunde das Gelände in der Gewann „Im Mühlfeld“ von der damaligen Kleinbahn AG. Im Jahre 1927 wurde das Gelände vom Verein angekauft und 1929 das „Haus der Zierfische“ gebaut. Jedes Mitglied konnte auf den 1,5 Hektar in eigenen Tümpeln Lebendfutter für Fische züchten und die Umgebung gärtnerisch gestalten. So entstanden Zuchtbecken, Pflanz- und Steingärten. Im Zweiten Weltkrieg durch Luftangriffe zerstört, wurde das Gelände mit Warmhaus für Aquarien und Terrarien wieder hergerichtet. Die Vogelschutzgruppe betreut zahlreiche Volieren. In dem parkähnlichen Kleinod quaken in den Sommermonaten weithin hörbar „hunderte“ Frösche und Kröten. 

Hinter dem Vereinshaus steht ein von den Bildhauern Jäneke und Mühlenberg 1932 geschaffenes Hermann Löns-Denkmal. Nebenan lädt die Gaststätte „Hanauer Bub´“ zur Einkehr ein, wenige Schritte entfernt dient das „Nachbarschaftshaus Tümpelgarten“ als Bürgerhaus. Am 9. August 1963 erfolgte eine weitere Grundsteinlegung, durch OB Herbert Dröse: für die ersten 64 Einheiten des neuen Wohngebiets „Tümpelgarten“. Federführend realisiert durch die Baugesellschaft, ist es eine der größten sozialen und städtebaulichen Leistungen der sechziger Jahre in Hanau.

(Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 175).

 

Umweltzentrum:

Westlich des Tümpelgartens zwischen Philipp-August-Schleißner Weg 2 und nördlich der Straße „Am Kinzigdamm“ liegt das Umweltzentrum. Entstanden ist es zur Landesgartenschau 2002 an der Kinzig als Lärchenholzquader. Seitdem wird großen und kleinen Besuchern in über 300 Kursen jährlich erklärt, wie jeder Einzelne seinen ökologischen Fußabdruck optimieren kann. Bis zu 15.000 Neugierige lernen pro Jahr, dass Nachhaltigkeit beim Einkauf oder im eigenen Garten anfängt. Kindern wird Nachhaltigkeit im „Grünen Klassenzimmer“ didaktisch so geschickt vermittelt, dass eigentlichen Lernprozess gar nicht mitbekommen. Wer könnte beispielsweise das Kursangebot „Kinder pflanzen Pizza“ blöd finden?

Mit dem Wissen, das sie von Ratespielen, Experimenten und Wühlereien im Garten mitnehmen, dürfen die Kinder zuhause auch ein bisschen naseweis ihre Eltern zu Umweltschützern erziehen. Sehr beliebt sind auch Kindergeburtstage im Umweltzentrum, bei denen die Partygäste Vogelhäuschen bauen, Naturkosmetik herstellen oder bei der Spieleolympiade das weitläufige Außengelände unsicher machen.

 

Erinnerungsstein Turngemeinde:

Nördlich des Umweltzentrums baut die Turngemeinde Hanau einen Sportcampus mit Multifunktionshalle. Am August-Schleissner-Weg steht ein Erinnerungsstein an die Wurzeln und Vorgängerbauten des mitgliederstärksten Hanauer Sportvereins. Ihr Vereinshaus mit Sporthalle in der Maulbeerallee (heute Jahnstraße) wurde im Zuge der Luftangriffe auf Hanau am 19. März 1945 völlig zerstört. Aus dem Trümmerschutt konnten mehrere Spolien geborgen werden, die im Tümpelgarten an der Jula-Hof-Sportanlage in den fünfziger Jahren neu aufgestellt wurden.

Das Turnerzeichen mit den vier F in Eichenlaub prangt an der Schauseite. Der Wahlspruch „frisch, fromm, fröhlich, frei“ geht über Turnvater Jahn eigentlich auf einen Spruch des 14. Jahrhunderts zurück („Fromm“ meint tüchtig). Zudem sind folgende Inschriften zu lesen: „Turngemeinde Hanau gegr. 1837 – Vereinshaus erbaut 1901 – Ihren für das Vaterland gefallenen Turnbrüdern in treuem Gedenken, die Turngemeinde – 1939 bis 1945, den Toten zum Gedenken TGH“ Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 185).

Um auf die andere Seite der Kinzig zu kommen muß man über die Karl-Marx-Straße zur Lamboystraße gehen und dann nach links über die Wilhelmsbrücke und dann wieder links in die Nordstraße. Dort steht links die Herrenmühle.

 

Herrenmühle:

Der Gebäudekomplex in der Nordstraße 86 ist abgeschieden, doch zentral gelegen, ein Denkmal im alltäglichen Gebrauch seit mehr als einem halben Jahrtausend. Stetigem Wandel unterworfen ist die Herrenmühle zugleich ein Ort seltener Kontinuität in dem von Kriegszerstörungen so gezeichneten Hanau.

Ernst Zimmermann erwähnt „zwei Fruchtmühlen“, die 1280 genannte Antonitermühle jenseits der Kinzig an der Mündung der Fallbach gelegen und die 1402 zuerst genannte Burgmühle (die heutige Herrenmühle). Doch einige Seiten später heißt es: „1525 kam die Herrenmühle (nach diesen Töngesherren so benannt) wieder in den Besitz der Grafen von Hanau“. Hier ist eine andere als die heutige Herrenmühle angesprochen. Mit „Herren“ gemeint sind so einmal die Hanauer Grafen, ein anderes Mal - auf dem Umweg über das niedlich an „Antönchen“ anklingende „Tönges“- die Roßdorfer Antoniter.

Vollends widersprüchlich ist Zimmermanns Aussage, Philipp II. habe die Antonitermühle zurückgekauft und sie an die Stelle der heutigen Herrenmühle „verlegt“. Wenn dort nicht schon eine Mühle war, welche Mühle haben die Grafen dann im 15. Jahrhundert stets aufs Neue an irgendwelche Müller verliehen?

Wo heute die Nordstraße verläuft, mäanderte früher die Kinzig. Trotz des „miserablen Baugrunds“ mit Kies und Schlick fanden die Herren von Dorfelden (später Hanau) einen guten Grund, hier zu bauen: die strategische Sicherheit im Kinzigbogen. Gehen wir also davon aus, daß die anfangs des 15. Jahrhunderts erstmals erwähnte Burgmühle unsere heutige Herrenmühle ist und schon am jetzigen Ort lag.

Von dieser Mühle erfährt man aus dem Vertrag, mit dem Ulrich V. von Hanau sie einem Henne Molner zu Bruchköbel verleiht „um 65 Achtel Korn“ im Jahr. Die Mühle scheint ein sicheres Geschäft für die Pächter gewesen zu sein. Schließlich konnten sich die Bauern im Feudalsystem nicht den bestzahlenden Kornabnehmer aussuchen. Sie standen unterm „Mühlbann“. Im Jahre 1567 wird berichtet, daß Rodenbach, Kesselstadt, Dörnigheim, Hochstadt und Wachenbuchen an die Burgmühle liefern müssen. Uns mutet es fast zynisch an, wenn da von „Mahlgästen“ die Rede ist.

Die Grafen verdienten nicht nur indirekt am Nachfragemonopol ihrer Mühle. Die angelieferten Säcke durften nicht verkauft werden, bevor sie ein Stadtbeamter - gegen ein „meßgeld“ - gewogen hatte. Und es gab Privilegien bei dieser frühen Mehrwertsteuer: ausgenommen waren die „fryhen, als priester und burgmannen“.

Die Normalbevölkerung wurde außerdem zur Fron herangezogen - laut Zimmermann zum Teil mit der Hand, zum Teil mit dem Geschirr zu leisten. Eine Pflichtenliste des städtischen Rats führt 1579 an erster Stelle „Mühlenbau und Wall“ an. Seit 1528 war die neue massive Befestigung der Stadt mitsamt der Mühle in Arbeit. Aus dem Jahr 1613 stammt schließlich die Notiz, der Wasserbau der Burgmühle sei von Grund auf mit behauenen Quadern neu errichtet worden.

Im Jahre 1729 hat man die ganze Mühle neu aufgebaut, wohl in der noch als Fragment erhaltenen Barockfassung. Die den Hof dominierende Bruchstein-Fassade ist aber nur ein kleiner Rest des einst stolzen barocken Haupthauses. Der hohe Torbogen überspannte wohl nur einen Seiteneingang, vom weit größeren Mittelportal blieb nur rechts am Gebäude die Andeutung eines Bogens. Dieses Hauptgebäude wurde im Krieg zerstört.

Schon früh ist die Ausdifferenzierung in Mahl-, Schlag- und Schneidmühle bezeugt. Christoph Metzgers „eigentlichem Abriß der Stadt und Festung Hanau“ (1665) ist zu entnehmen: Der zwischen Kinzig und dem äußeren Stadtgraben liegende Standort beherbergt „Die Mühle mit 11 gängen“, direkt daneben noch „pulfer mühl“ und „see-mühl“. Links sieht man ein zugemauertes ovales Fenster, schräg links darüber ein eingemeißeltes „1679“. Dies ist die 1679 gegründete Gewürzmühle am Sandeldamm (benannt nach dem dort vermahlenen Sandelholz); sie hat sogar ihr Wasserrad noch.

Die Mahlmühle war also in dem Zentralgebäude auf dem Hof mit der Torfahrt aus Sandstein. Nicht weniger als neun Paar Mühlsteine zerrieben da das Korn. Noch in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts produzierte die Herrenmühle Mehl.

Die Maschinenfabrik Weinig als Nachfolgebetrieb bezog ab 1814 Energie aus den zwei noch zum Teil erhaltenen Wasserturbinen. Sie stellte das repräsentative Fabrikgebäude direkt an der Nordstraße hin: Der symmetrische Backsteinbau ist vom Architekturtyp her eine gigantische Orangerie, bekränzt von vorgetäuschten Balustraden; daher auch das flache Dach. Das zugehörige Herrschaftshaus steht nebenan.

Weinig führte 1892 auch Gasturbinen ein. Zudem erzeugten zwei Wasserräder bis 1942 Strom. Die Gewerbeflächen gingen 1920 an die expandierende Tabakwaren-Fabrik Gebrüder Weck­mann. Ein köstliches Beispiel kapitalistischer Selbstinszenierung ist das Bildchen in deren Briefkopf: Die Kinzig wird da zum Strom, das Firmengelände so aufgeblasen, daß die Häuserzeilen am andern Ufer ins Gigantische verlängert werden müssen.

Auf dem Herrenmühlen-Gelände tummeln sich Handwerker und halbe Künstler. Der kleine Schuster ist wohl der älteste Nutzer des Geländes, ein Original: meist fröhlich pfeifend in Arbeit versunken, zu Zeiten aber auch in Wut ausbrechend, daß selbst Stammkunden das Genick einziehen. Ein Software-Produzent hat hier sein Domizil, ein Restaurator, der auch Antikes handelt, dazu der Fotograf Olli Seikel. Bei Ulla Bladin-Reichhold tanzt Hanaus Ballettnachwuchs im alten Hauptgebäude.

Die anderen Mühlen befanden sich auf der durch den Mühlgraben abgetrennten Kinziginsel.

Von der Brücke aus erblickt man im Mühlgraben die Kanäle, in denen sich das gute Dutzend unterschlächtig angetriebener Räder drehte. Mit hölzernen Schiebewehren konnte jedes einzeln angesteuert werden. Der letzte dieser Schütze modert vor sich hin, die Holzräder sind längst verfault.

Zwischen beiden Maschinenräumen der Mühle erstrecken sich Gebäudeteile übers Wasser hinweg. Im ältesten kann man heute die von Hausverwalter Franz Karl aus dem Kanal geborgenen Reste der Mühlenmechanik bewundern: ein Turbinen-Zahnrad mit hölzernen Zähnen etwa, in das ein kleineres Rad mit Eisenzähnen „beißt“, oder Räder, die einst lederne Transmissionsriemen führten.

Im hinteren Gebäude befindet sich der Raumgestalter Harald Neumann. Die weite Decke liegt auf gußeisernen Säulen, der Bau ist aus dem 19. Jahrhunderts. Der Blick vom Büro auf das Mühlenwehr ist heute schon umwerfend. Drinnen muß man sich die Maschinenhalle denken. Im Barock war hier eher die „Stinkeseite“ des Mühlenbetriebs. Räumlich getrennt vom weißen Mehl trieben die Räder vom selben Mühlgraben aus hier die Öl-, die Tuchwalk-, die Strumpfwalk und die hygienisch problematische Gerbermühle an.

Wenn man auf der Nordstraße weitergeht und die Kinzigbrücke überquert hat man von der Otto-Wels-Straße noch einmal einen schönen Blick auf die alte Anlage. Die Gewerbebauten des 19. Jahrhunderts ruhen auf 300 Jahre älteren Bastionsmauern, mit denen die überlebenswichtige Mühleninsel in die Stadtbefestigung einbezogen worden war. Etwas von deren kanonenabwehrender „Polygonform“ ist hier noch zu ahnen.

Hiergegen vergleichsweise altertümliche Schießscharten in Schlüssellochform perforieren eine Mauer. Verteidiger nach Merians Belagerungsplan konnten von dort einst „den Guck die Mühl“ des „General Wachtmeisters“ Lamboy aufs Korn nehmen. Über das bis heute stehende Mühlwehr drang später im Dreißigjährigen Krieg das Häuflein Johann Philipp Winters heimlich in die sonst unbezwingbare Festung. Es befreite den von seinem einstigen Stadtkommandanten Jakob Ramsay in „Quarantäne“ gehaltenen Grafen. Den als „von Güldenbronn“ geadelte Befreier hält heute ein kleiner verwitterter Obelisk im Schloßgarten in Erinnerung - Luftlinie nur 100 Meter weg. Manche munkeln von unterirdischen Gängen hinüber zum Park, wo einst die Burg, dann das Grafenschloß stand. Zur Landesgartenschau soll östlich der Mühle ein Steg die Flächen an der Kinzig mit denen im Schloßgarten verbinden.

 

Eberhardstraße:

Von der Straße Sandeldamm gehen nach Süden zu mehrere Straßen ab. Die erste ist die Eberhardstraße. Bernhard Eberhard, Hanauer Oberbürgermeister und Minister: Er wurde, am 6. April 1795 geboren. Im Jahr 1827 wählten ihn die Stadträte der Alt- und Neustadt Hanau zum Oberbürgermeister auf Lebenszeit. Der versierte Jurist, Verwaltungsfachmann und Sozialpolitiker engagierte sich für eine grundlegende Neuordnung der Administration und des Schulwesens. In seine 21-jährige Amtszeit bis 1848 fallen unter anderem die Gründung der Sparkasse Hanau, einer Armenversorgung und Kleinkinderschule, der Feuerwehr und die Errichtung des Hauptfriedhofs.

Als Mitglied mehrerer kurhessischer Ständeversammlungen formulierte er an der fortschrittlichen hessischen Verfassung von 1831 mit. Am bekanntesten wurde er zweifellos mit August Schärttner und August Rühl als Mitglied der Hanauer Volkskommission und Mitunterzeichner des Hanauer Ultimatums vom 9. März 1848, mit dem gegenüber dem Fürstenhaus, das die Verfassung missachtete, weitgehende demokratische Rechte eingefordert und auch erstritten wurden: Presse-, Religions-, Gewissens-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit.

Eberhard bildete am 11. März 1848 eine „liberale Märzregierung“, in der er als Innenminister und auch in Vertretung als Finanzminister in Kassel agierte. Bereits 1848 zum Staatsrat ernannt, lebte er 1850 nach der Machtübertragung an die reaktionäre Staatsregierung Hassenpflug in Kassel und wurde dort zum Ehrenbürger ernannt.

Den Namen des Politikers trägt heute das Hanauer Altenhilfezentrum Bernhard Eberhard an der Eberhardstraße. Dort und in einem Sitzungssaal der Sparkasse Hanau am Markt erinnern Ölporträts an den bedeutenden Hanauer. In den Sammlungen des Historischem Museums Schloss Philippsruhe / Hanauer Geschichtsvereins 1844 e.V. befindet sich zudem eine Lithografie Eberhards, die 1848 entstand (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 1).

 

Jahnstraße:

In der Jahnstraße errichtete die Turngemeinde Hanau 1901 ihr großes Vereinshaus und die Turnhalle, zu Ehren des Turnvaters Jahn, der übrigens in seinen späteren Lebensjahren nicht mehr gut auf die radikalen Hanauer zu sprechen war und Hanau nicht mehr besuchte. Bis zu dieser Zeit hieß die Straße „Maulbeerallee“, denn seit dem 17. Jahrhundert befand sich hier eine Maulbeeranlage.

 

Gaslaterne:

Die Stadtwerke Hanau gehen auf die Gründung einer „Gasbereitungsanstalt“ von Unternehmer Herrmann Pabst an der Leipziger Straße zurück. Das historische „Schlüsselexponat“ beim Bürgerfest auf den Mainwiesen war ein 2 Meter hoher Kandelaber einer ehemals insgesamt 7 Meter messenden Richtlaterne. Die Laterne ist eine von ehemals 12 Sechsecklampen mit hohem Schornstein und einfachem Doppelbrenner, noch ohne Gasglühlicht und Druckfernzünder. Aufgestellt wurden sie 1875 u. a. am Auheimer Weg, Steinheimer Straße, Mainkanal, Philippsruher Allee und Vor der Kinzigbrücke.   Im Jahre 1850 leuchtete in der Nürnberger Straße die erste Gaslaterne. 1868 waren es 214 Stück, 1907 ganze 816, davon 448 „Abendflammen“ und 434 „ganznächtige Richtflammen“. Erst 1963 wurde die Gasbeleuchtung im öffentlichen Straßenraum eingestellt. Die mächtige Richtlaterne soll auf dem bald neu gestalteten Verkehrskreisel an der Nordstraße / Mühltorweg (?) zur Aufstellung kommen (Martin Hoppe, Objekt der Woche, #179)

 

Jüdischer Friedhof:

Am Mühltorweg ist auf der linken Seite der jüdische Friedhof. Vom Nachbargrundstück aus kann man über die Mauer sehen. Den Schlüssel erhält man bei der Friedhofsverwaltung am Hauptfriedhof. Der jüdische Friedhof ist nahezu unversehrt erhalten geblieben. Die älteren Grabsteine tragen ausschließlich hebräische Inschriften und zeigen neben den Händen der Priester und den Kannen der Leviten auch Reliefs der alten Hauszeichen. Die hebräisch-deutsche und schließlich fast ausschließlich deutsche Beschriftung der neueren Steine zeugen von der allmählichen Angleichung der Judengemeinde an ihre Umwelt, die zur Gleichberechtigung zu führen schien und durch die Mordpolitik der nationalsozialistischen Diktatur so schrecklich endete

Knapp 20 jüdische Einwohner waren Mitte der sechziger Jahre in der Stadt noch gezählt worden. Erst im April 2005 kam es wieder zur Gründung einer neuen Gemeinde. Kurz nach der Neubegründung konnte die entstandene jüdische Gemeinde ein Gemeindezentrum mit Synagoge im Empfangsgebäude der ehemaligen Zahnradfabrik Schwahn einrichten.

 

Stadtkrankenhaus / Klinikum:

Auf der rechten Seite der Straße sieht man die Gebäude des heutigen Klinikums. Schon im Jahre 1615 entschloß man sich zum Ankauf eines Hauses in der Leimen­straße (Die Straße heißt „Leimenstraße“, weil sich hier seit alters die „Leimenkaut“ befand. Auch bei der Erbauung der Neustadt wurde von hier Lehm geholt).  Man nutzte die weiten Flächen des eingeebneten Wallgeländes zum Ausbau benutzte. Aus dem Landkrankenhaus wurde das Stadtkrankenhaus und schließlich das Klinikum der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt. Die Psychiatrische Klinik in der Julius-Leber-Straße war nach dem Krieg lange Zeit Sitz der Hohen Landesschule.

Die Geschichte des Krankenhauses vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert beschreibt der ehe-     malige Verwaltungsdirektors Manfred Storck in einem Buch. Das Bild eines Operationsaals im Landkrankenhaus Hanau im Jahre 1937 gibt es im Medienzentrum. Im Museum werden leere Impfampullen gegen Covid 19 von Pfizer-BioNTech aufbewahrt, die bei den ersten Mitarbeiter-Impfungen Ende 2020 verwendet wurden (3,3 cm Höhe und Durchmesser 1,5 cm). Eine Gedenktafel für Emma Knebel von 2014 findet sich auf der anderen Seite von der Leimenstrße her. Dort ist „Emma-Knebel-Platz“. Sei war seit 1961 Hebamme am Stadtkrankenhaus und half in ihrem Berufsleben mehr als 9.500 Kindern auf die Welt (Marin Hoppe, Objekt der Woche, #29), 41 und 67)

 

Röderstraße:

Die Straße an der früheren Mittelschule wurde seit 1902 so benannt nach einem verdienten Schulmann, dem Inspektor der Realschule in Hanau Georg Wilhelm Röder. Als „Inspektor Röder“ war er allgemein beliebt und geachtet. Im Jahre 1838 wurde Röder zum Direktor der Bürger- und Realschule in Hanau berufen und war zugleich als Schulinspektor Mitglied des Magistrats. Er erwarb sich große Verdienste um das Hanauer Schulwesen. So führte er unter Oberbürgermeister Bernhard Eberhard eine grundlegende Schulreform durch. Insbesondere setzte er 1840 die Gründung einer „Höheren Mädchenschule“ mit Schulgeld durch; damit gilt er als Vater der heutigen Karl-Rehbein-Schule. Wegen seines Engagements in der Revolutionsbewegung wurde er 1852 von der reaktionären kurhessischen Regierung in den Ruhestand versetzt (Abbildung: Georg Wilhelm Röder, aus der Zieglerschen Chronik, Stadtarchiv Hanau) Die Mittelschule trug als Eberhardschule den Namen des ersten Oberbürgermeister Eberhard (Marin Hoppe, Objekt der Woche, # 29).

 

Kurt-Blaum-Platz:

In der Mitte des Verkehrskreisels steht das Werk „Entwurf“ aus Flachstahl von Kazuo Katase.

Es wurde durch einen internationalen Kunstwettbewerb ausgewählt und misst 17 Meter. Die technische Ausführung oblag der Arnold AG in Friedrichsdorf. Im Volksmund „Tüte“ oder „Joint“ genannt, erinnert die abends beleuchtete Skulptur an ein zusammengedrehtes Stück Papier, das eine Idee in sich trägt. Auf der Erklärungstafel ist ein Zitat von Namensgeber Dr. Kurt Blaum aus 1947 zu lesen, Oberbürgermeister von Hanau von 1921-1933 und 1945 ((Marin Hoppe, Objekt der Woche, # 186).

Mathias-Dasbach-Straße

Die frühere „Bernhardstraße war benannt nach dem Bauunternehmer Bernhard Scherf. Man erreicht sie heute nur noch über die Leipziger Straße, von der sie nach Norden abzweigt. Sie ist benannt nach Matthias Daßbach (1829-1899), dem Gründer der Hanauer SPD. Er gehört zur weitläufigen Diamant- und Zigarrenarbeiterdynastie Daßbach,An den Hanauer Diamantreiber und -schleifer Friedrich Valentin Daßbach (1872 –1951) erinnert auch ein Briefbeschwerer aus Kännelkohle aus der Zeit um 1900. Er ist rund 6 x 10 x 6 Zentimeter groß und auf der Längsseite hat sich Friedrich „Dahsbach“ verewigt. Oben ist ein Jäger mit Hund unter einem Baum zu sehen, an der Schmalseite ein Hirsch. Die Kohle stammt ursprünglich aus der Kännelkohlenbank des Flözes Tauentzien im Feld der ehemaligen Grube Heinitz in Neunkirchen im Saarland. Friedrich Daßbach ging nämlich mit anderen Hanauer Diamantchleifern 1888 nach Brücken in der Pfalz  (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 191).

 

Ehrensäule:

Der mächtige Obelisk aus Mainsandstein wurde 1775 unter Erbprinz Wilhelm von Hessen errichtet. Er wollte eine Verbesserung des Verkehrs erreichen durch die Herstellung guter Straßen. Der Graf begann um 1770 mehrere Chausseen von Hanau aus in die Region zu legen: Im Westen die Philippsruher Allee zur Sommerresidenz, von dort die Burgallee nach Wilhelmsbad und die Kastanienallee zur Fasanerie (heute Golfplatz). Im Osten wurde die Nürnberger Straße in Richtung nach Dettingen und Birkenhainer Straße verlängert und solltezur der Handelsmetropole Nürnberg führen. Über Niederrodenbach sollte es in Richtung Leipzig gehen. Auf der der Innenstadt Hanaus zugewandten Seite sind folgerichtig im Eichenlaubkranz folgende Zeilen zu lesen: „Wilhelmus Hassiae – Landgravius Hanoviae Comes – Munitis Vils Publicis – Hanc Columnam indicem – Posuit – Anno MDCCLXXV = Wilhelm Landgraf von Hessen, Graf von Hanau, hat den öffentlichen Landstraßen diese Säule zum Wegweiser errichtet im Jahre 1775 (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 130).

 

Hauptfriedhof:

An der Ehrensäule beginnt der Hauptfriedhof mit besonderen Grabfeldern für die Toten des Ersten Weltkriegs, des Zweiten Weltkriegs, der Zwangsarbeiter und der ungeborenen Kinder. Der Hauptfriedhof wurde unter Oberbürgermeister Bernhard Eberhard (1795-1860) angelegt. Nahe der Ehrensäule wurde das sogenannte Rohr (Rohrstraße), trockengelegt und ummauert. Zu Beginn waren es, rund 6 Hektar, heute ist der Hanauer Hauptfriedhof 14,2 Hektar groß und hat Platz für 18.000 Grabstätten. Am 25. Juni 1846 fand die erste Beisetzung auf dem Hanauer Hauptfriedhof statt. Der Grabstein für Rebecka Happel ist noch erhalten (Marin Hoppe, Objekt der Woche, # 65).

 

Ehrenmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs:

Auf dem Ehrenfeld für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges fanden 186 Soldaten aus ganz Deutschland ihre letzte Ruhe, darunter 31 Hanauer, die von unterschiedlichen Stellen im Stadtgebiet umgebettet wurden. Der Entwurf für das Ehrenmal „Kauernder Krieger“ stammt von Bildhauer August Bischoff (Hanau 25.4.1876 – 7.9.1965 Frankfurt am Main) und dem Frankfurter Gartenarchitekt Philipp Siesmayer. Die beiden kauernden Krieger arbeitete Bischoff aus Muschelkalk, sie wurden vor einigen Jahren von der Stadt Hanau aufwendig restauriert (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 74).

 

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Kolumbarium:

Sie ist die wohl eindrucksvollste Grabstätte auf dem Hanauer Hauptfriedhof: die Seitzsche Kapelle. Der städtische Eigenbetrieb Hanau Infrastruktur Service (HIS) hat mit einem Aufwand von rund 120.000 Euro das neuromanische Kulturdenkmal saniert und zwei Urnenwände einbauen lassen. So wird mit der Beisetzung in einem innenliegenden Kolumbarium eine einmalige Art der Verabschiedung und des Andenkens geboten. Der Zutritt zu den 48 Urnenkammern ist allein den Angehörigen vorbehalten.

Das unter Denkmalschutz stehende Grufthaus entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zur damaligen Zeit entsprach es bei Wohlhabenden dem Trend, Gruft und Andachtsräume für familiäre Treffen in repräsentativen Bauten zu verbinden. Die Familien Seitz, Körbel und Traxel bestatteten hier ihre Verstorbenen, Marie Seitz war 1909 die erste. Davon zeugen die Gedenktafeln in der Kapelle, die restauriert wurden und von der Seite, wo jetzt die Urnenwände stehen, über die Eingangstür versetzt wurden. Unter einer anthrazitfarbenen Metallplatte im Fußboden befinden sich weiterhin vier Särge und zwei Urnen verstorbener Familienmitglieder.

Im Jahre 2014 übertrug Klaus Traxel das Grufthaus per Vertrag an die Stadt Hanau. Ein Nutzungsrecht für die Familie besteht nicht mehr. Die Stadt hat sich verpflichtet, das Denkmal zu erhalten. Auch nach der Sanierung besticht die 34 Quadratmeter messende Seitzsche Kapelle durch ihre architektonischen Charakteristika: Quadermauerwerk, bleigefasste Farbglasfenster, gewölbte Holzdecke, Christusstatue gegenüber - dem Eingang und bronzene Zugangstür mit Löwenkopfbesatz.

Die neuen Urnenwände bestehen aus einem Edelstahl-Korpus, der mit hellem Flex-Sand­stein aus Brandenburg verkleidet wurde. Voll-Stein einzusetzen, wäre wegen des zu hohen Gewichts aus statischen Gründen problematisch. Der Eigenbetrieb ließ den Fußboden der Kapelle erneuern und dabei eine Heizung einbauen. Die LED-Leuchten ersetzen Kerzen, die innen genauso wenig verwendet werden dürfen wie Blumenschalen und Gestecke. Für diese sowie für Kränze ist eine Ablagefläche vor der Kapelle neben der Treppe vorgesehen. Um den barrierefreien Zugang zu ermöglichen, bietet der Eigenbetrieb bei Bedarf eine mobile Rampe an. In Hanau berechnet die städtische Friedhofsverwaltung pro Urnennische 5.240 Euro über die Nutzungsdauer von 20 Jahren (HWP 19.06.2019).

 

Möbiusbänder:

Im Frühjahr 2022 wurde vom Fachbereich Kultur der Stadt Hanau ein Kunstwettbewerb zur Gestaltung der beiden Seiteneingänge des Hanauer Hauptfriedhofs in der Dettinger Straße ausgelobt. Insgesamt bewarben sich 42 Künstlerinnen und Künstler aus dem gesamten Bundesgebiet. Fünf wurden per Juryentscheid ausgewählt, ihre Modelle zu präsentieren. Als Sieger ging Hermann Beneke aus Wettin hervor, der insgesamt vier Möbiusbänder montierte. Die aus Edelstahl geformten Schleifen symbolisieren den Kreislauf von Leben und Tod. Je nach Sonnenstand haben die mit Sternchen gelaserten Kunstwerke einen anderen Schattenwurf und sprechen über die Religion hinweg alle Bevölkerungsschichten an (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 138).

 

Akademiestraße:

Vom Platz mit der Ehrensäule geht die Akademiestraße ab. Links steht die Christuskirche. Weiter westlich die Ludwig-Geißler-Schule. Ein Porträt von Reinhold Ewald: „Ludwig Geißler“ (1872-1953) von 1912 befindet sich in Privatbesitz). Geißler war von 1906 bis 1934 Leiter der Ludwig-Geißler-Schule, einer gewerblich-technischen berufsbildenden Schule 1775 (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 97). Am Ende der Straße ist rechts die Zeichenakademie, die im Zusammenhang mit dem Gold- und Silberschmiedehandwerk entstand und bedeutende Künstler hervorgebracht hat

Zeichenakademie:

Im Jahre 1772 hatte Erbprinz Wilhelm von Hessen-Kassel die Akademie auf Drängen der Hanauer Goldschmiede gegründet - ein Gewerbe, das im 16. und 17. Jahrhundert wallonisch-niederländische Glaubensflüchtlinge in die Stadt gebracht hatten. Im Stadtarchiv Hanau ist der Stiftungsbrief der Hanauer Zeichenakademie vom 10. Juli 1772, in einer Ausgabe von 1774 erhalten: Die Hanauer Zeichenakademie wurde am 20. Juli 1772 gegründet. Nach der Neustadtgründung 1597 und dem Freiheitspatent von 1736, das die Ansiedlung von Einwanderinnen und Einwandern begünstigte, stieg die Zahl der Bijoutiers, Goldarbeiter und Graveure in Hanau stark an. Im Kreis der Fabrikanten und Handwerker entstand schnell der Wunsch, das künstlerische Niveau der Lehrlinge und Meister durch eine Ausbildungsstätte zu heben – und diese nicht mehr in den damaligen Ausbildungszentrum Paris zu entsenden.

Durch eine Bürgeraktion gründeten sie eine Stiftung mit regelmäßigen Geldeinlagen und erwarben ein Haus in der Rebengasse (heute Gärtnerstraße, 1945 im Krieg zerstört, an dem Ort steht nun das Gemeindezentrum der Wallonisch-Niederländischen Kirche und die Pedro-Jung-Schule).

 Erbprinz Wilhelm von Hessen und Graf von Hanau, stand dem Unternehmen sehr positiv gegenüber und zeichnete den Stiftungsbrief zum 20. Juli 1772. Gründungsdirektor war Jean Louis Gallien aus Paris, der 1766 nach Hanau kam und 1809 verstarb.

Die Zeichenakademie war zum damaligen Zeitpunkt keine Ausbildungsstätte für Edelmetallhandwerker wie heute, sondern künstlerische Lehranstalt. Hier konnte der erste Teil der akademischen Ausbildung, das Zeichnen, absolviert werden. Den zweiten Teil, das Malen, mussten die jungen Künstlerinnen und Künstler an anderen Akademien erlernen. Im Jahre 1880 siedelte sie in ihr heutiges Domizil an der Akademiestraße um. Architekt des Neubaus war Julius Carl Raschdorff; sein bedeutendstes Werk ist übrigens der Berliner Dom (!) (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 120).

 

Die Anfangsjahre der Schule, die stets durch das Spannungsfeld zwischen Kunst und Handwerk geprägt war; fielen in die Übergangszeit zwischen Spätbarock und Klassizismus. Nach einer ersten Blüte, die die Schülerzahlen in den reinen Zeichenklassen auf bis zu 300 Schüler anstiegen ließen, wurde der Unterricht 1830 auf Drängen der Hanauer Bijoutiers um Modellieren, Bildhauerei, Malerei und Emaille-Malerei erweitert.

Die Idee zu einer bedeutenden Kunstakademie konnte sich jedoch gegen die Interessen der heimischen Schmuckfabrikanten nicht durchsetzen. Unter Direktor Karl Hausmann, der 1880 auch das neue Schulgebäude eröffnete, gab es eine Neuorientierung hin zu einer praxisbezogenen Schule, an der Muster- und Ornamentzeichnen ebenso gelehrt wurden wie Gravieren und Ziselieren. Im Jahre 1889 wurde die erste Bijoutierwerkstatt eröffnet, 1902 erhielt die Zeichenakademie den offiziellen Zusatz „Fachschule für Edelmetallindustrie“.

Mit der Einrichtung der Werkstätten kamen nicht nur Lehrlinge aus Hanauer Betrieben, die sich im Zeichnen bildeten, sondern zunehmend auch Ganztagsschüler. Frauen waren eine kleine Minderheit: Um 1900 machten sie etwa zehn Prozent der etwa 330 Schüler aus. Finanziell ohnehin schon gut ausgestattet, wurde die Akademie von der Stadt Hanau, der Handelskammer, den Landkreisen Hanau und Gelnhausen sowie zahlreichen Stiftungen zusätzlich unterstützt. Medaillen bei Weltausstellungen sowie das Interesse zahlreicher ausländischer Schüler belegen ihre Bedeutung um die Jahrhundertwende. Berühmte Maler, Bildhauer und Designer wie Georg Corni­celius, Friedrich Hausmann, August Gaul, Reinhold Ewald, Hugo Leven oder Wilhelm Wagenfeld stehen für die künstlerischen Impulse, die von dieser einzigartigen Lehranstalt im Laufe ihrer Geschichte ausgingen.

Danach folgte eine Zeit des Umbruchs, in der solider handwerklicher Tüchtigkeit mehr Stellenwert als dem schöpferischen Bereich beigemessen wurde. Die Schülerzahlen gingen auf 190 zurück. Neue Impulse brachte erst Hugo Leven, 1909 die Leitung übernahm und die Schule im Sinne der Werkbundidee - mehr Qualität für die gewerbliche Arbeit - reformierte.

In einem neuen Aufschwung entwickelte sich die Einrichtung nun zu einer Ausbildungsstätte von internationalem Rang mit bedeutenden Lehrern, die sich mit der konstruktivistischen Formensprache des Bauhauses auseinandersetzten. Das hohe Niveau der Ausbildung schlug sich 1923 in Anerkennung der Abschlußprüfung als Gesellenbrief nieder. Auch Wilhelm Wagenfeld, einer der bedeutendsten Industrie-Designer, erhielt in dieser Zeit wichtige Impulse als Stipendiat an der Zeichenakademie.

Levens Traum von 1927, mit einem Neubau ein „Bauhaus“ nach Hanau zu bringen, ließ sich nicht verwirklichen. Die NS-Diktatur führte zu einem Niedergang. Im Jahre 1933 wurde Leven entlassen, die Akademie verkam zu einer reinen Goldschmiedeschule. Im Jahre 1936 waren noch zehn Schüler übriggeblieben. Als „nicht kriegswichtig“ sollte sie schließlich 1943 geschlossen werden, was durch den Einsatz der Schüler in der Rüstungsindustrie verhindert wurde.

Bei dem großen Bombenangriff 1945 auf Hanau brannte auch das Akademie-Gebäude vollständig aus. Der Betrieb wurde bereits 1947 in anderen Räumen wieder aufgenommen, der Wiederaufbau vorangetrieben. Im Jahre 1949 wurde die aus der NS-Zeit stammende Bezeichnung „Meisterschule deutschen Handwerks“ in „Staatliche Zeichenakademie für das Edelmetallgewerbe“ umbenannt.

Nachdem Leven aus gesundheitlichen Gründen nur kurze Zeit das Amt erneut antrat, kam 1950 Bernd Oehmichen wieder zum Zug, der bereits 1943 Direktor der Schule war und als Parteigenosse der NSDAP 1945 seines Amtes enthoben wurde. Im Jahre 1953 wurde der Wiederaufbau des Hauptgebäudes beendet, 1965 erstmals über die Einrichtung einer Fachschule diskutiert. Bis zu seinem Ausscheiden 1967 bemühte sich Oehmichen, wieder bedeutende Lehrer an die Schule zu holen, so Eberhard Burgel, Siegfried Männle oder auch Albrecht Glenz.

Die zentralen Themen der vergangenen Jahrzehnte unter den beiden Leitern Walter Dennert und Hermann Schadt beschäftigen auch die neue Leiterin, Gabriele Jahns-Duttenhöfer, die seit Anfang des Jahres 2001 im Amt ist: Es geht um Fragen der Schulentwicklung wie beispielsweise zu einer Fachhochschule und auch der bereits 1989 geforderte Neubau.

 

Die Schule bietet umfangreiche und gefragte Ausbildungsmöglichkeiten mit unterschiedlichen Abschlüssen. Die Berufsfachschule besuchen etwa 170 Schüler. Sie lernen in der dreieinhalb­jährigen Ausbildung Goldschmied oder die Spezialberufe Graveur, Schmucksteinfasser, Metallbildner, ehemals Ziseleur, sowie Silberschmied. Für den Beruf des Silberschmieds gibt es allerdings nicht ausreichend Nachwuchs, im Sommer-Semester 2001 blieben noch zwei Plätze in dieser Sparte frei.

Ihr staatlicher Abschluß entspricht dem Gesellenbrief des Handwerks. Der Unterricht erfolgt in Werkstattklassen von 14 bis 16 Schülern. Theorie, zu der Kunstgeschichte, Fachmathematik aber auch Chemie oder Edelsteinkunde gehört, wird in größeren Einheiten gelehrt.

Die zweijährige Fachschule bietet eine Weiterbildung zum Staatlich geprüften Gestalter. Diese Absolventen können auch ihre Meisterprüfung vor der Handwerkskammer ablegen. Schließlich werden noch Auszubildende aus edelmetallgestaltenden Betrieben aus ganz Hessen unterrichtet.

Nach wie vor am größten ist der Andrang bei den Goldschmieden. Um die 45 Plätze drängen sich trotz zurückgehender Bewerberzahlen rund 250 junge Menschen aus dem In- und Ausland. Auch Hauptschüler werden bei entsprechendem Talent aufgenommen, sind jedoch eher die Ausnahme. Rund 80 Prozent kommen mit Abitur. In dem aufwendigen Auswahlverfahren ist die künstlerische Begabung ausschlaggebend, die in zeichnerischen oder plastischen Arbeitsproben unter Beweis gestellt werden muß. Die hohen kreativen Anforderungen schlagen sich auch im Lehrplan nieder. Seit der Gründung 1772 lag der Schwerpunkt auf der künstlerischen Bildung. Bis heute hat sie einen hohen Stellenwert.

Erst nach dem zweiten Jahr fällt die endgültige Entscheidung für den Lehrberuf. Im dritten Jahr erarbeiten die Auszubildenden zu Aufgaben des Gestaltungslehrers anspruchsvolle eigenständige Entwürfe. Die praktische Arbeit in der Werkstatt wird mit drei Tagen pro Woche intensiver, die Experimentierlust angeregt, das Selbstvertrauen in das eigene Können gestärkt.

Wichtigstes Projekt im Jahr 2002 wird der seit Jahren geforderte Neubau mit einem Investitionsvolumen von rund acht Millionen Mark sein. Das architektonisch anspruchsvolle zweigeschossige Gebäude soll 680 Quadratmeter Raum für Unterrichtsräume und Cafeteria bieten. In einem zweiten Bauabschnitt wird damit auch ein Teil des archaisch anmutenden Ambientes verschwinden: Mit einer umfangreichen Modernisierung der Werkstätten werden auch in der Staatlichen Zeichenakademie CNC-gesteuerte Maschinen (Computerized Numerical Control, numerische Steuerung per Computer) Einzug halten. Die Computer werden aber den freien Gestaltungswillen nicht behindern. Und die Arbeit mit dem Stichel, seit Jahrhunderten wichtiges Arbeitsmittel der Edelmetallgestalter, wird ebenfalls nicht verdrängt.

Heute ist die Akademie als „Staatliche Zeichenakademie / Berufs-, Berufsfach- und Fachschule für edelmetallgestaltende Berufe“ weltweit eine der geachtetsten Ausbildungsstätten für Gold- und Silberschmiede. Im Gebäude ist seit 2012 auch die Brüder Grimm-Berufsakademie für Designmanagement und Produktgestaltung beheimatet.

 

Aus der Zeichenakademie sind noch folgende Objekte hervorgegangen:

  • Die Urfassung des „Lauterbacher Strolch“ stammt von Wilhelm Schultz (1861-1931), seit        1882 Professor an der Hanauer Zeichenakademie. Er hat ihn 1898 für die Molkereigenossenschaft Fulda-Lauterbach entworfen. Das Bild ist in Privatbesitz (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 76).
  • „Kommissarleuchte“ von Christian Dell - genauer das Modell „Kaiser-idell 6631“ - ist ein Kult-Objekt“, Erfunden hat sie Christian Dell., der an der Hanauer Zeichenakademie ausgebildete Silberschmied und Designer. Er wurde am 24. Februar 1893 geboren. Bei der traditionsreichen Hanauer Silberwarenfabrik J.D. Schleissner & Söhne lernte er sein Handwerk und besuchte die Königliche Zeichenakademie unter Leitung von Hugo Leven. Der Wechsel als Werkmeister der Metallwerkstatt an das Bauhaus in Weimar war ein Karrieresprung: Ab 1922 arbeitete er erst mit Paul Klee, dann mit Oskar Schlemmer und schließlich mit dem Formmeister László Moholy-Nagy zusammen.
  • Im Jahre 1926 wechselte er zu Fritz Wichert an die Frankfurter Kunstschule und widmete sich der Gestaltung von lichttechnisch wie mechanisch ausgereiften Arbeitsleuchten, die im „Neuen Frankfurt“ internationale Bedeutung erlangten. Daneben fertigte er hochwertiges Silbergerät und Modelle für die Industrie. Im Jahre 1934 gelang Dell die Zusammenarbeit mit der Leuchtenfabrik Kaiser in Neheim-Hüsten, für die er nach dem Prinzip des Baukastensystems ein neues Zweckleuchten-Segment entwickelte. Die „KAISER-idell 6556 Super“ avancierte zum Inbegriff der Arbeitsleuchte.In der Abteilung "Moderne Zeiten" im Historischen Museum in Schloß Philppsruhe sind Leuchten von Christian Dell und Wilhelm Wagenfeld, der ebenfalls an der Zeichenakademie studierte, ausgestellt (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 152).

 

Noch zwei bedeutende Künstler sind zu rrwähnen:

  • Eugenie Bandell (1858-1918): Sie ist eine der bisher am meisten unterschätzten Künstlerinnen der Rhein-Main-Region. ber im Frankfurter Städel wurde ihr jetzt ein sehr prominenter Platz im ersten Stock zugewiesen. Das Gemälde „Sonne am Mittag - Wilhelmsbad“ von 1913 wurde 1919 vom Städel erworben. - Das Gemälde „Porträts eines Mädchens“ aus der Zeit um 1880 findet sich heute in der Abteilung „Moderne in Hanau“ im Svhloß Philippsruhe (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 38 und 134).

 

  • Richard Estler: Der Grafiker, Maler und Professor der Hanauer Zeichenakademie Richard Estler wurde am 28.9.1873 in Dresden geboren. Im Jahre 1901 erfolgte seine Berufung als Lehrer, ab 1921 als Professor an die Zeichenakademie Hanau. Er lebte mit seiner Familie in der Weißenburgstraße am Weihergraben und wurde nach seinem Tod am 27.12.1952 auf dem Kesselstädter Friedhof beigesetzt. Von ihm sind rd. 200 Aquarelle, Ölgemälde, Holzschnitte und Zeichnungen zumeist in Privatbesitz überliefert. Recht bekannt sind seine Radierungen des Altstädter Rathauses oder Landschaftsbilder der Region.

Die Städtischen Museen Hanau haben auch aus dem Kunsthandel ein Ölgemälde von Richard Estler erworben, das Gründungsarbeiten für den Bau der Stahlfachwerkbrücke zwischen Hanau und Steinheim von 1926 dokumentiert. Das Bauwerk wurde 1927 fertiggestellt und ist eine der ersten genieteten Stahlbrücken auf Sandsteinpfeilern im Rhein-Main-Gebiet (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 182).

 

Steinheimer Tor:

Eine Hanauer Fayence von Conrad Westermayr „Das Steinheimer Tor“ von 1807 im Schloss        Philippsruhe zeigt die Zerstörung des  im Jahre 1600 erbauten Steinheimer Tors durch die Franzosen im Jahre 1806 (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 24).

 

Im Jahre 1922 wurde die Schmuck-Diamantschleiferei Jakob Lach GmbH & Co. KG mit 600 Diamantschleifern in eigenen Betrieben gegründet. Im Jahre 1936 zog der Stammsitz von Langendiebach in die Steinheimer Straße nach Hanau. Heute firmiert das zu den weltweit führenden Herstellern von Diamant- und CBN-Werkzeugen für die zerspanende Industrie zählende Unternehmen an der Donaustraße 17 in dritter Generation unter Leitung von Robert und Horst Lach. Diamant und CBN kommen immer dann zum Einsatz, wenn reine Hartmetall-Werkzeuge an ihre Grenzen stoßen. Neben der Weiterentwicklung von Standardwerkzeugen arbeiten die Entwicklerteams voller Leidenschaft an Sonderlösungen für die aktuellen Anwendungsfälle der Kunden (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 132).

 

Die 1893 gegründete Heinrich Amend GmbH am Steinheimer Tor stellte das System „Sanitol“ her, zusammengesetzt aus Sanitär und Toiletten für „geruchlose Pissoir-Anlagen ohne Wasserspülung“. Sie erzielte ein Deutsches Reichspatent und richtete Zweigniederlassungen „in allen Provinzen und Ländern Deutschlands und im Ausland ein“. Auf dem Fabrikgelände stand später die Hauptfeuerwache, heute das Kinopolis mit Parkhaus. Die Abbildung einer Werbung für Sanitol aus der Zeit um 1925: befindet sich in Privatbesitz (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 109).

 

Firma Zimmermann: Wickelkinder stellen eine jahrtausendealte Methode der Säuglingspflege dar. Dabei wird der gesamte Leib des Babys samt Armen straff mit Stoffbändern umwickelt, um den Nachwuchs zu beruhigen. Aus Privatbesitz gibt es eine Abbildung eines solchen Wickelkindes, da von der Firma E. G. Zimmermann in der Lothringer Straße bis zum Ende des 19. Jahrhunderts unter Modellnummer 12218 aus Eisenkunstguss hergestellt wurde. Das 12 Zentimeter messende Kästchen war ein Geschenkartikel für junge Damen, um darin Nadeln zum Binden der Kinder oder für Handarbeiten aufzubewahren (Martin Hoppe, Objekt der Woche, #).

 

Aus der Firm Zimmermann stammt auch der Eisenkunstguss „Wassereimerträger“ aus der Zeit um 1880: Das Unternehmen an der Lothringer Straße wurde 1842 ursprünglich als Eisen- und Metallgießerei gegründet (von 1839 produzierten Seebaß und Zimmermann an der Französischen Allee gemeinsam). Es wuchs zu einem weltweit gefragten Veredler von Naturstein heran.

Die frühen Erzeugnisse aus Eisen und Bronze sind sehr gefragt. Es vergeht kaum eine Auktion ohne hochwertige Schreibgarnituren, Kerzenständer, Büsten, Fußschalen, Schachfiguren, Wandschirme, Etagèren, Lithophanieständer bis hin zu Schmuckstücken etc. aus Hanauer Produktion. Der Auktionshammer fällt meist im mittleren dreistelligen Bereich.

Der Wassereimerträger ist ein sogenanntes. „Rauchzeug für den gutsituierten bürgerlichen Herrn“ zum Gebrauch von Zigarren, Zigarillos oder auch Zigaretten. Der Feuerwehrmann hält zwei Eimerchen für Zündhölzer bereit: einen für unbenutzte und einen für abgebrannte. Es findet sich in Schloss Philippsruhe (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 19).

 

 


 

 

 

Anhänge

Einige sehenswerte Orte sind so weit draußen, daß man sie mit einem Fahrzeug erkunden sollte:

 

 

Frankfurter Landstraße:

Helmut Funke war mit seiner Frau Anneliese seit 1941 verheiratet, die beiden wohnten von 1949 an in der Hochstädter Landstraße 56 mit Atelier. Helmut Funke wurde am 5. Mai 1908 in Herne / Westfalen geboren. Vielen ist der Maler als „Nebel-Funke“ bekannt, weil er eine Unmenge an Landschaftsimpressionen in Nebelstimmung schuf.  Das langjährige Mitglied des Künstlerbundes Simplicius hatte aber ein viel breiteres Motivrepertoire: So fing er mit feinen Antennen die triste Hanauer Trümmerlandschaft nach 1945 ein und reiste in den Wirtschaftswunderjahren mit Malpalette und Staffelei durch halb Europa sowie Ägypten. Farbenfrohe Reiseimpressionen, abstrakte Arbeiten, die Gestaltung von Wandteppichen und Kinderbüchern folgten (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 161).

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Louis-Appia-Straße:

Auch wenn es eine Louis Appia-Straße an der Rosenau und seit 2019 ein Louis Appia Rot-Kreuz-Forum an der Lamboystraße gibt, ist er in seiner Geburtsstadt bisher wenig bekannt. Louis Paul Amédée Appia (1818-1898) wurde am 13. Oktober 1818 in Hanau als Sohn des wallonischen Pfarrers Paul Joseph Appia und Caroline Develey geboren. und gründete später die Augenklinik in Frankfurt. Besondere Verdienste hat er in der Militärmedizin, sicher unter dem Eindruck seiner Familie zur Schlacht bei Hanau 1813, aber insbesondere durch Einsätze als Chirurg auf europäischen Kriegsschauplätzen. Im Jahre 1863 wurde Appia in Genf Mitglied im „Komitee der Fünf“, aus dem das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hervorging. Auf seine Anregung geht das Rote Kreuz auf weißer Armbinde zurück. Seit 1860 war er korrespondierendes Mitglied der Wetterauischen Gesellschaft für die gesamte Naturkunde, wie übrigens auch Henri Dunant, der bekannteste Gründer des Roten Kreuzes.

Anlässlich des 200. Geburtstages wurde 2018 von seinem Urenkel David Appia (Paris) eine Bronzebüste geschaffen. Sie wurde von der Stadt Hanau und dem Deutschen Roten Kreuz Kreisverband Hanau angekauft du ist seitdem im Flur des Oberbürgermeisterbüros im Hanauer Rathaus zu sehen (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 14).

 

Bei der Gestaltung des Beethovenplatzes haben die Architekten Deines und Clormann ganz bewußt den historischen Blickkontakt zwischen Schloß Philippsruhe und der Fasanerie im Auge behalten. Doch bis zum Eingang der Fasanerie hat man keine Kastanien nachgepflanzt, sondern Eschen. Der heutige Lärmschutzwall unterbricht natürlich die ursprüngliche Sichtachse. Die Wohngebäude erinnern an die mit dem Namen des damaligen Oberbürgermeisters Kurt Blaum verbundene Baupolitik der zwanziger Jahre Die Wohnanlagen wurden 1927 von Oberbürgermeister Blaum eingeweiht, deshalb hieß der runde Platz im Volksmund auch „Zirkus Blaum“.

Der Schwanenbrunnen im Rondell des Beethovenplatzes (1896 / 1979) ist der einzige erhaltene Brunnen aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert und damit Zeugnis des Historismus in Hanau. Er wurde vom damaligen Verschönerungsverein gespendet, am 24. Mai 1896 vor dem Zollamt aus dem Jahr 1830 am Ende des Mainkanals eingeweiht. Mit dem Bau der Westbahnhof-Unterführung 1974 musste ein neuer Standort gefunden werden. Der sogenannte Schalenbrunnen wird von vier aufgeplusterten, Wasser speienden Schwänen geprägt. Über ihnen sind jeweils zwei Männer- und Frauengesichter mit Bart bzw. langem Haar gearbeitet, die ebenfalls Wasser spucken und die mit acht Löwenköpfchen verzierte große Sprudelschale tragen. Die obere Schale wird von einem Schaft mit Blütenkranz und Akanthus gehalten (Martin Hoppe, Objekt der Woche, # 124)

 

Rechts geht es in die Gustav-Hoch-Straße und zum „Musikerviertel“. Dieses wurde so genannt wegen der Straßennamen, darunter die Hindemith-Straße, genannt nach Paul Hindemith, der in Hanau geboren wurde.

„Hausmannstraße“ (nördlich der Frankfurter Landstraße, Nähe Rosenau):

Friedrich Karl Hausmann, Hanauer Maler, 1825 bis 1864 Inspektor der Hanauer Zeichenakademie, geboren in Hanau und auch in Hanau verstorben.

 

 

Alter Rückinger Weg:

An der neuen Hola erinnert mächtige Sandsteintor an die Alte Hohe Landesschule. Diese stand an der Nahtstelle von Alt- und Neustadt stand, dort wo sich heute das DGB-Hochhaus mit Buchladen am Freiheitsplatz befindet. Das Sandsteinportal stand an der Hofseite der Schule. Weiterhin ist die Jahreszahl 1665 angegeben, in zwei Kartuschen 1607 und 1664 und der Name des Steinmetzmeisters Caspar Klunzig (Der Text steht bei Martin Hoppe, Objekt der Woche # 105).  Abbildung: Das Portal des Gymnasiums, 1897, Landeskundliche Abteilung.

 

„Amelia-Straße“ (westlich der Bruchköbeler Landstraße):

Gemahlin des Landgrafen Wilhelm V. von Hessen-Kassel, Tochter Philipp Ludwigs Il. von Hanau. Durch ihre Fürbitte erreichten die bedrängten Hanauer im Jahre 1636, daß sie Landgraf Wilhelm von der Lamboyschen Belagerung befreite (Lamboyfest).

 

Körnerstraße (östlich der Bruchköbeler Landstraße): 

Von dem Bauunternehmer Jean Körner privat angelegte Straße

 

 

Franzosenloch:

An der südlichen Ecke des Schlachtfelds von 1813 führt die Lamboysche Brücke über die Kinzig. östlich davon und nördlich der Kinzig liegt das „Franzosenloch“, ein kleiner tiefer Landsee. Der Name kommt daher, weil nach der Volksmeinung in dem ehemals dort befindlichen Wasserloch, dessen Boden „unergründlich“ war, während der Schlacht bei Hanau zahlreiche Franzosen ertrunken seien. Auch eine Kriegskasse soll damals in dem „Loch“ versenkt worden sein. Das „Franzosenloch“ war früher ein gesuchter Ort für weibliche Selbstmörder. Der Name ist auch eine Flurbezeichnung.  Auch in Langenselbold und Rüdigheim gibt es diese Bezeichnung, in Niedermittlau heißt ein Rest des Erzbergbaus so. Die Namen sind wohl entstanden, weil man bestimmte Örtlichkeiten mit den französischen Besatzern in Zusammen­hang brachte.  

 

Neuhof
Nördlich der Kinzig, westlich der heutigen Bundesstraße 8 bzw. L 3193 (Zubringer nach Auffahrt Erlensee)  war der Neuhof, dieAmtswohnung des Oberförsters. Napoleon hat das Gut seiner Schwester Pauline Borghese zum Geschenk gemacht.

 

Industrie:

Im Osten Hanaus kommt man zu weltbekannten Hanauer Firmen: Am Grünen weg die Firma Heraeus und weiter östlich davon am Ende des Grünen Weges die Vacuumschmelze. Nördlich die Quarzlampengesellschaft in der Höhensonnenstraße. Nach rechts geht es weiter zum Kurt-Blaum-Platz. Links steht die ehemaligen Gebäude der Firma Degussa. An der Südseite der Hauptbahnhofstraße stand die Brauerei Nicolay.

 

Dunlop in Hanau: Im Jahre 1893 wurde die erste Dunlop-Fabrik auf dem europäischen Festland gegründet. Und zwar in Hanau, an der Bruchköbeler Landstraße. Anfangs wurden dort Fahrradreifen, das „Urprodukt“ des Erfinders John Boyd Dunlop, gefertigt. 1902 begann die Serienproduktion von Autoreifen. Nachdem die Fabrik 1903 abbrannte, wurde an der heutigen Dunlopstraße neu gebaut. Ab 1910 folgte die Fertigung von Flugzeugreifen, 1923 von Tennisbällen und 1932 von Schaumstoffmatratzen. ((Martin Hoppe, Objekt der Woche # 144. Abbildung: Büste, Veterinärurkunde und Fahrradreifen von John Boyd Dunlop im National Museum of Scotland, 2018).

 

 

Hafen:

Der Hanauer Mainhafen wurde im Oktober 1924 feierlich eröffnet. An den denkwürdigen Akt der Inbetriebnahme erinnert eine Bronzetafel am Alten Hafenamt, Hafenstraße 8, in dem sich heute der Verein Schrift und Bild e.V. samt Galerie von Jörg Schmitz befindet. Die Plakette stellt die Bedeutung von Oberbürgermeister Dr. Kurt Blaum und von Stadtbaurat Paul Ehrich (1870-1942) bei dem Jahrhundertprojekt heraus. Kleine Fehlerkunde: Beim Satz der Tafel war wohl das große „I“ ausgegangen. So prangt seit 100 Jahren „Jndustrie“ in luftiger Höhe (Martin Hoppe, Objekt der Woche # 200). Vor allem der Hanauer Stadtbaurat Paul Ehrich hat den Mainhafen maßgeblich entwickelt. In seine Zeit fielen auch fielen die Gebeschusschule, der Umbau des Marstalls zur Stadthalle, zahlreiche Wohnungsbauten in der Freigerichtsstraße, am Hafenplatz und am Beet­hoven­platz („Zirkus Blaum“).

Die beiden Kolossalfiguren „Arbeit und Handel“ am Hafentor aus dem Jahr 1924 stammen von August Bischoff, der auch das Ehrenmal auf dem Freidhof geschaffen hat.

 

Die Oberbürgermeisterkette der Stadt Hanau wurde am 24. Oktober 1924 anlässlich der Er- öffnung des Hanauer Mainhafens von Firmen aus Industrie, Handel und Gewerbe auf Anregung der IHK gestiftet und am 24. Juni 1927 im Hanauer Stadtschloss an Oberbürgermeister Dr. Kurt Blaum überreicht wurde. Sie gilt als eine der schönsten in Deutschland. Der Entwurf stammt von Professor Hugo Leven (1874-1956), dem damaligen Direktor der Staatlichen Zeichenakademie Hanau. An der Ausführung beteiligt waren mehrere Lehrer der Zeichenakademie. Die sechs Hauptkartuschen zeigen Hanauer Wahrzeichen (Neustädter Rathaus, Marienkirche, Altstädter Schloss, Altstädter Rathaus, Frankfurter Tor, Wallonisch-Niederländische Kirche) und werden umrahmt von je zwei Figuren der Stadtgeschichte (darunter Philipp II. und Juliane von Hanau, Graf Philipp Ludwig II. und Catharina Belgia von Hanau-Münzenberg, General Jakob Ramsay, Turnerführer August Schärttner). Der vordere große Anhänger trägt das Hanauer Stadtwappen, der rückwärtige eine Ansicht des Hanauer Hafens, die restlichen Bleikristallarbeiten zeigen Szenen aus Industrie, Handel und Handwerk (Martin Hoppe, Objekt der Woche # 87).

 

Im Kinzigheimer Weg vermarktete Theodor Jacob eine Erfindung seines Großvaters Heinrich Kurz, den sogenannten „Süßer Heinrich“. Das war ein Zuckerstreuer aus Glas mit Metall, bei dem der Zucker durch ein Robr in der Mitte des Glases ausgeschüttet wurde. Das geniale an dem Streuer ist, dass durch die Kippbewegung immer die etwa gleiche Menge an Zucker hygienisch dosiert in die Tasse gleitet – überall auf der Welt. Heinrich Kurz, aus Windecken erfand auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts u. a. eine Waschmaschine mit in der rotierenden Trommel montierten Wurzelbürsten, ein Kartoffelpfannenkuchenwender, eine Auflaufbremse, einen WC-Aufsatz für Kinder und Radaufhängungen. -  Sein Enkel ließ den „Süßen Heinrich“ 1953 als „Portionierer für granuliertes Streugut, beispielsweise Zucker“ als Markenmuster eintragen und übernahm ab 1954 Produktion und Vermarktung. Sein Handelsunternehmen Helly Erzeugnisse vertrieb auch erfolgreich u. a. den Baby-Wunderbecher „WippeDippe“: eine sich selbst aufrichtende Plastiktasse (Martin Hoppe, Objekt der Woche # 99).

 

 

Schafottplatz:

Der Hanauer Schafottplatz war in der Lehrhöfer Heide. Er wurde 1839 als Ersatz für das Hochgericht in Kesselstadt aus Bruchsteinen mit 2 Metern Höhe und 13 Metern Durchmesser aufgemauert. Am 11. Januar 1861 fand, damals weit vor den Toren der Stadt, die letzte öffentliche Hinrichtung statt: Heinrich Nolde aus Kleinseelheim soll vor mehr als 12 bis 15.000 (!) Menschen mit dem Richtschwert enthauptet worden sein. Vier „von der Fallsucht (Epilepsie) behaftete Personen tranken das rauchende Blut des gerichteten Raubmörders, in dem Wahne, davon geheilt zu werden“, so zeitgenössische Berichte.

Ab 1937 wurde in der Lehrhöfer Heide vom NS-Regime die Argonner-Kaserne erbaut

Von der Aschaffenburger Straße in Richtung Neuwirtshaus geht rechts der Ernst-Barthel-Straße ab. Von dieser geht wieder rechts die Lehrhöfer Heide ab und nach dem Rechtsknick liegt rechts hinter einem großen Haus das Schafott, von einer Mauer umgeben. Der Schafottplatz steht unter Denkmalschutz.

Der Hanauer Richtstuhl und das Richtschwert befinden sich heute im Depot der Sammlungen des Historischen Museums Hanau im Schloss Philippsruhe. Eingraviert ist die Jahreszahl 1629 der Hanauer Scharfrichterfamilie Nord. Eine Aufnahme zeigt die beiden Instrumente, wie sie um 1900 im Museum am Altstädter Markt präsentiert wurden, zudem Steinketten und Halseisen des Prangers (eine Nachbildung befindet sich am Goldschmiedehaus) (Marti Hoppe, Objekt der Woche, # 15).

 

 

 

Hohe Tanne:

Am 6. November 1911 fasste der Gemeindevorstand von Wachenbuchen unter Vorsitz von Bürgermeister Johannes Mankel den einstimmigen Beschluss, eine „Villenkolonie“ à la Buchschlag „im Walde Hohe Tanne“ bei Wilhelmsbad entstehen zu lassen. Ein Jahr später standen bereits die ersten drei Jugendstilhäuser der „Landhaussiedlung“ entlang der Hochstädter Landstraße. Ein Lageplan über die Landhaussiedlung Hohe Tanne von 1915 findet sich im Stadtarchiv Hanau (Martin Hoppe, Objekt der Woche, #111.)
 

In der Hohen Tanne gab es eine Kirche, von der wohl die wenigsten Bürger wissen, daß sie jemals gebaut wurde, und wo sie zu finden ist: Ab dem 15. Oktober 2007 rücken in der Hohen Tanne am Wilhelmsbader Ring die Bagger an und dem evangelischen Gemeindezentrum mit der dazugehörigen Kirche zu Leibe. Dort wird ein Investor aus Franken zwei Einfamilienhäuser errichten. Über den Kaufpreis wollte Claudia Brinkmann-Weiß, Dekanin des evangelischen Kirchenkreises Hanau-Stadt, keine Angaben machen.

Nur so viel: Die Einnahmen durch den Verkauf fließen in die Baurücklage des Gesamtverbandes evangelisch-unierter Kirchengemeinden Hanaus, zu dem neben der Marienkirchengemeinde, der Kreuzkirchengemeinde und der Christuskirchengemeinde auch die Johanneskirchengemeinde gehört.  Durch diese Rücklage soll der hohe und zum Teil alte Gebäudebestand der Gemeinden des Gesamtverbandes erhalten werden. Ein Teil der Gelder kommt zum Beispiel der gerade begonnenen Sanierung des Kirchturmes der Johanneskirche, die hauptsächlich von der Landeskirche getragen wird, zugute. Nach einem zweijährigen Diskussionsprozeß schloß sich der Kirchenvorstand deshalb dem Vorschlag der Evangelischen Landeskirche Kurhessen-Waldeck an, das komplette Gemeindezentrum zu verkaufen und abreißen zu lassen.

Die Johanneskirchengemeinde mit dem Einzugsgebiet Hanau-Nord, Hanau-Nordwest, Wilhelmsbad und Hohe Tanne hat das 1968 gebaute Gemeindezentrum mit einer Grundstücksgröße von zirka 1900 Quadratmetern im Jahre 1982 durch eine vertragliche Übernahme von der evangelischen Gemeinde Wachenbuchen erhalten, nachdem das Nobelwohngebiet der Hohen Tanne durch die Gebietsreform bereits 1974 politisch an Hanau angegliedert wurde.

Von den heutigen 3200 Gemeindemitgliedern der Johanneskirchengemeinde leben zirka 190 im Bereich Hohe Tanne. Die Gemeindearbeit mit Jugendgruppen und Kreisen für Erwachsene belebte für einige Zeit das neue Zentrum, ebenso wie die monatlichen Frühgottesdienste. Die beiden anderen Gemeindehäuser der Gemeinde - das Karl-Fuchs-Haus (Richard-Wagner-Straße 3) und das Martin-Luther-Haus (Körnerstraße 19) - haben aber schon zu diesem Zeitpunkt den Bedarf nach Gemeinderäumlichkeiten gut abgedeckt. Um die laufenden Kosten wenigstens zum Teil decken zu können, entschied sich der Kirchenvorstand, das Gemeindezentrum an die Ökumenische Telefonseelsorge zu vermieten, die vor eineinhalb Jahren in neue Räumlichkeiten umzog.

Der monatliche Frühgottesdienst konnte nach der starken Verringerung der Pfarrstellen von zwei­einhalb auf eineinviertel Stellen ab 1999 nicht mehr aufrecht erhalten werden, gemeindliches Leben fand ab diesem Zeitpunkt im Gemeindezentrum nicht mehr statt. Zuvor hatten sich maximal acht Gläubige zum Gottesdienst in dem rund 200 Menschen fassenden Gotteshaus eingefunden,

Der Kirchenvorstand hat sich um neue Nutzungsmöglichkeiten bemüht. Verschiedene Vermietungs- und Verkaufsanfragen standen zur Diskussion, die auch den angelaufenen Neustrukturierungsprozess der Hanauer Innenstadtgemeinden mit einbezog. Es konnte allerdings keine andere christliche Kirche gefunden werden, welche neben den Kaufkosten die hohen Investitionsmittel für Sanierung, Isolierung sowie eine neue Heizung aufbringen konnte.

Nach schwierigen Verhandlungen wurde schließlich ein privater Investor gefunden, der den Abriß - so die Bedingung der Kirchengemeinde - übernimmt und eine Bebauung gemäß dem Bebauungsplan in der Hohen Tanne vornimmt

Die liturgischen Gegenstände wie der Altar, die Kanzel und das Taufbecken werden jetzt im Karl-Fuchs-Haus neu genutzt. Die Glocken und der vergoldete Hahn der Turmspitze wurden der evangelischen Kirche am Limes geschenkt. Diese plant schon seit langem den Bau eines eigenen Turmes für das Gemeindezentrum in Großkrotzenburg (06.10.2007).

 

 

Kirchen:

Evangelische Christuskirche (bestand bereits im Jahre 1934) 1949 wieder aufgebaut.

Katholische Heilig-Geist-Kirche, 1961/62.

Evangelische Johanneskirche (neu), 1958-60.

Katholische St. Josefskirche, 1958-60.

Kirche des Nazareners, 1969-70.

Evangelische Kreuzkirche, 1954.

Neuapostolische Kirche, 1959-60.

Evangelische Kirche in Hanau-Hohe Tanne, 1967-1969

Evangelische Lutherkirche in Wolfgang von 1967 - 1969.

 

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