Hanau Stadt

 

Aus der Geschichte der Stadt Hanau

 

Das Material zu dieser Aufstellung stammt zum großen Teil aus Zeitungsartikeln, die ich gesammelt habe, damit sie erhalten bleiben. Dazu kommen Artikel aus kleineren schnellebigen Schriften oder aus Büchern, die nicht mehr erhältlich sind (z.B. „Hanau Stadt und Land“ oder „Kirchen und Kapellen im Main-Kinzig-Kreis“). Die Quellen alle zu zitieren hätte den Text unlesbar gemacht und den Umfang aufgebläht. Wie alle anderen Autoren habe ich auf dem Vorwissen anderer aufgebaut, aber es aus eigener Erfahrung gestaltet. Ich freue mich, wenn andere meine Ausarbeitung übernehmen und Freude am eigenen Erforschen der Heimat haben oder etwas zu ergänzen oder zu verbessern haben

 

798 

Ersterwähnung von Mittelbuchen

806

Erstmals Nennung des Ortes Auheim.

1143

Erste urkundliche Erwähnung Hanaus

1222

Erste urkundliche Erwähnung des Schlosses Steinheim

1303

Verleihung der Stadtrechte für Hanau. Steinheim erhält die Stadtrechte

1419

Vereitelung eines mainzischen Anschlags auf Stadt und Burg Hanau,  Martiniweinspende (bis 1830)

1537

Baubeginn des „neuen“ Rathauses (Deutsches Goldschmiedehaus).

1595

Graf Philipp Ludwig II. tritt die Regentschaft an

1596

Vermählung des Hanauer Grafen Philipp Ludwig II. mit Katharina Belgica, der Tochter Wilhelms von Oranien

1597

Gründung der Neustadt Hanau und Wallonisch-niederländischer Gemeinde

1600

Grundsteinlegung der Wallonisch-Niederländischen Kirche

1603

Philipp Ludwig räumt den Juden einen Platz - die Judengasse - ein

1607

Subsidienordnung zur Unterhaltung einer Hohen Schule in Hanau

1612

Grundsteinlegung der neuen Hohen Schule

1635

Beginn der Belagerung Hanaus durch den kaiserlichen General Lamboy

1636

Landgraf Wilhelm V. von Hessen-Kassel befreit die Stadt

1661

Gründung der ersten deutschen Fayence-Manufaktur

1665

Einweihung des Gebäudes der Hohen Landesschule

1669

Vertragsabschluß Friedrich Casimirs mit der Westindischen Kompanie über die Gründung des Königreichs Hanauisch-Indien am Orinoco

1678

Beginn des Hanauischen Mercurius, der ältesten hessischen Zeitung

 

1701

Grundsteinlegung von Schloß Philippsruhe

1701

Entdeckung des Gesundbrunnens in Wilhelmsbad (zwei Kräuterweiber)

1725

 Unter dem Titel „Wöchentliche Hanauer Frag- und Anzeigungs­nachrichten“ erscheint die erste Nummer des Hanauer Wochenblattes (später „HA“)

1725

Bau des Neustädter Rathaus (bis 1933)

1738

Gründung der Leihbank durch Wilhelm VIII.

1772

Stiftung der Zeichenakademie als älteste Fachschule in Hessen

1776

Durch Subsidienvertrag wird der Soldatenhandel im Feldzug Englands gegen  Amerika abgeschlossen (etwa. 2400 Hanauer gingen nach Amerika)

1777

Baubeginn für die Kuranlage Wilhelmsbad

1778

Gründung des Hanauischen Magazins als gemeinnützige Wochenschrift

1780

Goethe besucht Wilhelmsbad

1781

Eröffnung des Theaters (Comoedienhaus) in Wilhelmsbad

1785

Geburt von Jacob Grimm

1786

Geburt von Wilhelm Grimm

1793

Beginn des Lamboyfestes

1813

Schlacht bei Hanau zwischen französischen und bayrisch-österreichischen Truppen

1818

Vereinigung der lutherischen und reformierten Bekenntnisse zur „Hanauer Union“

1821

Ein gemeinsamer Bürgermeister für Alt- und Neu-Hanau

1830

Hanauer Deputation kehrt aus Kassel zurück (Mautverhandlungen), danach Stürmung des Mainzollamtes durch Hanauer Bürger („Hanauer Krawalle“).

1834

Gründung des Handels- und Gewerbevereins (später Handelskammer)

 

Durch die Kurhessische Gemeindeordnung werden Alt-Hanau und Neu-Hanau zu einer einzigen Stadt

1841 

Eröffnung der Stadtsparkasse im Stadthaus

 

 

1848

Nach der Französischen Februarrevolution wird Hanau Ausgangspunkt der kurhessischen Bewegung. Bildung von Bürgergarde und bewaffneten Freikorps. Hanauer Ultimatum an den Kurfürsten. In Hanau herrscht Kriegs- und Belagerungszustand. Hanauer Deputierte verkünden die Annahme des Ultimatums durch den Kurfürsten

1848

Am 2.4. Erster Deutscher Turnertag in der Wallonischen Kirche.

Gründung des Deutschen Turnerbundes. Rede von Turnvater Jahn

1848

Am 10. September Eröffnung der Eisenbahnlinie Frankfurt-Hanau

1849

Hanauer Turner unter Schärttner ziehen nach Baden

1851

Wilhelm Carl Heraeus übernimmt die Einhorn-Apotheke

1851

Inbetriebnahme von Gaslaternen als Straßenbeleuchtung

1851

Inbetriebnahme der Telegraphenlinie von Aschaffenburg nach Hanau.

1869

Geburt von August Gaul in Großauheim.

1874

Eröffnung der ersten Hanauer Diamantschleiferei durch Friedrich Houy

1875

Entstehung einer Pulverfabrik in der Bulau

1886

Hanau wird kreisfreie Stadt und scheidet aus dem Kreis Hanau aus

1889

Übernahme der Platinschmelze durch Dr. Wilhelm Heraeus und Heinrich Heraeus

1893

Deutsche Dunlop Compagnie AG beginnt Produktion von Fahrradreifen

1895

Geburt von Paul Hindemith in Hanau

1896

Nationaldenkmal der Brüder Grimm wird auf dem Markt eingeweiht

1898

Betriebseröffnung des städtischen  Elektrizitätswerks

1902

Dunlop AG produziert erstmals Autoreifen

1907

Eingemeindung von Kesselstadt

1908

Einführung der elektrischen Straßenbahn in Hanau

  

 

1918

Unruhen: Plünderung des Lebensmittellagers und des Schloß Philippsruhe

1920

Französische Truppen besetzen Hanau am 6. April, Räumung der Stadt von französischen Truppen am 17.Mai

1921

Beginn des Hafenausbaus (bis 1924).

1933

Aussetzung der Selbstverwaltung nach der „Machtübernahme“

1938

 Vereinigung von Groß- und Klein-Steinheim zur Stadt Steinheim

1938

Brand der Synagoge in der Reichspogromnacht

1942

Das Altstädter Rathaus wird Deutsches Goldschmiedehaus

1945

Vollkommene Zerstörung der Hanauer Innenstadt durch Luftangriff

1953

Das erste hessische Dorfgemeinschaftshaus wird in Mittelbuchen eingeweiht

1956

Großauheim wird zur Stadt erhoben

1958

Erstmalige Ausrichtung des Hanauer Bürgerfestes im Schloßpark Philipps­ruhe zur Erinnerung der Leistung des Ehrendienstes beim Wiederaufbau

1958

Wiedereröffnung des Goldschmiedehauses im Altstädter Rathaus

1963

Hessentag in Hanau

1965

Baubeginn für den Weststadt-Komplex

1972

Eingemeindung Mittelbuchens zur Stadt Hanau

1974

 Im Rahmen der Hessischen Gebietsreform werden die Städte Großauheim, Klein- Auheim und Steinheim, die Gemeinde Wolfgang sowie der ehemalige  Wachenbuchener Ortsteil Hohe Tanne Hanauer Stadtteile

1984

Teile des Schlosses Philippsruhe werden durch einen Großbrand vernichtet

 

Altertum

Es ist anzunehmen, daß unser Landschaftsgebiet bereits in der Periode der Jüngeren Steinzeit (2500-2000 vCh) und ebenso in der Bronze- und Halstattzeit besiedelt war, wenn auch nur wenig Spuren von menschlicher Betätigung gefunden wurden. Genaueres weiß man allerdings erst aus der Zeit vor 2000 Jahren, als die in Germanien eingedrungenen Römer den Grenzwall (Limes) zum Schutz gegen die Germanen errichteten. Zahllose Ausgrabungen mit wertvollen Funden lassen uns die Zeit der Römer-Kastelle, Villen und -Bäder lebendig werden. Nur den Stadtteil Kesselstadt kann man auf eine römische Gründung unmittelbar zurückführen, auf jenes größte aller Limeskastelle, das einst dort stand.

Und zur Zeit der großen Völkerwanderungen entstanden dann auf dem Boden der römischen Siedlungen neue germanische Dörfer. Aus der Frankenzeit bezeugen schon viele Urkunden die damalige Besiedlung. Um 1100 wird die Wüstung „Kinz­dorf“, auf erhöhtem Gelände errichtet, genannt.

 

Gründung

In der Stauferzeit wurde als Stützpunkt der staufischen Politik auf einer Kinziginsel eine Wasserburg errichtet (später Standort des Schlosses), die ebenso wie die dann in ihrem Schutze entstehende Siedlung „Hagenowe“ genannt wurde. Die Burg hatte ihren Namen von dem Waldgebiet nördlich der Kinzig. „In silvis Hagenove et Bulahe“ (in den Wäldern Hanau und Bulau) heißt es in Urkunden. „Die Hanau“ war so benannt nach einem „Hagen“ (eingefriedeten Gelände) in einer „Au“ (Land am Wasser). Südlich des Flusses lag „die Bulau“, deren Name heute noch geläufig ist. Sie läßt sich ableiten von „Buchlohe“, vielleicht aber erhielt sie ihren früheren Namen „Pohl­au“ auch vom römischen Limes, dem „Pfahlgraben“, der den Wald durchzieht.

Die Stadt hat sich im Anschluß an die alte  Burg der Herren von Hanau entwickelt. Die ersten Besitzer nannten sich Herren von Buchen-Hagenowe (1113-1175). In einer Mainzer Urkunde vom 20. März 1143 wird das Geschlecht erstmals erwähnt: Der Edelfreie „Tammo de Hage­nouwe“ ist einer unter vielen Zeugen. Dies ist auch die erste Erwähnung Hanaus. Bereits seit 1191 werden „die von Dorfelden“ als „edle Herren von Hagenowe“ erwähnt. Schließlich von der Mitte des 13. Jahrhunderts an hießen sie nur noch „von Hanau“. 

Die Bedeutung des Kinzdorfes ging zurück, als im 13. Jahrhundert die A1tstadt entstand. Eine kleine Ansiedlung von Burgmannen und Lehnsleuten bildete sich südlich vor der Burg. Und in ihrem Schutz wuchs sich im Laufe des 13. Jahrhunderts Hanau zu einer festen bürgerlichen Niederlassung aus.

In einer ersten urkundlichen Erwähnung im Jahr 1234 wird sie „Castrum Hagenowe“ genannt. Diese Siedlung bei der Wasserburg erhielt am 2. Februar 1303 durch König Albrecht I. als „oppidum“ (= Stadt) die gleichen Rechte wie die Stadt Frankfurt und das Recht zur Abhaltung eines Wochenmarktes am Mittwoch.

Mit dem Bau der Mauern, Türme und Tore wurde bald begonnen: Die Stadt wurde von einer starken Mauer umgeben, die acht Wehrtürme und zwei Tore aufwies. Der Bau konnte im Jahre 1338 als vorläufig beendet gelten. Auf alten Plänen und Ansichten zeigt Hanau geradezu beispielhaft die bauliche Entwicklung einer deutschen Stadt auf, die einem kleinen Landesherren unterstellt ist. Die Zahl der Einwohner mochte etwa 500 betragen.

Im Jahre 1436 verlegten Herren von Hanau ihren Wohnsitz von Windecken, das bereits 1288 Stadtrechte erhielt, nach Hanau. Unter deren landesväterlicher Fürsorge entwickelte sich dann das Gemeinwesen von einem unbedeutenden Landstädtchen zur kleinfürstlichen Residenz.

Im Verlaufe der unruhigen Zeiten des 14. und 15. Jahrhunderts siedelten sich immer mehr Bewohner an. Die Stadtbefestigung wurde unter Philipp II. erneuert: Der Altstadtkern wurde mit acht Meter hohen Mauern mit Rundtürmen und Wassergräben umschlossen. Es entstand vor dem Metzgertor an der Straße zur Kinzigbrücke die Vorstadt. Im Jahre 1484 wurde das erste Rathaus an der Ecke Markt- und Metzgerstraße erbaut, das aber bereits 1537 durch das auf der gegenüberliegenden Seite errichtete Rathaus ersetzt wurde, weil sich das erste Rathaus als zu klein erwiesen hatte.

Etwa 1.250 Einwohner lebten in ungefähr 280 strohgedeckten Fachwerkhäusern auf einem Gebiete, das kaum vier Hektar groß war. Sie trieben fast ausschließlich Ackerbau und schickten ihr Vieh in die nahe Bulau auf die Weide. Bürgermeister und Ratsherren führten die Verwaltung und wurden dabei von der gräflichen Kanzlei durch einen Schultheißen beaufsichtigt.

Hanau war nur eine kleine Ansiedlung, aber es hatte eine Burg und ein Herrengeschlecht, das aus dieser Stätte etwas zu machen verstand. Sie verstanden es, ihren Besitz zu halten und durch eine geschickte Heiratspolitik beträchtlich zu mehren. Reinhard I. heiratete vor 1250 Adelheid von Münzenberg, ihr Sohn Ulrich I. gut 30 Jahre später Elisabeth von Rieneck: Ursprünglich Münzenberger bzw. Rienecker Gebiete waren wesentliche Teile der Herrschaft, ab 1429 Grafschaft Hanau.

Um den durch das Kränkeln des kleinen Grafen Philipp des jüngeren gefährdeten Fortbestand des Territoriums zu sichern, war dessen eigentlich für den geistlichen Stand vorgesehener Onkel Philipp der Ältere auf Brautschau gegangen und hatte 1458 Anna von Lichtenberg im Elsaß geheiratet. Seit dieser Zeit gab es die beiden Linien Hanau-Münzenberg und Hanau Lichtenberg. Die Namen „Hanauer Land“ in Baden und „Pays d’Hanau“ im Elsaß erinnern heute noch an dieses Ausgreifen der Hanauer Grafenfamilie.

Drei Gebäude ragten aus dem so kleinen Häusermeer hervor: die alte Burg, das stattliche 1537 eingeweihte Rathaus und die alte Marienkirche (etwa 1450 erbaut). So sah Hanau mit seinen krummen Gassen aus, als 1594 Graf Philipp Ludwig II. zur Regierung kam, der bedeutendste Landesherr, den die Geschichte der Grafschaft Hanau-Münzenberg aufzuweisen hat. Die Befestigungsanlagen der Altstadt wurden mit Rondellen verstärkt. Südlich der Altstadt wurde die Neustadt Hanau erbaut. Sie hatte einen geometrisch als Wappenschild mit schachbrettartigem Straßenraster konstruierten Grundriß. Die Residenz wurde damit um das Dreifache erweitert. Umgeben wurde alles von den mächtigen Festungsanlagen des 17. Jahrhunderts.

 

Märtestag

Anfang des 15. Jahrhunderts hatte der Bi­schof von Mainz als Vormund die Herr­schaft in der Stadt; vorübergehend allerdings nur. Doch der Gottesmann hätte Hanau ger­n auf Dauer in sein Bistum einverleibt und plante eine militärische Besetzung. Pünktlich um 9 Uhr am Martinstag des Jahres 1419, der damals „Märtestag“ hieß. Indessen bekamen Hanauer Bürger Wind von der Sache und verhinderten das Neun‑Uhr‑Läuten an jenem Tag.

Das Ausbleiben des Signals verwirrte die Mainzer ‑ und Graf Philipp Ludwig eilte aus Windecken herbei, um nun seinerseits die Stadt wieder in Besitz zu nehmen. Als Dank für diese Tat wurde seither jedem Altstadtbürger alljährlich zum Martins­tag im Fronhof ein Maß Wein aus­ge­schenkt. Dieser Brauch erhielt sich mehr als 400 Jahre lang, bis 1830. Heute lebt er wieder auf durch die Märteswein-Vereinigung, die in Erinnerung an diesen Brauch jährlich einen „Märtes­wein“ vorstellt.

Am 11. Novem­ber 1994  gründete sich in Hanau die Märtes­wein‑Vereinigung mit rund 30 Mitgliedern. Die Märteswein‑Vereinigung hat es sich zum Ziel gesetzt, Kulturschätze durch eigene Mittel für Hanau zu sichern und später in öffentlichen Besitz zu über­führen.  Das ist dem Verein seither in einigen Fällen gelungen, so unter anderem beim Erwerb eines wichtigen Gemäldes des Ha­nauer Malers und Akademiedirektors Friedrich Karl Hausmann 1996 oder eines seltenen Silberbechers aus einer Hanauer Werkstatt des 17. Jahrhunderts. Auch ein Monumentgemälde von Wilhelm Kohlbe­cher aus den 30er Jahren des 20. Jahrhun­derts, das früher in der amerikanischen Pionierkaserne hing, ließ die Märteswein­-Vereinigung gemeinsam mit dem Ge­schichtsverein restaurieren.

Im Jahr 2003 ha­ben die Mitglieder zwei historische Bücher in hebräischer Schrift angekauft, die in im 17. und 18. Jahrhundert in Hanau gedruckt wurden. Sie haben die Bücher  bei einem New Yorker Antiquar zum Preis von rund 3000 Dollar erworben, die demnächst der Stadt übergeben werden sollen - ein passender Zeitpunkt, feiert Hanau 2003 doch neben dem Altstadtjubiläum auch 400 Jahre Judenstättigkeit.            

Die beiden Bücher könnten nach Wunsch des Vereins einen Anstoß geben, sich künftig stärker mit einem eher unbekannten Kapitel Hanauer Geschichte zu befassen: Denn die Stadt war im 17. und 18. Jahrhundert ein Zentrum für den Druck jüdischer Literatur, die von Hanau aus in alle Welt verbreitet wurde. In den historischen Beständen hat sich diese einstige Blütezeit aber bislang kaum niedergeschlagen: Gerade ein Buch in hebräischer Schrift befindet sich in der Stadtbibliothek ‑ dabei sind in 200 Jahren rund 300 Titel erschienen. In Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Museum Frankfurt sollen die erworbenen Werke - beides theologische Schriften ‑ übersetzt werden.

„Wir wollen Dinge nur anschieben im kulturellen Leben der Stadt, ohne kommerzielle Interessen und auch ohne den Wunsch, eine eigene Sammlung anzulegen“, erklärt Helmut Geyer, Vorsitzender der Märteswein‑Vereinigung. Leider vermißt er eine Unterstützung durch das Kulturbüro  der Stadt, der Wunsch nach Gesprächen über die Gestaltung der Feier­lichkeiten zum Doppeljubiläum 750 Jahre Hanauer Altstadt und 400 Jahre Judenstättigkeit wurde nicht beachtet.

Nun ist der Vorstand selbst aktiv gewor­den: Am 11. November soll an historischer Stätte im Fronhof der traditionelle Märtes­wein ausgeschenkt werden, außerdem der Pranger in Form einer Steinplatte an sei­nem angestammten Platz wieder aufle­ben. Einstmals stand er auf dem Altstäd­ter Markt vor dem Goldschmiedehaus. Auch wird der Verein wieder selbst die Verleihung des Darstellerpreis der Brüder‑Grimm‑ Märchenfestspiele übernehmen.  Für einige Jahre hatte das der Förderverein des Festivals übernommen.  Die Auszeichnung soll jährlich ei­nem Schauspieler oder einer Schauspiele­rin im Rahmen der Märchenfestspiele überreicht werden.

Wer sich bei der Märteswein‑Vereini­gung engagieren möchte, kann sich bei Hans Katzer vom Vorstand melden, die Te­lefonnummer: 06181 / 663054 oder 249247.

 

Neustadt 1597

Graf Philipp Ludwig II. trieb die Gründung der Neustadt voran und privilegierte nach 1600 auch eine Judengemeinde. Es war eine der ersten Regierungshandlungen des Grafen, daß er dem reformierten Glauben im Sinne des großen Genfer Reformators Calvin zum Siege verhalf. Seit seinen Studienjahren in Herborn und Heidelberg hing er ihm mit ganzer Seele an. Die schwere Verfolgung des Protestantismus in den ebenfalls kalvinistischen Niederlanden hatte zur Folge, daß schon im 16.  Jahrhundert viele Wallonen und Holländer ihre Heimat verließen, um sich ein neues Vaterland zu suchen. Ein Teil vor ihnen begab sich unter Führung des Johann von Lasko und Valerandus Polanus nach Deutschland und ließ sich in Frankfurt am Main nieder.

Jedoch auch hier - wo  man ganz und gar dem lutherischen Augsburger Bekenntnis anhing - regte sich bald die Unduldsamkeit gegen die Fremden, denen man schließlich sogar die bisherige freie Religionsausübung in der ihnen überlassenen Weißfrauenkirche untersagte, obwohl Melanchton und die Marburger theologische Fakultät für sie ein gutes Wort einlegten. Aber die spießbürgerlichen Patrizier der freien Reichsstadt fürchteten ja weniger für ihr Luthertum als für ihr Geschäft durch die Konkurrenz der rührigen Niederländer und fühlten sich deshalb erleichtert, als diese es vorzogen, dem ungastlichen Frankfurt den Rücken zu kehren.

Nichts lag für sie näher als das religionsverwandte Hanau, zumal da dort der junge Graf Philipp Ludwig II. eben Katharina Belgica geheiratet hatte, die dritte Tochter des berühmten niederländischen Freiheitskämpfers Wilhelm von Oranien, die den Landflüchtigen mit herzlicher Anteilnahme entgegenkam.

Schon vor dem Jahre 1593 hatten sich niederländische Familien in Hanau niedergelassen, wo sie in der „Goldenen Hand“ in ihrer Muttersprache und nach kalvinistischem Ritus Gottesdienst hielten. Durch sie auf das Hanauer Asyl aufmerksam gemacht, traten ihre Frankfurter Glaubensgenossen mit dem Grafen in Unterhandlungen, der ihnen am 27. Januar 1597 einen Plan vorlegen ließ, nach dem er ihnen neben seiner Residenz Hanau eine neue Stadt anzulegen und zu befestigen versprach, wenn sich eine genügende Zahl Niederländer verpflichte, sich in Hanau anzukaufen oder Häuser zu bauen.

Jetzt machten aber nicht nur die Frankfurter Ratsherren Schwierigkeiten, weil man einsah, daß es töricht war, den betriebsamen Niederländern den Aufenthalt dort zu verleiden, sondern auch die Hanauer Ratsherren, die die Fremden nicht als Nachbarn haben wollten. Doch ließ sich Philipp Ludwig II. nicht von dem einmal gefaßten Plan abbringen. Er unterschrieb am   1. Juni 1597 die sogenannte „Capitulation“. Darin bot er aus religiösen Gründen verfolgten Calvinisten, Flamen und Wallonen aus den damaligen „Spanischen Niederlanden“ eine Heimat vor den Toren Hanaus. „Nach Steuerangaben“ zogen 200 Familienoberhäupter nach Hanau. Die dazugehörigen Familien und die Nicht-Steuerzahler sind allerdings zahlenmäßig nicht bekannt.

In dem noch heute gültigen Gründungsdokument der Wallonischen und Niederländischen Gemeinden (die sich erst 1960 zusammenschlossen) verpflichteten sich die Flüchtlinge zum eigenwirtschaftlichen Handeln wie dem Städtebau. Unter ihnen befanden sich reiche Kaufleute und unternehmungslustige Industrielle.

Sie erhielten im Gegenzug das Recht zur freien Religionsausübung für alle Zeiten zugesichert und die Genehmigung zum Bau einer Kirche. Sie durften sich ihre Pfarrer und Lehrer selbst wählen, erhielten die Gewerbefreiheit, brauchten keine Frondienste zu leisten und bekamen auch sonst noch Erleichterungen aller Art. Philipp Ludwig versprach ihnen ferner, einen Kanal zum Main mit einem Kran zu erbauen und ein Marktschiff für sie nach Frankfurt fahren zu lassen.

 

Nun begann südlich der Altstadt eine rege Tätigkeit. Das Gelände wurde vermessen, die Straßenfluchten wurden festgelegt, die Stadtviertel abgesteckt, und auch die Pest, die damals durch das Land zog, hielt das große Werk nicht auf. Das erste Haus, das vollendet wurde, war das von Georg de Behaigne erbaute „Paradies“ (heute Markt 7). Als der Graf in jungen Jahren im Jahr 1612 starb, waren bereits 237 Plätze bebaut, 1618 waren 364 Häuser fertig. Welch ein Unterschied zwischen der Altstadt mit ihren winkeligen Gassen und der Neustadt mit ihren sich rechtwinklig schneidenden, breiten Straßen und großen Plätzen. Das „städtebauliche Novum“ vor den Toren Alt-Hanaus war die erste planmäßig angelegte Stadt in Deutschland (vor Mannheim, Erlangen-Neustadt und Neu-Isenburg). Als Grundschema entwarfen die Calvinisten ein Rechteckraster von Straßen und Baublöcken. Vorbilder waren Planstädte des 16. Jahrhunderts wie La Valletta auf Malta und Willemstad in Brabant.

In der Zeit von 1600 bis 1608 entstand die einmalige Doppelkirche an der Französischen Allee, die unter e i n e m Dach die französisch sprechenden Wallonen und die holländisch sprechenden Niederländer vereinigte. In sechs je vier bis fünf Meter hohen Stockwerken türmte sich das Dach, das Alt- und Neu-Hanau, weithin sichtbar, überragte.

Nebenher ging die Errichtung der neuen Stadtmauer, die nach den Entwürfen des berühmten Kriegsbaumeisters Daniel Speckle aus Straßburg erbaut wurde. Im Jahre 1619 wurde sie vollendet, gerade noch zur richtigen Zeit, denn schon verheerte der 30 jährige Krieg Deutschlands Gaue. Fünf Tore führten aus der Neustadt ins Freie: Das Frankfurter-, Kanal-, Steinheimer, Nürnberger- und Mühltor. Zur Belebung des Handels wurde ein Kanal angelegt, der aus dem Main bis zum Heumarkt führte. Hier befanden sich ein geräumiges Becken zur Aufnahme der Schiffe, ein Kran und die Stadtwaage.

Durch gräfliche Verordnung vom 9. April 1601 erfolgte die Einsetzung eines Neustädter Stadtrates. Seine Sitzungen fanden bis 1615 in verschiedenen Privathäusern am Markt statt, seit diesem Jahre in einem neben dem jetzigen Rathause gelegenen Hause, seit 1733 endlich in dem damals vollendeten Neustädter Rathaus.

Ihre Gründung war auch städtebaulich eine Großtat: drei große Plätze, regelmäßige und breite gepflasterte Straßenzüge, die stolzen Gebäude der Handelsherren, das Rathaus zeugen von Weitblick, Aufgeschlossenheit und Gestaltungsgabe ihrer Erbauer.

Neue Handwerksberufe und Gewerbe kamen mit den Emigranten nach Hanau. In der Wirtschaftsgeschichte Hanaus trat nun ein völliger Umschwung ein. Neben den Altstädter Bauern wohnten jetzt die gewerbefleißigen, welterfahrenen Neustädter Kolonisten, die aus ihrem Gemeinwesen eine Handels -und Industriestadt fast im modernen Sinn machten und mit den Produkten ihrer Textil-, Tabak-, Gold- und Silberindustrie, ihrer Buchdruckereien und Fayencefabrik auf deutschen Märkten und Messen und im Ausland den guten Ruf ihrer hanauischen zweiten Heimat verbreiteten.

So entstand durch den Fleiß und den Unternehmungsgeist der zugewanderten calvinistischen Handwerker, Kaufleute und Goldschmiede trotz allerlei Widerstände der Innungen, der Räte von Alt-Hanau und Frankfurt mit der tatkräftigen Unterstützung des Grafen und seiner Gattin die Neustadt, mit einer vorbildlichen Verwaltung und einer in ihrer Existenz gesicherten Einwohnerschaft. Die Neustadt Hanau wurde gar bald zu einem Gemeinwesen von wirtschaftlicher und kultureller Bedeutung im gesamten Rhein-Main-Gebiet. Aus dem Kinzigstädtchen wurde die Mainstadt Hanau.

„Die Doppelgründung der protestantischen Flüchtlingsgemeinden und ihrer Stadt „Neu Hanau“ war ein wichtiges Datum der europäischen Freiheitsgeschichte und eine erfolgreiche Manifestation evangelischer Freiheit gegenüber dem weitanschaulichen Obrigkeitsstaat“, urteilt Walter Schlosser, seit 1979 Pfarrer der Wallonisch-niederländischen Gemeinde.

Doch die Gegnerschaft zwischen der Alt- und Neustadt Hanau vererbte sich von Geschlecht zu Geschlecht, weil sich die Unterschiede der Nationalitäten, des Volkscharakters, der Sprache und des wirtschaftlichen Lebens nicht von heute auf morgen überbrücken ließen. Nicht nur Festungswerke trennten Alt- und Neustadt voneinander: bis ins 19. Jahrhundert hinein waren beide Städte selbständig, hatten ihre jeweils eigene Verwaltung, ihre eigenen Räte und Bürgermeister. Erst 1767 wurden die Befestigungsanlagen zwischen Altstadt und Neu-Hanau aufgegeben, im Jahre 1833 wurden auch die Verwaltungen zusammengelegt. Erst 1835 wurde die Vereinigung der beiden Städte in verwaltungsrechtlicher Hinsicht vollzogen, ohne daß die Lösung aller Differenzen gelungen wäre. Es ist das Verdienst des umsichtigen Bürgermeisters Eberhard gewesen, die Kluft zwischen den beiden Gemeinden zu überbrücken. Als eine  gemeinsame Stadtgemeinde wurden die Stadtrats-Sitzungen nunmehr im Neustädter Rathaus abgehalten.

 

Niederländer und Wallonen 1597                                    

Viele hundert Kilometer legten die wegen ihres protestantischen Glaubens verfolgten Hugenotten und Waldenser durch Europa zurück. Die Erklärung des Namens „Hugenotten“ sei bis heute umstritten. Seit etwa 1560 lasse sich die Verwendung des Wortes „huguenot“ als Negativbezeichnung für französisch-reformierte Christen in der Gegend um Tours an der Loire nachweisen. Erst später sei dann durch eine Umbewertung aus dem ursprünglichen Schimpfwort eine positive Eigenbezeichnung geworden.

Die Flüchtlinge kamen in Wellen. Bis zu 50.000 sollen es gewesen sein, die im ausgehenden 17. Jahrhundert nach Deutschland einwanderten. Sie kamen aus Frankreich oder Italien in ein Land, das nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618 bis 1648) zu weiten Teilen verwüstet war. Auf diesem Territorium suchten Hugenotten und Waldenser Schutz vor Verfolgung und Glaubensfreiheit.

Der Kulturwanderweg „Hugenotten- und Waldenserpfad“ folgt den Spuren von Exil und Integration. Der 1.800 Kilometer lange Fernwanderweg führt durch traumhafte Landschaften. Er beginnt auf französischer Seite in dem kleinen Ort Poet Laval in Südfrankreich und führt bis ins nordhessische Bad Karlshafen. Den gleichen Exilwegen folgten auch die reformierten Waldenser aus den Tälern des Piemonts.

Der Weg führt durch die französischen Alpen, über Genf in die Schweiz und entlang des Schweizer Jura über das Mittelland nach Schaffhausen. Der Exilweg der Waldenser vereinigt sich kurz vor der schweizerischen Grenze mit dem Weg der Hugenotten. Am Ostrand des Schwarzwalds entlang erreicht der Weg den Kraichgau, verläuft dann über den Neckar in den Odenwald und bis in das Rhein‑Main-Gebiet. Von dort geht es weiter durch den Taunus, die Mittelgebirgslandschaften an der Lahn, durch den Burgwald und den Kellerwald nach Nordhessen in Richtung Marburg und schließlich Bad Karlshafen.

Hanau war einer ihrer Zufluchtsorte. Auch in Hanau siedelten sich im 18. Jahrhundert über 70 hugenottische Familien an, die in der Grimm-Stadt eine neue Heimat fanden. Ihre Gottesdienste führten sie in der Wallonisch-niederländischen Kirche durch. Mit ihren Fertigkeiten trugen sie entscheidend zum wirtschaftlichen und sozialen Profil Hanaus bei. Kaum ein anderes Bundesland wurde durch die Einwanderung von Franzosen, Flamen, Nie­derländern und Wallonen so geprägt wie Hessen. Hanau öffnete mit der Gründung der Neustadt 1597 die Tore für die Verfolgten und garantierte ihnen uneingeschränkte Religionsfreiheit. Durch die Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 kamen später rund 70 hugenottische Familien aus Metz und Umgebung in die Brüder-Grimm-Stadt, im Bürgerbuch als „Refugies“ vermerkt. Sie trugen entscheidend zum wirtschaftlichen Profil und vor allem auch  zum Techniktransfer der Stadt bei.

Für die Brüder-Grimm-Stadt war das Grund genug, Mitglied im neu gegründeten nationalen Trägerverein für den Europäischen Kultur-Fernwander­weg „Hugenotten- und Waldenserpfad“ mit Sitz in Neu-Isenburg zu werden, neben Offenbach, Neu-Isenburg, Mörfelden-Walldorf und Frankfurt.

Mit den örtlichen Wandervereinen wurde bereits Konsens erzielt, daß der Wanderpfad von Neu-Isenburg über Offenbach kommend bei den Mühlheimer Steinbruchseen auf Hanauer Gemarkung geführt wird.  Über die Kesselstädter Schleuse werden die Wanderer über das Schloß Philippsruhe (Historisches Museum) in die Innenstadt (Wallonisch-niederländische Kirche) und dann über die Bulau Richtung Gelnhausen geleitet.

In Hanau fand  im Oktober 2010 eine Themenführung statt und der Pfad wurde in der Wallonisch-niederländischen Kirche eröffnet. In Hessen ist der Werg rund 750 Kilometer lang. Hier fanden etwa 4.000 Zugewanderte eine neue Heimat. Wanderer sollten mit Hinweistafeln und einem speziellen Logo auf das Thema aufmerksam gemacht werden. Der Fernwanderweg solle eine hohe kulturhistorische und wandertouristische Qualität erhalten und sich zu einer nachhaltigen Tourismusmarke entwickeln.

Es ist geplant, bald eine Auszeichnung des Weges als „Europäischer Kulturweg“ durch den Europarat zu erwirken. Durch räumliche und fachliche Vernetzungen in den Bereichen Wandertourismus, Gastronomie, Kultur und Natur werde eine nachhaltige Stärkung und Zukunftsfähigkeit der beteiligten Regionen angestrebt. Hanau darf als wichtiger Hagenotten- und Waldenserort in der Route nicht fehlen.

Die Partner in Italien, Frankreich, der Schweiz und Deutschland wollen dazu beitragen, daß Flucht, Exil, Toleranz und Integration einen Schwerpunkt in gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen bilden. Das historische Kulturerbe der Hugenotten und Waldenser in seiner Bedeutung für die kulturelle Identität Europas soll im öffentlichen Bewußtsein verankert, breiten Bevölkerungskreisen zugänglich gemacht und den Mitgliedern dazu Instrumentarien an die Hand gegeben werden.

 

Die ersten Goldschmiede in Hanau 1597

Unter den elf Neubürgern, die den Vertrag vom 1. Juni 1597 über die Gründung der Neustadt  unterzeichneten, befanden sich nicht weniger als vier, die man später als Juwelier bzw. als Goldschmiede nachweisen kann. Wie am Anfang des neuen Jahrhunderts die Kirchenregister der niederländisch-wallonischen Gemeinde erkennen lassen, waren Goldschmiede indessen nur unter den Flamen, nicht aber unter der französisch sprechenden Neuhanauer Bevölkerung vertreten. Deutschstämmige Niederländer sind es also gewesen, die das Gold- und Silberschmiedehandwerk in Hanau bodenständig gemacht haben.

Das ergibt sich aus der Zunftordnung, die sich die Hanauer Gold- und Silberschmiede im Jahre 1610 von der gräflichen Regierung genehmigen ließen und in der bodenständig-zünftlerische Bestimmungen neben solchen enthalten sind, die nur in dem freiheitlichen Klima der Niederlande mit ihrer seit dem 15. Jahrhundert blühenden gewerblichen Wirtschaft entstanden sein können. Die Zahl der in Neuhanau tätigen „Gold- und Silberschmiede“ stieg auf 33 im Jahre 1613 an.  Ihre Erzeugnisse erreichten auch in künstlerischer Beziehung eine beachtliche Höhe, wie der Hanauer Ratsbecher zeigte, der leider in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts von kurzsichtigen Stadtvätern für 20.600 Mark an den Frankfurter Baron Carl von Rothschild verkauft wurde und heute unseres Wissens verschollen ist.

Durch den Dreißigjährigen Krieg aber erhielt das neue Gewerbe einen Schlag von solcher Nachhaltigkeit, daß es sich während des ganzen restlichen Jahrhunderts davon nicht mehr erholen konnte. Um 1700 war das Gewerbe der Goldschmiede in Hanau fast ganz ausgestorben, auch die Silberschmiede waren nur noch in geringer Anzahl vorhanden.

Eine Neubelebung brachte das 18. Jahrhundert, und abermals war der Aufschwung auf landesherrliche Initiative zurückzuführen. Merkantilistische Gesichtspunkte waren es, die als bald nach dem Übergang der Grafschaft Hanau-Münzenberg an Hessen-Kassel den Landgrafen Wilhelm VIII. veranlaßten, es anderen Fürsten und Herren gleichzutun und ein Freiheitspatent zu verkünden. Nach Anpreisung der für die „Ansiedlung von Industrie“ günstigen Lage Hanaus wurde allen, die sich hier niederlassen wollten, absolute Glaubens- und Handelsfreiheit, Steuerfreiheit für zehn Jahre und freier Abzug ohne Nachsteuer für den Fall, daß es jemandem in Hanau, nicht gefiele, zugesichert. Und in der Tat, das Patent sprach weite Kreise an.

Neben Zuwanderern aus allen Teilen Deutschlands stellten sich solche aus Frankreich in besonders starker Zahl ein. Unter letzteren befanden sich wieder zahlreiche Gold- und Silberschmiede, die in Hanau unverzüglich ihre Produktion aufnahmen und sehr schnell den Erwerbszweig mächtig voranbrachten. Im Jahre 1772 wurde die Zeichenakademie als Bildungsstätte für den Nachwuchs gegründet.

Im Gegensatz zu den Erzeugnissen der alten Niederländer verlegte man sich jetzt vorzugsweise auf die Herstellung von sogenannten Bijouterie- oder Galanterieware (Dosen, Tabatieren, Degengriffe, Erinnerungsstücke aller Art, u. ä.). Aus dem vom Meister geführten Handwerksbetrieb wurde eine Industrie, und als es schließlich noch gelang, Auslandsaufträge nach Hanau zu ziehen, wurde die Bijouterie-Industrie für die Stadt Hanau, für die Stadt des edlen Schmucks, zugleich zu einem Wirtschaftsfaktor ersten Ranges.

Heute fällt es schwer sich vorzustellen, daß bei Beginn des Ersten Weltkrieges die Zahl der in den Hanauer Gold- und Silberwarenfabriken Beschäftigten mehr als 3.000 betrug. In den Jahren vor und nach der Jahrhundertwende erlebte das Hanauer Edelmetallgewerbe eine seiner bedeutendsten Blütezeiten. So beschäftigten beispielsweise die 59 Betriebe der Goldwarenindustrie 1.833 Personen, davon 220 Lehrlinge und 89 Lehrmädchen. In 19 Betrieben der Silberwarenindustrie fanden 524 Personen Beschäftigung. Obwohl sich schon seinerzeit der Zug zum großen Betrieb stark bemerkbar machte, überwogen doch bei weitem die kleineren und mittleren Werkstätten mit durchschnittlich 30 Beschäftigten, in denen noch echte handwerkliche Arbeit getrieben werden konnte.

Im Jahre 1632 kaufte König Gustav Adolf von Schweden in Hanau ein Brillantkollier für seine Gemahlin Eleonore von Brandenburg. Im Jahre 1814 notierte Goethe: „Und so läßt sich mit Wahrheit behaupten, daß Hanau Arbeiten liefert, die man weder in Paris noch in London zu fertigen weiß, ja, die nicht selten jene des industriösen Genf übertreffen.“

Der „Hanauer Stil“ ist ganz einfach das Handwerk, die Handwerkskunst, ist das Fortleben der Tradition, die individuelle Arbeit. Wenn anderswo alles maschinell und per Fließband geht, in Hanau werden der Goldschmuck, das Silberzeug noch mit der Hand gearbeitet. Es gibt noch Familienbetriebe, und es gibt noch Goldschmiede, zu denen geht man hin und erzählt ihnen, wie der Ring, den man sich wünscht, ungefähr aussehen soll. Und so machen sie ihn.

Den Titel „Schmuckstadt“ hatte Hanau schon viel früher, als es noch viele reiche und zugleich vornehme Leute gab. Wenn sie während ihres Urlaubs in den Taunusbädern residierten, bekamen die Damen Schmuck aus Hanau. Wenn die russische Zarenfamilie Verwandtschaftsbesuche in Darmstadt oder Bad Homburg machte, hatten die Hanauer Goldschmiede alle Hände voll zu tun.

Der französische Einfluß konnte nie die einheimische Eigenart überschwemmen. Mitte des 18. Jahrhunderts begann auch der Aufschwung der Silberschmiede. Der Silberschmied August Schleißner, der in Paris gelernt hatte, brachte Hanau den typischen Stil: handgeschlagenes, getriebenes, reich ornamentiertes Silberzeug. Individualismus gegen Industrialisierung war seine Maxime. Sie trifft für Hanau noch immer zu.

 

Kaiserbesuch 1612

Am 10. Januar 1612 ist Rudolf gestorben, der Kaiser des deutschen Reiches römischer Nation. Am Montag, dem 11. Mai 1612, ist in  Frankfurt am Main von den Kurfürsten und Fürsten ein Wahltag abgehalten worden  und am 3. Juni Herzog Mathias, König in Ungarn und Böhmen, zum Kaiser des deutschen  Reiches römischer Nation gewählt worden. Am Sonntag, dem 14. Juni ist er in der Pfarr- und Stiftskirche St. Bartholomäus in Frankfurt gekrönt worden.

Am Dienstag, dem 23. des Monats ist Kaiser Mathias mit seiner Frau Anna durch die Altstadt und Neustadt von Hanau  gereist. Dabei hat er so viele Wagen, Kutschen und Pferde und Fußvolk bei sich gehabt, daß es von 9 Uhr bis 10 Uhr gedauert hat, bis sie alle hier durch kommen sind. Das Mittagsmahl haben sie in der Neustadt gehalten in der Gaststätte, „Goldene Krone“.  (Randbemerkung: Am 10. März 1619 ist der Kaiser gestorben).

[Der Herausgeber des Hanauischen Magazins schreibt dazu, das Haus „W. K.“ (es steht aber eindeutig „G.K.“ dort) sei die am Neustädter Markt gelegene sogenannte „Goldene Schwanen-Apotheke“ gewesen und man finde dort noch Merkmale, daß der besagte Kaiser dort eingekehrt ist und Tafel gehalten hat. Dann wäre die Apotheke früher ein Gasthaus gewesen; zumindest gab es in der Neustadt einen „Kronenwirt“] (Chronik Appel).

 

Wilhelm V.  1627 bis 1637

Im  Internet steht über ihn: „Wilhelm der V., genannt der Beständige, hatte von seinem Vater Moritz nach dessen Abdankung 1627 ein wirtschaftlich ruiniertes, total verschuldetes, militärisch besiegtes und damit politisch bedeutungsloses Land übernommen. Wilhelms diplomatische und militärische Fähigkeit brachte Hessen wieder politische Anerkennung, nicht zuletzt durch Bündnisse mit Schweden und Frankreich gegen den katholischen Kaiser und dessen Verbündete.“

Wilhelm V. steht nicht nur aus historischer Perspektive im Schatten seiner Frau Amalia Elisabeth. Er wird auch noch in ihrer Heimat verkannt, gerade da, wo er gerechterweise als Befreier gefeiert werden sollte, eben in Hanau. Unter anderem entsetzte Wilhelm mit seinem Heer am 13. Juni 1636 in Verbindung mit schwedischen Truppen unter General Lesle die von dem kaiserlichen General Lamboy seit September 1635 belagerte und mit Flüchtlingen aus dem Umland überfüllte Festungsstadt Hanau. Während der Belagerung waren 22.000 Menschen innerhalb der Bastionen umgekommen, überwiegend durch Hunger und die Pest. Doch das seither alljährlich am 13. Juni in Hanau gefeierte Gedenken läßt eher auf eine Massen-Schizophrenie schließen, denn es heißt heute nicht nach dem Namen des Befreiers, sondern nach dem des Belagerers - „Lamboyfest“.

 

Amalie Elisabeth 1637 bis 1651

Amalie Elisabeth von Hanau-Münzenberg, Landgräfin von Hessen-Kassel, war eine schillernde Persönlichkeit. Das jedenfalls läßt sich mit Gewißheit sagen zu der Frau, die vor gut 400 Jahren - am 29. Januar 1602 - in Hanau geboren wurde als Tochter des Grafen Philipp Ludwig II. von Hanau-Münzenberg und seiner Gemahlin Katharina Belgica, einer Tochter des Prinzen Wilhelm von Nassau-Oranien, des Statthalters der Niederlande.

Ihre Biographie liest sich auch wie eine Kurzfassung des 30jährigen Krieges. Bereits mit 15 Jahren wird Amalia Elisabeth mit dem böhmischen Großgrundbesitzer Smiricki verlobt, ,,nachdem ihre Schwester ihre Verlobung mit diesem gelöst und eine Ehe abgelehnt hatte“. Smiricky ist 1618 „einer der sechs Defenestranten“ beim so genannten Prager Fenstersturz gewesen und hingerichtet worden.

Ein Jahr später heiratete Amalie den gleichaltrigen Landgrafen Wilhelm V. von Hessen-Kassel. Die Ehe ist glücklich gewesen, wovon zwölf Geburten in 15 Jahren zeugten. Doch der Landgraf stirbt 1637, nachdem er auf Bitten seiner Frau am 13. Juni 1636 mit einem hessisch-schwedischen Heer Hanau vom kaiserlichen General Lamboy befreit hatte. Das relativ kleinen, aber schlagkräftige und deshalb in ganz Europa gleichermaßen gefürchtete wie begehrte Hees hat sie  mit den Regierungsgeschäften in Vormundschaft für ihren Sohn. Die junge Witwe übernimmt als „Vormünderin“ für ihren Sohn die Regierung, leitet das Land mit großer Umsicht und Klugheit.

Der Tod des Landgrafen hatte Kaiser Ferdinand hoffen lassen, daß seine Witwe Amalie nun den Frieden anstreben würde. Er hatte seine Rechnung ohne die unbezähmbare Persönlichkeit der Landgräfin gemacht, eine Frau von ungeheurer Entschlossenheit und hohem Verstand. Sie hatte auch ihre Grundsätze. Sie war eine begeisterte Calvinistin, aufrecht und glaubenstreu; sie hegte auch ein starkes dynastisches Gefühl und hielt es für ihre Pflicht, den Besitz ihres Gemahles ihrem Sohn nicht um einen Viertelmorgen Landes vermindert, sondern wenn möglich vergrößert zu hinterlassen.

Die Landgräfin war maßgeblich am Zustandekommen des Westfälischen Friedens beteiligt. Sie

konnte neben der Anerkennung des Protestantismus in Hessen (mit Gleichstellung von Reformierten und Lutheranern) und etlichem Landgewinn zudem die Anwartschaft auf Hanau als Erfolg verbuchen: Mit einem familiären Erbvertrag von 1645 hatte sie das Recht der Primogenitur für ihre Nachkommen gesichert, wodurch - sozusagen als segensreiche Spätfolge nach dem Aussterben der Hanauer Linie - im Jahre 1736 die Grafschaft Hanau-Münzenberg komplett an Hessen-Kassel fiel. Am 20. September 1650 dankte Amalie Elisabeth ab und übergab die Regierung ihrem Sohn Wilhelm VI. Keine 50 Jahre alt, ist sie am 8. August 1651 in Kassel gestorben.

 

Dr. Eckhard Meise, Historiker und Ehrenvorsitzende des Hanauer Geschichtsvereins 1844, nennt sie unverblümt „eine Kriegstreiberin“. Er beharrt auf diesem Urteil auch gegen Angriffe aus einem eher feministisch geprägten Lager, das in Amalie eine starke, emanzipierte Frau sieht, deren Verdienste und geschichtliche Bedeutung von der nachfolgend beherrschenden Männerwelt entweder kleingeschrieben oder gar schlicht verdrängt und verschwiegen worden sei - durch die Jahrhunderte bis heute.

In jüngster Zeit indes beschäftigt man sich wieder mit der aus grauer Vorzeit matt herüberschim­mern­den Herrscherin. Was unter anderem mit Jubiläen zu tun hat: 1997 war die 400 Jahre zurück liegende Gründung der Hanauer Neustadt durch Graf Phillip Ludwig II. zu feiern; in diesem Jahr 2003 gedenkt die Brüder-Grimm-Stadt sowohl, der Verleihung von Stadt- und Marktrechten vor 700 Jahren - also der eigentlichen Altstadt- „Geburt“ am 2. Februar 1303 -als auch der so genannten Judenstättigkeit, mit der wiederum Graf Phillip Ludwig II. - vor 400 Jahren (am 28. Dezember 1603) eine Neuansiedelung von Juden in Hanau ermöglicht hatte. Dieser Neustadtgründer und Judenansiedler war der Vater unserer schillernden Heldin. Und sie hatte eine nicht minder bedeutende Mutter: Katharina Belgica, Tochter des Prinzen Wilhelm von Nassau-Oranien, Statthalter der Niederlande.

Ihre Büste stehe in der „Walhalla“ über Donaustauf bei Regensburg. Damit sei sie eine der drei oder vier Frauen - unter 120 „rühmlich ausgezeichneten teutschen Männern“ - neben der österreichischen Kaiserin Maria Theresia und der russischen Zarin Katharina der Großen. Friedrich Schiller sagte von ihr: „Sie war durch eine liebenswürdige Bildung und durch die Grazie ihrer Sitten die Zierde ihres Geschlechts, durch häusliche Tugenden das Muster eines guten Weibes, durch Weisheit, Standhaftigkeit, durch Verstand und Mut eine große Fürstin.“

Das alles sei überhaupt kein ernsthafter Widerspruch, kontert Eckhard Meise aktuell. Niemand zweifle an der persönlichen Größe und dem politischen Gewicht der Hanauerin. Aber sie habe nun mal nachweislich dazu beigetragen, daß jener große Krieg in der Hälfte des 17. Jahrhunderts dermaßen verlängert worden sei: „Sie war eine bedeutende Frau, aber aus heutiger Sicht etwas kritisch, wie gesagt, eine Kriegstreiberin.“

Sie eroberte das Land zurück und erwarb durch Umsicht und Tatkraft beträchtliche Gebiete. Sie setzte im Westfälischen Frieden die reichsrechtliche Anerkennung des reformierten Bekenntnisses durch.

Daß Amalie Elisabeth sich den Forderungen des Kaisers widersetzte, hatte auch mit Erbstreitigkeiten zwischen den hessischen Linien Kassel und Darmstadt um einen Teil Oberhessens mit Marburg zu tun. Sie hielt den Kaiser mit falschen Versprechungen hin, schloß 1639/40 Verträge mit Frankreich, Schweden, Braunschweig-Lüneburg und trat trotz schärfster Proteste in der eigenen Heimat in den Krieg ein. So gesehen hat sich durch die Jahrhunderte bis heute durchaus nichts geändert an der Willkür der Machthabenden.

In den Folgejahren kaufte sich die Herrscherin in ganz Deutschland zwölf Rechtsgutachten zusammen, benutzte diese zur Rechtfertigung ihrer Begehrlichkeiten und eröffnete am 6. März 1645 auch noch den so genannten Hessenkrieg um das Marburger Erbe, das sie den Darmstädter Verwandten (als Lutheraner übrigens sowieso schon zu Gegnern erklärt) schließlich abjagen konnte. Mit dem Westfälischen Frieden vom 14. Oktober 1648 wurde dann nicht nur der Dreißigjährige Krieg beendet, sondern auch der schon ein halbes Jahr zuvor vereinbarte Einigungs- und Friedensvertrag zwischen den rivalisierenden Bruder-Häusern Kassel und Darmstadt sanktioniert. Womit dann auch der Hessenkrieg vorbei war.

 

Karl Wilhelm Justi gilt als der eigentliche Biograph der Landgräfin, auf den sich wiederum andere Historiker nach ihm berufen. Beispielsweise Dr. Karl Siebert anno 1919 in seinem Beitrag „Hanauer Biographien aus drei Jahrhunderten“ der Festschrift zum 75jährigen Bestehen des Hanauer Geschichtsvereins. Siebert skizziert die Lebensgeschichte unserer Heldin in einem etwas altbackenen, aber durchaus genießbaren Stil. Er macht aus seiner Verehrung kein Hehl und bleibt durchwegs in der unkritisch devoten Haltung des Untertanen. „In der Reihe tatkräftiger und geistig bedeutender Frauen, an denen Deutschland im 17. Jahrhundert nicht arm war, zählt wohl mit zu den ersten die Landgräfin von Hessen-Kassel, Amelia Elisabeth“, schrieb der Chronist (wohl gemerkt, ein Mann).  Und selbst noch die zarteste Andeutung dahingehend, auch die Fürstin wäre nicht ganz ohne Fehl und Tadel gewesen, wird in einer Phrase verpackt und ohne Inhalt belassen: „Klar und bestimmt handelte sie. und traf in ihren Anordnungen fast immer das Richtige.“

Auffallend ist die kleine Lautverschiebung im ersten Vornamen. In der Reihe tatkräftiger und geistig bedeutender Frauen zählt wohl mit zu den ersten die  Landgräfin von Hessen-Kassel, Amalia Elisabeth“, heißt es in Karl Sieberts Einleitung. Er nennt sie also nicht „Amalie“, wie von Carl Wilhelm Justi überliefert, sonder „Amalia“ - und fixiert diese Schreibweise sozusagen schlußendlich für die Annalen ihrer Geburtsstadt Hanau. Die erinnert sich ihrer großen Tochter - immerhin wenigstens das -  mit der Benennung einer Straße nach ihr in Sieberts Schreibweise: „Amaliastraße“.

 

 

Dreißigjähriger Krieg  1618 bis 1648

Die Annahme, daß das Lamboyfest als Folge der im Lamboywald um den 30. Oktober 1813 gewesenen Schlacht gefeiert würde, ist falsch. Es hat sich vom 13. Juni 1636, dem Tage der Befreiung Hanaus, überliefert, wie es in der 1886 erfolgten Beschreibung eines F. W. J. anläßlich der 250jhrigen Wiederkehrfeier heißt.  Die Befestigungen der neuen Stadt waren gerade vollendet, als der 30jährige Krieg ausbrach. Hanau wurde in den ersten Jahren nur wenig vom Kriege berührt, während das platte Land schon darunter zu leiden hatte. Katharina Belgica, die Witwe des 1612 verstorbenen Grafen begab sich selbst nach Kreuznach zum spanischen Truppenbefehlshaber, um Schonung für ihr Land zu erbitten, wenngleich die starken Befestigungen Hanaus der Stadt und Bevölkerung Schutz und Sicherheit boten.

Hanau, ein wichtiger Platz, der die Straße vom Rhein ins Frankenland beherrschte, erschien dem Kaiser Ferdinand begehrenswert. Am 1. November 1629 wurde der inzwischen an die Macht gekommene Sohn des Grafen, Moritz, aufgefordert, eine kaiserliche Besatzung aufzunehmen. Nachdem er sich zunächst geweigert  hatte und  nach einer dreimonatiger Belagerung bot er sich aber an,  in kaiserliche Dienste zu treten und drei Kompagnien Fußvolk zu werben. Nach Ableistung des Treueides wurde er zum Oberst und Kommandanten von Hanau ernannt.

Durch die Landung des Schwedenkönigs Gustav Adolf und dessen siegreiches Vordringen für die protestantischen Waffen nahmen die Dinge eine Wendung. Gustav Adolf hatte Deutschland im Siegeszug durcheilt, Tilly bei Breitenfeld besiegt, Bamberg und Würzburg eingenommen und schickte sich an, auf Frankfurt zu ziehen. Es mußte ihm viel daran gelegen sein, sich zuvor der Stadt und Festung Hanau zu bemächtigen.

Am 31. Oktober 1631 sandte er Oberstleutnant Huwald mit 6 Kompagnien Reitern und 500 auserlesenen Dragonern ab, um sich Hanaus durch einen Überfall zu bemächtigen. Sie setzten hinter dem Schloß über die Kinzig, erstiegen den Wall, öffneten das Schloßtor mit einer Petarde und drängen in die Altstadt ein, wo es in der Metzgergasse zu einem Gefecht kam. Trotz der strengen Manneszucht der schwedischen Truppen kamen Plünderungen vor.

Sodann rückten die Schweden in die Neustadt vor, nahmen den kaiserlichen Obristleutnant Bran­dis gefangen und nötigten die ihres Führers beraubten Truppen zur Waffenniederlegung. Huwald war schon am 29. Oktober von Gustav Adolf, der an dem Gelingen des Unternehmens nicht zweifelte, zum Kommandanten von Hanau ernannt worden. Am 15. November kam Gustav Adolf selbst über Steinheim nach Hanau und speiste im Schloß bei dem Grafen zu Mittag.

Der neue Kommandant Huwald ließ es sich vor allem angelegen sein, die Festungswerke zu verstärken, wobei die Kirche vom Kinzdorf und der daselbst befindliche Friedhof zum Opfer fielen. Hecken und Bäume um die Stadt wurden ebenfalls entfernt, was sich als notwendig erwiesen hatte.

Gustav Adolf fiel in der Schlacht bei Lützen. Mit seinem Tode wendete sich auch das Glück der schwedischen Waffen. Die unglückliche Schlacht bei Nördlingen am 4. September 1634 zwang Bernhard von Sachsen-Weimar, sich nach dem Rhein zurückzuziehen. Ihm folgten wie eine Herde blutgieriger Wölfe die raub- und mordlustigen Scharen der Kaiserlichen. Die letzten Tage des Septembers waren es, wo die meisten Dörfer des Hanauer Landes in Flammen aufgingen. Die Einwohner fluteten, um nur das nackte Leben zu retten, hinter die Mauern der Stadt.

Über die Greuel der Verwüstung, die Kroaten und Polacken in den blühendsten Gefilden der Wetterau anrichteten, berichtet Pfarrer und Superintendent Oräus: „Allerorten, wo sie hin kamen (nämlich die Kaiserlichen) erfüllten sie Himmel, Luft und Erde mit Feuer, Rauch, Dampf, Glut, Mord, Schand und Brand, Leid und Geschrei, daß es in den Wolken erscholl und nicht ärger hätte gemacht und erhört werden können. Fast kein Ort blieb ganz stehen, Mensch durfte sich sehen lassen. In Summa, das Land vor ihnen wie eine lustige Aue oder wie ein Paradies, nach ihnen eine wilde wüste Einöde.“

Um Hanau unter allen Umständen zu halten, ernannte Bernhard von Sachsen-Weimar am 15. September 1634 Jacob Ramsay zum Kommandanten von Hanau, den Mann, der mit seltener Umsicht, Tapferkeit und Ausdauer Hanau neun Monate lang gegen den Feind verteidigte und neben Landgraf Wilhelm V. von Hessen der Retter Hanaus genannt werden kann.

Jacob Ramsay war ein Schotte, 1589 geboren, diente zuerst in England, kam 1630 mit General Hamilton nach Deutschland und nahm als Oberst schwedische Dienste, in denen er nach der Schlacht bei Breitenfeld zum General aufstieg. Er brachte zwei Kompagnien Schotten mit. Die übrige Besatzung bestand aus dem Burgdorf’schen  blauen Regiment, zwei Kompagnien hessischer Reiter und einer von Graf Jacob Johann geworbenen Reiterschar. Mit ihnen versahen den Wachdienst auf den Wällen die bewaffnete Bürgerschaft und der Ausschuß vom Lande.

Kurz vor der Belagerung wurden auf Antrag des Bürgermeisters van der Velde neben den Bandwebern, Tuchmachern und Junggesellen auch die Bauern und die Handwerksgesellen bewaffnet. Philipp Moritz reiste am 1. September 1634, um der Kriegsgefahr zu entgehen, mit seiner Familie erst nach Metz dann nach Holland, nachdem er seinem Bruder Johann Jacob die Regierung übertragen hatte.

Bevor die Stadt von den Kaiserlichen eingeschlossen wurde, machte die Besatzung mehrere glückliche Streifzüge, teils um Proviant zu holen, teils auch, um den Kaiserlichen Schaden zuzufügen, wobei sich Graf Jacob Johann auszeichnete. In der Neujahrsnacht 1635 überfiel derselbe mit drei Schwadronen Reitern und 150 Musketieren die Kaiserlichen in Alzenau, wo 800 Pferde mit Sattel und Zeug erbeutete und viele Gefangene machte. Am 14. Mai überfiel Graf Jacob Johann in Staden ein Regiment Kroaten, wobei er mit reicher Beute und Gefangenen zurückkam. Von den Kaiserlichen fast bis an die Tore Hanaus erfolglos verfolgt, zündeten diese aus Rache die Orte Eichen und Ostheim an. Am 20. Mai unternahm die Besatzung einen Streifzug nach Gelnhausen, wobei der Oberst Hasenbein und Gemahlin sowie Offiziere und Mannschaften gefangen wurden. Außer acht Standarten wurden eine Menge Pferde und Waffen sowie die ganze Bagage von elf Kompagnien erbeutet. Bei einem vierten Streifzug nach Orb und Salmünster brachten die Schweden 80 Stück Vieh, 600 Malter Korn sowie viele andere Lebensmittel als Beute nach Hanau zurück.

Die reiche Ernte des Jahres 1635 suchte der kaiserliche Oberst Götz, der mit drei Regimentern Kavallerie in der Umgebung lag, zu verhindern, eingesammelt zu werden. In den Gemarkungen Kesselstadt, Dörnigheim und Hochstadt ließ er das Getreide anstecken oder durch Hin- und Her­reiten schleifen. Bei einem scharfen Gefecht am Siechenhaus wurde Graf Johann verwundet. Kurz darauf verließ derselbe die Stadt. Er fiel am 15.Juni 1636 beim Sturm auf Zabern im Elsaß.

Trotz allem gelang es der Bürgerschaft, unter dem Schutz der Besatzung viele Wagen voll Frucht und Heu aus dem Hanauer und Steinheimer Feld in die Stadt einzubringen, so daß im Anfang der Belagerung in der Stadt keine Not herrschte, obwohl die Einwohnerzahl durch das herein geflüchtete Landvolk weit über das Doppelte betrug. Dank der Fürsorge des Kommandanten waren selbst während der Besatzung die Getreide- und Brotpreise in Hanau niedriger als in Frankfurt.

Durch das Zusammensein so vieler Menschen brach schon im Sommer 1635 in Hanau die Pest aus, an der monatlich 70 bis 80 Menschen starben. Dies hatte nur einen Vorteil, daß die Zahl der Verzehrer geringer war und die Vorräte länger ausreichten. Fremde Bettler und Flüchtlinge - Glaubensgenossen ausgenommen - bekamen ein Stück Brot und wurden ausgewiesen.

Mit dem Beginn des Monats September wurde die Stadt durch den kaiserlichen Oberst Götz enger eingeschlossen. Die eigentliche Belagerung begann aber erst mit dem Eintreffen des Generals Lamboy im November 1635. Er umgab die Stadt mit einer Reihe von Schanzen, die zum Teil durch Laufgräben miteinander verbunden waren. Es bestanden: Die Hauptschanze auf der jetzigen Rosenau, die Blutschanze an der krummen Kinzig, die Stahl- oder Kieselschanze auf dem neuen Friedhof, die Galgenschanze zwischen dem alten Auheimer Weg und dem Hauptbahnhof, die Mainschanze, das Storchennest an der Lamboybrücke über die Kinzig und die Sternschanze im Mühlloch nächst des Wehres.

Lamboy nahm sein Hauptquartier im Steinheimer Schloß und schlug eine Brücke über den Main und eine zweite an der Stelle der nach ihm genannten Lamboybrücke über die Kinzig. Das kaiserliche Lager befand sich nordwestlich Kesselstadt zwischen Kastanienallee und der sogenannten Lache, dem Flutgraben, der den Salisberg von Kesselstadt scheidet. Mit wechselndem Glück suchten die Belagerten die feindlichen Schanzen zu zerstören. Aber was sie heute zerstörten, wurde morgen wieder aufgebaut. Bei diesen Ausfällen floß auf beiden Seiten viel Blut, auch wurde General Lamboy in einem der Gefechte am Munde verwundet.

Im Frühjahr gelang es General Ramsay, zwei für die Frankfurter Messe bestimmte Schiffe mit Lebensmitteln und Kaufmannswaren im Werte von 90.000 Gulden zu nehmen und ihre Ladung in die Stadt zu bringen. Zwei weitere Schiffe mit Speck, Tauwerk und Kugeln für die Belagerer konnten ebenfalls gekapert werden.

Zum Glück fehlte es Lamboy an schwerem Geschütz, um Bresche in die Wälle zu legen. Dagegen ängstigte er von Dezember an die Stadt durch Einwerfen von Bettelsäcken mit Pulver, Blei und Eisenstücken gefüllte Geschosse, die aus Mörsern geworfen wurden, aber wenig Schaden anrichteten. Mit dem eintretenden Frost wurde befürchtet, daß der Feind über die zugefrorenen Stadtgräben eindringen könnte, weshalb Bürger und Bauern verschiedene Male zum Aufeisen der Stadtgräben aufgeboten wurden.

So sorgsam man mit den Lebensmittelvorräten umging, so trat doch allmählich ein Mangel ein, besonders bei den Landleuten, die in die Stadt flüchteten und ihr mitgebrachtes Vieh aus Futtermangel nicht mehr erhalten konnten, getötet und verzehrt hatten. Die Not war so groß, daß man sich um das Fleisch der bei einem Ausfall getöteten Pferde riß. Hunde- und Eselsfleisch wurde auf dem Markt angeboten, Katzen als Wildpret verspeist. Bei vielen Armen bildeten ein Brei von Kleie und Kräutern, ohne Salz und Schmalz gekocht, fast noch die einzige Nahrung. Hierdurch entstanden neue Krankheiten, besonders die rote Ruhr und der Skorbut, woran viele starben.

 

Die Zahl der während der Belagerung Gestorbenen wird auf 12.000 geschätzt. Doch nicht nur die Armen litten entsetzlich unter der Not der Belagerung, sondern auch die Wohlhabenden, die in der Lage waren, für Vorrat zu sorgen, erlagen dem Druck, den der Unterhalt der Besetzung auf sie ausübte. Die gräfliche Kasse war völlig leer, da ja das Land im Besitz der kaiserlichen Truppen war. Deshalb mußten die beiden Städte, Alt- und Neu-Hanau, den Sold für die Truppen sowohl  als auch die Kosten für den Unterhalt derselben aufbringen. Da die meisten Bürger die auf sie angeschlagenen Beiträge nicht mehr zahlen konnten, nahm man ein Anlehen nach dem anderen bei den reichen Bürgern auf.

Als auch diese Hilfsmittel erschöpft waren und Oberst von Burgs­dorf auf den rückständigen Sold drückte und mit Gewaltmaßnahmen gedroht wurde, schenkte man General Ramsay eine goldene Kette im Werte von 150 Reichstalern. Nun drohten aber die Soldaten mit Plünderung, als ihnen die Bürger auf Befehl des Rates die Kost nicht mehr verabfolgten. Ramsay konnte das zuchtlose Kriegsvolk nur durch die äußerste Strenge im Zaume halten. Um das Pulver zu sparen, hatte er alles Schießen in der Stadt, ja selbst das unnötige Schießen auf den Feind verboten, worüber sogar die Soldaten spotteten. Bürger wie Soldaten waren von dem anhaltenden Wachtdienst ganz erschöpft. Hinzu kam noch daß die feindlichen Posten die Soldaten der Besatzung zum Verrat zu locken versuchten. Der Feind war seines Sieges schon so gewiß, daß die Offiziere die schönsten Häuser der Stadt bereits unter sich verteilt hatten.

Vom Januar an pflog man Unterhandlungen mit dem Feind wegen der Übergabe: Die gräflichen Diener und der Rat, um der Stadt die Greuel einer Erstürmung zu ersparen. Ramsay, um Zeit zu gewinnen. Allein sie scheiterten an der Hartnäckigkeit Lamboys, der eine Übergabe auf Gnade und Ungnade verlangte. Die Sage, daß Lamboy die Parlamentäre gegen alles Kriegsrecht habe aufhängen lassen, ist unbegründet. Eine Nachricht erzählt, Lamboy habe Ramsay während der Unterhandlung ein fettes Schwein zum Geschenk gemacht, welches dieser durch die Übersendung eines Zentners Karpfen erwidert habe.

Die Lage der Stadt wurde indessen immer bedenklicher. Kaum reichte die immer mehr zusammenschmelzende Zahl der Verteidiger noch hin, die Wälle zu besetzen, geschweige denn einen etwaigen Sturm abzuschlagen. Man schickte deshalb Boten an den Landgrafen Wilhelm von Hessen, des Grafen Schwager, die sich durch die feindlichen Linien durchschlichen und dringend um Hilfe baten. Einer derselben war Kaspar Trickel von Neu-Hanau, genannt der kleine Heinrich, ein anderer, ein Mann von Langendiebach namens Konradi.

Wilhelms Gemahlin, Amalie Elisabeth, drängte den Landgrafen, ihrer bedrohten Vaterstadt zu Hilfe zu eilen. Wilhelm zauderte anfänglich, da er mit dem Kaiser in Friedensverhandlungen stand. Endlich siegte Amaliens Fürsprache. Er ließ dem Kaiser durch einen Trompeter den Waffenstillstand aufkündigen und brach, mit dem schwedischen General Lesle an der Spitze von 6.000 Mann zu Roß und zu Fuß und 30 Geschützen von Kassel auf. Am 12. Juni traf er in Windecken ein. Es war hohe Zeit, denn Lamboy erwartete in wenigen Tagen beträchtliche Verstärkungen von Fulda und aus der Pfalz und beabsichtigte bei deren Eintreffen zum Sturm zu schreiten.

Von der Höhe des Wartbaums wurde den Bewohnern Hanaus durch Kanonenschüsse das Zeichen gegeben, daß Rettung nahe. Die Belagerten antworteten durch einige Schüsse aus der Frankfurter Tor-Bastion:

Als die Nacht hereinbrach, wurden auf dem Schloßturm Fackeln angezündet. Von den Wällen und Türmen sah man  bei Tagesanbruch eine lebhafte Bewegung in den Werken des Feindes. Die Schanzen wurden stärker besetzt, das Lager bei Kesselstadt abgebrochen und das Gepäck durch die dem Schloß Philippsruhe gegenüber befindliche Furt nach Steinheim befördert.

In der Frühe des 13. Juni begann der Kampf im Bruchköbeler Wald. Am Wartbäumchen hatte Landgraf Wilhelm die übliche Morgenandacht gehalten. Als er sie beendet hatte, soll der Sage nach ein heller Strahl in ein nahes Kornfeld niedergefahren sein, den er seinen Soldaten als göttlichen Wink deutete, daß Gott ihrer gerechten Sache den Sieg geben würde. Zum Andenken habe er den Blitztaler prägen lassen, der auf der einen Seite sein Brustbild und auf der anderen Seite eine vom Blitz getroffene Weizengarbe mit der Inschrift zeigte: „JEHOVA VOLENTE HUNILIS LEVABOR“, zu deutsch: „Wenn Gott will, so werde ich aus meiner Niedrigkeit erhöht werden.“

Schon um 12 Uhr konnte Landgraf Wilhelm V. unter dem Glockengeläute und Jubel der Einwohner an der Spitze seines Gefolges durch das Nürnberger Tor in die von ihm befreite Stadt einziehen. Sein erster Gang war in die  Marienkirche, wo er Gott für das soweit gelungene Werk dankte.

Dem einrückenden Heer folgten sogleich einige hundert Wagen mit Brot, Mehl und anderen Lebensmitteln, eine große Menge Schlachtvieh, wodurch dem Hunger der Überlebenden mit einem Male ein Ende gemacht wurde. Im Laufe des Nachmittags sowohl wie am darauffolgenden Tage wurde der Rest der Schanzen angegriffen und genommen. Was das Schicksal der Stadt bei der damaligen grausamen Kriegsführung gewesen wäre, wenn die Rettung nicht zur rechten Zeit erfolgt wäre, sei an dem der Stadt Magdeburg zu erkennen. Ohne Hilfe Landgraf Wilhelms V. wäre nicht nur der blühende Wohlstand Hanaus auf lange Sicht zerstört, sondern auch, da der Graf sich in Reichsacht befand, das Hanauer Land kaiserlich und der evangelischen Religionsfreiheit beraubt worden.

 

Lamboyfest (ab 1793)

Angesichts des Sieges wurde am 22. Juni ein Buß- und Danktag abgehalten. Dieser wurde bald für immer auf den 13. Juni. den Tag der glorreichen Befreiung Hanaus verlegt. Zunächst als Buß- und Danktag gefeiert, kam der 13. Juni nach und nach in die Reihe der größeren Feste. Durch die schöne Jahreszeit begünstigt, die zu einem Ausflug ins Freie, zu einer Feier im Walde einlud, begann das Volk, zumal die strenge Bußfeier an diesem Tage fortfiel, denselben als Tag des Vergnügens und der Erholung zu begehen.

Anfangs  nur von einigen Gesellschaften gepflegt, bürgerte sich der Brauch, am 13. Juni im Lam­boy­wald ein Fest zu feiern, überraschend schnell ein und gab Anlaß zu dem weit und breit bekannten Volksfest. Seine Anfänge fallen in das Jahr 1793, als damals sich eine Anzahl Damen und Herren zu einem Spaziergang zusammenfanden und die Gelegenheit zum Tanze benutzten, wobei ein zufällig des Weges daher kommender Leierkastenmann mit seiner Orgel aufspielte.

Durch einen etwas erweiterten Kreis fand im folgenden Jahre eine Wiederholung dieses ersten Ausfluges statt. Man trank, tanzte, spielte und sang und kehrte spät abends unter Musikbegleitung in die Stadt zurück. Man hatte an dem Feste einen solchen Gefallen, daß man sich nicht mit einem Tage allein begnügen wollte, sondern noch eine Vorfeier hinzufügte. Allgemein hatte der Wettergott ein Einsehen, und bei herrlichem Sonnenschein zog dann am Festtage eine wahre Völkerwanderung hinaus in den Wald, wo zur Belustigung und Bewirtung der sich stets einfindenden, unübersehbaren Scharen schon längst die nötigen Vorbereitungen getroffen waren.

Familien, Vereine und die sich hier zusammenfindenden Bekannten hatten meist ihre Plätze im Walde belegt, Speisen und Getränke wurden reichlich in Schließkörben hinausgeschafft, nicht nur zum eigenen Gebrauch, sondern auch um weitgehende Gastfreundschaft beweisen zu können. Bald bemächtigte sich der Gruppen der Geist der Behaglichkeit, harmloser Fröhlichkeit und Ausgelassenheit, der von Tisch zu Tisch überspringend, die anfangs außer Zusammenhang stehenden Teile des Ganzen miteinander vereinte und vermengte.

Ein buntes Leben und Treiben herrschte zwischen den Spiel- und Kaufbuden, ohrenbetäubender Lärm, aufwirbelnder Staub, vieltausendfaches Stimmengewirr, hervorgerufen durch das Jauchzen und Lärmen des Volkes, das an diesem Tage der Ausgelassenheit bis zur Erschöpfung huldigte. Wandernde Musikkapellen, Künstler mit Ziehharmonika- und Orgelspieler wetteiferten miteinander in der Darbietung ihrer Leistungen. Schon bei Dunkelheit bot das Bild einen wunderbaren Anblick. Zahlreiche Lichter schimmerten durch das Dunkel, der Lärm und das Getöse von Hunderten von Musikinstrumenten und des Volkes selbst, das sich in Gesangsdarbietungen übertreffen wollte, dies alles hinterließ bei jedem Festteilnehmer den Eindruck, daß heute Hanaus höchster Festtag und er auch in Zukunft zu halten sei.

 

Im Laufe der Jahre ließ der Besuch des Festes aber immer mehr nach. Als Ursache dafür  hat man die Randlage des Festplatzes weit draußen vor der Stadt ausgemacht. Deshalb verlegte man das Fest auf den Freiheitsplatz. Im Jahre 1996 entstand eine Gegenveranstaltung an alter Stelle. Aber das historische Festareal war weitgehend Gewerbeansiedlungen zum Opfer gefallen. aber auch der Platz, wo bis 2000 das „Original Lambewaldfest“ veranstaltet wurde, ist wurde Großparkplatz der Landesgartenschau.

„Das Lamboyfest ist tot, es lebe das Lamboyfest“ hieß es an einem Donnerstagnachmittag, dem 13. Juni 2002, für eine rund 200 Leute starke Feiergemeinschaft in einer Waldlichtung in der Bulau. Wider der Kommerzialisierung und der Enthistorisierung beging man dort das Traditionsfest - seit sechs Jahren mit zunehmender Publikumszahl. Die Initiatoren, Mitglieder der Märteswein-Vereinigung, sparen nicht mit Kritik an der geplanten neuen Festkultur der Stadt.

Dicht besetzte Tische, die mit Kuchenblechen, Salatschüsseln, Brotkörben und anderen Behältnissen mit Speisen überladen sind, bilden einen großen Kreis. Der verbleibende freie Platz auf den Tischen der Festzeltgarnituren nahmen rasch Limonaden- und Biergläser ein.

Strohhüte auf den Häuptern unterstrichen nach altväterlicher Sitte den Willen zum geselligen Beisammensein. Unabdingbares Mitbringsel war der „Ziehewagen“, auf dem Speisen, Getränke, Sitzgelegenheiten und anderes ins Wäldchen transportiert wurde.

Aber erst einmal war Feiern angesagt und das bedeutet beim „Lambewaldfest“ ein großes Miteinander. Jeder kann sich zu jedem setzen, auch wenn Vereine vor ihren Tischen mit aufgepflanzten Wimpeln und Wappen vermeintlich ein Hoheitsgebiet absteckten. Nichts ist organisiert. Ab 14 Uhr treffen die Ersten hier ein. Es gibt keinen Veranstalter. Kein Kommerz. Freßbuden und Fahrgeschäft sind absolut unerwünscht, der Bürgersinn belebt dieses Fest.

Bürgersinn bewiesen auch damals die Menschen von Hanau gegen den Belagerer Lamboy, der die Stadt Schlag neun Uhr einnehmen wollte. Dazu kam es nicht, weil die Turmuhr stumm blieb. Dafür gab es für die mutigen Hanauer vom Grafen Gulden und einen Humpen Wein (Ursprung der Märteswein-Vereinigung).

Helmut Geyer, Präsident der Märtesweiner, ist auf die neue Festkultur der Oberbürgermeisterin Margret Härtel  nicht gut zu sprechen. „Andere Städte suchen Hände ringend nach historischen Anlässen für Veranstaltungen“, nur in Hanau werfe man die Geschichte fort. „Das wäre ja gerade so, als wenn die Frankfurter Wäldchestag, Dippemess und Museumsuferfest an einem Tag feiern würden“, schimpfte er über die anvisierte Fusion von Lamboy- und Bürgerfest zu einem Stadtfest. Härtel messe Feste nur nach den Besucherzahlen, erregte sich der Präsident. „Dabei hat die Qualität eines Festes nichts mit der Quantität zu tun.“ Deshalb steht für die Vereinigung fest: „Historische Feste sollen außerhalb jeden Kommerzes stehen.“ Gewiß ist für die Feiergesellschaft aber auch, im nächsten Jahr heißt es wieder „Original Lambewald“ in der Bulau, selbstverständlich nur am historischen Datum 13. Juni.

 

Hans Michael Moscherosch  1656 bis 1664

Ein interessanter Gast in Hanaus Mauern war der Satiriker Hans Michael Moscherosch, ein Zeitgenosse Johann Jakob Christoph von Grimmelshausen, des „Simplizissimus“-Dichters. Mosche­rosch versah in den Jahren 1656 bis 1664 die Stelle eines Rates und später des Präsidenten des Konsistoriums unter dem Grafen Friedrich Casimir von Hanau-Lichtenberg. Unter der Landgräfin Sophie von Hessen-Kassel, einer Schwester des Großen Kurfürsten, wurde er Geheimer Rat.

 

Das Kolonialunternehmen „Königreich Hanauisch-Indien“ 1669

Im  Jahr 1669 wollte der Hanauer Graf Friedrich Casimir auf Anraten seines Ratgebers Dr. J. Joachim Becher durch Abschluß eines Vertrages mit der Niederländischen Westindischen Compagnie (Amsterdam) eine Kolonie in  Südamerika erwerben. Allerdings blieb es damals nur bei dem Vertragsabschluß. Der Graf Friedrich Casimir konnte aus mancherlei Gründen die Bestimmungen des Vertrages nicht erfüllen und bot deshalb im Jahre 1672 durch Vermittlung des Prinzen Ruprecht von der Pfalz seine Anrechte auf die Kolonie Hanauisch-Indien dem britischen König Karl II. an. Die Verhandlungen endeten ergebnislos,  und die ganze Angelegenheit verlief allmählich im Sande.

Erforscht hat diesen Vorgang Polizeidirektor a. D. Ferdinand Hahnzog  aus Dörnigheim, Sohn eines ehemaligen Beamten der Pulverfabrik und Abiturient der Hohen Landesschule. Er unternahm  eine Forschungs­fahrt in den Norden von Südamerika, in das Gebiet jener fragwürdigen Kolonie am Orinoco, um an Ort und Stelle in den Archiven weitere Forschungsarbeiten zu betreiben. Seine Erkundungsfahrt führte ihn also nach Niederländisch- und Französisch-Guayana. Er kam nunmehr nach einvierteljähriger Forschungsarbeit in Cajenne, Caracas. Surinam, Paramaribo und anderen Orten mit wertvollen Ergebnissen zurück.

 

Hanauer Buchdrucke des 17. und 18. Jahrhunderts

Erkennbar wird die Blütezeit des Hanauer Buchdrucks im frühen 17. Jahrhundert mit großen Folianten und bedeutenden wissenschaftlichen Werken. Im 18. Jahrhundert werden die Formate bescheidener, werden viele Gelegenheitsschriften und Auftragsarbeiten hergestellt. Am raschen Wechsel der Besitzer mancher Druckereien lassen sich auch die wirtschaftlichen Probleme erkennen. Die Bücher sind überwiegend in deutscher und lateinischer Sprache verfaßt, aber es gibt auch französische, ein niederländische, ein hebräische und griechisch-lateinische Bücher. Das Themenspektrum reicht von Theologie über Kirchengeschichte, Philosophie, Recht, Pädagogik, Geschichte bis hin zu Naturwissenschaft und Medizin.

Das älteste Buch stammt aus dem Jahr 1596. Besonderheiten der lokalen Geschichte sind die „Hanauische Kirchen-Disziplin- und Elstesten Ordnung“ von 1688, der Leichenzug der Gräfin Anna Magdalen, der Mutter der beiden letzten Hanauer Grafen aus dem Jahr 1691, die Geschichte der Neutadt Hanau, ebenfalls von 1691, die „Fürstlich Hessen-Hanauische Hof- und Ehe-Gericht-Ordnung“ von 1745 oder das Gesangbuch der Niederländischen Gemeinde von 1770 sowie der Stiftungs-Brief und das Gesetz der Hanauer Zeichen-Academie aus dem Jahr 1774.

 

„Hanauer Anzeiger“

Der „Hanauer Anzeiger“ ist die älteste deutsche Zeitung mit klassischer Vollredaktion und die achtälteste Zeitung in der Welt. Die frühen Zeitungen Europas, die in der Folge der Flugschriften des 16. Jahrhunderts entstanden, verstanden sich vorwiegend als politisch- philosophische Zeitungen, die auf lokale und regionale Belange nicht eingingen. Erst mit der Entstehung der Intelligenzblätter im frühen 18. Jahrhundert bildete sich eine lokale Presse heraus, die jedoch nur wenige redaktionelle Beiträge druckte. Vielleicht waren dies eher Anzeigenblätter, was sich oft schon im Titel niederschlug.

Im Jahre 1725 erteilte Graf Johann Reinhard von Hanau das Privileg für die „Wöchentlichen Hanauer Frag- und Anzeigungsnachrichten“, eine Zeitung, die auf vier Seiten „von allerhand, so wohll in allhiesigen beyden Staedten als auff dem Land zu kauffen und zu verkauffen, zu verleyhen und zu lehnen seyenden auch verlohmen, gefundenen und gestohlenen Sachen, so dann Personen, welche Geld lehnen oder ausleyhen wollen, Bedienungen oder Arbeit suchen, oder zu vergeben haben: Ingleichem denen in beyden Städten Copulirten, Getaufften und Gestorbenen, wie auch ankommenden Fremden und deren Einkehr“ berichtete.

Dieses Nachrichtenblatt wurde zur Keimzelle des „Hanauer Anzeiger“. Gedruckt wurde die neue Zeitung in Neu-Hanau bei dem Herrschaftl. Hoff-Buchdrucker Johann Jacob Beausang. Nachdem die Beausang’sche Druckerei einging, verlieh Landgraf Wilhelm VIII. im Jahre 1745 die Verlagsrechte an das Hochdeutsch- reformierte Waisenhaus in der Altstadt: Dies geschah in der Absicht, die ökonomische Situation dieser Einrichtung zu verbessern. Alsbald wurde die Zeitung auch in der waisenhauseigenen Druckerei hergestellt, die an der Hospitalstraße 36 untergebracht war. In der Schlacht bei Hanau am 30./31. Oktober 1813 brannte das Haus aus. Doch gelang es, die Druckerei schnell wieder in Betrieb zu nehmen. so daß das Blatt weiter erscheinen konnte. Im Jahr 1817 erwarb die Waisenhausstiftung das Anwesen Hammerstraße 9, ein weitläufiges Areal, auf dem Waisenhaus und Druckerei Platz fanden, bis man nach 2000 ins Industriegebiet an der Donaustraße umzog.

Der Zusammenschluß der Reformierten und der Lutherischen Waisenhausstiftung 1825 führte zum Verkauf der Altstadthäuser an der Hospitalstraße. So wurden Mittel frei, die für eine für damalige Verhältnisse moderne Druckerei eingesetzt wurden. Noch bis 1877 waren in dem Anwesen Hammerstraße die Waisenkinder untergebracht. Später fanden sie bei Familien in Hanau und dem Umland Aufnahme, so daß die Hammerstraße nunmehr alleine für die Druckerei und den Verlag genutzt werden konnte. Die Zeitung erschien jetzt werktäglich und trägt seitdem den Kopf „Hanauer Anzeiger“.

Nachdem man die Zeit des Ersten Weltkrieges gut überstanden hatte, wurde in der turbulenten Zeit nach dem November 1919 die Zeitung von der extremen Linken beschlagnahmt und erschien nun wenige Wochen als „Organ des Hanauer Arbeiter - und Soldatenrates“. Wenige Jahre später bedrohten während der Inflation wirtschaftliche Schwierigkeiten das Blatt in seinem Fortbestand. Das Vorsteheramt der Waisenhaus-Stiftung erwog mehrmals. die Zeitung zu verpachten. Doch es gelang, sie dem Waisenhaus zu erhalten, ein bleibender Verdienst des Stiftungsvorstehers Oberbürgermeister i. R. Dr. Gebeschus und des neuen Verlagsdirektors und Druckereileiters Paul Nack.

Insbesondere die Druckerei nahm von nun an durch die Herstellung von bedeutenden Zeitschriften für große Frankfurter Verlage einen steilen Aufstieg. Aus eigenen Mitteln konnten ein moderner Stahlbetonbau erstellt, eine neue Rotationsmaschine angeschafft und die neuesten Druckmaschinen aufgestellt werden. Die Zeitung gewann immer mehr an Auflage und Umfang.

Einschneidende Veränderungen traten dann in den 30er Jahren ein. Im Jahre 1935 ordnete der Präsident der Reichspressekammer an, daß aufgrund des neuen Pressegesetzes die Stiftung nicht mehr als Verlegerin einer Tageszeitung handeln kann. Um den Bestand der Zeitung als unabhängiges und selbständiges Publikationsorgan zu erhalten, verkaufte der Stiftungsvorstand das Verlagsrecht an Paul Nack. Seiner unternehmerischen Initiative und seiner reichen beruflichen Erfahrung ist es zuzuschreiben, daß sich der „Hanauer Anzeiger“ zu einer Tageszeitung mit beachtlicher Auflagenhöhe entwickeln konnte, wobei es oft nicht leicht war, sich den politisch Mächtigen gegenüber zu behaupten.

Das zeitweilige Ende der Zeitung besiegelte ein Einschreiben der Reichspressekammer vom 25. April 1941, in dem der Zeitung aus kriegswirtschaftlichen Gründen jede weitere Papierlieferung, gesperrt wurde. Damit entfiel die wirtschaftliche Grundlage des Betriebes, was 1942 zum Verkauf der Firma und der Grundstücke durch die Vorsteher der Waisenhaus-Stiftung und der Aufsichtsbehörde an den Herausgeber Paul Nack führte.

Am 19. März 1945 brannten die Verlags- und Betriebsgebäude nach Bombentreffern völlig aus. In mühevoller Arbeit wurden jedoch einige Maschinen wieder funktionsfähig gemacht. Mit ihnen wurde das „Amtliche Mitteilungsblatt Stadt Hanau“ für vier Jahre hergestellt. Erst am 1. September 1949 konnte der „Hanauer Anzeiger“ wieder erscheinen, seiner Tradition als lokale Zeitung die Stadt und den Landkreis Hanau verpflichtet.

Im Wettbewerb mit vier weiteren überregionalen Tageszeitungen, die als Hanauer Kopfblätter oder Regionalbeilagen erscheinen, jedoch in Frankfurt und Offenbach gedruckt werden, hat er sich zur führenden Zeitung im Hanauer Raum entwickelt. Als der Verleger Paul Nack im Jahr 1968 starb, übernahm sein Schwiegersohn Dr. jur. Horst Bauer, der schon 1951 im Betrieb tätig war, die Leitung des Unternehmens und wurde Herausgeber der Zeitung.

Als einer der ersten deutschen Zeitungsverleger gründete er Jahre 1970 die „Hanauer Wochenpost“, ein Anzeigenblatt, das heute mit einer Auflage von 96.000 Exemplaren jeden Haushalt im Verbreitungsgebiet erreicht. Damit wurde den Bedürfnissen der werbenden Wirtschaft Rechnung getragen, aber auch der Verlag wirtschaftlich gestärkt, denn zwei Drittel seiner Einnahmen muß sich jeder Zeitungsverlag auf dem Werbemarkt holen, nur Drittel wird durch Abonnement und Einzelverkauf erlöst. Im Jahre 1974 wurde die „Langenselbolder Zeitung“, das angestammte Heimatblatt der Langenselbolder Bürger, mit einer Druckerei übernommen.

Wenig später begann dann auch im „Hanauer Anzeiger“ die Umstellung des von Gutenberg vor 550 Jahren erfundenen Schrift-Satzes mit gegossenen beweglichen Bleibuchstaben auf den rechnergesteuerten Lichtsatz. Heute arbeitet der Hanauer - Anzeiger mit einem modernen Redaktions-Textsystem und einer EDV der jüngsten Generation. Mit den Hochleistungsrechnern und Belichtungseinheiten sind alle Periphergeräte im Zeitungs- und Werkdruckbereich - Redaktion, Anzeigen-, Vertrieb Auftrags- und Kalkulations-Abteilung und Buchhaltung- sowie über Standleitungen der Betrieb in Langenselbold und die Redaktion eines bedeutenden Zeitschriftenkunden in Frankfurt vernetzt.

Neben dem Zeitungsrotationsdruck mit der seit einigen Wochen im neuen Druckhaus im Industriegebiet Nord installierten Rollenoffset- Rotation betreibt der „Hanauer Anzeiger“ auch den Werkdruck in seiner ganzen Breite. Von Familiendrucksachen über Bücher, Broschüren, Kataloge, Plakate und Formulare werden zahlreiche wöchentlich und monatlich erscheinende Periodika und Fachzeitschriften hergestellt. In den vergangenen Jahren wurden bereits alle Hochdruckmaschinen durch moderne elektronisch gesteuerte Offsetmaschinen ersetzt, darunter eine 4-Farben- und eine 5-Farben-Anlage für den großformatigen Zeitschriftendruck. Im Versandraum im neuen Druckhaus steht eine dem letzten technischen Stand entsprechende Einsteckmaschine, die alle Zeitungsbeilagen im direkten Verbund zwischen der Rotation und der automatisierten Packanlage in die Zeitung einsteckt.

Nach den hohen Investitionen der vergangenen Jahre - wobei neben der Errichtung des neuen Druckhauses auch die Neugestaltung der Einrichtung aller Räume der Hammerstraße dazugehörte - ist der Betrieb heute eines der modernsten und leistungsfähigsten deutschen mittelständischen Druckereiunternehmen. Mit 170 Vollzeitbeschäftigten, zahlreichen freien journalistischen Mitarbeitern und über 900 Zeitungsträgern, ist das Verlagshaus auch für die Hanauer Wirtschaft von unverzichtbarer Bedeutung.

Dem entspricht, daß der „Hanauer Anzeiger“ das „Amtliche Verkündungsorgan“ des Main- Kinzig-Kreises, der Städte Hanau, Bruchköbel, Nidderau und der Gemeinden Erlensee, Hammers­bach, Neuberg und Schöneck ist. Auch das offizielle Verkündungsorgan der Industrie- und Handelskammer Hanau-Gelnhausen-Schlüchtern wird im Hause hergestellt und im Anzeigenteil betreut. Im neuen Druckhaus wird nunmehr der „Hanauer Anzeiger“, „Langenselbolder Zeitung“ sowie das wöchentlich erscheinende Anzeigenblatt „Hanauer Wochenpost“ im Offsetverfahren produziert werden. Auch der „Maintaler Tagesanzeiger“, an dem das Haus 1996 die Mehrheitsanteile erwarb, wird nun in dem neuen Druckzentrum an der Donaustraße hergestellt.

Anfang Mai stellte der HA seine Erscheinungsweise um: Die traditionelle Erscheinungsweise in der Mittagszeit wurde zugunsten der morgendlichen Erscheinungsweise aufgegeben. Der HA ist seither frühmorgens beim Abonnenten und am Kiosk.

Seit dem Jahre 1988 ist die dritte Generation der Familie in der Geschäftsleitung. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften, dem großen juristischen Staatsexamen in München und der Ausbildung in fremden Zeitungsverlagen ist Thomas Bauer als Mitverleger mit seinem Vater, Dr. Horst Bauer, Geschäftsführer. So ist die Familiengebundenheit des mittelständischen Unternehmens gewahrt, das mit dem „Hanauer Anzeiger“ durch Leistungsfähigkeit seinem Motto „über ein Vierteljahrtausend alt und jung dazu“ in vielfältiger Weise gerecht wird und sich den Herausforderungen der Zukunft stellt.

 

Erbprinz und Kurfürst Wilhelm I.  (ab 1765)

Die Hanau-Münzenberger Linie endete 1642 im Mannesstamm, und für fast ein Jahrhundert unterstanden nun alle Hanauer Gebiete den Lichtenberger Grafen. Mit dem Tod Graf Johann Reinhards III., des „alten Hanauers“, auf dessen Ableben die Erbberechtigten so lange gewartet hatten, erlosch das Hanauer Grafenhaus; die Hanau-Münzenberger Gebiete fielen an Hessen-Kassel, die Lichtenberger Teile an Hessen-Darmstadt.

Im Jahre 1736 erlosch das Hanauer Grafenhaus. Die Grafschaft Hanau fiel an Hessen-Kassel, wurde aber auch weiterhin noch selbständig verwaltet, zunächst von Wilhelm VIII. und seit 1764 von seinem Enkel, dem Erbprinzen Wilhelm (IX.) von Hessen. Seine Mutter, Maria von Großbritannien, hatte in ihrer kurzen Regierungszeit in Hanau den „Friedrichsbau“ des Stadtschlosses errichten lassen. Der Sohn, der in der Grafschaft Hanau wirklicher „Landesherr“ war, während sein Vater Friedrich in Kassel regierte, ist der Schöpfer vieler Bauten in der Stadt. Er prägte das Bild des spätbarocken Hanau. Hanau erlebte noch einmal die „güldene Zeit“ einer kleinen absolutistischen Residenz.

Der erste hessischen Kurfürst Wilhelm I. (1743-1821) konnte sowohl Reaktionär als auch Avantgardist sein, denn als letzter Vertreter des Feudalabsolutismus war er zugleich der erste Kapitalist seines Standes. Bis zu seinem Tod war der Herrscher „von Gottes Gnaden“ ein Verfechter der Autokratie und ein entschiedener Gegner der Französischen Revolution. Er war aber zugleich wegen seiner zukunftsweisenden Kreditpolitik gegenüber Staaten, Fürsten und Privatleuten ein erfolgreicher Finanzier.

Erbprinz Wilhelm (ab 1764) brachte unserer Stadt einen baulichen, kulturellen und sozialen Gewinn. Er ließ seine Residenzstadt modernisieren. Die Fachwerkhäuser wurden verputzt, auch verschwanden die Wallanlagen zwischen Alt- und Neustadt. An ihrer Stelle entstand ein großer Platz (Paradeplatz und Esplanade) mit dem Zeughaus und dem „Kollegiengebäude“ (1768). Im selben Jahre gründete er das Theater, 1772 die „Akademie der Zeichenkunst“ und im Salzhaus“ in der Erbsengasse ein „Arbeitshaus für leiblich und geistig arme Personen“, und errichtete 1775 die „Ehrensäule“ als Wegweiser für zwei geplante Handelsstraßen.

Das Urteil über den ersten hessischen Kurfürsten ist bis heute so zwiespältig, da er sich bereits früh als „Militärunternehmer“ einen Namen gemacht hat. Wilhelm vermietete 1776 rund 2.400 Soldaten an seinen englischen Vetter, König Georg III., wofür er reichlich Subsidien kassierte. Die hessischen Söldner wurden von der Kolonialmacht im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gegen die „Rebellen“ eingesetzt, was Wilhelm den Vorwurf einbrachte, daß er das Blut seines Volkes verkaufte, um seine Schatzkammer zufüllen.

Seine intensiven Geschäftsbeziehungen mit dem Wechselhändler Meyer Amschel Rothschild, der für ihn die Subsidien zinsbringend weiterverlieh, war übrigens für beide Seiten äußerst erfolgreich. Wilhelm wurde zu einem der reichsten Fürsten Europas, und das Haus Rothschild legte den Grundstein für den eigenen Aufstieg zu einem internationalen Bankhaus.

Den Gewinn aus den englischen Zahlungen investierte Wilhelm in aufwendige Parkanlagen - von 1777 bis 1785 in die neue Kuranlage Wilhelmsbad bei Hanau, die er im von England ausgehenden landschaftlichen Stil anlegen ließ. Er gesteht, daß er dort in seiner künstlichen Burgruine vor den höfischen Intrigen Zuflucht gesucht und in der romantischen Stimmung die Einsamkeit genossen habe. Er verrät zudem, daß immerhin zeitweise bis zu 900 Arbeiter und Handwerker in Wilhelmsbad beschäftigt gewesen seien und so auch an den englischen Geldern verdient hätten.

Also kann der Vorwurf nachfolgender Generationen, der Fürst habe sein eigenes Vergnügen über die Interessen seiner Untertanen gestellt, relativiert werden. Zwischen 1786 und 1798 führte der Regent dann in Kassel auf der Wilhelmshöhe, dem größten Bergpark Europas, den englischen Stil mit romantischen Wasserfällen und der mittelalterlichen Löwenburg zur höchsten Vollendung.

Im Jahre 1803 erreichte der Landgraf sein langersehntes politisches Ziel: Er stieg zum Kurfürsten von Hessen auf. Doch schon drei Jahre später begann für ihn das unglücklichste Jahr seines ganzen Lebens. Da Wilhelm zugunsten Preußens taktiert hatte, mußte er vor dem Einmarsch der napoleonischen Truppen außer Landes fliehen und konnte erst 1813 aus dem Exil zurückkehren. Seine Aufzeichnungen brach der 75jährige Kurfürst 1818 resignierend ab, weil er sich nicht mehr in der Lage sah, Rechenschaft abzulegen. Die Fehler einer Welt, „die von Tag zu Tag mehr aus den Fugen gerät“, hindern ihn daran, seine Arbeit gewissenhaft fortzuführen.

 

Soldatenhandel linderte Not                                                                     27.10.2014

Buch über Ausleihen von Armeen vorgestellt - Wilhelmsbad als Konjunkturprogramm

Erbprinz Wilhelm von Hessen-Hanau steht wie sein Vater, Landgraf Friedrich von Hessen-Kassel, im Ruf durch den „Verkauf“ seiner Soldaten zu immensem privaten Reichtum gekommen zu sein. Daß dieser Soldatenhandel des 18. Jahrhunderts aber durchaus eine differenziertere Betrachtung verdient, zeigt eine neue Publikation, die die Historische Kommission für Hessen 2014 herausgeben  hat.

Grundlage des Buchs sind die Beiträge eines internationalen Symposions, das im Frühjahr 2013 in Wilhelmsbad stattgefunden hat. Die Kuranlage wurde in den 1780er Jahren von Erbprinz Wilhelm just mit dem Geld errichtet, das er durch den Verleih seiner Soldaten an den englischen König zum Zweck der Niederwerfung des Aufstands in den nordamerikanischen Kolonien erhalten hatte.

Diese Art des „Personalleasings“ war im 17. und 18. Jahrhundert nicht unüblich und brachte so manchem deutschen Landesfürsten Geld in die Kasse. Für Wilhelm kam noch seine enge familiäre Verbindung zu England hinzu, seine Mutter war eine Tochter Georgs II. von England, der somit sein Großvater war.

Insgesamt etwa 30.000 Hessen kämpften im Lauf des amerikanischen Unabhängigkeits­kriegs auf Seiten der Briten, neben regulären Regimentern waren darunter auch aus anderen Ländern für so genannte Freikorps angeworbene Söldner. Rund 6.000 fielen in den Kämpfen oder starben an den Strapazen, noch einmal so viele desertierten oder wurden nach ihrer Dienstzeit in Nordamerika entlassen. Deren Nachfahren zählen heute noch Hunderttausende. Für Kanada hat der aus Hanau stammende Deutsch-Kanadier John Helmut Merz dazu bis zu seinem Tod 2005 eine enorme Datenbank angelegt. Und auch wenn die  „Hessians“ auf der falschen Seite kämpften, so sind nicht wenige Nordamerikaner der heutigen Generation, wie Merz feststellte, stolz darauf, einen davon in ihrer Ahnenreihe zu haben.

Das Interesse an den „Hessians“ sei vor allem in den USA ungebrochen, berichtet Archivdirektor Dr. Andreas Hedwig, Chef des Staatsarchivs Marburg. Noch immer kämen viele Anfragen per Internet oder für Fernsehserien mit genealogisch-historischem Hintergrund, werde wie zuletzt von CNBC für die Sendung „Teil me who you are“ im Staatsarchiv gefilmt.

Nun sind die Bestände betreffend die hessischen Truppen in Nordamerika bereits seit den 1970er Jahren relativ gut erschlossen. Die Datenbank Hetrina wurde seinerzeit noch mit Hilfe von Lochkarten erstellt und vor wenigen Jahren für das Internet aufbereitet. Bei dieser Gelegenheit wurde das Verzeichnis auch um die noch fehlenden Hanauer Truppenteile ergänzt, so daß über das Portal Lagis nun der Gesamtbestand zugänglich ist und nach Orten und anderen Kriterien durchsucht werden kann.

Aus diesem Anlaß wurde 2013 auch das Wilhelmsbader Symposion in einer beispielhaften Gemeinschaftsaktion von der Stadt Hanau, dem Hanauer Geschichtsverein und dem Staatsarchiv Marburg sowie der Historischen Kommission und dem Landesamt für wissenschaftliche Landeskunde durchgeführt. Denn nach wie vor gibt es neue Quellen und Forschungsansätze, die das Wissen um die „Hessians“ nicht nur ergänzen, sondern auch dazu führen, daß unser teilweise im 19. Jahrhundert geprägtes Bild der „verkauften Hessen“ revidiert werden muß. Ganz ohne Zweifel hat auch die nun umfänglich mögliche elektronische Zugänglichkeit zu den Archivbeständen diesem Thema neue Impulse gegeben.

Ein gewichtiges Ergebnis waren denn auch die zahlreichen Vorträge in Wilhelmsbad, die nun in gedruckter Form vorliegen und die doch einen differenzierteren Blick ermöglichen. Wie Dr. Holger Graef vom Landesamt für wissenschaftliche Landeskunde an einem Beispiel ausführte, hätten die „ausgeliehenen“ Soldaten doppelten Sold erhalten, von dem ein Teil über Bankhäuser in Amsterdam den Familien in der Heimat ausbezahlt wurde. Auch die Errichtung des Wilhelmsbads, so Graef, sei in seiner Auswirkung eine Art „lokales Investitionsprogramm“ gewesen. So hat denn der Soldatenhandel nicht nur den heutigen Hanauern mit Wilhelmsbad ein Kleinod beschert, sondern auch geholfen, die wirtschaftliche Not in Hessen gerade in den 1770er und 1780er Jahren zu lindern (Werner Kurz).

Das Buch „Die Hessians im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg 1776 bis 1783 - Neue Quellen - neue Medien - neue Forschungen“, 312 Seiten mit etlichen Abbildungen, kann für 28 Euro über den Hanauer Buchhandel bezogen werden.

 

Familie Cancrin  1774

Daß Rußland heute zu den wirtschaftlichen Großmächten gehört, verdankt es in erheblichem Maße einem im Dienst des Zaren gestandenen Deutschen, der in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in dem reinen Agrarland Rußland die Grundlagen für eine industrielle Entwicklung legte. Tatkraft und Weitblick ermöglichten das Entstehen einer eigenständigen Nationalwirtschaft. Der Mann, der das zuwege brachte, war der am 26. November 1774 in Hanau geborene Georg Cancrin.

Seine Eltern und Großeltern wohnten in Bieber im Kreise Gelnhausen, wo sie verantwortlich in der Leitung des damaligen Bergwerks standen und den Bieberer Gruben zu einer beachtlichen Entwicklung verhalfen. Welches Schicksal hatte die Familie Cancrin aus dem Biebertal und der Stadt Hanau in die Weiten Rußlands verschlagen?

Im Jahre 1741 berief der damalige Hessische Regent und Landgraf den Bergmeister Johann Heinrich Cancrin zum Leiter der Bieberer Gruben. Er wurde Nachfolger des Bergrates Pauly, dessen Familie mit dem aus Bieber stammenden und unter Katharina der Großen tätigen Generals Feodor von Bauer verwandtschaftlich verbunden war.

Johann Heinrich Cancrin entstammte einer niederhessischen Bauernfamilie und war verheiratet mit Anna Katharina Fresenius. Einer der Vorfahren, ein evangelischer Geistlicher aus Jesberg, ließ irgendwann seinen deutschen Namen „Krebs“ in „Cancrinus“ latinisieren. In modischer Anlehnung an die französische Epoche entstand daraus später der Name Cancrin. Neben dem am 21. Februar 1738 geborenen Franz Ludwig Cancrin wurden der Familie in Bieber noch fünf Söhne geschenkt: Johann Friedrich 1744, Johann Heinrich Friedrich 1746, Johann Hektor 1749, Johann Ludwig 1751 und Friedrich Ludwig 1755.

 

Unter der zielbewußten Leitung Johann Heinrich Cancrins kamen die Bieberer Gruben bald zu hoher Blüte. Bei der Übernahme der Leitung bestand die Belegschaft lediglich aus 4 Bergbeamten, 12 Bergleuten und 2 Hüttenarbeitern. Geschürft wurde „Im Kalkofen“, „Am Burgberg“, „Im Röhriger Kobaltwerk“ und „Im Grundocker“(Grundacker?). Cancrins besondere Aufbauarbeit galt dem „Loch­born“, wo ein neues Kobalt- und Hammerwerk entstand.

Die Vergrößerung und Ausweitung des Bergbaubetriebes hatte natürlich eine starke Zuwanderung zur Folge. Deshalb wurde im Jahre 1769 neben der alten lutherischen Kirche („obere Kirche“) eine neue reformierte Kirche erbaut. Finanziert wurde der Bau aus Mitteln der Salzsteuer, dem „Salzgroschen“.

Im Jahre 1768 beendete der Tod Johann Heinrich Cancrins erfolgreiches Schaffen. Auf dem Bieberer Friedhof fand er seine letzte Ruhestätte. In Bieber ist heute noch eine Straße nach den Cancrins benannt. Zur Zeit seines Ablebens bestand das Bergamt aus dem Bergmeister, dem Bergaktuar und dem Bergrichter. Dem Amt unterstanden Bergschreiber, Obersteiger, Steiger, Nachzähler, Garmacher, Hüttenmeister, Hammerschmiede und über 400 Bergleute.

Die Nachfolge des Bergwerk-Direktors übernahm im gleichen Jahr sein ältester Sohn, Franz Ludwig, der die Bieberer Gruben bis 1782 leitete. Er wurde 1738 in Breidenbach bei Marburg als Sohn eines Bergbau-Beamten geboren. Er hat wie auch seine Brüder die Schule in Bieber besucht. Von seinem Vater hatte er zusätzlich Unterricht in den Naturwissenschaften und der Mathematik erhalten. Noch seiner Lehrzeit im Bergbau in den Bieberer Gruben studierte er von 1759 bis 1762 in Jena Bergwissenschaft, Jura und Mathematik.

Im Jahre 1764 wurde er zum Sekretär bei der Rentkammer in Hanau ernannt und mit Aufgaben aus dem Berg- und Salinenwesen betraut. Im Jahre 1765 verfaßte er eine Arbeit über „Die Zubereitung der Kupfererze“.

Im Jahre 1767 erfolgte seine Ernennung zum Assessor, 1768 seine Berufung zum Professor für Mathematik und Leiter des Zivilbauwesens der Grafschaft Hanau. Trotz der Übernahme dieser umfangreichen und wichtigen Aufgaben behielt Franz Ludwig die Leitung der Gruben bei. Er konnte sich diese Arbeitsteilung leisten, weil der Vater den Ablauf der Dinge an den Bieberer Gruben auf lange Sicht gut vorbereitet hatte.

 

Cancrin baute Stadttheater und Wilhelmsbad

Die Grafschaft Hanau übergab ihm die Direktion über das gesamte Zivilbauwesen. In dieser Funktion baute er in den Folgejahren das Hanauer Stadttheater und das Wilhelmsbader Comoe­dienhaus. Im Jahre 1768 fand die erste Aufführung auf der Bühne zwischen Alt- und Neustadt statt. Erbprinz Wilhelm ließ 1768 durch seinen Baurat Franz Ludwig Cancrin nach den Plänen des Generals Huth auf dem Gelände der eingeebneten Befestigungslinie zwischen Alt- und Neu- Hanau ein neues Theater erstellen. Es handelte sich um das bekannte Hanauer Stadttheater auf dem späteren Paradeplatz, das am 18. März 1945 mit dem größten Teil der Stadt unter dem furchtbaren Bombenhagel begraben wurde.

Neben dem Theater wurde an dem neugewonnenen Platz der ehemaligen Befestigungsanlage ein Zeughaus gebaut, ein langgestrecktes Gebäude mit einer Wache an der westlichen Querseite, das spätere „Bezirkskommando“.

Im Park von Wilhelmsbad mußte Cancrin für Wilhelm IX. die verträumte „Ruine“, eine Wasserburg inmitten von Wald und Sumpf erbauen. Wilhelm IX. bewohnte dieses Idyll, dessen Innenräume außerordentlich behaglich eingerichtet waren, mit Madame Ritter, seiner Geliebten, einer Apothekerstochter aus der Schweiz, die ihm, dem Landgrafen - wie es irgendwo heißt - schöne Kinder gebar.

Cancrin nannte sich in seinen „Grundlehren der bürgerlichen Baukunst“ Baumeister und Architekt und berief sich in dieser Architektur-Theorie mehrmals auf die von ihm ausgeführten Bauten. Daß der Architekt bei den zeitgenössischen Beschreibungen des Wilhelmsbades oft zu nennen vergessen worden ist, kränkte ihn sehr.

Besonders aber, daß der berühmte Gartentheoretiker C.C. L. Hirschfeld ihn bei der ausführlichen Beschreibung des Parks von Wilhelmsbad in seiner „Theorie der Gartenkunst“ 1785 nicht erwähnt hat, forderte seinen Widerspruch heraus. Die in dem Buch über die Gartenkunst „in Kupfer abgebildeten Gebäude“ in Wilhelmsbad, hätten nicht, so schreibt er in seinen „Grundlehren". „die gute Proportion, die ihnen eigen ist“, und er erwähnt weiter, daß „die Erfindung und erste Zeichnung der Burg“, die Hirschfeld so sehr lobte, „gänzlich seiner Hände Arbeit sei“, so wie auch das „ganz von mir angegebene Carussel“.

An seinen Wilhelmsbader Bauten benutzte Cancrin nur wenige schmückende Zutaten, so findet man den „Zopf“ als die typische Dekoration der Bauzeit des Badeortes dort nur selten. Die Gebäude haben mit den schweren Mansarddächern und den rustikalen Fenstereinrahmungen einen altertümlichen Charakter. Sie wirken eher behäbig barock als klassizistisch kühl und elegant. Ähnlich schwerfällig sind die zahlreichen als Modelle vorgelegten Entwürfe in Cancrins Bau­lehre, die vor allem durch eine detaillierte technische Beschreibung der Bauweise der Gebäude ausgezeichnet und brauchbar war.

Cancrin war also, wohl auch dank seines Herkommens und seines Studiums, ein guter Praktiker. Er war kein kühner Anreger oder gar ein schöpferischer Architekt, der in neue Dimensionen der Architektur vorstieß. Viele seiner aus dieser Grundhaltung ausgesprochenen Gedanken zeigen ihn als den nüchternen Beobachter einer sich wandelnden Welt, in der nicht mehr allein der Schloßbau oder die Kirchengebäude den Maßstab setzten, sondern auch die „Civilbaukunst“ ein beachtenswertes Tätigkeitsfeld für einen Architekten abgeben konnte. So gibt es neben städtebaulichen Anweisungen in seinem Baubuch auch ein umfangreiches Kapitel über die „Zweckmäßige Einrichtung der mineralischen öffentlichen Bäder“, in dem eindeutig zu lesen ist, was er selbst programmatisch aus geführt hat:  „Es muß sich bey einem Bade ein Komödienhaus befinden, damit die Kurgäste dadurch belustigt werden können...“. Eine „Affäre“ des Hofmarschalls Ludwig von Gall, des vertrauten Günstlings des Erbprinzen, führte 1782 zum Sturz des Architekten, der „sein Wilhelmsbad“ und Hanau verlassen mußte.

Der von Wilhelm IX. hochgeschützte Baudirektor Cancrin geriet offensichtlich zu Unrecht mit unter die Anklage gegen Hofmarschall von Gall wegen Unterschlagung öffentlicher Gelder und wurde 1782 zu sechs Monaten Haft verurteilt. Diese saß er im Schloß Babenhausen ab und setzte in dieser Zeit die Arbeiten an seinem berühmten Werk der Bergwerks- und Salinenkunde fort, das von 1773 bis 1791 in 12 Bänden in Frankfurt/Main erschien. Als Oberkammerrat und Direktor des Münzwesens schied er 1782 aus dem hessischen Dienst.

Nach einem Abstecher zum Markgrafen von Anspach im Westerwald folgte er ein Jahr später dem Ruf der russischen Kaiserin Katharina II. Auf Grund eines günstigen Angebots des Grafen P. A. Rumjancev- Zadunaiskij siedelte er mit Frau und zwei Töchtern unter Zurücklassung des 8jährigen Sohnes (des späteren zaristischen Finanzministers) nach Rußland über. Ende Februar 1784 traf er in Petersburg ein und übernahm hier die oberste Leitung der berühmten Salinen von Staraja-Russo im Gouvernement Nowgorod als Nachfolger des verstorbenen Generalleutnants Bauer (ebenfalls aus Bieber).

Katharina machte den Bergbau-Spezialisten, was ihn zum Bau des Wilhelmsbader Karussells mit unterirdischem Antrieb durch Menschen und Tiere prädestinierte, zum Leiter einer bedeutenden Saline in der Nähe von Petersburg. Cancrins Fähigkeiten brachten ihm in Rußland zahlreiche Ehrungen und das Erheben in den Adelsstand ein. Franz Ludwig von Cancrin erlangte im Rußland des 18. und 19. Jahrhunderts fast mehr Ruhm als in Hanau und Umgebung.

Katharina II. gewährte ihm nach zweijährigem Wirken in Rußland zur Wiederherstellung seiner Gesundheit und zum Abschluß wirtschaftlicher Arbeitspläne einen mehrjährigen vollbezahlten Urlaub in Deutschland, den er in Gießen verbrachte. Im Jahr 1787 gab er „Die Geschichte der in der Grafschaft Hanau-Münzenberg gelegenen Bergwerke“ heraus, wobei er im besonderen auf die Belange der Bieberer Gruben einging. Hier hatte er ja viele Jahre verbracht und seine Studien der Bergwissenschaft praktisch erproben können. Nach seinem Weggang aus Hanau wurde Cancrin durch zahlreiche wissenschaftliche Publikationen ein anerkannter Fachmann der Bergwerkskunde und der Architekturtheorie. Bis 1793 erschien in Frankfurt/Main sein Hauptwerk, das über Bergwerks- und Salinenkunde handelt und zwölf Bände umfaßt. Er verfaßte die „Grundlehren der bürgerlichen Baukunst“.

Nach seiner Rückkehr, kurz nach dem Tode der Kaiserin (1796), wurde er wieder Mitglied des Bergkollegiums. Paul I. beförderte ihn im März 1798 zum Staatsrat. Wenige Monate später schenkte er ihm in Anerkennung seiner Verdienste ein Haus in Petersburg. Auch Alexander I., der Nachfolger Pauls I, schätzte die Mitarbeit Cancrins sehr. Im Jahr 1812 trat Franz Ludwig Cancrin in den Ruhestand. Am 29. März 1816 verstarb er in Petersburg als russischer Staatsrat. Seinen Wahlspruch zitiert seine Nachfahrin Christine Langenscheidt noch heute, wenn auch mit verzogenen Mundwinkeln: „Ich kenne nur Rechtschaffenheit, Mühe und Arbeit, meinen Gott und meine Pflichten“.

Sein Name wurde später fast in den Hintergrund gedrängt durch den seines Sohnes Georg von Cancrin. Der 1774 in Hanau Geborene, 1796 mangels Anstellung in Hanau zu seinem Vater Übergesiedelte, erwarb sich als Generalorganisator aller russischen Armeen (1814/15) und als russischer Finanzminister (1823-44) beträchtlichen Ruhm. Das ist noch heute im Brockhaus vermerkt, erzählt seine Nachfahrin Christine Langenscheidt stolz.

Der spätere russische Finanzminister Georg Ludwig Daniel Cancrin studierte in Marburg und Gießen Rechts- und Staatswissenschaften. Neben seinen Interessen für Berg-, Münz- und Bauwesen kamen Philosophie und Literatur nicht zu kurz, wie sein in Altona 1797 anonym erschienener Roman „Dagobert“ beweist. Nach Abschluß des Studiums folgte er 1797 seinen Eltern nach Rußland, wo er zunächst in Petersburg als Lehrer, Buchhalter und Schreiber ein entbehrungsreiches Dasein führte.

Später war er in Staraja-Russa, dem heute sehr bekannten Solbad südlich des Ilmensees,  als Gehilfe des Vaters tätig und trat damit in den eigentlichen Staatsdienst. Bald stieg der junge, begabte Cancrin zu hohen Ehren auf. Im Jahre 1805 wurde er Staatsrat, und am 7. August 1809 ernannte ihn Alexander I. zum Inspektor der ausländischen Kolonien im Gouvernement Petersburg. Im Jahre 1814 ward er Generalintendant der gesamten russischen Armee und erhielt in Anerkennung seiner überragenden Fähigkeiten den Generalstitel. Bemühungen der österreichischen Regierung, Cancrin unter überaus günstigen Bedingungen noch Österreich zu berufen, lehnte er ab, da er längst in Rußland eine zweite Heimat gefunden hatte.

 

Am 4. Mai 1823 wurde Georg Cancrin mit dem hoben Amt des russischen Finanzministers betraut, das er bis zum Jahre 1844 ausübte. Das Zeitalter der Technik begann, die ersten Dampfschiffe überquerten den Ozean, die ersten Eisenbahnen rollten durch die Länder. Die Industrialisierung kam auf. Sein Lebenswerk galt ferner dem Ausbau des Berg- und Salinenwesens, der Forst- und Landwirtschaft unter besonderer Förderung der Schafzucht, des Weinbaus und der Seidenzucht. Zahlreiche Institute und Schulen zur Verbreitung theoretischer und praktischer Kenntnisse wurden von ihm gegründet. Auf seine Veranlassung hin unternahm unter anderem Alexander von Humboldt zum Zwecke der Erschließung von Bodenschätzen Forschungsreisen nach dem Ural und Altai. Weil dieser im Ural ein seltenes Mineral entdeckte, nannte er es zu Ehren seines Förderers „Cancrinit“ (seit dem 19.  Jahrhundert wird fälschlicherweise sein Vater als Namensgeber angegeben).

Georg Cancrin, ein Mann von ausgeprägten staatsmännischen Fähigkeiten, brachte zielbewußt die zerrütteten Staatsfinanzen wieder in Ordnung und führte eine Gesundung und Belebung der russischen Wirtschaft herbei. Frühzeitig hatte er durch theoretische Arbeiten über Wirtschaftsfragen die Aufmerksamkeit der preußischen Offiziere in der Umgebung von Alexander I. auf sich gelenkt. Sein Vorgänger Guriew, der der zerrütteten Lage nicht gewachsen war, wirtschaftete mit stetem Defizit und teuren Anleihen. Er erschwerte auch dem Kaiser nach Möglichkeit jeden wahren Einblick in die wirkliche Finanzlage. Cancrin war - seinem Charakter gemäß - darauf bedacht, dem Kaiser reinen Wein einzuschenken. Auf Wunsch Nicolaus I. erteilte Cancrin dem Thronfolger und späteren Alexander II. ab 1838 zweimal wöchentlich finanzwissenschaftliche Vorlesungen.

Ersparungen, wo sie sich irgendwie recht fertigen ließen, brachten es schon im ersten Jahr seiner Tätigkeit zustande, daß das Budget mit 392 Millionen Rubel bereits um 50 Millionen niedriger lag als das letzte Budget Guriews. Cancrin brachte die Finanzen nicht nur ins Gleichgewicht, sondern ermöglichte auch eine bedeutende Schuldenrückzahlung. Er setzte durch, daß die Forderungen des Staates maßvoll blieben und keine neuen Auslands-Anleihen auf genommen wurden.

 

Cancrin wurde zu den bedeutendsten Anhängern der deutsch-russischen nationalökonomischen Schule gerechnet. Seine grundsätzlichen wirtschaftlichen Auffassungen legte er in folgenden Schriften nieder: „Weltreichtum, Nationalreichtum und Staatswirtschaft“ (1821), „Über die Militär- Ökonomie im Frieden und Krieg“ (3 Bände, 1834 ff) und „Die Ökonomie der menschlichen Gesellschaft und das Finanzwesen“ (1845). Cancrin ließ alle Schriften bezeichnender Weise in deutsch herausgeben. Eine russische Übersetzung ist erst 1894 erschienen. Seine Reisetagebücher (1840-45) hat sein Schwiegersohn, Alexander Graf Keyserling, der bekannte Gelehrte und Kurator der Universität Dorpat, 1865 herausgegeben.

Aus all den Druckschriften und seinem Briefwechsel mit Alexander von Humboldt wurde offenbar, wie Cancrin ganz in deutscher Kultursphäre lebte und atmete. Die russische Sprache hat er nur schwer erlernt und schlecht beherrscht. Am 22. September 1829, dem Tage der Veröffentlichung des Manifestes über den Frieden von Adrianopel, erhob Nicolaus I. seinen überaus begabten Finanzminister mit seinen Nachkommen in den Grafenstand des russischen Reiches.

Auf Cancrin geht die Aufnahme der Barzahlung zurück anstelle der während der Napoleonischen Kriege und den Folgejahren völlig zerrütteten Assignaten-Wirtschaft. Bei seinem Amtsantritt stand der Bankrott an der Schwelle. Rußland hatte bis 1817 über 800 Millionen Rubel Papiergeld in den Verkehr gebracht, das, weil ohne Deckung ausgegeben, völlig entwertet war. Der neue Finanzminister verhinderte die weitere Ausgabe von Assignaten (Papiergeld ohne Deckung) und führte den Silberrubel als Münzeinheit ein.

Cancrins Ordnungssinn und Sparsamkeit war es gelungen, schon zwölf Monate noch Übernahme seines Amtes eine gewisse Stabilität herzustellen. Mochte Zar Nicolaus, der Nachfolger Alexander I., bisweilen auch gegenüber Cancrins Sparsamkeit die Geduld verlieren, aber schließlich gab der Herrscher immer wieder noch und festigte dadurch Cancrins Stellung, was sich auch in dessen Verhältnis gegenüber den Großfürsten günstig auswirkte.

Unerbittlich zeigte sich Cancrin als Schutzzöllner. Er hob den Zoll-Tarif von 1819 auf, der jede eigene Fabrikationsentfaltung in Rußland unmöglich machte und sicherte durch Neufassung 1823 den Schutz der jungen russischen Fabrikation. In Petersburg errichtete er das „Technische Institut“ und sorgte für Verbreitung ausländischer Fachliteratur in russischer Sprache. Um Geldquellen für die industrielle Entwicklung zu erschließen, sorgte er für eine Verbesserung der Rentabilität der Salinen und Bergwerke. Zur Hebung der Steuereingänge schritt Cancrin zur Verpachtung des Branntweinverschleißes, wovon der er sich auch eine Verminderung der Trunksucht versprach. Diese Hoffnung erwies sich zwar als ein Irrtum, wohl aber stiegen die Steuereinnahmen im Jahre 1827 um 81 Millionen.

Vielen seiner Zeitgenossen war er in Idee und Tat weit voraus. Seine humanen Grundsätze fanden die besondere Anerkennung des Kaisers Alexander I., der ihm volles Vertrauen schenkte, ein Verhältnis, das unter Nicolaus I. fortbestand.

 

Im September 1843 besuchte Graf Cancrin auf dem Weg nach Paris mit seiner Frau, einer Gräfin aus der altrussischen Fürstenfamilie Murrawiew, zum letzten Male die Heimat seiner Väter, seinen Geburtsort Hanau und das Kinzigtal. Er wohnte im Gasthof „Zum Riesen“.  Er ließ sich, weil er Sehnsucht nach einer Stätte seiner frühen Kindheit hatte, nach Wilhelmsbad fahren. Im Jahre 1844 nahm er seinen Abschied aus dem russischen Staatsdienst, der ihm unter den ehrenvollsten Formen gewährt wurde.

Kurz vor seinem Tode veröffentlichte er als Ergebnis von Mußestunden eine Novelle: „Phantasiebilder eines Blinden“. Den eigenartigen Titel wählte er wohl im Hinblick auf seine schwindende Sehkraft, unter der er in den letzten Jahren sehr litt. Die letzten Monate seines Lebens verbrachte Cancrin in Powlowsk bei St. Petersburg. Am 9. September 1845 verstarb der Mann, der seine glänzende Laufbahn ausschließlich seiner Tüchtigkeit verdankte, im Alter von 71 Jahren.

Auch auf der Höhe seines Schaffens lebte der oft sehr schroffe Finanzminister zurückgezogen und bescheiden. Große Gesellschaften mied er, dafür schätzte er das wissenschaftliche Gespräch im Freundeskreis. Zu seinen wenigen ständigen Tischgästen zählte der aus dem Schweizer Thurgau stammende reformierte Pfarrer Johannes Muralt, der ein enger Mitarbeiter Pestalozzis gewesen und als Pädagoge und Geistlicher in der Schweiz und in Rußland in damaliger Zeit stark hervorgetreten ist.

 

Der Name Cancrin ist mit dem Bieberer Bergbau eng verbunden. Deshalb sei noch ein kurzes Wort über die Gruben im Bieberer Grund gestattet. Im Jahre 1494 gehörte das Bieberer Werk Kurmainz und Hanau gemeinsam. Im Jahre 1546 erhielt Hanau das Bergwerk als alleiniges Eigentum. Durch die politischen Wirren jener Zeit lag das Bergwerk bis 1675 still. Von da an wurden Silber, Kupfer und Blei gegraben.

Im Jahre 1693 wurde das Werk von einem Bergmeister Bär gepachtet, der zwar ein geschickter Bergmann war, aber das Hüttenwesen nicht verstand und verarmte. Dasselbe Schicksal hatten Oberstleutnant Glaubitz und der aus Sommerkahl stammende Georg Wild. Von 1702-1704 erging es Martin Kressel nicht besser. In den Jahren 1704 bis 1708 betrieb Bergrat Walther nur das Eisenwerk. Er soll mit einem Wagen voll Gold noch Bieber gekommen sein und als armer Mann den Betrieb verlassen haben. Von 1708 bis 1737 gehörten die Gruben einer Hanauer Genossenschaft unter Bergrat Jüngst aus Dillenburg. Ein Berghauptmann von Drach war damals Betriebsleiter.

Eine Wandlung zum Besseren trat erst im Jahre 1737 ein, als die Grafschaft Hanau an Hessen-Kassel fiel. Die neue Herrschaft betrieb alle Werke selbst. Landgraf Wilhelm VIII. (1730 bis 1760) von Hessen-Kassel berief geschickte Leiter an die Spitze seiner Werke, zunächst Bergrat Pauly, dessen Haus später lange Zeit als Oberförsterei diente. Paulys Nachfolger waren die Cancrins.

Nach Erscheinen seines bedeutsamen Beitrages zur Geschichte des heimischen Bergbaues wirkte Franz Ludwig Cancrin noch 25 Jahre im russischen Staatsdienst. Im Jahre 1816 starb Franz Ludwig von Cancrin als kaiserlicher Staatsrat, geehrt mit dem Adelstitel, in St. Petersburg. Im gleichen Jahr wurde auf dem Friedhof von St. Petersburg sein Landsmann, der im 50. Lebensjahr verschiedene russische General Feodor von Bauer, ein Enkel des Oberförsters Johann Valentin Bauer aus Bieber im Kreise Gelnhausen, zur letzten Ruhe gebettet.

„Am Mute hängt der Erfolg“ sagte Theodor Fontane. Der kometenhafte Aufstieg von Sohn und Enkel Cancrin war nicht nur der außerordentlichen Tüchtigkeit und Tatkraft beider zuzuschreiben, sondern lag wesentlich mitbegründet in ihrer lauteren Gesinnung und Haltung. Glück und Erfolg der Nachkommen hatten ihre Wurzeln in der verantwortlichen und naturverbundenen Arbeit des biederen Bergmeisters Johann Heinrich Cancrin im waldreichen Biebergrund.

 

Adolf Freiherr von Knigge 1777 bis 1780

Auch der Schriftsteller Adolf Freiherr von Knigge, diese abenteuerliche Persönlichkeit, dessen Buch „Über den Umgang mit Menschen“ ihn zu einer sprichwörtlichen Bedeutung brachte, spielte einige Jahre in Hanau eine Rolle. Er kam 1777 an den Hof des Erbprinzen Wilhelm und war dort „inoffizieller maitre de plaisir“, leitete ein Liebhabertheater, war eifriger Freimaurer und - Alleskönner und Scharlatan zugleich. Im Jahre 1780 war sein Hanauer Gastspiel zu Ende.

Ein rechter Lausbub muß er ja schon gewesen sein. Steckte, so berichten zeitgenössische Anekdoten, den Hofdamen Ohrenzwicker in die Hochfrisuren, verriet auf Maskenbällen die Identität verkleideter Grafen, indem er ihnen Namenszettel auf den Rücken heftete - und auch ansonsten machte der junge Freiherr um keinen Schabernack einen Bogen. Ein bloßer Hanswurst war er deswegen nicht. In seinen Schriften begeisterte er sich leidenschaftlich für die Ideale der Französischen Revolution - was den feudalen Herren, bei denen er in Lohn und Brot stand, gar nicht schmeckte. Und auch sein Faible für Geheimbünde pflegte er artig. Ob Freimaurer oder Illuminaten, der Freiherr war stets mittenmang. Nur eines wäre ihm vermutlich völlig gleich gewesen: Wenn sein Tischnachbar die Forelle mit dem Messer tranchiert und nebenbei eine Karaffe Rotwein in sich hinein geschüttet hätte. Das sollte man heute gar nicht mehr denken vom alten Adolf Franz Friedrich Freiherr von Knigge.

„Alle deutschen Demokratennester sind der Widerhall Knigge’scher Grundsätze, und Knigge ist der Widerhall der ganzen deutschen Aufklärungspropaganda“, klagte Johann Georg Zimmermann, Leibarzt Friedrichs des Großen und einer von vielen Gesinnungs-Untertanen, auf die der freche Freiherr so angenehm wirkte wie ein Kräuter-Einlauf. „Man beklatscht den Volksaufwiegler Knigge wegen der unzählbaren Pasquillen, die er des lieben Brodes willen schrieb.“

Wohl wahr, Knigge, Jahrgang 1751 schrieb viel - Theaterstücke, Reisebeschreibungen, Romane, politische, pädagogische und spöttische Traktate - und nicht alles, was er verfaßte, hat sich im literarischen Olymp etabliert.

Aber seinerzeit, Ende des 18. Jahrhunderts, war der schreibende Adels spröss ein durchaus erfolgreicher Autor. Reich werden konnte man damals damit nicht. Seit dem 14. Jahrhundert hatte die Knigges „Herren auf Bredenbeck und Pattensen“ - den Landstrich südlich von Hannover als Guts- und Gerichtsherren regiert. Adolfs Vater schien den Genüssen des weltlichen Lebens keinesfalls abhold und war gewiß kein Sparbrötchen: Als Adolf jedenfalls 1766 sein Erbe hätte antreten können, befand es sich bereits in der Hand der Gläubiger. Dem später erfolgreichen Autor war es Zeit seines Lebens nicht vergönnt, den Familienbesitz wieder zurückkaufen zu können.

Dennoch verlief die Karriere des jungen Knigge leidlich: Nach Jura-Studium in Göttingen tummelte sich Adolf recht bald am Hofe des Landgrafen Friedrich II. von Hessen-Kassel. Das paßte natürlich wie die Faust aufs Auge: Hier der verarmte Adelige mit Revoluzzer-Fantasien und Faible für die Menschenrechte, dort der Kasseler Potentat, der für gutes Geld seine Landeskinder an den König von England verhökerte, der die Hessen gegen die abtrünnigen amerikanischen Provinzen ins Feld schickte. Adolf lebte sich trotzdem gut bei Hofe ein, begann ein Techtelmechtel mit der Kusine des Landgrafen und war ob seiner scharfen Zunge und seines wachen Geistes durchaus beliebt.

Seine unselige Leidenschaft, die Leute auf die Schippe zu nehmen, brachte ihn wider Willen unter die Haube. Henriette von Baumbach - weder besonders schön noch besonders helle, aber immerhin Hofdame - war offenbar bevorzugte Zielscheibe von Knigges Spott. Landgräfin Phili­ppine, die Henriette schätzte, rächte sich aufs Furchtbarste: Sie gab, da Knigge ja ganz offenkundig die Gesellschaft der Baumbacherin schätzte, recht einseitig die Verlobung bekannt - eine Zwickmühle, aus der sich der spottlustige Freiherr nicht mehr retten konnte.

Die Ehe, aus der seine einzige Tochter Philippine (geboren 1775) stammt, hielt erwartungsgemäß nicht ewig, und seine schlechte Meinung über den Bund fürs Leben muß Knigge wohl in dieser Zeit verfestigt haben. „Es ist ein Stand der schwersten Sklaverei, ein Seufzen unter den eisernen Fesseln der Notwendigkeit, ohne Hoffnung einer anderen Erlösung, als wenn der dürre Knochenmann mit seiner Sense dem Unwesen ein Ende macht.“ Von Amors Pfeilen und seinen Opfern hielt der Zwangsvermählte nicht mehr viel. „Verliebte sind, so wenig als andere Betrunkene, zur Gesellschaft geschickt“,  giftete er.

Beruflich lief es auch nicht glänzend - obwohl Knigge bereits in Kassel die Nähe der kurfürstlich protegierten Loge „Zum gekrönten Löwen“ sucht. Er hofft, seine neuen Freunde konnten ihm bei Erlangung der Promotion behilflich sein. Ein Irrglaube: Geholfen wird dort nur gegen Bares, das hat Knigge nicht, und er wandert enttäuscht gen Hanau.

Hier erwartet ihn eine Anstellung als „inoffizieller Maitre de Plaisir“ am Hofe des Erbprinzen Wilhelm - und die Freimaurerloge „Ritter vom weißen Schwan“. Die protegieren ihre Logenbrüder zwar honorarfrei, sind aber leider ein Haufen mystischer Schwärmer, die sich mit den angeblichen Traditionen der Templer dicke tun und die Freimaurerei als Privileg des Adels betrachten. Nichts für Knigge.

Ihn zieht es jetzt nach Frankfurt - und zur Loge „Zur Einigkeit“. Im Jahre 1780 bezieht er ein Gartenhäuschen an der Bockenheimer Warte. Seiner mystischen Ader tut die Mainluft gut: Knigge schließt sich dem bayerischen Illuminaten-Orden an und schreibt dessen Chef Adam Weißhaupt regelmäßig Briefe über den Zustand der Frankfurter Freimaurerei. Die Illuminaten gedeihen am Main unter Knigges Regie prächtig: In den Mitgliedslisten findet sich neben jeder Menge Hochadel und Geistlichkeit auch der unvermeidliche Geheimrat Goethe. Ob er am Aufbau eines hessischen Illuminaten-Ordens arbeitet oder, wie oft vermutet, auf eine Vereinigung von Freimaurerei und Illumination hofft (die schließlich beide auf dem Geist der Aufklärung basieren), bleibt unklar.

Jedenfalls geht es daneben. Seiner Karriere - Knigge lebt mittlerweile von der Schriftstellerei - bringt weder der eine noch der andere Orden neuen Schub. Knigge kehrt beidem den Rücken. Den Geruch von Geheimbündnerei und Jakobinertum wird er Zeit seines Lebens nicht mehr los.

Frankfurt, das er 1782 verläßt, behält Knigge in nicht allzu guter Erinnerung. Unter den deutschen Reichsstädten, giftet er im nachhinein, befände sich eine, die maßlos überschätzt werde. Und die schon damals kein tolles Pflaster war für einen chronisch Klammen: „Wehe dem Manne, der bei einem Frankfurter Kaufmann Verbindlichkeiten haben sollte.“

So vergessen die Zeit des Wirkens des Freiherrn in Frankfurt ist, so unvergessen ist sein Lebenswerk - wenn auch brutal entstellt. Sein Hauptwerk - 1788 erschienen - gilt heute noch als Benimm-Fibel und Religions-Substitut für Gouvernanten. Was Blödsinn ist. Es ist eher ein philosophischer Exkurs über das Verhalten der Menschen untereinander - unabhängig von gesellschaftlichem Stand und Bildung. Das Buch wurde vielfach umgeschrieben, verfälscht, verwässert von Post-Autoren, die Benimm mit Etikette verwechselten.

 

Am 28. August 1782 hat im Schloß Philippsruhe der Hanauer Freimaurerkongreß stattgefunden. Aus diesem Anlaß hatte an diesem Tag im Jahr 2007 der Hanauer Geschichtsverein eingeladen.

Referent des Abends war Ingo Hermann, der soeben mit einer umfangreichen und viel beachteten Monographie über den Freiherrn Knigge hervorgetreten ist.  Überdies nahm der Verein „Graf Philipp Ludwig von Hanau“„ (Hanauer Märteswein-Vereinigung) das historische Datum zum Anlaß, ein äußerst seltenes Werk zu jenem Ereignis, das in Wilhelmsbad und in Philippsruhe stattgefunden hat, dem Verein und damit der Hanauer Öffentlichkeit zu übergeben. Mit einem Erstdruck von Knigges „Abhandlung über den Freimaurerkongreß, der am 28. August 1782 in Wilhelmsbad unweit Hanaus stattgefunden hat” ist diese äußerst seltene und wohl authentischste Darstellung des Ereignisses in Hanau vorhanden.

Gleichwohl mußten die Zuhörer zur Kenntnis nehmen, daß Knigge selbst gar nicht an dem Kongreß teilgenommen hat. Zwar gehörte der nachmalige Vordenker der deutschen Aufklärung und publizistische Streiter für die Emanzipation des Bürgertums wohl zu den Organisatoren, doch in Hanau konnte sich der Freiherr nicht mehr so recht blicken lassen. Wie Hermann bildhaft beschrieb, war Knigge, ohne rechtes Einkommen und nachdem er am Kasseler Hof erst „zwangsverheiratet” wurde und dann in Ungnade gefallen war, im Jahr 1777 nach Hanau gekommen. Am Hofe des Erbprinzen hatte er ohne Festanstellung, also ohne Salär, die Rolle eines Maitre de Plaisir und Direktors des Liebhabertheaters übernommen.

Doch seine offene, bisweilen die Etikette des Hofes grob mißachtende Art hatte ihn schnell erneut in Ungnade gebracht, so daß er schließlich Hanau 1780 verlassen mußte. Von Frankfurt aus begann er eine schriftstellerisch-publizistische Karriere, die ein Werk von 24 Bänden hervorbrachte und in deren Verlauf Knigge nicht nur Mozarts „Hochzeit des Figaro” ins Deutsche übertrug, sondern sich vor allem engagiert für die Gedanken der Aufklärung einsetzte. Dazu gehörte, daß er, wie Goethe, Schiller oder Mozart, der Freimaurerei anhing, einer Vorform politischer Parteien unserer Tage, denn in der höfischen Gesellschaft konnten nirgendwo anders als in diesen geschlossenen Zirkeln politische Ideen diskutiert und entwickelt werden.

Der Hanauer Kongreß, der eine Art Vereinigungskongreß aller Strömungen der Freimaurerei werden sollte, endete ergebnislos. Gleichwohl ist er eines der großen Ereignisse der Freimaurerei und hat deren prominente Vertreter nach Hanau gebracht, wie etwa den Herzog von Braunschweig und den Grafen St. Germain.

Am Beispiel des hochgebildeten und sprachgewandten Knigge, den Hermann bis heute deshalb für unterschätzt hält, weil er stets fälschlicherweise in die Schublade eines Romanschriftstellers gesteckt werde, konnte der Referent ein interessantes Schlaglicht auf die Zustände am Hanauer Hof werfen. Dieser steht exemplarisch für die überkommenen Strukturen des 18. Jahrhunderts, die ja dann schließlich mit der Französischen Revolution 1789 vollends ins Wanken gerieten. Über Hanau, jenes „niedliche Städtchen”, hat sich Knigge zunächst sehr positiv geäußert. „ ... und wenn ich je einen Hof gesehen habe, wo mir alles so wohl gefallen hat, so war es dieser. So viel ungezwungene Höflichkeit gegen Fremde, so ein guter nicht geschraubter Ton, so eine gute, gnädige Herrschaft, so viel Häuslichkeit und Einigkeit!” Doch das undiplomatische Auftreten des gerade einmal 25-Jährigen machte dann alles zunichte.

Abschließend ging Hermann noch auf Knigge als Namensgeber für das gleichnamige Benimm-Buch ein. Mit seinem zu Lebzeiten schon erfolgreichen Werk „Über den Umgang mit Menschen” habe Knigge eine Lanze für gesellschaftlichen Anstand brechen wollen und dies mit Blick auf die erstarkende Bürgersicht. Adelige Tugenden sollten weiterentwickelt werden, doch den Adel selbst sah Knigge so kritisch, daß er das „von” aus einem Namen tilgte. Mit seinem Buch hatte er also keineswegs die Tischsitten im Visier, vielmehr habe sein Verleger nach Knigges Tod 1796 den anhaltenden Bestseller bis zur Unkenntlichkeit umschreiben zu lassen. Daß der Name Knigge zu einem Gattungsbegriff für allerlei Benimm-Bücher „bis hin zum Sex-Knigge” geworden sie, dies habe der Freiherr nicht ahnen können.

 

Die Brüder Grimm 1785

Der Name Grimm wird in den Ratsprotokollen der Altstadt Hanau zum erstenmal 1639 erwähnt: Johannes Grimm, Gastwirt im „Weißen Roß“, nahe der Kinzigbrücke. Er kam von Bergen, wo die Familie seit dem Jahre 1549 nachgewiesen werden kann. Später war er Schaffner (Verwalter) des Johanniter-Hauses in Rüdigheim.

Der Urgroßvater Friedrich Grimm war in Neu-Hanau am 16. Oktober 1672 geboren und ist anscheinend der erste der Familie gewesen, der einen gelehrten Beruf erwählte: Er wurde Prediger und starb 1748 als Konsistorialrat in Hanau.

Sein Sohn Friedrich, der Großvater der Brüder, 1707 geboren, wurde Prediger in Steinau an der Straße. Aus seiner Ehe mit Christine Elisabeth Heilmann, Tochter des Hofgerichtsrates, Stadtschultheißen und Amtmanns des Büchertals, Johann Georg Heilmann zu Hanau, entsprossen zehn Kinder, von denen jedoch nur zwei Töchter und ein Sohn den Vater überlebten. Dieser Sohn, Philipp Wilhelm, am 19. September 1751 in Steinau geboren, ließ sich nach seinem Studium in Marburg und Herborn in Hanau als Advokat nieder und heiratete 1783 Dorothea Zimmer, Tochter des hessisch-hanauischen Kanzleirates Johannes Hermann Zimmer. Grimm wurde später Hochfürstlicher hessen-hanauischer Stadt- und Landschreiber. Die Ehe war mit neun Kindern, acht Söhnen und einer Tochter, gesegnet; aber von dieser Kinderschar blieben nur fünf Söhne und die Tochter am Leben.

Jakob und Wilhelm waren das zweite und dritte Kind. Jakob wurde am 4. Januar 1785, Wilhelm am 24. Februar 1786 in dem breiten Hause auf der Südseite des Freiheitsplatzes (gleich vor dem jetzigen Kino) geboren, das Hanauer Bürger im Jahre 1871 mit einem Bronzerelief der Brüder und einer Marmortafel mit Inschrift schmücken ließen. Gegenüber auf dem Freiheitsplatz steht ein Gedenkstein.

 

Reisen war zu Grimms Zeiten eine beschwerliche Beschäftigung (In heutiger Währung hätte die Fahrt von Kassel nach Hanau umgerechnet 250 Euro gekostet).  „So prächtig wie heute waren die Kutschen damals nicht“, bemerkte der Sprach- und Literaturwissenschaftler Wilhelm Grimm, der 1786 das Licht der Welt erblickte („Von unserer Mutter in einer Mischung aus Wasser und Wein gebadet“, verriet sein um ein Jahr älterer Bruder Jacob). So mondän ging es auf Achse nicht zu, im Gegenteil: Blieb der Wagen stecken, mußten die Passagiere „den Karren aus dem Dreck ziehen“ und auch bei Reparaturarbeiten einmal mit anpacken.

Abgestiegen sind die Reisenden nicht in barocken Residenzen, sondern in den so genannten „Postschenken“. Dort wurde zunächst getrunken und gespeist, der Gastraum wandelte sich anschließend zum Schlafsaal. Die Zeitgenossen der Märchensammler nächtigten in den überfüllten Schenken in Kleidung und Schuhen sowie auf den Tischen oder auf dem Boden. Wilhelm Grimm wußte sich zu helfen, er reiste nämlich stets mit eigener Bettwäsche durch das Land.

Der Lebensstil der Grimms war durchaus modern. Zunächst lebten sie mit ihrer acht Jahre jüngeren Schwester Charlotte Amalie zusammen. Als „Lottchen“ allerdings heiratete und die Wohngemeinschaft verließ, mußte eine neue Frau in den Haushalt. Wilhelm heiratete im Mai 1825 Henriette Dorothea Wild, die Tochter des Apothekers Wild in Kassel, die er schon als Kind gekannt hatte. Jakob blieb unvermählt. Dorothea aber war auch dem Schwager eine treue Freundin und Beraterin, sie hat Jacob Grimm bis zu dessen Tod mitversorgt. Während die beiden in ihrer Kindheit in Zucker getränkte Brotkrumen als Bonbons lutschten, Gugelhupf liebten und bei Krankheit schon mal einen Schnuller mit Branntwein bekamen, speisten sie deutlich abwechslungsreicher als das normale Volk.

Das kaufte auf dem Hanauer Wochenmarkt Getreide, Brot, Käse, Wurst und Fleisch, während bei den Privilegierten auch Oliven, Olivenöl, Schokolade. Schaumwein, Kaffee, Gewürze und Südfrüchte auf den Tisch kamen. „Ich bezweifle aber, daß Hanau jemals eine reife Frucht erreicht hat, die nicht aus einer Orangerie kam“, meinte Jacob Grimm. der sich auch während der streng eingehaltenen Fastenzeit zu helfen wußte. „Dann wurde die Brezel einfach in den Wein getunkt und war keine feste Nahrung mehr“.

Am Tisch saßen er und sein Bruder mit Besteck und Geschirr aus Zinn. Die Reichen leisteten sich Kristall für ihre Tafel. Eine besondere Rolle nahm der Löffel ein. Da ohne ihn sinnbildlich niemand leben konnte, bekamen Kinder zur Geburt einen geschenkt und behielten ihn das ganze Leben. Mit Eintreten des Todes ,.gab jemand den Löffel ab“.

Die Brüder Grimm spielten mit Reifen, Seifenblasen, Stelzen, Drachen und Bällen. Für die Mädchen gab es je nach sozialem Status Puppen aus Holz oder Porzellan. „Auch wir hatten eine Puppenküche“, wunderten sich Jacob und Wilhelm, die lieber mit ihren Bleisoldaten in den Krieg zogen. „Zeit zum Spielen gab es aber nur wenig, da Kinder entweder früh als Arbeitskraft wirken mußten oder in den privilegierten Schichten mit Musikinstrumenten ,erzogen' wurden.“

 

Als Jakob sechs Jahre alt war, wurde der Vater zum Amtmann in Steinau, wo er selbst geboren war, ernannt, und im herrlichen Kinzigtal erlebten die Kinder eine schöne Jugendzeit. Der Vater starb schon 1796, und nun lag die ganze Sorge des Unterhalts und der Erziehung auf den Schultern der Mutter.

Ende September 1798 kamen die beiden Knaben nach Kassel, wo sie bei ihrer Tante Henriette Philippine Zimmer, der Kammerfrau der Landgräfin Karoline von Hessen, untergebracht wurden.

Da die bisherige unterrichtliche Vorbildung recht mangelhaft war, konnte Jakob nur in die Unterquarta (später Quinta), aufgenommen werden; Wilhelm mußte bis Ostern warten und sich durch Nachhilfeunterricht für diese Klasse vorbereiten. Aber nachdem sie beide den Anschluß an ihre Klassen gefunden hatten, machten sie durch unermüdlichen Fleiß und ihre natürliche Begabung so rasche Fortschritte, daß sie die Schule in der Hälfte der vorgeschriebenen Zeit durchliefen. Jakobs Abgangszeugnis beginnt mit den Worten: „Das Lob herrlicher Geistesgaben und eines unaufhaltsamen Fleißes verdient der edle Jüngling Jakob Grimm.“

Nach Ostern 1802 bezog Jakob die Universität Marburg. Es war die erste Trennung von seinem Bruder Wilhelm, mit dem er stets in einer Stube gewohnt und geschlafen hatte. Aber den Schmerz der Trennung überwand er, weil „es galt, der geliebten Mutter, deren Vermögen fast zusammengeschmolzen war, durch eine zeitige Beendigung der Studien und den Erfolg einer gewünschten Anstellung einen Teil ihrer Sorge abzunehmen und einen kleinen Teil der großen Liebe, die sie ihnen mit der standhaftesten Selbstverleugnung bewies, ersetzen zu können“.

Wilhelm, der die Jugendjahre ohne Krankheit durchlaufen hatte, fing in seinem letzten Schuljahr an, gefährlich zu kränkeln. Er bezog auch die Universität Marburg und begann, wie sein Bruder Jakob, das Studium der Rechte, hauptsächlich, wie Jakob schreibt, „weil ihr seliger Vater Jurist gewesen sei und die Mutter es so am liebsten hätte“.

Die beiden Studenten mußten sehr sparsam leben, da es ihnen „aller Verheißungen ungeachtet nie gelungen war, die geringste Unterstützung zu erlangen, obgleich die Mutter die Witwe eines Amtmannes war und fünf Söhne für den Staat großzog. Doch hat es mich nie geschmerzt, vielmehr habe ich oft hernach das Glück und auch die Freiheit mäßiger Vermögensumstände empfunden. Dürftigkeit spornt zu Fleiß und Arbeit an, bewahrt vor mancher Zerstreuung und flößt einen nicht unebenen Stolz ein, den das Bewußtsein des Selbstverdienstes gegenüber dem, was anderen Stand und Reichtum gewähren, aufrechterhält“.

In Marburg hörten die Brüder unter anderem die Vorlesungen des jungen Professors Friedrich Karl von Savigny, der sich später einen der berühmtesten Namen in der gelehrten Welt erwarb und mit dem die Brüder eine lebenslange innige Freundschaft verband. Bei einem Besuche bei Savigny sah Jakob zum ersten Male ein Buch aus dem Gebiete der Sprachwissenschaft, in der er sich später den höchsten Ruhm erwerben sollte: eine Ausgabe der Minnesänger.

Als Savigny im Jahre 1804 wegen Quellenstudien nach Paris ging und bei diesen Forschungen einen Mitarbeiter benötigte, berief er Jakob Grimm, der Ende Januar 1805 in Paris eintraf. Die Trennung war beiden Brüdern schwer, und wie sehr sie einander verbunden waren, zeigt ein Brief Jakobs am 12. Juli 1805: „Wir wollen uns, Lieber Wilhelm, einmal nie trennen, und gesetzt, man wollte einen anderswohin tuen, so müsse der andere gleich aufsagen. Wir sind nun diese Gemeinschaft so gewohnt, daß mich schon das Vereinzeln zu Tode betrüben könnte.“ So haben es die Brüder für ihr ganzes Leben gehalten: sie arbeiteten in einem Zimmer an zwei Arbeitstischen, später in zwei nebeneinander liegenden Zimmern.

Im September 1805 traf Jakob wieder in Marburg ein und nach bestandenem Examen fuhr er mit Wilhelm zur Mutter, die inzwischen ihren Wohnsitz nach Kassel verlegt hatte. Noch in demselben Winter bewarb sich Jakob um eine Anstellung als Assessor oder Sekretär bei der Regierung, wurde jedoch nur in einer kleinen Stellung im Sekretariat des Kriegsministeriums mit einem jährlichen Gehalt von hundert Talern angenommen. In seiner freien Zeit beschäftigte er sich eifrig mit dem Studium der Literatur des Mittelalters.  Wilhelm hatte im Frühjahr 1806 seine Prüfung ebenfalls bestanden und wartete auf eine Anstellung in Kassel.

Aber nach der Besiegung Preußens bei Jena und Auerstedt im Jahre 1806 rückten am 1. November französische Truppen in Kassel ein. „Es waren meines Lebens härteste Tage, daß ich mit ansehen mußte, wie ein stolzer höhnischer Feind in mein Vaterland einzog.“ (Jakob Grimm). Durch eifriges Studium und Versenken in das „Altertum unserer edlen Sprache und Dichtkunst, aus welcher auch Seitenpfade in das altheimische Recht einschlugen“, kamen beide über die traurige Zeit der Fremdherrschaft hinweg.

Das Kriegskollegium, bei dem Jakob Grimm angestellt war, wurde unter der französischen Herrschaft in eine Truppenverpflegungskommission umgewandelt, und da er des Französischen mächtiger war als alle übrigen Beamten, wurde ihm ein großer Teil der lästigen Geschäfte aufgebürdet.

Im Jahre 1807 bat er um seine Entlassung aus dem ihm nicht zusagenden Dienst. Eine Bewerbung um eine Stelle an der öffentlichen Bibliothek hatte keinen Erfolg. Da seine Besoldung ausfiel, war es ein kummervolles Jahr, da er nichts dazu beitragen konnte, der Mutter beim Unterhalt der Familie zu helfen. Dazu kam, daß Ende Mai 1808, erst 52 Jahre alt, die Mutter starb, „an der wir alle mit warmer Liebe hingen, und nicht einmal mit dem Trost, eines ihrer sechs Kinder versorgt zu wissen. Hätte sie nur wenige Monate noch gelebt, wie innig würde sie sich meiner verbesserten Lage gefreut haben.“

Auf Empfehlung des Geschichtssehreibers Johannes von Müller wurde Jakob Grimm zum Bibliothekar der Privatbibliothek des Königs Jerome mit zweitausend Franken Gehalt ernannt, die bald auf dreitausend erhöht wurden. Er hatte nicht viel Arbeit in seiner Stellung, umso mehr konnte er sich mit seinen Lieblingsschriften, den Minnesängern und der altdeutschen Sprache und Dichtung, beschäftigen.

Wilhelm mußte im Frühjahr 1809 wegen einer Herzkrankheit und wegen seiner früheren Atembeschwerden einen berühmten Arzt in Halle befragen. Im Spätherbst reiste er nach Berlin, um Achim von Arnim zu besuchen, der zusammen mit Clemens Brentano im Jahre 1806 die berühmte Volksliedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“ herausgegeben hatte. Mit beiden Dichtern der Romantik waren die Brüder durch Savigny, der der Schwager Brentanos war, bekanntgeworden. In der von beiden Dichtern herausgegebenen „Zeitung für Einsiedler“ veröffentlichte Jakob seine Gedanken über das Verhältnis von Poesie und Geschichte und Wilhelm Übersetzungsproben aus seinem erst 1811 abgeschlossenen Buche „Altdänische Heldenlieder, Balladen und Märchen“. Auf der Heimreise hatte Wilhelm das Glück, auf Empfehlung von Achim von Arnim von Goethe in Weimar empfangen zu werden.

Die Kur in Halle hatte Wilhelm gut getan; das Übel war zwar noch nicht ganz verschwunden, aber die Anfälle kamen seltener und nicht mehr so heftig. Er selbst bezeichnet das Jahr 1809 als Wendepunkt.

Im Jahre 1813 ging die Fremdherrschaft zu Ende. Bald nach der Schlacht bei Leipzig kehrte die Kurfürstliche Familie nach Kassel zurück, vom Volke mit großem Jubel empfangen. Im Dezember 1813 wurde Jakob Grimm zum Legationssekretär ernannt und dem hessischen Gesandten beim großen Hauptquartier der verbündeten Heere beigegeben. Und Wilhelm Grimm erhielt 1814 die Stelle eines Bibliotheksekretärs an der Museumsbibliothek in Kassel.

Neujahr 1814 reiste Jakob von Kassel ab und kam endlich im April in dem eingenommenen Paris an. Er benutzte trotz der Unruhe der Zeiten jeden Augenblick, um in den Bibliotheken der Städte nach literarischen Schätzen zu forschen. In Paris mußte er auftragsgemäß nach den aus Hessen verschleppten Kunstschätzen und Büchern forschen und sie zurückfordern. Er entledigte sich dieses Auftrages mit großem Geschick. Derselbe Gehilfe, der ihm die Bücher in Kassel beim Abzug der Franzosen 1813 hatte packen helfen, mußte sie ihm jetzt wieder ausliefern.

Kaum war er Juli 1814 nach Kassel zurückgekehrt, als er den hessischen Gesandten, den Grafen Keller, zum Kongreß nach Wien begleiten mußte. Das diplomatische Amt machte ihm weniger Freude, und fast in jedem Briefe finden sich Klagen. „Vom Kongreß ist nicht viel zu rühmen: 1. geschieht nichts, 2. was geschieht, heimlich, kleinlich, gewöhnlich und unlebendig. Auf diesem Wege entspringt aus jeder Frage wieder eine Vorfrage, und aus der Vorfrage noch eine andere, worüber sie verzweifeln und sich immer mehr hineinwickeln, währenddes die Grundlage von unserer Not und Notwendigkeit so klar darliegt, daß ordentlich die Stimme eines unschuldigen Kindes auftreten und das Rechte aussprechen sollte.“

Während seiner Tätigkeit in Wien benutzte er jede Minute seiner Freizeit, in den reichhaltigen Bibliotheken zu suchen und zu studieren; auch nahm er die Gelegenheit wahr, das Serbische zu erlernen.

Endlich kam für Jakob Grimm das sehnlichst erwartete Ende des Kongresses herbei, und im Juli 1815 kehrte er nach Kassel zurück. Zum zweiten Male mußte er auf Anforderung der preußischen Behörden, nach Napoleons Rückkehr von der Insel Elba, nach Paris gehen, um die in den vorhergehenden Jahren von den Franzosen geraubten Kunstschätze und Handschriften zurückzufordern. Nach Kassel zurückgekehrt, lehnte er die beabsichtigte Berufung als Gesandtschaftssekretär am Bundestag in Frankfurt ab, da er um keinen Preis in der diplomatischen Laufbahn bleiben wollte.

 

Im April 1816 wurde Jakob zum Bibliothekar an der Kasseler Bibliothek ernannt, an der Wilhelm seit 1814 Bibliotheksekretär war. „Von jetzt ab beginnt die ruhigste, arbeitsamste und vielleicht auch die fruchtbarste Zeit meines Lebens....".Nichts hätte gefehlt, als eine mäßige und gerechte Gehaltszulage für mich und meinen Bruder, und es würden uns in dieser Hinsicht wenig Wünsche übrig geblieben sein.“ Jakob bezog 600, Wilhelm 300 Thaler Jahresgehalt.

Wilhelm hätte längst Anrecht auf eine Beförderung gehabt, aber die Zusammenarbeit mit seinem Bruder galt ihm mehr. „Dankbar haben wir die glückliche Zeit genossen, wo wir eine willkommene und belehrende Beschäftigung fanden, daneben Muße zum Studieren und zur Ausführung mancher literarischer Pläne.“ (Wilhelm.) Wie einträchtig die Brüder zusammen lebten und wie sehr sie jede Trennung vermieden, zeigt die Tatsache, daß Jakob eine ehrenvolle Berufung als Professor an die neugegründete Universität Bonn ablehnte!

Inzwischen war schon während der Franzosenzeit der wissenschaftliche Ruf der Brüder durch eine Reihe hervorragender Veröffentlichungen begründet worden. Jakob hatte neben einer Anzahl von Aufsätzen in wissenschaftlichen Zeitschriften vierzig altspanische Romanzen, Wilhelm eine Übersetzung der dänischen Heldenlieder, aus denen er bereits 1809 Goethe vorgelesen hatte, herausgegeben. Gemeinschaftlich hatten sie 1812 die beiden ältesten deutschen Gedichte, das Hildebrandslied und das Wessobrunner Gebet, veröffentlicht, 1815 folgte das mittelhochdeutsche Epos „Der arme Heinrich“ von Hartmann von Aue und die Lieder der alten Edda.

Für alle Zeiten aber wurden ihre Namen in das Herz aller Deutschen eingeschrieben durch die „Kinder- und Hausmärchen“ (1812 bis 1815). „Die Märchen haben uns“, so konnte Wilhelm bereits 1815 sagen, „bei aller Welt bekannt gemacht.“ Sie sind bald in alle Kultursprachen übersetzt worden. In der Vorrede zum ersten Band heißt es: „Alles ist mit wenigen Ausnahmen, fast nur in Hessen und den Main- und Kinziggegenden in der Grafschaft Hanau, wo wir her sind, nach mündlicher Überlieferung gesammelt...“. Und in der Vorrede zu dem 1815 erschienenen zweiten Band wird auf die oft genannte hessische Märchenfrau, die „Viehmännin“ aus dem Dorfe Zwehren, hingewiesen: „Diese Frau, nicht viel über 50 Jahre alt, bewahrt diese alten Sagen fest in dem Gedächtnis. Sie erzählt bedächtig, sicher und ungemein lebendig, erst ganz frei, dann, wenn man will, noch einmal langsam, so daß man ihr mit einiger Übung nachschreiben kann; niemals ändert sie bei einer Wiederholung etwas in der Sache ab und bessert ein Versehen, sobald sie es bemerkt, mitten in der Rede gleich selber.“ Nach handschriftlichen Notizen Wilhelm Grimms sind noch zwei Kasseler Familien an der Sammlung beteiligt: Die Familien Wild und Hassenpflug. Eine weitere Gruppe der Märchen stammt aus dem Paderbornschen, sie sind zum Teil in westfälischer Mundart geschrieben.

Wilhelm Grimms Märchensammlung hat bald im ganzen deutschen Sprachgebiet Nachahmung gefunden: von der Ostsee bis in die Schweizer und österreichischen Gebiete wurde eine reiche Ernte eingebracht. Die Arbeiten der Brüder strahlten auch über die deutschen Grenzen aus, überall wurden Märchensammlungen veranstaltet, und es zeigte sich, wie in allen Kulturländern in diesen Volksdichtungen eine auffallende Übereinstimmung gewisser Motive herrscht. Noch eine weitere bedeutende Folge zeitigten die Grimmschen Sammlungen von Märchen und Sagen: von ihnen aus gingen die wissenschaftlichen Bestrebungen der Volkskunde in allen Ländern, die heute zu einem nicht mehr wegdenkbaren Bestandteil der Sprachwissenschaft geworden ist.

 

Im Jahre 1816-1818 gaben die Brüder eine zweibändige Sammlung „Deutsche Sagen“ heraus. Der erste Band enthält die örtlich gebundenen, der zweite die geschichtlichen Sagen. Es war eine mühevolle, fleißige Arbeit, in der sie den Unterschied darstellten zwischen der an einem bestimmten Ort, an geschichtliche Personen und Ereignisse gebundene Sage und dem frei von Zeit und Raum dastehenden Märchen.

Wenn alles Übrige ihrer Werke vergessen würde, mit den Märchen und den Sagen haben die beiden Brüder sich für das deutsche Volk unsterblich gemacht. Mit Ehrfurcht vor den Regungen der Volksseele und deshalb auch mit den philologischen Streben nach genauer Wiedergabe der Überlieferung haben sie ihr bedeutendes Kultur-Sammelwerk vollbracht.

Obwohl die Brüder bei ihrer Arbeit weiterhin einträchtig zusammenwirkten in der Erforschung der deutschen Sprache und Dichtung, trat allmählich, der Neigung des einzelnen entsprechend, eine getrennte Richtung heraus: Wilhelm widmete sich weiterhin der alt- und mittelhochdeutschen Dichtung, Jakob beschäftigte sich mit dem formalen Aufbau der Sprache. Im Jahre 1819 erscheint von ihm der erste Band der deutschen Grammatik, der von den Gelehrten mit Begeisterung aufgenommen wurde. Im Jahre 1829 erschien eine zweite gänzlich umgearbeitete Auflage, die das zwar schon bekannte, aber von Jakob Grimm erst formulierte Gesetz der Lautverschiebung enthält, das seinen Namen in der gesamten gelehrten Welt berühmt machte und das die Engländer Grimm’s Law (Gesetz) nennen.

Es wurde schon früher erkannt. daß die indogermanischen Sprachen (das Arische, das Iranische, das Armenische, das Griechische, das Albanesische, das Italienische, das Keltische und das Germanische) einmal aus einem Volke hervorgegangen sind. Jakob Grimm aber erkannte, daß sich die Veränderungen der einzelnen Sprachen nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten vollzogen haben, von denen die auffälligste Erscheinung die Lautverschiebung ist. So wird indogermanisch „p“ zu „f“ verschoben, z. B. lateinisch „pellis“ wird zu „Fell“, „nepos. Enkel oder Neffe“ wird zu „Neffe“ und „pater“ wird zu „fater“. Indogermanisch „t“ wird zu einem Zischlaut: lateinisch „tres“ wird zu englisch „three“, und im Deutschen, das im sechsten bis achten Jahrhundert eine nochmalige Verschiebung durchmacht, zu „d“ verschoben. Indogermanisches „k“ wird zu einem Gaumen- oder Kehlreibelaut verschoben: lateinisch „dico“ wird zu „zeihen“, lateinisch „lucere“ wird zu „licht“.

Bis 1837 erschienen noch drei weitere Bände, die die Wortbildung und Satzlehre behandeln. Die „Deutsche Grammatik" ist nicht die Darstellung eines Systems, wie wir sie in unseren Schulgrammatiken haben, keine Aufstellung von Sprachregeln, sondern sie ist viel umfassender: Sie zeigt den Zusammenhang und die Entwicklung aller germanischen Sprachen (Gotisch, Nordisch, Englisch, Friesisch, Niederländisch und Deutsch).

In die Kasseler Zeit fällt auch die Veröffentlichung der „Deutschen Rechtsaltertümer“ (1828). Jakob hatte das Werk begonnen, um sich von der grammatischen Arbeit zu erholen; aber der Band wuchs zu neunhundert Seiten an, so daß es, wie er im Vorwort sagte, „mit der Erholung beinahe fehlgeschlagen wäre“. Kein anderer als der „Rechtsgelehrte“ Jakob Grimm konnte die sprachlichen Bezeichnungen, wie sie im germanischen Altertum für Rechtsverhältnisse gebraucht wurden, erklären. Sein besonderes Augenmerk richtete sich, da er überall das Sinnliche im Geistesleben suchte, auf die vielen symbolischen Handlungen, die das germanische Rechtsleben begleiteten.

Wilhelm Grimms Augenmerk war besonders auf die Erforschung der alt- und mittelhochdeutschen Denkmäler gerichtet, von denen er eine beträchtliche Anzahl veröffentlichte. In den „Altdeutschen Wäldern“, einer Zeitschrift, die die Brüder von 1813-1816 herausgaben, erschienen Wilhelms umfassende Studien zu den deutschen Heldensagen. Alles, was er aus den alten Epen an Hinweisen und Andeutungen auf die Sage von Siegfried, Dietrich von Bern, Ermanarich und andere Helden gefunden hatte, kam im Jahre 1829 als die „Deutsche Heldensage“ heraus, die man als Wilhelms Hauptwerk ansehen darf.

 

Im Jahre 1829 erlebten beide Brüder eine arge Enttäuschung: Nach dem Tode des ersten Bibliothekars glaubten sie, gerechten Anspruch auf Beförderung zu haben. Allein ein anderer wurde ihnen vorgezogen. Jakob blieb zweiter Bibliothekar, Wilhelm mußte weiterhin mit der Stelle eines Bibliotheksekretärs zufrieden sein, die er seit 1815 innehatte. Da die Brüder keine Aussicht auf Beförderung sahen, so folgten sie im Oktober 1829 einem Rufe des Königs von Hannover an die Universität Göttingen: Jakob als Bibliothekar und Professor, Wilhelm als Unter-Bibliothekar. Wilhelm wurde schon 1831 zum außerordentlichen, Jakob 1835 zum ordentlichen Professor ernannt. In seiner Antrittsrede am 13. November 1830 sprach Jakob Grimm über die Liebe zum Vaterlande und das Heimweh.

In die Göttinger Zeit fällt die Veröffentlichung der „Deutschen Mythologie" (1835), in der Jakob Grimm zeigen will, „daß die Herzen unserer Voreltern des Glaubens an Gott und Götter voll waren, daß heitere und großartige, wenngleich unvollkommene Vorstellungen von höheren Wesen, Siegesfreude und Todesverachtung ihr Leben beseligten, daß ihrer Natur und Anlage fernstand jenes dumpfbrütende Niederfallen vor Götzen und Klötzen“.

In den Jahren 1840 bis 1863 erschienen von Jakob Grimm die „Weistümer“ in vier Bänden, eine umfangreiche Sammlung altertümlicher dörflicher Rechtsanschauung, heute noch eine Fundgrube für alle, die sich mit der Erforschung früherer dörflicher Verhältnisse befassen.

Die Tätigkeit in Göttingen dauerte für Jakob Grimm nur sieben, für Wilhelm acht Jahre. Mit der Thronbesteigung des Herzogs Ernst August von Cumberland am 20. Juni 1837 änderte sich die politische Lage im Königreich Hannover. Der neue Herrscher, ein hochfahrender aristokratischer Absolutist, hob die Verfassung von 1833 auf und regierte mit der Verfassung des Jahres 1819, bis mit den neuen Ständen eine neue Verfassung vereinbart sei.

Unruhe und Widerspruch regten sich im Lande, und sieben aufrechte Professoren der Universität Göttingen, darunter die Brüder Grimm, protestierten in einem Schreiben, „daß sie das Staatsgrundgesetz von 1833 für gültig hielten und nicht zugeben könnten, daß es ohne weitere Untersuchung zugrunde gehe.“  Am 11. Dezember verfügte der König die Entlassung der später sogenannten „Göttinger Sieben“ aus ihrem Amte, und drei von ihnen, und zwar die bedeutendsten, Dahlmann, Jakob Grimm und Gervinus, wurden des Landes verwiesen.  Als später der Gedanke auftauchte, die Ausgewiesenen zurückzurufen, erklärte Jakob Grimm: „Wir haben öffentlich das Patent des Königs für ein Unrecht erklärt; von ihm sind unsere Grundsätze als staatsgefährlich bezeichnet worden; beides kann keine Kunst vermitteln.“

Die drei des Landes Verwiesenen erhielten Zwangspässe nach der kurhessischen Grenze über Witzenhausen nach Kassel. Obwohl alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen waren, den Abschied der Studenten von ihren Professoren unmöglich zu machen, waren dreihundert bei Nacht und Nebel den Fußmarsch nach Witzenhausen gegangen und begrüßten die drei Lehrer mit donnerndem Hoch. Einige Professoren waren nachgekommen, und im Rathaussaal wurde eine Abschiedsfeier veranstaltet.

Als die Scheidestunde nahte, kehrten die Professoren und die größte Anzahl der Studenten zurück; etwa fünfzig aber begleiteten die drei Vertriebenen bis nach Kassel. Dort war die Wache am Leipziger Tore verstärkt worden; die beiden Nichthessen Dahlmann und Gervinus wurden als Fremde nur zehn Stunden geduldet: man wollte das gute Einvernehmen zwischen Kurhessen und Hannover nicht trüben lassen. Gervinus ging nach seiner Vaterstadt Darmstadt, Dahlmann nach Leipzig, von wo er am 30. Dezember an Grimm schrieb, der König von Sachsen habe erklärt, die sieben achtbaren Professoren seien ihm in seinem Lande willkommen.

Jakob Grimm fand Zuflucht im Hause seines Bruders Ludwig, wo die Brüder von 1823 bis 1829 gewohnt hatten. Das Verhalten der Göttinger „Sieben“ fand in ganz Deutschland einen starken Widerhall, und ihre Maßregelung erregte allgemeine Teilnahme. Zahlreiche Dankschreiben trafen ein, darunter auch aus Hanau. Sammlungen wurden veranstaltet, auch in unserer Vaterstadt, um die tapferen Männer vor Not zu schützen. Wilhelm Grimm, der in einem Brief an Dahlmann bemerkte, daß ihn der bloße Anblick der Menschen und Häuser in Göttingen anwidere, siedelte im Oktober nach Kassel über.

Ihr Leben hier war ganz der wissenschaftlichen Arbeit gewidmet. Unter ihren Freunden und Bekannten in Kassel gab es einige Leisetreter, die den Schritt der Brüder mißbilligten und sich von ihnen zurückzogen. Aber die Arbeit half ihnen auch über diese Unannehmlichkeit hinweg. Mit den bedeutendsten Sprachforschern Deutschlands und Frankreichs standen die Brüder in Briefwechsel, und am 8. November 1840 konnte Jakob Grimm an Dahlmann berichten, daß der König von Preußen sie nach Berlin berufen habe, um ihnen ein sorgenfreies Leben und wissenschaftliches Arbeiten an ihrem umfangreichen „Deutschen Wörterbuch“ zu gewähren, das sie schon in der Kasseler Zeit planten. Bedeutende Männer, wie Alexander von Humboldt, Varnhagen und auch Bettina von Arnim, hatten den König Friedrich Wilhelm IV. auf die beiden Grimm aufmerksam gemacht, die eine Zierde der Universität seien.

Im April 1841 siedelten sie nach Berlin über und söhnten sich allmählich mit der Großstadt aus. Außer ihren Vorlesungen hatten sie keine gesellschaftlichen Verpflichtungen und konnten sich ganz ihren wissenschaftlichen Arbeiten widmen.

Im Jahr 1843 unternahm Jakob Grimm auf ärztlichen Rat eine Reise nach Italien und 1844 nach Skandinavien. Überall suchte er in den Bibliotheken nach alten Handschriften. Im Jahre 1846 besuchte Jakob Grimm den Germanisten-Tag in Frankfurt. Ungefähr 200 Gelehrte aus allen deutschen Gauen - Rechtsgelehrte, Geschichts- und Sprachwissenschaftler - waren dort versammelt. Ludwig Uhland schlug den Mann als Vorsitzer vor, „in dessen Hand schon seit vielen Jahren alle Fäden deutscher Geschichtswissenschaft zusammenliefen, von dessen Hand mehrere dieser Fäden zuerst ausgelaufen sind, namentlich der Goldfaden der Poesie, den er selbst in derjenigen Wissenschaft, die man sonst als eine trockene zu bezeichnen pflegt, in deutschem Recht, gesponnen hat, den Namen Grimm brauche ich kaum zu nennen.“

Der Vorschlag wurde mit stürmischem Beifall aufgenommen. Auf der Versammlung des nächsten Jahres in Lübeck wurde er wieder zum Vorsitzenden gewählt. Beim Festmahl wurde er in einem Trinkspruch als ein Herrscher in drei Reichen, im Reiche des Rechtes, der Geschichte und der Sprache, gefeiert. Er dankte tiefbewegt: „Über mich wird bald Gras wachsen. Wird dann meiner noch gedacht, so wünsche ich, daß man von mir sage, was ich selbst von mir sagen darf, daß ich niemals im Leben etwas mehr geliebt habe als das Vaterland.“

Im Jahre 1848 wurde Jakob Grimm in das Frankfurter Parlament gewählt, wo er mit Dahlmann und Gervinus zusammentraf. An den Verhandlungen nahm er nur wenig Anteil. Er hat seine Vaterlandsliebe, wie er sagte, nie in die Bande hingeben wollen, aus denen sich zwei Parteien einander anfeindeten; er habe gesehen, daß liebreiche Herzen in diesen Fesseln erstarrten.“

Nach 1849 ist Jakob Grimm nicht mehr in der Öffentlichkeit aufgetreten. „In seliger Einsamkeit“ saß er über seinen Büchern, verfolgte aber das politische Leben mit großer Teilnahme. Am 16. Dezember 1859 starb Wilhelm Grimm. Es war ein schwerer Verlust für Jakob, nun ohne den getreuen Bruder leben und arbeiten zu müssen, mit dem er zeit seines Lebens in Eintracht und Verbundenheit zusammen gelebt hatte. Den besten Trost fand er in der Arbeit. Endlich im Sommer 1860 war er stark genug, dem geliebten Bruder die Gedächtnisrede in der Akademie zu halten. „Ich soll hier vom Bruder reden, den nun schon ein halbes Jahr lang meine Augen nicht mehr erblicken, der doch nachts im Traum immer noch neben mir ist.“

Mit rastlosem Eifer arbeitete er weiter, so daß seine Schwägerin und seine Nichte ihn öfters durch allerlei Vorwände vom Schreibtisch weglocken mußten. Schon in Kassel, nach seiner Entlassung aus der Universität Göttingen, war auf Anregung des Leipziger Buchhändlers Karl Reimer, ein großer Plan entstanden: die Brüder sollten ein Wörterbuch der deutschen Sprache zusammenstellen, das alle Wörter, die seit dem 16. Jahrhundert von deutschen Schriftstellern gebraucht worden sind, in ABC-Folge umfassen sollte. „Das Wörterbuch soll ein Heiligtum der Sprache gründen, ihren ganzen Schatz bewahren, allen zu ihm den Eingang offenhalten. Das niedergelegte Gut wächst wie die Wabe und wird ein hohes Denkmal des Volkes, dessen Vergangenheit und Gegenwart sich in ihm verknüpfen“ (Jakob Grimm). Die Geschichte eines jeden Wortes, seine Entwicklung und sein Bedeutungswandel vom Althochdeutschen zum Neuhochdeutschen, sollte geschrieben werden; eine unermeßliche Arbeit, die die Brüder allein nicht mehr zu Ende führen konnten. Die erste Lieferung erschien 1852. Jakob konnte die Buchstaben A, B und C, Wilhelm den Buchstaben D fertigstellen. Der Tod nahm ihnen die Feder aus der Hand. Unzählige Gelehrte arbeiteten und arbeiten noch an der Fertigstellung des gewaltigen Werkes, das erst jetzt seiner Vollendung entgegengeht.

Die Gebrechen des Alters zeigten sich auch bei Jakob; trotzdem trug er sich noch mit neuen Arbeitsplänen, und rüstig arbeitete er am Wörterbuch. Im Herbst 1860 wurde er von einer Leberentzündung befallen; am 20. September verschied er. Auf dem Mathäikirchhofe in Berlin wurde er neben seinem Bruder Wilhelm bestattet.

 

Die ganze Lebensarbeit der Grimms war der Erforschung der deutschen Sprache und Literatur gewidmet. In seiner Gedächtnisrede für seinen Bruder Wilhelm führte Jakob aus: „Wir hatten, eine lange schon genährte Neigung ausbildend, unser Ziel auf Erforschung der einheimischen Sprache und Dichtkunst gestellt. Die Denkmäler und Überreste unserer Vorzeit rücken einem unbefangenen Sinne näher als alles Ausländische und scheinen in alle Beziehungen des Vaterlandes einzugreifen. Der Mensch würde sich selbst geringschätzen, wenn er das, was seine Ureltern nach bewährter Sitte lange Zeiten hindurch hervorgebracht haben, verachten wollte.“

Um die beiden Pole Heimat und Vaterland kreiste das Denken und Arbeiten der Brüder ihr ganzes Leben lang, und ihre Sehnsucht war ein geeintes Deutschland. „In unserem widernatürlich gespaltenen Vaterland kann dies kein fernes, sondern nur ein nahes Ereignis sein, das unsere Zeit mit leichter Hand heranzuführen berufen ist; dann mag, was unbefugte Teilung der Fürsten zersplitterte, wieder verwachsen und aus vier Stücken ein neues Thüringen, aus zwei Hälften ein starkes Hessen erblühen, jeder Stamm aber, dessen Ehre die Geschichte uns vorhält, dem großen Deutschland freudige Opfer bringen.“

Charakterlich waren beide Brüder von unendlicher Güte; sie bewahrten sich bis ins hohe Alter ein kindlich reines Gemüt. „Ein Optimismus der edelsten Art war ihm eigen“, sagte Herman Grimm von seinem Vater, „überall, auch in der größten Verwirrung der Dinge, suchte und entdeckte er die Richtung zum Guten.“ Nur ein solcher Charakter konnte in dem Einfachen und Ungekünstelten der Märchen die wahre Dichtung herausfühlen.

Jakob zeichnete in der Gedächtnisrede auf seinen Bruder Wilhelm den Unterschied ihrer Naturen: „Von Kindesbeinen an hatte ich etwas von eisernem Fleiß in mir, den ihm (Wilhelm) schon seine geschwächte Gesundheit verbot. Ihm gewährte Freude und Beruhigung, sich in der Arbeit gehen, umschauend von ihr erheitern zu lassen; meine Freude und meine Heiterkeit bestand eben in der Arbeit selbst. So manchen Abend bis in die späte Nacht habe ich in seliger Einsamkeit über den Büchern zugebracht, die ihm (Wilhelm) in froher Gesellschaft, wo ihn jedermann gern sah und seinen anmutigen Erzählungen lauschte, vergangen.“
Am 18. Oktober 1896 hat das deutsche Volk Jakob und Wilhelm Grimm ein Denkmal auf dem Marktplatz ihrer Vaterstadt errichtet, das wie durch ein Wunder dem Bombenhagel des 19. März 1945 standgehalten hat; es sollte uns und allen folgenden Geschlechtern als Mahnmal gelten, die bedeutendsten Söhne unserer Vaterstadt nicht zu vergessen und mit ihnen zu wetteifern in der Liebe zu Volk und Vaterland und zur Muttersprache, deren Reinerhaltung uns eine heilige Aufgabe sein muß  (Bild in Hanau Stadt und Land, Seite 447: Das Grimmdenkmal in Hanau).

 

Franzosenzeit

Mit dem Reichsdeputations-Hauptschluß 1803 wurde Wilhelm IX. Kurfürst in Hessen und Fürst von Hanau, er nannte sich als letzterer Wilhelm I. Für das politische Schicksal Hanaus in dieser turbulenten Zeit war also die Stellung, die der Kurfürst von Hessen in Europa und speziell in seinem Verhältnis zu Napoleon einnahm, allein entscheidend. Und gerade das war nicht gut. Der Kurfürst war zwar ein Gegner alles Französischen, konnte sich jedoch nicht weder politisch noch militärisch auf die Seite der Gegner Napoleons schlagen.

Allerdings hatte er vieles getan, das den Unwillen Napoleons erregte. So hatte er sein Militär auf Kriegsstärke gebracht und die Festungswerke in manchen Städten, so auch in Hanau, erneuern lassen, obwohl Napoleon vorher hatte verlauten lassen, daß er dies als Kriegsdrohung auffassen würde. Als nun Napoleon im Herbst 1806 die Preußen bei Jena und Auerstädt entscheidend geschlagen hatte, verfügte er von Berlin aus die militärische Besetzung der kurhessischen Länder und damit auch des Fürstentums Hanau.

Das Fürstentum Hanau  war ein aus den verschiedenartigsten Teilen zusammengesetztes Land. Es erstreckte sich durch die Täler des Mains und der Kinzig hinauf in die Berge des Spessarts und der Rhön und bildete, da es von anderen Territorien mannigfach durchschnitten war, kein zusammenhängendes Ganzes. Das Land umfaßte an Flächengehalt nur etwa 1060 Quadratmeilen und war drei Jahre nach dem Reichsdeputationshauptschluß - von nicht weniger als sechs kleineren und kleinsten Territorien umlagert.

Im Westen grenzte es an Frankfurt und Nassau, im Süden an Hessen-Darmstadt und das Isen­burgische Amt Offenbach, im Osten an das neugeschaffene Fürstentum Aschaffenburg; die nördlichen Grenzen wurden von den Fuldaischen, Ysenburgischen und zum Teil Hessen-Darmstädti­schen Landen gebildet. Es war also eine Ausgeburt der vom Mittelalter her überkommenen deutschen Kleinstaaterei. Es hatte eine eigene in der Stadt Hanau ansässige Regierung, die nur von dem Fürsten in Kassel abhängig war. Dieser Regierung unterstanden die verschiedenen Amtsbezirke mit ihren Gemeinden.

Stadt Hanau (Alt- und Neustadt)                                                                  12.102 Einwohner.

Amt Bergen (Bergen-Enkheim, Seckbach, Fechenheim, Bischofsheim, Gronau, Massenheim, Berkersheim, Preungesheim, Eckenheim,  Eschersheim, Ginnheim, Bockenheim, Vilbel):                                                                                         8.678 Einwohner.

Amt Schwarzenfels (Schwarzenfels, Mottgers, Neuengronau, Breunigs, Sterbfritz, Weichersbach, Züntersbach, Oberzell, Heubach, Uttrichshausen)                                  4.653 Einwohner

Amt Dorheim (Dorheim, Nauheim, Schwalheim, Röden)                              974 Einwohner.

Amt Rodheim (Rodheim, Holzhausen, Obereschbach, Niedereschbach, Steinbach):

                                                                                                                             3.489 Einwohner

Amt Altengronau (Altengronau, Jossa, Obersinn, Mittelsinn):                        964 Einwohner.

Amt Brandenstein (Elm, Hutten, Gundhelm, Oberkahlbach):                       2.101 Einwohner.

Amt Steinau (Steinau, Seidenroth, Schlüchtern, Breitenbach, Kressenbach, Wallroth, Hinter­steinau, Reinhards, Marjoß, Bellings, Hohenzell, Niederzell, Ahlersbach, Raith, Drafenberg, Gomfritz, Röhrigs):                                                               7.743 Einwohner.

Amt Bieber (Bieber, Büchelbach, Gassen, Röhrig, Lanzingen, Breitenbom, Lützel, Lohrhaupten, Flörsbach, Kempfenbrunn, Mosborn):        3.160 Einwohner.

Amt Altenhaßlau (Altenhaßlau, Eidengesäß, Geislitz, Großenhausen, Lützelhausen, Markwald):                                                                           1.542 Einwohner

Amt Freigericht (Somborn, Altenmittlau, Bernbach, Neuses, Horbach):      2.372 Einwohner.

Stadt und Burg Gelnhausen:                                                                                 2.944 Einwohner.

Amt Büchertal (Kesselstadt, Dörnigheim, Rumpenheim, Hochstadt,  Wachenbuchen, Oberdorfelden, Kilianstädten, Mittelbuchen, Roßdorf, Butterstadt, Niederissigheim, Oberissigheim, Rüdigheim, Niederrodenbach):                 5.911 Einwohner.

Amt Babenhausen (Stadt Babenhausen, Dudenhofen, Harreshausen, Langstadt, Oberstadt, Sickenhofen, Hergertshausen):                 4.201 Einwohner.

Amt Windecken (Stadt Windecken, Marköbel, Hirzbach, Ostheim, Eichen, Erbstadt, Schloß Naumburg):                                                    4.547 Einwohner.

Burggräfenrode                                                                                                                                                                                                                  390 Einwohner.

Amt Ortenberg (Bleichenbach, Bergheim, Gelnhaar, Wippenbach, Selters, Enzheim, Hainchen):                                                                   2.033 Einwohner

Das waren also etwa 48.000 Einwohner, die die Gesamtbevölkerung des Fürstentums darstellten.

Von einem allgemeinverbindlichen Zusammengehörigkeitsgefühl konnte im Hanauischen sowieso nicht die Rede sein. Denn was hatte zum Beispiel der Einwohner von Bockenheim mit dem Landsmann in der Rhön oder im hohen Spessart gemeinsam? Oder was verband den Bauern in der Wetterau mit dem Industriearbeiter in der Stadt Hanau? Von einem staatsbürgerlichen Sinn für gemeinsame politische Ziele bei den „Untertanen“ war man weit entfernt. Wenn wir uns heute fragen, welche Kraft überhaupt die verschiedenen Teile eines solchen Landes zusammengehalten hat, so können wir nur antworten, indem wir uns in den Geist dieser absolutistischen Zeit hinein zu versetzen suchen: es war der Fürst und die allein von ihm abhängige Maschinerie der Verwaltung.

 

Zwei Beispiele zeugen von der politischen Naivität der Menschen und ihrem kindlichen Glauben an die Macht des angestammten Fürstenhauses. Als einmal noch vor dem Einmarsch der Franzosen ein Hanauer Beamter von einem Einwohner gefragt wurde, ob denn die Franzosen ins Land kämen, antwortete dieser, das sei nicht möglich, denn an der Grenze hingen Schilder mit der Aufschrift „pay neutre“. Oder ein anderer Beamte brachte es tatsächlich fertig, Napoleon bei seinem ersten Aufenthalt in der Stadt Hanau eine Bittschrift zu überreichen, er möge den Kurfürst wieder in sein Amt einsetzen. Er hatte dabei stotternd die Worte hervorgebracht: „Je suis le premier consul de.....“. Napoleon, so wird überliefert, zerriß ungelesen das Papier. Der Kurfürst war zu dieser Zeit auch schon längst über alle Berge geflohen und hielt sich in Prag auf. Napoleon mag sich über die Naivität dieses Mannes lustig gemacht haben.                    

Wilhelm I. wurde 1806 von Napoleon abgesetzt. Die Festungswerke wurden geschleift. Hanau gehörte von 1810 bis 1813 zum Großherzogtum Frankfurt unter dem Fürstprimas des Rheinischen Bundes, Carl von Dalberg. Das Hanauer Land gehört also rechtlich in dieser Zeit zum französischen, Kaiserreich.

Wenn zwar die Hanauer Beamten vielleicht mit einem politischen Umsturz gerechnet hatten, so brachte sie doch die Plötzlichkeit, mit der er geschah, völlig in Verwirrung. Sie fanden jetzt kaum Zeit, die Bevölkerung und die niederen Dienststellen auf die bevorstehenden einschneidenden Veränderungen vorzubereiten. In einem Aufruf wurden die Untertanen zu Ruhe und Ordnung gemahnt: „Da es geschehen kann, daß heute oder morgen französische Truppen dahier einrücken, so wird solches der hiesigen Bürgerschaft zu dem Ende bekannt gemacht, damit sie sich bei dem Einmarsche derselben nicht nur ruhig verhalte, sondern sich auch mit den erforderlichen Lebensmitteln in Zeiten versehen könne. Man ist von den hiesigen Einwohnern im Voraus überzeugt, daß sie sich gegen die einrückenden Truppen mit aller Bescheidenheit betrauen und sich nicht der sie sonst unweigerlich treffenden strengen Bestrafung aussetzen werden.“ Bezeichnend werden die empfohlenen vorbereitenden Maßnahmen zur Bereitstellung der notwendigen Lebensmittel für die Einquartierungen!

Die Mitglieder der Regierung selbst berieten lange, wer von ihnen mit den französischen Beamten verhandeln und den unter Umständen übermäßigen Forderungen derselben in geeigneter Weise entgegentreten könnte. Ein jüngerer Beamter erbot sich dazu, weil er, wie er meinte, „einigermaßen der französischen Sprache mächtig“ sei. Um eine schnelle Erledigung der durch die Besatzung entstehenden Arbeiten zu gewährleisten, bildete man eine sogenannte Kriegskommission. Sie sollte nach den ihr mitgegebenen Richtlinien „die eiligen Geschäfte sofort abtun“, falls sie einstimmiger Meinung war, in strittigen Fällen aber darüber der Regierung referieren. Diese Kriegskommission war eine sehr wichtige Behörde, denn sie verteilte in den folgenden Jahren während der französischen Besatzung alle Kriegslasten, sowie die Einquartierungen auf die Bevölkerung.

Französicherseits war mit der Verwaltung des gesamten kurhessischen Staates, mit dem das Fürstentum Hanau vorläufig verbunden blieb, General Lagrange betraut worden. Das erste, womit dieser hervortrat, war eine Proklamation an die Bevölkerung. Einleitend verpflichtete er darin die Untertanen zu Gehorsam gegen die neuen Machthaber, versprach, die Gebräuche und Sitten des Landes zu schützen und „das Land blühend zu machen“. Weiter verordnete er, daß die Erhebung der Einkünfte, so wie bisher für den Kurfürsten, in Zukunft im Namen Napoleons zu geschehen habe. Die Gelder sollten an den französischen „Generaleinnehmer“ abgeführt werden.

In Hanau hatte der französische General Laval, vorläufig noch unter dem Kommando Lagranges in Kassel stehend, die Leitung der Regierung übernommen. Zusammen mit dem französischen Platzkommandanten für die Stadt Hanau, Joannon, und dem kaiserlichen Kommissar Dumesnil, brachte er die ersten, sich auf die militärische Sicherheit beziehenden Maßnahmen zur Durchführung.

 

Die beiden Hanauisch-hessischen Regimenter „Kurprinz Hessen“ und Garnisonsregiment „von Schallem“ wurden aufgelöst und entwaffnet. Die Soldaten mußten die Armaturen, Geschütze der Hanauer Festung, sowie Gewehre und Uniformen ins Zeughaus nach Hanau abliefern und später auf Schiffen nach Mainz befördern, Standarten und Fahnen kamen nach Kassel.

Schon am 7. November gab General Laval den Befehl zum Schleifen der Hanauer Festung. Napoleon hatte von Berlin aus persönlich verfügt, daß die Befestigungsanlagen Hanaus zu zerstören seien, „so daß der Platz kahl sei wie die Hand“. General Laval befahl, daß 800 Arbeiter - zum Teil aus den umliegenden Ortschaften zusammengezogen - die Festungswerke abrissen und die Wälle abtrugen. Diese Arbeiten dauerten noch lange bis in das Jahr 1807 hinein und kosteten die Gemeinden nach einer Aufstellung im Marburger Staatsarchiv 20.9000 Franken.

Die deutschen Behörden mußten sämtliche Amtssiegel, auf denen sich das kurhessische Wappen befand, abliefern und neue Siegel mit der Aufschrift „Fürstentum Hanau“ anfertigen lassen. An den behördlichen Gebäuden, sowie an Kirchen und Schulen des Landes, an deren Eingängen bisher der kurhessische Löwe befestigt war, wurde der kaiserliche Adler angebracht und der hessische Löwe mit weißer Farbe übertüncht.

Ihr Hauptaugenmerk richteten die Franzosen auf den kurfürstlichen Haus- und Staatsschatz, der, wie man wußte, sehr groß war. In den Schlössern Hanau, Philippsruhe und Wilhelmsbad wurden alle Räume durchsucht und nach der Inventarisation der beweglichen Güter und Wertgegenstände versiegelt. Was den Franzosen wertvoll schien, wurde nach Mainz transportiert. Mainz war damals französischer Brückenkopf, das ganze linke Rheinufer war französisches Territorium.

Am 26. November 1806 teilte Lagrange von Kassel aus den Hanauer deutschen Behörden mit, daß das Hanauer Land in Zukunft von Kassel unabhängig sei und unter eigener französischer Leitung stehen würde. Kurhessen wurde mit anderen deutschen Landesteilen zum sogenannten „Königreich Westfalen“ unter der Regierung Jeromes, des Bruders Napoleons, zusammengeschlossen. Das Fürstentum Hanau blieb also zunächst selbständig, bis es im Jahr 1810 mit anderen Gebietsteilen zum Großherzogtum Frankfurt vereinigt wurde.

Die Spitze der französischen Verwaltung des Fürstentums Hanau bildete der Generalgouverneur Marschall Kellermann, der zugleich Generalintendant der Reservearmee war und seinen ständigen Wohnsitz in Mainz hatte. Er war einer der ältesten Generäle unter Napoleon. Im Jahre 1735 in Straßburg im deutschen Elsaß geboren, widmete er sich früh dem Soldatenberuf und zeichnete sich unter anderem im Siebenjährigen Krieg aus. Im Jahre 1789 schloß er sich der Revolution an und wurde einige Jahre später mit der Verteidigung des Elsasses betraut. Im Jahre 1792 focht er mit in der „Kanonade von Valmy“. Dafür bekam er später von Napoleon den Titel „Herzog von Valmy“ verliehen. Im Jahre 1805 wurde er Generalintendant der „armee de reserve“ mit dem Hauptquartier in Mainz.

Da er in dieser Eigenschaft nur selten persönlich in Hanau sein konnte, setzte er hier seinen Adjutanten, den Obersten Le Court de Villière als seinen Vertreter ein. Dieser nannte sich Sous-Gouverneur, stellte die Spitze der Regierung dar, leitete die hohe und niedere Polizei, das Gerichtswesen, sowie Kirchen und Schulen. Neben den beiden Gouverneuren trat unter den französischen Beamten in Hanau am meisten der Zivilintendant Marcotte de Forceville hervor. Mit ihm mußten die Hanauer deutschen Beamten täglich verhandeln. Er allein hatte über alle Ausgaben zu entscheiden. Auf seinem Büro sammelten sich statistische Aufstellungen jeder Art, über Steuern, Besoldungen, verarbeitete Waren, Kriegskontributionen und so weiter.

Neben der französischen Zivilverwaltung gab es die rein militärischen Behörden, die nicht Kellermann in Mainz, sondern dem Generalintendanten der Armee zwischen Elbe und Rhein, Ville­mancy, unterstellt waren. Hier ist für die erste Zeit der französischen Besatzung der „Commissaire imperial“ Dumesnil zu nennen, später Roch. Ihnen oblag insbesondere die Sorge für die im Land stationierten Truppen.

Alle französischen Beamten hatten in Hanau ihre Büros eingerichtet, die meisten im Schloß, wo der Gouverneur, der Intendant und der kaiserliche Kommissar auch wohnten. Le Court de Villière ließ am Beginn seines Aufenthalts in Hanau sämtliche führenden deutschen Beamten, die zur Regierung, zum Hofgericht, zur Rentkammer, zu den beiden Konsistorien, zu Landkassen- und Steuerdirektion und zur Polizeidirektion gehören, zur Eidesleistung auf den neuen Landesherrn, Napoleon, ins Regierungsgebäude zusammenrufen.

Der Eid, in französischer Sprache abgefaßt, lautete übersetzt: „Ich schwöre, die mir von seiner Majestät, dem Kaiser von Frankreich, König von Italien, anvertraute Gewalt gesetzmäßig auszu­üben, mich damit nur zur Aufrechterhaltung der Ordnung und der öffentlichen Ruhe zu bedienen, mit meiner ganzen Kraft mitzuhelfen an der Ausführung der Maßnahmen, die mir für den Dienst der französischen Armee aufgetragen werden und keine irgendwelchen Verbindungen mit ihren Feinden zu unterhalten.“

Die Eidesleistung in Hanau ging ohne Zwischenfälle vonstatten. Aber lächerlicher Weise diskutierte man deutscherseits danach darüber - obwohl man genau wußte, daß man nun von Kassel unabhängig war - „ob man über die Eidesleistung der Regierung in Kassel untertänige Anzeige machen solle“. In den einzelnen Hanauischen Ämtern gab es einigen Widerstand bei der Vereidigung der Subalternbeamten. Diese wurden am Anfang des Jahres 1807 am Ort ihrer Tätigkeit vereidigt. Die Hanauer Bürgerschaft leistete vor Marschall Kellermann vor dem Schloß den Treue- und Huldigungseid auf Napoleon. Damit war die staatsrechtliche Zugehörigkeit des Fürstentums Hanau zum französischen Kaiserreich festgelegt.

Zur Zeit Napoleons wurden die Festungswälle und einige Tore geschleift. Um 1830 ließ Kurfürst Wilhelm II. die letzten mittelalterlichen Stadttore und die von Graf Philipp Ludwig II. mit Renaissancegebäuden erweiterte alte Burg abtragen, dort wurde der Schloßgarten angelegt.

 

 

Schlacht bei Hanau 1813                                                                                       

Die Stadt hat im  August 2008 de n Beitritt zum Verbund der Napoleonstädte Deutschlands erklärt. Der Vorstand des Hanauer Geschichtsvereins 1844 begrüßt eigenen Worten zu Folge die Entscheidung, Leben und Wirken des französischen Kaisers - sicher einer der schillerndsten, aber auch zwiespältigsten europäischen Herrscher des 18. und 19, Jahrhunderts - für Europa im Allgemeinen und für Hanau im speziellen konstruktiv aufzuarbeiten.

Einige positive Einflüsse von Napoleons Herrschaft auf die Brüder-Grimm-Stadt waren dieser Tage in einer Pressemitteilung des Hanauer Magistrats nachzulesen: Niederlegung der Festungsanlagen (was die städtebauliche Entwicklung Hanaus entschieden förderte), Gründung der katholischen Gemeinde (Napoleon hat den persönlichen Erlaß in den Tuilerien von Paris unterschrieben, heute „Mariae Namen“ im Bangert), rechtliche Gleichstellung der Juden durch den Code Civil oder mehrere Besuche auf Durchfahrten:  offiziell, aber auch unerkannt, mit und ohne Begleitung seiner Ehefrau, unter anderem im Hotel „Zum Riesen“ am Heumarkt.

Kritisch zu bewerten sei mit Sicherheit die Schlacht bei Hanau am 30. und 3l. Oktober 1813 im heutigen Stadtteil Lamboy, die Napoleon auf französischer Seite persönlich befehligte und rund 15.000 Soldaten der gegeneinander kämpfenden französischen und bayerisch-öster­rei­chischen Truppen den Tod kostete. Der Geschichtsverein werde sich in die Aufarbeitung der napoleonischen Ära in Hanau mit seinen Möglichkeiten und Mitteln einbringen. In Vereinsbesitz befänden sich etliche Stiche und Waffen aus der Zeit, die im Historischen Museum Hanau Schloß Phil­ippsruhe aufbewahrt werden. Seit einigen Monaten halte die AG Hanauer Militärgeschichte im Geschichtsverein Kontakt zu einem Kreis von Zinnfigurensammlern und -gießern, die Hanau ein großflächiges Diorama über die Schlacht zum Geschenk machen wollten, das spätestens 2013 für eine Sonderausstellung im Kesselstädter Schloß Philippsruhe zum 200. Jahrestag fertiggestellt sein werde.

Im Jahre 1993 beteiligten sich bereits mehrere Autoren des Vereins an Ausstellung und Katalog zum 180, Jahrestag der Schlacht. Der Vereinsvorstand habe darüber hinaus beschlossen, zusammen mit der Märtesweinvereinigung Patenschaften über diverse Gedenksteine zu übernehmen, die noch heute im öffentlichen Straßenraum Hanaus an die Bataille mit ihren Opfern erinnern: Die Steine stehen an der Nordbahnhofunterführung, in der Karl-Marx-Straße und an der Kinzig­brücke (siehe  „Außenbezirke“). Beide Vereine wollen die sandsteinernen Kleindenkmäler bis zum 195. Jahrestag der Schlacht Ende Oktober 2008 in Absprache mit der Unteren Denkmalschutzbehörde reinigen und die Inschriften wieder deutlich lesbar machen lassen, informierte der Geschichtsverein in seiner Pressemitteilung.

„Jetzt ist nichts mehr zu ändern: Wir müssen als brave Soldaten unser Möglichstes tun“. Diese Worte von General Carl Philipp von Wrede beschreiben gut, wie sich seine Soldaten gefühlt haben müssen, als Napoleon mit 60.000 Mann Hanau überrollte. Im Oktober 1813 sollte der französische Feldherr hier seinen letzten Sieg über die Verbündeten erringen. Mit den Befreiungskriegen ging eine siebenjährige Besatzungszeit zu Ende, die nicht ohne Folgen für die Bevölkerung geblieben war. Die französische Revolution und die nachfolgende napoleonische Zeit wurden zum geistesgeschichtlichen Umbruch einer gesamten Epoche. Die Schlacht hatte historische Dimensionen. Sie forderte 20.000 Opfer auf militärischer Seite, in einer Zeit, als Hanau nur 12.000 Einwohner hatte.

Im Jahre 2013 gab es in Hanau eine Ausstellung. Mit einem Aquarellzyklus wurde das Kriegsgeschehen fast auf die Stunde genau nachgezeichnet. Der Betrachter konnte Schritt für Schritt nachvollziehen, was sich in der Goldschmiedestadt abgespielt hat - vom Einmarschieren der Truppen bis zum bitteren Ende samt in Flammen stehender Vorstadt. Eine große Rolle spielte natürlich General Wrede, der sich mit der bayerisch-österreichischen Armee den Truppen Napoleons entgegenstellte. Er selbst war unter anderem als Skulptur zu sehen, und erstmals bekamen die Hanauer auch seine Frau in Portraitform zu Gesicht.

Über die Schlacht hat Norbert Mankel eine Broschüre herausgegeben.

 

Johann Wolfgang von Goethe 1814

Der Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe hatte, nachdem er schon in mancherlei Beziehung zu Hanau getreten war (Carl Caesar Leonhard - Wetterauische Gesellschaft für die gesamte Naturkunde in Hanau), seither doch immer nur in schriftlicher Verbindung mit unserer Stadt gestanden, sie höchstens auf seinen Fahrten nach Weimar um- und durchfahren. Erst im Jahre 1814 nahm er einen längeren Aufenthalt in Hanau. Am 27. Juli traf er abends hier ein und kehrte im „Fränkischen Hof“ (früher und später „Hessischer Hof“, in der Frankfurter Straße, wurde bekannt durch den Post-Stallmeister J. C. Herrle) ein. Bereits am nächsten Tage, an dem er u. a. die Leislersche Teppichfabrik besuchte, fuhr Goethe nach Frankfurt weiter. Im Oktober desselben Jahres weilte Goethe wieder in Hanau. Diesmal sollte der Aufenthalt von längerer Dauer sein. Er traf am 20. Oktober ein und kam mit dem Geheimen Rat Leonhard, bei dem er wohnte, mit der Familie Toussaint und mit dem Maler Tischbein zusammen. Am 21. dieses Monats betrachtete er das Mineralienkabinett und war Gast bei dem Staatsminister von Albini. Leonhard wohnte in der Mühlstraße. An der Stelle des Leonhard’schen Wohnhauses befindet sich heute der Südflügel des Behördenhauses. Am 23. Oktober 1814 war er Gast in dem Hause Gärtnerstraße Nr. 67, dem „Schulhaus“, das 1691 erbaut wurde und von 1777 bis 1880 die Zeichenakademie beherbergte. Während dieses Besuches in Hanau sah sich Goethe auch die Liebhaber-Schauspielbühne an.

 

Friedrich Rückert 1812

Auch der Dichter der Freiheitskriege, Friedrich Rückert, war einmal Gast in Hanau. Er wohnte im Jahre 1812 im Hause Rosenstraße Nr. 27, genannt „Zum Rößchen“, in dem sich bis zum Jahre 1945 ein Uhrengeschäft befand. Friedrich Rückert war von 1812 bis 1814 Lehrer an der Hohen Landesschule in Hanau.

 

Die Hanauer Union 1818

Zwei Jahre nach dem Ende der Befreiungskriege erschien der Tag, an dem die 300jährige Jubelfeier der deutschen Reformation stattfinden konnte. Als die kirchlichen Behörden erwogen, wie dieses Fest am besten begangen werden könne, ward auch die Frage gestellt, „ob es nicht ratsam sein möchte, aus Anlaß der bevorstehenden Feier und nach dem Vorgange anderer Staaten eine Vereinigung der beiden evangelischen Kirchen herbeizuführen“. Der Gedanke fand Beifall, und man beschloß, ihn auszuführen. Große Schwierigkeiten schienen nicht vorhanden zu sein. Die Gegensätze, die einst von beiden Konfessionen hervorgekehrt worden waren, waren im Laufe der Zeit fast völlig verschwunden.

Das enge Zusammenleben hatte die Angehörigen beider Kirchen aneinander gewöhnt. Infolge von Heiraten gehörten in manchen Familien einzelne Glieder der reformierten, andere der lutherischen Kirche an. Die Not der letzten Jahrzehnte hatte nicht nur das religiöse Empfinden, sondern auch das Gefühl der äußeren Zusammengehörigkeit aufs Lebhafteste angeregt. Die Vereinigung der beiden Kirchen in der Stadt wie im Fürstentum Hanau erschien den Einsichtigen immer deutlicher als eine reife Frucht, die man ergreifen und festhalten müsse. So wurden denn während des Jahres 1817 die Vorbereitungen getroffen zur Herbeiführung der Kirchenvereinigung, der sogenannten „Union“.

Am 27. Mai 1818 versammelten sich im hiesigen Gymnasium 59 reformierte und 22 lutherische Geistliche, sowie eine große Anzahl von Kirchenältesten aus den evangelischen Gemeinden des Hanauer Landes. Die Mitglieder dieser Versammlung, der Synode, gehoben von dem Gefühl, zur Herbeiführung einer wichtigen Kirchenverbesserung berufen zu sein, verhandelten in würdiger Ruhe miteinander. Die wichtigsten Ergebnisse ihrer Beratungen waren:

 

1. Beide protestantischen Religionsteile im Hanauischen vereinigen sich zu einer einzigen Kirche unter dem Namen einer „evangelischen“ (Die Bezeichnung „unierte Kirchengemeinschaft“ ist erst später aufgekommen.)

2. Die Namen lutherisch und reformiert fallen weg; zur Bezeichnung der Gebäude und Anstalten, die seither einen dieser Namen hatten, werden auch passende Namen gewählt (Marienkirche statt reformierte Kirche).

3. Die Pfarreien und Schulen bleiben vorerst in ihrem bisherigen Bestande; wo die Zahl der Angehörigen einer Konfession gar zu gering ist, können die Kirchen und Schulen derselben aufgehoben werden.

4. Wo mehrere evangelische Kirchen an einem Orte bestehen, bleiben die Mitglieder einer jeden zunächst wie vor bei ihrer Kirche.

5. Bei der Feier des Abendmahls wird gewöhnliches Weizenbrot ohne Sauerteig in Form länglicher Vierecke genommen und gebrochen; die bei der Austeilung zu gebrauchenden Worte sind für alle Kirchen gleich.

6. Bei dem Gebete des Herrn werden die in der Bibelübersetzung Luthers Matth. 6,9-13 vorkommenden Worte gebraucht. Beim letzten Aussprechen des Gebetes wird geläutet.

7. Es wird ein gemeinschaftliches evangelisches Konsistorium gebildet, welches eine einheitliche Form des Gottesdienstes, einen gemeinschaftlichen Katechismus und ein gemeinschaftliches Gesangbuch zur Einführung bringen wird.

8. Alle kirchlichen Güter und Stiftungen usw. sollen ohne Ausnahme fortbestehen, unter der Aufsicht des Konsistoriums verwandelt werden und in allem ihre seitherige Eigenschaft und Bestimmungen behalten.

 

Am 1. Juni 1818 wurde die Synode geschlossen. Sie hat die Gegensätze zwischen den beiden evangelischen Konfessionen beseitigt, evangelische Gemeinden mit einheitlichen Einrichtungen und mit einheitlicher Verwaltung geschaffen und damit Ströme des Segens und das kirchliche Leben unserer Heimat geleitet.

Die beiden evangelischen Kirchengemeinden der Neustadt (wallonisch und niederländisch) waren die einzigen Gemeinden, die der Union nicht beitraten, weil sie sich nicht entschließen konnten, die ihren Vätern verbürgte kirchliche Selbständigkeit aufzugeben und sich unter das Konsistorium der Landeskirche zu stellen. Sie haben ihre alten Rechte und Freiheiten bewahrt bis auf den heutigen Tag.

 

Eine alte Zehntordnung

Wenn wir durch die Dörfer und Flecken gehen, in denen der Sitz eines Amtes oder einer herrschaftlichen „Kellerei“ war, so fallen uns oft die mächtigen „Herren“- oder „ Zehnt“-Scheuern auf, in denen einst die Abgaben der „Untertanen“ eingesammelt wurden. Der „Zehnte“ ehemaliger Zeiten war eine allgemein eingeführte Abgabe bei der Ernte an die Kirche oder den Landesherren oder auch an andere, die dieses Recht auf irgendeine Weise erworben hatten. Er bestand in dem zehnten Teil der landwirtschaftlichen Erträge und wurde ursprünglich immer „in natura“ abgeliefert.

Erst im 19. Jahrhundert wurden diese Verpflichtungen meist in eine Geldabgabe umgewandelt und vielfach von den Gemeinden durch eine größere einmalige Zahlung bei dem Empfangsberechtigten „abgelöst“. Die Ablösungssumme, die die Gemeinde Langenselbold im Jahre 1847 für den bisher in der Gemarkung erhobenen Zehnten an die Standesherrschaft Isenburg-Birstein zu zahlen hatte, betrug 103.500 Gulden; das dafür aufgenommene Kapital mußte von den Zehntpflichtigen verzinst werden und wurde nach und nach abgetragen (bis zum Jahre 1914!).

Für das Einernten des Zehnten bestand wie überall so auch im Fürstentum Isenburg-Birstein. eine Zehntordnung. Verzehntet mußten werden: Weizen, Korn, Gerste, Hafer, Erbsen, Linsen, Wicken, Wein u. a. Eine „erneuerte Zehntordnung“ aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist eine Neuauflage der Ordnung vom 24. Juli 1710. Sie hat (in heutiger Rechtschreibung) folgenden Wortlaut:

1. Sollen zum Ausfahren gewisse Stunden durch die Glocken angezeigt und gehalten werden, absonderlich des Mittags zwischen 11 und 12 Uhren, abends aber nach 7 Uhren keine Früchte eingeführt, noch vor Auf- oder nach Niedergang der Sonne geschnitten. Und

2. eher nicht aufgeladen, verführt oder weggetragen, auch zur Verhütung eines Verdachtes kein Wagen auf den Acker gebracht werden, bis alles auf jedem Acker abgeschnitten, aufgebunden und „abgezehndet“ worden, usw. (Hanau Stadt und Land, Seite 362).

 

Familie Dielmann 1819

Johannes Dielmann, Architekt und Bildhauer: Geboren am 26.10.1819 in Sachsenhausen, gestorben am 24.10.1886 in Frankfurt a. M. 1833-1839 Schüler des Städelschen Instituts in Frankfurt, anschließend Modelleur in einer Eisengießerei in Sachsenhausen. Ab 1844 Fortsetzung seines Studiums an der Akademie in München, wo er vor allem von Ludwig von Schwanthaler gefördert wurde. Nach Rückkehr in seine Vaterstadt als gut beschäftigter Bildhauer und Bildschnitzer freiberuflich tätig. Schöpfer des 1864 errichteten Frankfurter Schillerdenkmals.

 

Richard Dielmann: Geboren als Sohn des Vorigen am 26. 8. 1848 in Frankfurt, gestorben am 8.8.1923 daselbst. Erste Ausbildung im Atelier seines Vaters, dann bis 1866 am Städelschen Institut in Frankfurt. 1867-1869 Fortsetzung seines Studiums an der Königlichen Bauakademie in Berlin. Bis zum Tode seines Vaters meist gemeinsam mit diesem tätig, so auch bei den Baumaßnahmen am Schloß Philippsruhe. 1880 vom Landgrafen Friedrich Wilhelm von Hessen- Rumpenheim zum Hofbaumeister ernannt.

 

Karl Spindler 1825 bis 1828

Der Romanschriftsteller Karl Spindler wohnte mehrere Jahre, nämlich von 1825 bis 1828, in Hanau, und zwar in dem Hause Schloßstraße Nr. 11.

 

Blutiges Ende des Sperrbatzen-Krawalls  1830

Im Kurfürstentum Hessen war Hanau eine politisch wie wirtschaftlich eher vernachlässigte Randprovinz. Als Gewerbe- und Industriestadt war Hanau auf freie Handelswege angewiesen, nach dem Wiener Kongreß aber war es von Landesgrenzen umgeben, war es eingezwängt zwischen dem Königreich Bayern, dem Großherzogtum Hessen und der Stadt Frankfurt. Das Revolutionsjahr 1830 machte die Hanauer wegen ihres Kampfes um die Abschaffung der „Maut“ (Zollschranken) zu „Krawallern“.

Mit entschlossenen Mienen ziehen im September 1830 Männer zur Zollstation an der Mainkur, der Grenze zwischen Frankfurt und Kurhessen. Sie verschaffen sich Zutritt und schleppen Pulte und Stühle nach draußen. Sie schlagen das Mobiliar kurz und klein, um gleich darauf die Reste samt der verhaßten Formulare ins Feuer zu werfen. Letztlich wird bei jenem Zollkrawall das ganze Zollhaus zerstört Protest dagegen, daß man Geld bezahlen soll, wenn man von einem Territorium zum anderen will. In der Stadt kursieren Flugblätter: „Schaffe ab Maut, Stempel, Zoll, Beamten, Maitressen und Juden, damit wir haben unser täglich Brot!“

Ein Jahr später, am zweiten Herbsttage im Oktober des Jahres 1831, kocht die Wut über obrigkeitliche Einschränkung der Bewegungsfreiheit ein zweites Mal hoch. Diesmal ist das Allerheiligentor der Schauplatz und der Zorn richtet sich gegen den frühen Einschluß hinter der Stadtmauer: Wer nach Sonnenuntergang in die Stadt will, mußte an den Haupttoren den „Sperrbatzen“ zahlen. Der „Sperrbatzen-Krawall“ nahm ein blutiges Ende. Die Stadtwache zielt auf die Massen, die gegen das verschlossene Tor drängen, mit langen FIinten - und muß selbst bitter bezahlen: Ein Torwächter liegt tot am Boden.

 

Emanuel Geibel 1835

Der Dichter Emanuel Geibel, dessen Vater, der Theologe und Liederdichter Johannes Geibel, in Hanau 1776 geboren war und dessen Großvater aus Wachenbuchen stammte, verbrachte 1835 als Bonner Student seine Sommerferien bei seinen Hanauer Verwandten. Später, als er bereits als ein großer Dichter bekannt war, konnte ihn Hanau noch einmal als Gast begrüßen.

 

Die Revolution von 1848

Wilhelmsbad:

Das Wissen über die Geschehnisse in Hanau in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verdanken  wir zum großen Teil einem Mann, der von 1825 bis 1875 in neun dicken Foliobänden von jeweils 500 bis 700 Seiten akribisch und absolut zuverlässig über die Hanauer Ereignisse Tagebuch geführt hat: Johann Daniel Wilhelm Ziegler, von Beruf Klavier- und Gesangslehrer (geboren in Hanau am 11, März 1809, gestorben ebenfalls in Hanau am 11. April 1878). Sein nach ihm benanntes, einzigartiges Werk, die „Ziegler’sche Chronik“, befindet sich heute im Besitz des Hanauer Geschichtsvereins 1844 (Microfiches können im Stadtarchiv Hanau eingesehen werden).

Die Folianten sind in alter deutscher Schrift geführt und enthalten in einer gut lesbaren, flüssigen Schreibe sehr anschauliche Notizen über Persönlichkeiten der Stadt und der Region, Vereinsveranstaltungen, Berichte über Brände, Kriminalfälle, Teuerungen, soziale Notstände, politische Versammlungen, Demonstrationen und noch manches andere.

Auch die Kur- und Badeanlagen Wilhelmsbad sind von Ziegler mit etlichen Eintragungen bedacht worden. Bei der Durchsicht der Notizen kommt man schnell zu dem Schluß, daß sich der Kurort mit Weltgeltung nach der Verlegung der kurfürstlichen Hofhaltung zurück nach Kassel Anfang des 19. Jahrhunderts und der damit knapperen Unterhaltungsmittel der Einrichtung. mehr und mehr zu einem beliebten Ausflugsziel der Stadtbevölkerung - nicht nur Hanaus - entwickelte. Es fanden Hochzeiten, Vereins- und Sängerfeste statt.

Auf politischen Volksfesten verlieh man ersten revolutionären Forderungen nach Freiheit und Einheit Deutschlands Ausdruck. Im Juni 1832  fand das Wilhelmsbader Fest mit etwa 10.000 Besuchern statt. Anhand der Zieglerschen Einträge vom Vormärz bis hin zur Reaktion (1850er Jahre) kann neben einer Beschreibung des gesellschaftlichen Lebens in diesem „Treffpunkt im Grünen“ der gesamte Verlauf der gescheiterten Revolution in Deutschland beispielhaft aufgerollt und nachvollzogen werden.

Wenn der Autor etwa 1847 recht ausführlich Renovierungsarbeiten am Kurhaus Wilhelmsbad, zahlreiche Tanzveranstaltungen und Gartenilluminationen beschreibt, zeugt dies von einer damals eher noch friedvollen, apolitischen, scheinidyllischen Beschaulichkeit des Biedermeier. Im Jahre 1848 wird die Anlage mit zahlreichen Festen, Sonntags-Konzerten und nicht zuletzt mit der feierlichen Eröffnung der Eisenbahnlinie Frankfurt-Hanau als pulsierender Ort der Begegnung vorgestellt. Dabei treten politisch-soziale Spannungen immer deutlicher zu Tage. So ist es auf Veranstaltungen im Zusammenhang mit der sogenannten Staatsdienerrevolution in Kassel unter Kurfürst Friedrich Wilhelm I. von Hessen-Kassel und dem vom Volk gehaßten, in Hanau geborenen Chefminister Ludwig Hassenpflug- Kurz darauf ist die innerhalb der Bevölkerung gegenüber der Obrigkeit stark ins Negative geänderte Haltung ablesbar: Früher übliche euphorische Hurras zum Geburtstag Friedrich Wilhelm I.. von Hessen-Kassel wandeln sich in ein für den Fürsten bedrohliches Gemurmel.

Nachfolgend nun auszugsweise einige Eintragungen Zieglers über Wilhelmsbad:

Pfingstmontag, 24. Mai 1847: Nachmittags von 4 - 7 Uhr war ich am Wilhelmsbad. Den ganzen Tag über hielt sich das Wetter. Um 3 Uhr hatten wir 23 Grad Wärme. In der vergangenen Woche erbauten Halle (Musikpavillon gegenüber dem Arkadenbau) für die Musiker spielten 30 Mann vom 3. Leibgarde-Infanterie- Regiment und zwar abwechselnd mit Orchester- und Türkischer Musik unter der Direction des Musikmeisters J. G. Heller. Alle nun hergerichteten Säle sind mit Spiegeln vom größten Format, Lustre mit Christalllampen, weiche angezündet einen magischen Efect machen. Es befinden sich 2 Roulette in zwei Sälen. Auf beiden Seiten des Kurgebäudes, sowie allenthalben stehen Blumen terrassenförmig aufgestellt. Vor den Gebäuden sowie an mehreren anderen Orten sind neue Laternenpfähle aus Eisenguß aufgerichtet. Alle Gebäude nebst Theatergebäude, Küche, Wachthaus pp., sind weiß angestrichen worden.

Heute morgen mögen ca. 8.000 - 9.000 Menschen mit über 150 fremden Wagen daselbst gewesen sein. Portiers und Kellner sind sehr elegant gekleidet. Die heut stattgefundene Etiquette verbot: „Herren, welche keine Halsbinde anhaben, ist der Eintritt in die Säle verboten!“

Montag, 3. April 1848 (in Hanau findet der erste Deutsche Turntag statt):

Nachmittags, 3 Uhr, versammelten sich die Turner abermals mit ihren Fahnen auf dem Neustädter Marktplatz und zogen unter Vortritt der Bürgermusik nach dem freundlichen Wilhelmsbad. Hier angekommen, wurden sie von der Kesselstädter Schuljugend, welche bewaffnet mit Fahnen und einer Trommel versehen, begrüßt. Es herrschte ein ungeheuerer Frohsinn, es wurde im Freien getanzt. Der Zudrang war so groß, daß viele der Herrn ihr Bier aus Gießkannen trinken mußten.

Sonntag, 14. Mai 1848: Nachmittags fand in Wilhelmsbad ein großes Maifest statt. Schon um 2 Uhr fand im Freien ein Concert mit vollständigem Orchester der Hanauer Bürgergarde Musik statt. Herr Robert Blum, zur Zeit Mitglied des 50er Ausschusses der constituierenden National-Versammlung in Frankfurt, welcher unsere Stadt heute mit einem Besuch beehrte, war ebenfalls in Wilhelmsbad anwesend.

Abends 6 Uhr betrat derselbe den Balkon des Kurhauses, und nachdem ihn Herr Oberbürgermeister Rühl dem versammelten Volke vorstellte, hielt er eine lange, aber sehr gediegene Rede. Namentlich hob er die Gesinnungstüchtigkeit der Hanauer hervor.

Sonntag, 20. August 1848: 46. Geburtstag des Kurfürsten Friedrich Wilhelm I. von Hessen. Es ist dies der erste Geburtstag, welcher derselbe als Kurfürst feiert. Vergleicht man die Feier dieses Tages in früheren Jahren mit dem heutigen, so findet man einen großen Unterschied. Zum erstenmal, daß sich die Hanauer, sowohl die Bürgergarde, als auch die Staatsdiener in keiner Weise beteiligen; und da im Augenblick auch kein Militär in der Stadt liegt, so unterblieben auch von dieser Seite gewöhnlich gebrachte Huldigungen als Beleuchtung der Militairkasernen, großer Zapfenstreich am Vorabend, Festessen am Wilhelmsbad. Es verschallte nicht ein Hoch für den Landesfürsten, die Bürgergarde unterließ die jedes Jahr stattgefundene große Parade.

Der Pächter und Wirth vom Wilhelmsbad, Herr Carl Panizza, zeigt auf heute Ball und Concert, um 8 Uhr große Illumination mit 3000 farbigen Lampen zu Wilhelmsbad an, wogegen sich jetzt schon eine Demonstration kund gibt, indem ein großer Theil von unseren s. g. innern Feinden heute abend nach Wilhelmsbad ziehen und dort den an jenem Vergnügen Theilnehmenden statt eines Hochs ein allgemeines Gemurmel (jetzt an der Tagesordnung) bringen will!“

 

Hanauer trotzten 1848 mit ihrem „Ultimatum“ dem Kurfürsten

In Hanau herrschte eine politisch explosive Stimmung, als Anfang März 1848 mehrmals Delegationen mit konkreten, von der Hanauer Volksversammlung beschlossenen Forderungen zum Kurfürsten nach Kassel geschickt wurden. Sie lauteten unter anderem: Entlassung des Ministeriums und Neubesetzung mit Männern, die das Vertrauen des Volkes genießen; Auflösung und Neuwahl der Ständeversammlung; vollständige Pressefreiheit; Amnestie für die seit 1830 begangenen politischen Vergehen; Hinwirken auf eine deutsche Volkskammer, Petitions-, Einigungs- und Versammlungsrecht; vollständige Religions- und Gewissensfreiheit...

Mit ihren Forderungen nach Pressefreiheit, der Bildung einer deutschen Volkskammer, der unbeschränkten Petitions- und Versammlungsfreiheit, schließlich der Besetzung aller Ministerien mit Männern, „welche das Vertrauen des Volkes genießen“, und von Wahlen ohne Klassenschranken war die Volkskommission zunächst bei ihrem Landesfürsten auf Granit gestoßen. Am 11. März 1848 wies der Kurfürst das Ultimatum rundweg zurück, obwohl die waffentragenden Hanauer mit dem Abfall der Provinz gedroht hatten. Die Delegation schickte sich daraufhin zur Heimreise an.

Der Kasseler Stadtrat brachte schließlich die Wende. Er ließ die Volkskommission, darunter der Freischarenführer Carl Röttelberg, Turnerführer August Schärttner und der spätere Oberbürgermeister August Rühl, solange aufhalten, bis es gelungen war, Friedrich Wilhelm umzustimmen. Bis auf die Neuwahl des Landtags kam er sämtlichen Forderungen nach und übertrug zugleich dem Hanauer Bürgermeister und Rechtsanwalt Bernhard Eberhard das Innenministerium.

Hanau war überfüllt mit spontan zugereisten Leuten, die hier den Beginn der Revolution erwarteten. Am Tag zuvor, dem 8. März, war mit der Volkskommission eine provisorische Regierung gebildet worden, die schon über eine bewaffnete Macht verfügte, „Volksarmee“, genannt. Somit hatte die Warnung handfesten Boden: „Besonnene Männer, Königl. Hoheit, sagen Ihnen hier, daß die Aufregung einen furchtbaren Charakter angenommen hat. Bewaffneter Zuzug aus den Nachbarstädten ist bereits vorhanden, schon wird man mit dem Gedanken einer Lostrennung vertraut und kennt recht wohl das Gewicht der vollendeten Tatsache. Königl. Hoheit, gewähren Sie! Lenke Gott ihr Herz.“

Mit der legendären Schrift der „Volkscommission“ in Hanau an den Kurfürsten von Hessen reisten am 9. März zwei Delegationen nach Kassel, eine über Marburg; die, andere über Fulda, um für Unterstützung zu werben. Währenddessen in Hanau schon Barrikaden errichtet und Wurfgeschosse verschiedener Art gesammelt wurden für den Fall der Ablehnung. Doch lenkte Gott das Herz seiner Königl. Hoheit richtig - wobei offenbar kluge Berater nachhalfen, die fürchteten, daß von der Provinz Hanau aus eine Erhebung im Südwesten Deutschlands ausbrechen könnte und eine Lawine des Aufstands losbräche. Letztlich rettete der Kurfürst durch sein Nachgeben zumindest seinen Thron. Sozialrevolutionäre und republikanische Forderungen nach Volksouveränität und demokratischen Wahlen hätten nicht durchgesetzt werden können. Dennoch sei die ultimative Fristsetzung und die Drohung mit der bewaffneten Bürgermacht unerhört gewesen.

Als der Landesfürst zögerlich nur teilweise nachgab, stellten ihm die Hanauer am 9. März nochmals ihre Forderungen, verschärft durch ein Ultimatum: „Entschließung Eurer Königlichen Hoheit binnen drei Tagen von heute an, deren Verstreichen ohne Antwort als Ablehnung gesehen werden soll. Jetzt ist die Stunde gekommen, wo Sie zu zeigen haben, wie Sie es mit dem Volke meinen.“

Vor 150 Jahren kehrte die Hanauer Delegation unter dem Jubel der Bevölkerung in ihre Heimatstadt zurück. War es ihr doch nach einem vergeblichen Anlauf gelungen, den Kasseler Kurfürsten Friedrich Wilhelm zu einer Reihe von demokratischen Zugeständnissen zu bewegen. Das „Hanauer Ultimatum“ ging als Momentaufnahme der deutschen Revolution von 1848 in die Geschichte ein.

Mit dem zuvor verfemten Germanisten Jacob Grimm und dem Tabakfabrikanten August Rühl, der dem linken republikanischen Spektrum angehörte, saßen in der am 18. Mai 1848 eröffneten Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche auch zwei Hanauer Abgeordnete.

Noch einmal machten Hanauer Freischärler ein Jahr später von sich reden, als rund 300 Bewaffnete im Juli nach Baden zogen, um die Reichsverfassung zu retten. Sie kämpften gegen Reichstruppen und preußische Einheiten. Das Volksheer mußte sich schließlich geschlagen geben. Die Hanauer Turnerwehr floh daraufhin in die Schweiz. Nach ihrer Heimkehr wurde ihnen der Prozeß wegen Hochverrats gemacht. Sie wurden größtenteils freigesprochen. Die verurteilten Anführer  -  darunter auch August Schärttner - mußten zunächst im Exil bleiben.

 

Die Turner:

Revolutionäres Potential sammelte sich auch in der Hanauer Turnerbewegung. Vom 2. bis 4. April fand folgerichtig auf Einladung von August Schärttner der erste Deutsche Turnertag in der Wallonisch-niederländischen Kirche statt, zu dem auch Turnvater Ludwig Jahn anreiste. Der war den Hanauern allerdings zu konservativ, so daß sie sich mit ihm bald überwarfen. Auf dem zweiten Turnertag am 2. Juli gleichen Jahres spaltete sich der Demokratische Verein Schärttners vom Deutschen Turnerbund ab.

Im April 1848 kamen in der Wallonisch-niederländischen Kirche in Hanau die Turner zum ersten Deutschen Turntag zusammen. Er war eingebettet in die revolutionären Bewegungen der damaligen Zeit. Die republikanischen Ideen nahestehende Hanauer Turngemeinde hatte es eilig, als sie am 19. März 1848 die deutschen Turnvereine für den 2. April zu einem in Hanau abzuhaltenden Turntag einlud. Als Ziel des Turntages hatte man die Gründung eines Deutschen Turnerbundes formuliert, der die Kräfte bündeln und sich vor allem auch politisch artikulieren sollte.

Konkret wollte man sich dann den im Frankfurter Vorparlament tagenden Volksvertretern, die eine Nationalversammlung vorbereiten sollten, unterstützend mitteilen. Dieses Vorgehen entsprach durchaus der Handlungsebene vieler vaterländischer oder demokratischer (republikanischer) Vereine und Verbände, die sich vielerorts in rascher Folge bildeten, um an der politischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung teilzuhaben.

Die enge Verbindung von Turnern mit den politischen Tagesereignissen wird auch darin deutlich, daß ein Teil der Delegierten den Turntag verließ und nach Frankfurt reiste, als bekannt wurde, daß Friedrich Hecker, der „Führer der Linken“, das seiner Meinung nach zu zögerliche Vorparlament mit einer radikalen Minderheit verlassen habe, um die revolutionäre Stoßkraft zu erhalten. Von den Ergebnissen ihres Turntages waren die Hanauer freilich enttäuscht. Zwar war der Deutsche Turnerbund gegründet worden, der auch für die „Einheit des deutschen Volkes“ tätig sein wollte, was einem traditionellen Streben der Turner entsprach. Eine eindeutige Aussage zugunsten einer demokratischen Republik - wie von den Radikalen erhofft - war allerdings ausgeblieben.

So beriefen die Hanauer einen zweiten Turntag ein, der am 2. Juli 1848 zusammentrat. Die zum Teil heftig geführte Auseinandersetzung über die politische Zielsetzung brachte schließlich eine Abspaltung der „demokratischen“ Richtung, die in ihrem „Demokratischen Turnerbund“ die Forderung nach Errichtung einer demokratischen Republik in die Statuten schrieb. Einig in dem Streben nach nationaler Einheit, aber uneins in der Frage der Staatsform, war die Turnbewegung spätestens nach dem 2. Hanauer Turntag tief gespalten. Die Momentaufnahme über die Hanauer Turntage zeigt, daß die Turnbewegung im Vormärz eindeutig eine politische Rolle spielte. Darüber hinaus waren Turner als Einzelpersonen oder in organisierten Gruppen aktiv in einzelne revolutionäre Ereignisse verwickelt.

Wie ist es dazu gekommen? Sind die Gründe ausschließlich in der Dynamik der erregten Zeitströmung zu sehen? Zunächst ist festzustellen, daß die Turnbewegung seit ihrer Entstehung zu Beginn des 19. Jahrhunderts politisch war und als wichtige (auch überregionale) Organisation der deutschen Nationalbewegung gelten kann. Im Wesentlichen waren es drei Anliegen gewesen, die im Brennpunkt der Bestrebungen Jahns  und seiner Turnfreunde standen: die Befreiung Deutschlands von der napoleonischen Fremdherrschaft, die Idee eines künftigen einigen deutschen Reiches unter Führung Preußens und die Schaffung einer Verfassung, die dem ganzen Volke staatsbürgerliche Rechte sichern sollte.

Von daher war es nur konsequent, wenn Jahn als ein Hauptziel des „vaterländischen Turnens“ formulierte: „....die Jugend zum künftigen Kampfe für das Vaterland rüstig zu machen.“ Ein Teil der auf der Hasenheide betriebenen Leibesübungen läßt in der Tat klar die militärische Zielsetzung erkennen. Hatte sich die Turnsache zunächst eines gewissen Wohlwollens bei den Behörden erfreut, so konnte vor allem das Einheitsstreben der Turner in der nach dem Wiener Kongreß beginnenden Restaurationsepoche nicht unwidersprochen bleiben. Die enge Verbindung von Turnern mit der politisch verdächtigen Burschenschaftsbewegung führte schließlich 1820 zur sogenannten „Turnsperre“, was einem Verbot des Turnens gleichkam, zumal sich andere deutsche Staaten dem preußischen Vorbild anschlossen.

Die Zeit nach der „Turnsperre“ (1842) war durch einen starken Aufschwung des Turnens geprägt. Die Entwicklung der Vereinsbewegung verlief nach 1845 sogar stürmisch und wies wieder eindeutig politische Züge auf. Allerdings läßt sich eine deutliche Ausweitung der gesellschaftspolitischen Ziele erkennen. Zu dem stark ausgeprägten nationalen Gemeinschaftsbewußtsein kam nun eine beginnende national-revolutionäre Bewegung. Dabei zeigte sich, daß sich in der Revolutionsbewegung von 1848/49 der bürgerliche Liberalismus, die Demokraten und die Anhänger   sozial-revolutionärer Strömungen durchaus als Träger der nationalen Plattform verstanden. Diese Art einer gemeinsamen nationalen Idee läßt sich auf Sänger- und Schützenfesten ebenso feststellen wie im Leben der Turnvereine.

Wie die Debatten und Ergebnisse der beiden Hanauer Turntage von 1848 zeigen, hatten die genannten Ziele die Turnbewegung freilich nicht durchgehend erfaßt. Auch in ihr war - ähnlich wie in den Kammern der Landtage und in ideellen Gesinnungsgemeinschaften außerhalb - eine Art Dreiparteiengruppierung gegeben: zwischen Konservativen (auch Jahn) und Radikalen (im Sinne republikanischer Demokraten) eine stärke Gruppe von Liberalen, die ein konstitutionelles Staatsrecht auf parlamentarischem Wege umsetzen wollte.

Nun wäre es falsch, alle Turner einer der genannten Gruppierungen zuordnen zu wollen. Man sollte bedenken, daß ein großer Teil der Turnvereine (vor allem in Norddeutschland) die Politik völlig aus dem Vereinsleben ausklammern wollte. Auch wenn nur wenige Mitgliederverzeichnisse von Turnvereinen aus dem Vormärz existieren, so kann man doch von einer starken bürgerlichen Mitgliedschaft in den meisten Vereinen ausgehen. Zwar mochte man durchaus mit der Republik liebäugeln, doch hätte ihre Errichtung letztlich Umsturz der politischen und sozialen Verhältnisse bedeutet. Zum anderen befürchteten viele Turner bei einer politischen Betätigung ähnliche Repressalien, wie sie schon einmal zu einer „Turnsperre“ geführt hatten.

Unrecht hatten die „Unpolitischen“ nicht, hatten sich doch republikanisch gesinnte Kreise - um der Aufmerksamkeit der Reaktion zu entgehen - Wirkungsbereiche gesucht, die nicht scharf überwacht wurden. So traf man sich eben in Turnvereinen und auf Turnfesten und nicht (oder nicht nur) in demokratischen Vereinen und bei Volksversammlungen. Daß sich die „Maulturner“, wie die nicht aktiven Turner zuweilen genannt wurden, in manchen Vereinen das Übergewicht verschafften, verstärkte oft noch die Tendenz zum politischen Verein. Die Folge war, daß schon vor den Märzereignissen zahlreiche Turnvereine polizeilich überwacht und zum Teil verboten wurden (beispielsweise die Frankfurter Turngemeinde und der Turnverein Offenbach).

Das politische Engagement der republikanischen Turner mündete letztlich in eine aktive Teilnahme an den revolutionären Ereignissen von 1848/49 ein. Eine der Voraussetzungen dafür war, daß zahlreiche Turner der Aufforderung des 1. Hanauer Turntages gefolgt waren, sich zu bewaffnen. Die Volksbewaffnung war eine der Märzforderungen gewesen. In vielen Turnvereinen waren Turnerwehren gebildet worden, von denen sich manche den Bürgerwehren anschlossen.

Über eine Teilnahme von Turnern am „Heckerputsch“ (Hecker hatte im April 1848 in Konstanz die Republik ausgerufen) ist nur wenig bekannt. Stärker war die Beteiligung von Turnern an den Unruhen in Frankfurt im September l848. Anlaß des rasch niedergeschlagenen Aufstandes war die Annahme des Waffenstillstandes von Malmö durch die Nationalversammlung. Auch Jahn hatte dafür gestimmt. Das Abstimmungsergebnis wurde von den Radikalen als Verrat am deutschen Volke angesehen. Die Ablehnung der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. bedeutete das Scheitern der Frankfurter Verfassungsbestrebungen.

Im Mai 1849 kam es zu Kämpfen zur Durchsetzung der Reichsverfassung in Sachsen, in der Pfalz und in Baden. Hieran waren Turner sehr stark beteiligt. In Baden griffen sogar Einheiten von Turnern in die Kämpfe ein, wie beispielsweise die Hanauer Turnerwehr (bei Waghäusel und an der Murglinie).

Nach dem Scheitern der Revolution von 1848/49 gingen die Regierungen mit besonderen Vereinsgesetzen gegen politische Vereine vor. Manchenorts wurden Vereine, die dem Demokratischen Turnerbund angehörten, sogar verboten. Viele Turner, die in bewaffnete Auseinandersetzungen verwickelt waren, hatten sich ins Ausland abgesetzt und später dort Fuß gefaßt. So steht beispielsweise die Entstehung der Turnbewegung in den USA eindeutig im Zusammenhang mit der durch die Revolution ausgelösten deutschen Einwanderung: Getreu ihren Zielen gründeten die ausgewanderten Turner 1851 den „Sozialistischen Turnerbund“ von Nordamerika.

Die Maßnahmen der Reaktion unterbrachen zunächst die Weiterentwicklung der Turnbewegung in Deutschland. Bei ihrem Wiederaufleben 1859/60 bestanden kaum mehr als 100 Turnvereine, nachdem es zehn Jahre davor noch etwa 300 gewesen waren. Die Turnbewegung nach der Revolution hatte nicht mehr den Charakter einer politischen Bewegung, sieht man von der nationalen Frage ab. Allerdings blieb das Turnen die bestimmende Form der in Schule und Verein betriebenen Leibesübungen.

Der politische Bedeutungsverlust der Turnbewegung läßt sich auch damit erklären, daß die politische Meinungsbildung in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts immer deutlicher in Parlamenten und Parteien erfolgte. Spätestens seit der Reichsgründung 1871 sah sich die Turnbewegung dem wilhelminischen Staat mehr und mehr verpflichtet. Die deutsche Einheit, das zentrale politische Ziel der Turner seit Jahn, war erreicht. Fortan befand sich die bürgerliche Turnbewegung - die Zeit des Nationalsozialismus eingeschlossen - im Einklang mit der Obrigkeit.

 

August Schärttner und seine Turner zogen vor 150 Jahren aus, um die badische Volksregierung zu unterstützen

Es war „Ungeheuerliches“ was da am 2. Juni 1849 an Hanaus westlichem Stadtrand geschah, also etwa dort, wo sich heute Kastanien- und Burgallee befinden: Die Hanauer Turner, etwa 2.900 an der Zahl, trafen sich unter Leitung ihres Vorsitzenden August Schärttner, um einem Hilferuf der damals kurzzeitig in Baden existierenden Volksregierung bewaffnet zur Hilfe zu eilen. Bejubelt von den Hanauern zogen die Turner, denen sich immer mehr Sympathisanten aus Firmen und aus anderen Orten anschlossen, durch die Stadt hin zur Aschaffenburger Straße. Über 300 Männer waren es dann letztlich, die ein Turnerbataillon bildeten, das unter dem Regiment des so zum Major avancierten August Schärttner stand. Das reichte für das Aufstellen von drei Kompanien aus, die jeweils von einem Hauptmann angeführt wurden. Die erste Kompanie stand unter Leitung von Hauptmann Unna, den anderen standen die Hauptleute Christian Lautenschläger und Engel vor.

Es gärte in den deutschen Landen: Zwar war die Paulskirchenverfassung 1849 verabschiedet und damit demokratische Reformen eingeleitet worden. Doch hatte der designierte Kaiser, Preußens König Friedrich Wilhelm IV., die Krone zurückgewiesen und die 1848er Verfassung als „ein revolutionären Produkt“ beschimpft. Der königlichen Ablehnung schlossen sich deutschen Königs- Herzogs- und Fürstenhäuser durchweg an; der Boden für eine Erhebung von Teilen des deutschen Volkes war bereitet.

Heute spricht man nach der Lokalisierung der Ereignisse vom „badisch-pfälzerischen Maiaufstand“. In Baden griff der Aufstand um sich, erhielt teilweise Unterstützung von Soldaten der Großherzoglich-badischen Armee, und auch der polnische General Miroslawski stellte sich mit seinen Truppen auf die Seite der Aufständischen. Ihnen gegenüber standen auf Seiten des Großherzogs neben dessen Truppen auch solche aus Kurhessen und das Erste Preußische Garderegiment, das vom preußischen Prinzen Wilhelm (später: Kaiser Wilhelm I.) geführt wurde.

Zurück nach Hanau: Die Turner hatten im Revolutionsjahr 1848 eine politisch maßgebliche Rolle gespielt, und so war es auch kein Wunder, daß sich die in Baden als Gegenpol zum Großherzog gebildete Volksregierung, als sie sich geballter feindlicher Macht gegenübersah, auch an die verschiedenen Turnergruppierung um Unterstützung wandte. In Hanau stieß man dabei auf offene Ohren: Das Turnerbataillon wurde zusammengestellt und brauchte sich um Rekrutierungsprobleme keine Sorgen zu machen. Die Hanauer Turnertruppe marschierte aus der Goldschmiedestadt heraus, kam über Großkrotzenburg und Kahl, Aschaffenburg, Miltenberg und Buchen nach Hirschhorn.

Am 12. Juni gab es dort die erste „Feindberührung“. Vieles wurde bei diesem Gefecht improvisiert: So mußten die Bleiumrahmungen der Butzenscheiben am Schloß Hirschhorn als Material für Gewehrkugeln herhalten. Richtig „heiß“ wurde es dann bei Waghäusel nahe Hockenheim, wo es am 21. Juni zu einem Scharmützel kam, und dann bei der „Entscheidungsschlacht“ am 28. und 29. Juni bei Rastatt-Kuppenheim. Dort bezogen die Aufständischen die entscheidende Niederlage. Aus Kampfhandlungen gab es kein einziges Todesopfer auf Hanauer Seite. Die beiden einzigen Toten resultierten aus dem mißglückten Versuch, ein Gewehr zu reinigen. Das wirft sicherlich auch ein Licht auf die Resignation vor einer Übermacht, die die Revolution letztlich zu einer, wenn auch sehr ernstzunehmenden Drohgebärde werden ließ.

Die Hanauer Turner um August Schärttner jedenfalls begaben sich nach der Niederlage bei Kup­penheim auf einen „geordneten Rückzug“ in Richtung Schweiz, bewältigten einen Streckenabschnitt sogar mit der Eisenbahn, um dann aber doch per Fuß am 5. Juli die Grenze bei Basel zu erreichen. Von den Eidgenossen wurden die Kämpfer interniert. In den folgenden Wochen kehrten die ersten von ihnen nach Hanau zurück. Und als ihnen da erst einmal „nichts passierte“, folgten alle anderen nach.

Der Anführer. August Schärttner ging nach London. Der gelernte Gastwirt begründete sich dort mit dem „Deutschen Haus“ eine bürgerliche Existenz, spielte aber nach wie vor in der revolutionären Szene eine nicht zu unterschätzende Rolle. Wilhelm Kämmerer, der Ordonanzoffizier der Turnertruppe, fand erst einmal in Paris Unterschlupf.

Allein: Die Aufständischen sollten nicht auf Ewigkeit unbehelligt leben können. Im Jahre 1858 wurden 43 von ihnen vom Hanauer Schwurgericht des Hochverrats beschuldigt. 21 der Angeklagten stellten sich auch ihren Richtern. Inzwischen durchweg in den bürgerlichen Alltag zurückgekehrt wurden sie alle freigesprochen. Nicht so jedoch die „Rädelsführer“: In Abwesenheit wurde so August Schamner zu acht Jahren Zuchthaus, Wilhelm Kämmerer zu fünf Jahren verurteilt. Für Schärttner hatte dies zur Folge, daß er nie wieder seine Heimatstadt besuchen konnte, denn gerade 42jährig starb er 1859 in London. In Deutschland wurde die aufmüpfige Turnerbewegung in den Jahren nach der badisch-pfälzischen Revolution völlig entpolitisiert und Großteils auf  „vaterländischen“ Kurs gebracht, wie sich vor allem auch bei großen Turnfesten in den nächsten Jahren zeigte.

 

Die Künstler:

Von einer seltenen Konstellation in der Kunstgeschichte gehört es,  „daß ein Freundeskreis junger Maler zugleich Turner war.“ Die Zeichenakademieschüler Georg Cornicelius, Friedrich Karl Hausmann, August Schleissner, Heinrich Ludwig, Georg Gerhardt, Friedrich und Johann Deicker, die Söhne des Hanauer Tiermalers, sowie die Hamburger Brüder Gustav und Louis Spangenberg waren nicht nur beflissene Turner, sondern waren auch den freiheitlichen-demokratischen und patriotischen Gedanken der Turnerschaft zugetan. Daß sich dies so ergab, war mit Gewißheit ein Verdienst von Theodor Pelissier, dem damaligen Leiter der Zeichenakademie, gewesen, der nach dem Tod seines Vorgängers, Conrad Westermeyr, der vom Bürgertum getragenen Lehranstalt neue Impulse hinsichtlich des künstlerischen Schaffens und der Pädagogik gab.

Cornicelius, der der Turngemeinde 1837 beitrat, war nach der Schilderung seines Neffen Karl Siebert zunächst ein Turner der Körperertüchtigung wegen: „Daß die überwiegende Tätigkeit in einem geschlossenen Raum für einen jungen Menschen auf die Dauer nicht zuträglich sei“, empfand Cornicelius frühzeitig und versuchte durch „Bewegungen im Freien“ einen Ausgleich zu finden.

Fast alle älteren Pelissier-Schüler waren in der Turngemeinde, und damit auch Karl Hausmann und August Schleissner, die zu den besten Freunden von Cornicelius zählten. Man ließ sich ganz entsprechend der Gesinnung einen sogenannten Hecker-Bart stehen; ein Vollbart, wie ihn der Revolutionsführer Friedrich Hecker trug.

Ein Mitanführer - wenn auch ein weitaus konservativerer - kam im April l848 zum Deutschen Turntag nach Hanau: Friedrich Ludwig Jahn. Cornicelius und Hausmann nahmen rasch Kontakt zu ihm auf, offensichtlich nicht nur zum ideologischen Gedankenaustausch. Jahn und seine Frau Emilie wurden während des längeren Aufenthaltes in Hanau von den beiden Künstlern auch gemalt. Dies in einer Darstellungsform, die bislang nur Adeligen vorbehalten war - stolz in ganzer Statur, losgelöst von jeglichem Hintergrund. Später werden so auch der Freischärlerführer Karl Röttelberg und der Turnerführer August Schärttner ganzfigürlich portraitiert. Dieser, auf Repräsentation ausgerichtete Bildansatz, wird sozusagen demokratisiert. Dazu hat außerdem beigetragen, daß die Zeichnungen im Lithographiedruck in hoher Auflage reproduziert wurden und somit als Wandschmuck und Träger einer ideologischen Richtung für jedermann erschwinglich waren. Das Bildnis von Turnvater Jahn, das vom Frankfurter Eduard May-Verlag herausgegeben wurde, soll ein Verkaufsschlager gewesen sein.

Nur zwei Künstler aus dem Kreis von Cornicelius nahmen am Hanauer Turnerzug, den er in einer Bleistiftzeichnung festhielt, gen Baden teil. Im Herbst 1848 gingen er und Hausmann nach Antwerpen - wie manch anderer deutscher Maler auch. Dort widmete man sich der Historienmalerei. Hausmann zeichnete die Paulskirche als Stätte der Nationalversammlung und setzte sich 1849 mit dem Bildnis „Der Freischärler tot auf dem Boden liegend, von einer Frau beweint“ mit dem Scheitern der Revolution auseinander. Die „Strafbayern“ besetzten am 1. November 1850 die unruhige Stadt.

 

Dr. Johann Heinrich Kopp  1858

Der Mitbegründer der Wetterauischen Gesellschaft und medizinischer Schriftsteller, Geheimer Obermedizinalrat Dr. Johann Heinrich Kopp, bewohnte das Haus „Zum Ochsenkopf“, Philipp-Ludwig-Anlage Nr. 11, bis zu seinem Tode im Jahre 1858.

 

Preußen 1866

Am 8. Oktober 1866 wurde Kurhessen von dem im Deutschen Krieg siegreichen Preußen annektiert. Seit dieser Zeit war Hanau preußisch. Nach der Reichsgründung 1871 hatte die Stadt teil an dem allgemeinen wirtschaftlichen Wachstum. Hanaus Industrie nahm einen beträchtlichen Aufschwung. Dies war begleitet von einem raschen Bevölkerungszuwachs, was wiederum zur Erweiterung des bebauten Stadtgebietes weit über die von den alten Festungswerken vorgegebenen Grenzen führte. Hanau war in dieser Zeit ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt, um 1900 wurde es zu einer bedeutenden Garnisonsstad. Stationiert waren hier ein Ulanen- und ein Infanterieregiment, vor allem aber die Eisenbahnpioniere.

 

Paul Hindemith  1895 bis

Eine der stärksten musikalischen Begabungen unter den neueren Komponisten, Paul Hindemith, ist ein Kind unserer Vaterstadt Hanau. Das erfüllt uns mit Stolz. Am 16. November 1895 wurde er im Hause Vorstadt 14, das der Zerstörung zum Opfer fiel, geboren. Der Vater, ein künstlerisch hochbegabter Mann, jedoch ohne straffe innere Haltung, ließ den Jungen, der noch zwei musikalische Geschwister hatte, vom elften Jahre an in Frankfurt am Dr. Hoch’schen Konservatorium ausbilden. Professor Adolf Rebner, ein hervorragender Geiger und Leiter des nach ihm benannten, weltberühmten Quartetts, formte ihn zu einem tüchtigen Violinspieler und Bratschisten. Seine Lehrer im Tonsatz waren Bernhard Sekles und der Darmstädter Arnold Mendelssohn, Sohn eines Vetters von Felix Mendelssohn-Bartholdy.

Vor dem ersten Weltkrieg dirigierte an der Frankfurter Oper Dr. Ludwig Rottenberg, der spätere Schwiegervater Paul Hindemiths Er erkannte die künstlerischen Fähigkeiten des jungen Geigers und berief ihn als Ersten Konzertmeister an das Frankfurter Opernhausorchester. Hier erwarb er sich durch gründliches Einarbeiten in den musikalischen Stil der Oper das für seine eigene schöpferische Tätigkeit so überaus wichtige Handwerkliche der Kunst.

Der durch seine Tonschöpfungen bereits bekanntgewordene Tonsetzer wurde im Jahre 1928 als Lehrer der Komposition an die Hochschule für Musik in Berlin berufen. Wie viele andere mußte auch Paul Hindemith 1933 seine Heimat verlassen, und sein Werk wurde verfemt. Zuerst fand er Asyl in der Schweiz, später folgte er einem ehrenden Ruf als Professor der Musik nach den Vereinigten Staaten Amerikas. Im Jahre 1951 kehrte der Künstler nach der Schweiz zurück und wirkt seitdem als Hochschullehrer für Musik in Zürich.

Paul Hindemith hat oft im Brennpunkt künstlerischer Auseinandersetzungen gestanden; auch er mußte wie alle Neuerer gegen mannigfache Widerstände seinen Weg bahnen und sich seinen eigenen Stil erkämpfen. Heute steht nun die musikalische Welt vor dem Werk dieses talentiertesten deutschen Komponisten der Neuzeit in Erstaunen und Ehrfurcht. In seiner Oper „Mathis der Maler“ steht der Satz: „Alles, was du schaffst, sei Opfer dem Herrn!“ In diesen Worten liegt ein Bekenntnis zur Würde der Kunst, der Paul Hindemith mit ganzem Herzen dient.

Trotz aller äußeren Erfolge und Anerkennungen ist Paul Hindemith stets der bescheidene, liebenswürdige Mensch geblieben, dem nichts lästiger ist als öffentliche Ehrungen. Er lebt nur für sein Werk. dem er sich verschworen hat, und ihm widmet er sein ganzes, großes Können. Zeigen wir uns dieses großen Meisters, als einem der besten gestaltenden Geister unserer Zeit, würdig!

 

Hanau als Vorposten der proletarischen Revolution 1918

Am 8. November 1918 war die Novemberrevolution, Kaiser Wilhelm II. dankte ab, Scheidemann rief die Republik aus und Liebknecht bestand darauf, daß sie eine sozialistische sei. Schon zwei Tage zuvor hatten im Hanauer Rathaus die Stühle gewackelt, war die Stadtverordnetenversammlung von den Massen gesprengt und aufgelöst worden. „Nieder mit dem Krieg!“ - „Auf Sozialisten, schließt die Reihen!“ lauteten die Parolen. Am 8. November konstituierte sich der „Arbeiter- und Soldatenrat“ und in der Nacht auf den 9. November erging ein Aufruf an die Bevölkerung, den Anbruch „der neuen Zeit“ zu unterstützen, „für die die besten Männer und Frauen des Proletariats litten und starben.“

Im Folgenden wurde die Sicherung von Ruhe und Ordnung versprochen, wurden Lebensmittel- und Kleiderbeschaffung garantiert und im Gegenzug Sanktionen gegen Plünderer angedroht. Am Samstag, 9. November 1918, wurde der Soldatenrat in einer öffentlichen Versammlung auf dem Marktplatz von der Bevölkerung bestätigt. „In Hanau herrschte ein besonders revolutionärer Geist“, resümierte Hubert Zilch, Gründungsmitglied und langjähriger Vorsitzender des Hanauer Kulturvereins.

„Seit dem Wilhelmsbader Fest 1u32 - das auf das Hambacher Fest unmittelbar folgte - und den Ereignissen 1848/49 hat man landesweit nach Hanau geguckt und den Ausruf der Revolution erwartet, behauptete Zilch. Clara Zetkin formulierte in einem Vorwort zu Friedrich Schnellbachers Zeitzeugenbericht: „Das Hanauer Proletariat hatte arbeitend, kämpfend seine revolutionäre Reife bewiesen und seine revolutionären Tugenden erwiesen!“

Von dieser pathetischen Einschätzung spannte der Historiker den Bogen von der Ausgangssituation (Lage der Metallarbeiter im 19. Jahrhundert) über die wirtschaftliche Entwicklung während des ersten Weltkrieges (extremer Rückgang im Schmuckgewerbe, Arbeitslosigkeit) bis zur Rolle der Pulverfabrik in Wolfgang und ihrem späteren Ausbau zum Atomdorf. Seine grundlegende Frage hinter allen Fakten war: „Vieles hat sich durch die Technologieschübe verändert - aber hat sich dabei auch der Mensch entwickelt?“

Gravierend wirkte sich auch der technologische Fortschritt aus, hatte doch die Differenzierung der Arbeitsvorgänge und der Trend zur Hochqualifizierung Selbstisolierung und Entsoli­dari­sierung in der Arbeiterschaft zur Folge - Symptome, die sich bis heute auswirken. Clara Zetkin sah das Scheitern der Räte-Regierung unter einem weiteren Aspekt: „Das revolutionäre Hanau gehörte zu den wenigen Inseln im Ozean der Klassenunreife. Es war ein vorgeschobener Vorposten der proletarischen Revolution, der zurückgezogen werden mußte, weil die breiten. starken Heersäulen nicht standhielten!“

 

Aufwärtsentwicklung bis 1945

Seit der Gründung der Neustadt durch die französischen und flämischen Reformierten wurde Hanau durch eine rasche wirtschaftliche und industrielle Entwicklung bald zu einer beachtenswerten Geschäftsstadt. Ihre gewaltige Entfaltung zeigte sich nicht nur auf dem Gebiete des Gold- und Silberschmiede-Handwerks mit seinen Nebengewerben (1874 wurde die erste Diamantschleiferei von Friedrich Houy eröffnet), sondern sie entwickelte sehr bald auch ihren Charakter als Stadt des Manufakturei- und Fabrikwesens. Die Teppichfabrik Leis1er und die Tuchfabriken, später auch die Tabakwaren- und Zigarrenfabriken, schickten ihre Waren weit über die Grenzen der engeren Heimat hinaus und begründeten für Hanau den Ruf einer Handelsstadt.

Es entstanden kleinere und größere Fabrikanlagen, von denen sich einige bis auf den heutigen Tag durchgesetzt und teils als Großindustrien sogar Weltgeltung erfahren haben (Dunlop -Heraeus - Quarzlampengesellschaft - Degussa - Hanauer Gummischuhfabrik u. v. a.). Nach dem Zusammenbruch 1918 hatte auch Hanau seine Unruhen; dennoch konnte bereits 1921 - 24 der Mainhafen gebaut und 1928 die Stadtha1le eröffnet werden.

Mit der wirtschaftlichen Entfaltung ging der kulturelle Aufstieg Hand in Hand. Hanau hatte ein Schulwesen, auf das es stolz sein konnte, und sein Theater- und Konzertwesen konnte sich sehen lassen. Der Einfluß des Zuzuges der Emigranten war nicht nur wirtschaftlich zu spüren: Ein neuer Menschenschlag, der Hanauer Typ als der weltoffene, musische, der an südliche Temperamente anklingende, lebhafte und freiheitlich gesinnte Mensch entstand.

 

Niedergang

Am 19. März 1945  wurde in knapp 20 Minuten all das zerstört, was eine strebsame Bevölkerung in Generationen durch Fleiß und mit Entbehrung geschaffen hatte. Die ganze Stadt war ein einziger Trümmerhaufen. Von 14 Schulen stand noch eine. Alle Kirchen waren verschwunden, die Industrie völlig zerschlagen und die Krankenhäuser ganz oder teilweise zerstört. Alle Zeugen der Vergangenheit, Kulturdenkmäler, historische Gebäude waren vernichtet. 85 Prozent der Häuser lagen in Schutt und Asche. Von 42.000 Einwohnern wurden in der Stadt noch etwa 6.000 gezählt. Acht Tage später zogen die Amerikaner ein. Marodeure, Wegelagerer und Gangster trieben in der Ruinenstadt ihr Unwesen. Die paar Menschen, die geblieben, schienen zunächst wie gelähmt und waren unschlüssig.

Als in den frühen Morgenstunden des 19. März im Kriegsjahr 1945 Hanau durch den schweren Bombenangriff zerstört wurde, der Stadtkern ein großes Trümmerfeld bildete und nur noch einige Häuser am Stadtrand übriggeblieben waren, da schien die Geschichte Hanaus beendet, und es war keine Phrase, als man von kompetenter Besatzungsseite dem Stadtoberhaupte den Rat gab. eine neue Stadt außerhalb der bisherigen Stadtgrenzen zu errichten, da es unsinnig und unausführbar sei, über dem Trümmerhaufen mit dem Wiederaufbau zu beginnen.

 

Der Landrat als brutaler Rädelsführer unter den Nazis 1948

Einen der ersten aufsehenerregenden Prozesse nach dem Zweiten Weltkrieg führte die wiedergegründete, damals noch einzige Strafkammer des Hanauer Landgerichts im Sommer 1948 in einem noch notdürftig wiederhergerichteten Saal des ausgebombten Justizgebäudes. Auf Betreiben der Opfer und des Staatsanwaltes Cordier, der noch weitere Unrechtsfälle aus der Nazizeit aufgriff, mußten sich insgesamt elf Angeklagte wegen gefährlicher und schwerer Körperverletzung im Amt, Aussageerpressung und weiterer Straftaten verantworten.

Sie hatten unter der Rädelsführerschaft des vormaligen Landrates Fritz Löser und Leiters der Staatspolizei, Wilhelm Färber, im Jahr 1933 angebliche oder tatsächliche Kommunisten festgesetzt und unter grausamen Folterungen zu Geständnissen über staatsfeindliche Vorhaben oder Taten gezwungen.

Die Anführer Löser und Färber, die auch aktiv an den Peinigungen teilgenommen haben sollen, wurden nach kurzer Untersuchungshaft und zweiwöchigem Verfahren zu Zuchthausstrafen von fünf und sieben Jahren verurteilt. Ihre Komplizen mußten zwischen 21 Monaten und dreieinhalb Jahren hinter Gitter. Einer der Beteiligten, der als der brutalste Schläger galt und außerdem im Jahr 1938 einen Raubüberfall auf eine Gruppe von Juden beging, erhielt eine Gesamtstrafe von elf Jahren. Drei der Beschuldigten wurden freigesprochen.

Nach der so genannten „Machtübernahme“ 1933 suchten die Nazis, die erlangten Regierungspositionen auch an der Basis und im Verwaltungsapparat zu festigen, wobei die Mehrheit der Beamtenschaft dem neuen Regime ablehnend gegenüberstand. So jedenfalls befand die Hanauer Strafkammer mit den Berufsrichtern Kurt Krotzmann, Dr. Friedrich Raschik und dem späteren Landgerichtspräsidenten Ernst Weigand in der damaligen Urteilsbegründung. Die Staatsdiener seien „viel zu sehr in den Überlieferungen eindeutiger Rechtsstaatlichkeit erzogen und groß geworden, um die von den Nationalsozialisten gewünschten und für erforderlich gehaltenen Methoden mitzumachen“.

Um die Kontrolle zu erlangen und das Machtgefüge der Verwaltung auszuhöhlen, wurden daher immer mehr eigene Leute eingeschleust, zuerst und vor allem bei der Polizei. So wurde in Hanau der spätere Angeklagte Löser als Kreisleiter, Landrat und Polizeidirektor eingesetzt. Mit ihm, aber teilweise auch gegen ihn, agierte der gelernte Maschinenbauer Wilhelm Färber, der bereits 1932 der SS beigetreten war, um auf diese Weise Karriere zu machen.

Diese Parteigruppierung entsandte ihn denn auch nach der „Machtergreifung“ als Verbindungsmann in die politische Abteilung der Kripo, wo ihm schon bald sämtliche Vorgänge der Sachbearbeiter zur Abzeichnung vorgelegt werden mußten. Färber erstattete wiederum dem Kreisleiter Löser regelmäßig Bericht.

Zwischen diesen Protagonisten entwickelte sich im Laufe der Zeit ein persönlicher Machtkampf, was schließlich dazu führte, daß beide gegeneinander intrigierten und sich in der Wahl ihrer Mittel zur Terrorisierung der Bevölkerung zu übertrumpfen suchten. Nach Überzeugung des Gerichts waren auch darin die Gründe für die folgenden Ereignisse zu suchen.

Bei den übrigen Angeklagten handelte es sich ausschließlich um Angehörige der Hanauer SS, darunter der Kaufmann und Sturmbannführer Franz Eckhard, der seinen Keller für die Folterungen zur Verfügung stellte, damit die Schreie der Opfer nicht in der Öffentlichkeit gehört werden sollten. Sein Adjutant war der SS-Scharführer Färber. Einen höheren Rang nahm außerdem der SS-Sturmführer Otto Gräbe, der Schläger in der Gruppe, ein.

Die erste „Aktion“ fand im Juni 1933 statt und richtete sich gegen Kommunisten oder Personen, die dafür gehalten wurden. Offiziell wurde ihnen vorgeworfen, Flugblätter der mittlerweile verbotenen KPD verteilt zu haben. Festnahmen und die anschließende Erzwingung von Geständnissen dienten den Drahtziehern Löser und Färber auch dazu, ihre Positionen gegenüber höheren Parteigruppierungen zu rechtfertigen. Bis dahin hatten sie deren Erwartungen hinsichtlich der politischen Erziehung der Bürger offenbar nicht erfüllt.

Von der Polizei festgenommen worden waren zu dieser Zeit vier Männer wegen angeblicher kommunistischer Umtriebe. Ein strafbarer Tatbestand konnte jedoch zunächst nicht festgestellt werden. Daraufhin wurden sie einzeln in den Keller des Sturmbannführers Eckhard gebracht, verhört, eingeschüchtert und nach Feststellung der Richter „in geradezu unvorstellbarer Weise gepeinigt. Der Gipfelpunkt der völlig verrohten Praktiken war dabei das so genannte Aufhängen. Dem Delinquenten wurden mit einem Strick die Arme am Rücken zusammengebunden, der Strick wurde sodann zwischen den Beinen am Geschlechtsteile nach vorn und oben geführt und die Betroffenen aufgehängt.“

„Ungerührt von den Schmerzensschreien, dem Winseln und schließlich Wimmern der bedau­ernswerten Opfer ließen die entmenschten Peiniger sie stundenlang in dieser Lage hängen, bis sie meist das Bewußtsein verloren, zumal sie vorher schon ergiebig geschlagen worden waren“, heißt es dazu in der Urteilsbegründung. Und weiter: „Es ist klar, daß die Opfer nach diesen Torturen unbesehen unterschrieben und bestätigt haben, was man von ihnen haben wollte.“  Demnach trugen alle vier Gefolterten schwerste Gesundheitsschäden davon und mußten monatelang ärztlich behandelt werden. Einer von ihnen litt noch zum Prozeß, 15 Jahre später, unter einer teilweisen Beinlähmung und epilepsieähnlichen Zuständen. Allerdings konnte nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden, ob diese Beeinträchtigungen von der damaligen Folter oder späteren Mißhandlungen im Konzentrationslager herrührten.

Eine zweite Razzia startete die Hanauer Polizei Mitte Dezember 1933. Zwei V-Leute begaben sich in die Gastwirtschaft Vohwinkel, wo sie sich als flüchtige bulgarische Kommunisten ausgaben und behaupteten, sie wollten einen Vervielfältigungsapparat für Flugblätter in Sicherheit bringen. Um ihr Anliegen echt wirken zu lassen, hatten sie sich aus den Asservaten der Polizeidirektion eine Hektographiermaschine besorgt, die sie einem der Gäste zur Aufbewahrung übergaben. Der nahm sie mit sich nach Hause und versteckte sie in seinem Kleiderschrank.

Mittlerweile hatten Polizei und SS das Lokal umstellt. Sämtliche Gäste, zwischen 30 und 40 Personen, wurden festgenommen. In den folgenden Tagen wurden weitere Menschen verhaftet und „vernommen“. Die spätere Beweisaufnahme ergab, daß sich die Angeklagten dabei „so entsetzlicher und unmenschlicher Mißhandlungen schuldig machten, daß es schwer fällt, vergleichsweise ähnliche Grausamkeiten zu nennen, außer etwa die Zustände in den KZ-Lagern“. Wenn die Gefangenen leugneten, verbotene Druckschriften verbreitet zu haben, wurden sie mit dem Kopf gegen Kanten und Wände geschlagen. Abwechselnd prügelten die SS-Leute unter anderem mit schweren Artilleriepeitschen so lange auf ihre Opfer ein, bis von den Folterwerkzeugen nur noch Stümpfe übrig waren.

Manchen wurden die Kleider herunter gezerrt „und die Peitschenschläge auf den bloßen Leib aufgesetzt, wobei man vereinzelt sogar nasse Tücher auflegte, um die Körperhaut umso eher zum Platzen zu bringen und die Schmerzen noch zu verstärken. Die Schreie der unglücklichen Opfer dieser barbarischen Methoden waren so weit in die Nachbarschaft der Polizeidirektion zu hören, daß draußen Unruhe entstand und Folterungen in ein anderes Zimmer verlegt wurden, welches gegen den Hof zu lag, so daß die Schreie nicht so unmittelbar auf die belebte Straße und in die benachbarten Wohnhäuser dringen konnten.“ Die „unvorstellbare Perversität“, wie sie das Gericht konstatierte, zeigte sich auch darin, daß einer der Verhafteten mit Peitschenhieben auf die bloßen Füße malträtiert wurde und „daß man ihm die Sohlen mit glühender Kohle verbrannte, die man einem angeheizten Ofen entnahm“.

Da nach dem Krieg weder sämtliche Opfer noch Täter ausfindig gemacht und befragt werden konnten, stand für das Gericht zu befürchten, daß die Liste der Grausamkeiten damit noch nicht erschöpft war. Von den Verletzten erstatteten 27 jedenfalls nach ihrer Freilassung Anzeige gegen ihre Peiniger. Das Verfahren wurde allerdings aufgrund des unmittelbar zuvor erlassenen Straffreiheitsgesetzes eingestellt und konnte erst nach der Befreiung wieder aufgenommen werden.

Im Prozeß suchten die Angeklagten, ihre Tatbeteiligung herunterzuspielen oder gar Nichtwissen vorzutäuschen. Lediglich Otto Gräbe gab die Mißhandlungen zu, machte jedoch geltend, er habe aus idealistischen Gründen gehandelt und geglaubt, einer guten und gerechten Sache zu dienen. Reue erkannten die Richter bei keinem der Beschuldigten. Sie wurden schließlich in zwölf von 28 angeklagten Fällen verurteilt.

Das Gericht fand dazu deutliche Worte, ließ sich nicht auf die Annahme eines singulären Ereignisses ein, sondern sprach von scheußlichen Taten, „wie sie eigentlich unter Angehörigen einer Kulturnation undenkbar sein sollten“. Sie seien der Auftakt zu einer Handlungsweise gewesen, die in ihrer Konsequenz „ schließlich zu hemmungslosen Massenmorden in den Konzentrationslagern, und nicht nur in diesen, führten. Mit diesem systematischen Einsatz von Gewalt und Terror zu staatlichen Zwecken begann die Entwicklung, die den deutschen Namen in der Welt verächtlich gemacht hat.“

Die hohen Strafen für Löser und Färber, verbunden mit der Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte, begründete die aus drei Berufsrichtern und zwei Schöffen bestehende Strafkammer damit, daß sich beide im „Vollbesitz aller damaligen Machtvollkommenheit befunden haben und diese auf das Übelste mißbrauchten. Besonders der Angeklagte Löser hatte als Polizeidirektor, Landrat und Kreisleiter in einer Person alles daran setzen müssen, um das Recht zu bewahren. Stattdessen hat er erbarmungs- und rücksichtslos das Gegenteil getan.“ Er wurde daher mit der Höchststrafe belegt. Alle Verurteilten mußten ihre Strafen verbüßen.

 

Mit einer vom DKP-Kreisverband Main-Kinzig organisierten Kundgebung mahnten und erinnerten am 3. Februar 2013 ( Samstagvormittag) rund 50 Menschen vor der Stadtbibliothek an den 80. Jahrestag der Übergabe der Regierungsmacht an den Faschismus. Dabei gedachte man auch Hanauer Bürgern, die durch die faschistischen Machtorganisationen wie der Gestapo gefoltert und schikaniert wurden. „Dieser Ort hier, der Fronhof, ist der steinerne Zeuge dieser Zeit. Er wurde von der Gestapo als Polizeigefängnis genutzt“, erinnerte der Dörnigheimer Klaus Seibert, Vorsitzender des DKP-Kreisverbands, daran, daß dort NS- Regimegegner eingesperrt, gefoltert und mißhandelt wurden.

Neben Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschaftlern und Christen wurden dort auch Juden, Sinti und Roma sowie Homosexuelle verhört, gequält und später in Zuchthäuser und Vernichtungslager verschleppt. Seibert ging der Frage nach, wie es damals dazu kommen konnte. „Als Hitler zum Reichskanzler wurde und damit den Faschisten die Macht übertragen wurde, begann in den ersten Februar-Tagen die Verhaftungen von Kommunisten und anderen als Gegnern der NSDAP bekannten Menschen. Dies war auch in Hanau der Fall“, wurde bei der Gedenkveranstaltung das Unrecht in Erinnerung gerufen.

Eugen Kaiser, der damalige sozialdemokratische Landrat, wurde abgesetzt. Nach den Wahlen im März 1933 wurden die Stimmen für die KPD gestrichen und ihre Abgeordneten verhaftet. Als Beispiel für Menschen, die sich den Nazis entgegenstellten, wurde bei der Gedenkveranstaltung an vier von ihnen erinnert. Das KPD-Mitglied Karl Hörle - nach 1945 Kreisvorsitzender des Sozialverbands VdK Hanau - wurde in der Haft gefoltert, seine Fußsohlen mit glühenden Kohlen verbrannt.

Der Arzt Dr. Otto Schwabe, Arzt in der Hammerstraße und jüdischen Glaubens, der bedürftige und nicht krankenversicherte Hanauer behandelte,  mußte seine Praxis schließen. Im Jahre 1937 wurde er zur Polizeidirektion beordert und vernommen. Im Laufe des Verhörs stürzte Dr. Schwabe aus dem Fenster. Die Gestapo stellte dies als Selbsttötung dar, doch die Anzeichen sprachen dafür, daß er in den Tod getrieben wurde.

Auch der SPDler Hans Kargl (ab 1924 Stadtverordneter und bis Juni 1933 Magistratsmitglied) saß ab 1936 in fünf Gefängnissen, unter anderem im Fronhof sowie in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Dachau. Kargl, der dennoch überlebte, war von 1948 bis 1954 ehrenamtlicher Stadtrat. Er berichtete seinerzeit von unsäglichen Haft- und Hygienebedingungen.

Elisabeth Schmitz, 1893 in Hanau als Tochter eines Lehrers der Hohen Landesschule geboren, forderte in den 30er Jahren als bekennende evangelische Christin den offensiven Widerstand gegen die Judenverfolgung der Nationalsozialisten. Schmitz hatte 1938 selbst um ihre Entlassung aus dem Schuldienst gebeten, da sie ihre Schüler nicht im Sinne der NS-Ideologie unterrichten wollte. Sie kehrte Hanau den Rücken und nahm in Berlin Verfolgte in ihrer Wohnung auf. Nach dem Krieg unterrichtete sie zwölf Jahre als Lehrerin an der Karl-Reh­bein-Schule. Die Stadt richtete Elisabeth Schmitz inzwischen ein Ehrengrab ein.

 

 

Hoffnungsvoller Wiederaufbau

Schon nach kurzer Zeit setzte ein neues Beginnen ein. Zunächst wurden die Trümmer entfernt („Ehrendienst“). Es wurde gebaut, provisorisch und stabil. Fabriken wurden langsam wieder in Gang gebracht. Als am Tage X die Reichsmarkzeit mit ihrer Kompensationswirtschaft zu Ende ging, konnte auch die Stadtverwaltung wieder ordnungsgemäß planen und bauen. Es entstanden Wohnblöcke in Alt- und Neustadt; denn es galt zunächst, die Menschen in Wohnungen unterzubringen.

Sodann mußte man die Schulen wieder aufbauen: es entstanden die schönen und modernen Schulgebäude der Brüder-Grimm-Schule, der Pestalozzi-Schule, der Pedro-Jung-Schule (Hilfs­schule) in rascher Folge. Inzwischen war bereits die Gebeschus-Schule zur Aufnahme der Schülermassen hergerichtet worden. Und die Eberhard-Mittelschule konnte frühzeitig den Wiederaufbau hinter sich bringen. Die Kaufmännischen Schulen konnten ihren schönen Bau am Schloßplatz beziehen. Die Gewerbliche Berufsschule wartete noch auf die Erstellung ihres Schulgebäudes in der Nähe der Staatlichen Zeichenakademie, die bereits seit Jahren wieder neu erstanden ist. Das Gymnasium für Mädchen, das nach beschwerlichen Irrfahrten im Gebäude der Pestalozzi-Schule Asyl gefunden hatte, siedelte in sein neues Gebäude am Schloßplatz übersiedeln.

Geplant sind des Weiteren für die nahe Zukunft zwei neue Volksschulbauten (Freigericht und Westen). Schon in den ersten Jahren des Hanauer Wiederaufbaues erstanden die neue Stadthalle und das Kulturhaus, dessen Stadtbibliothek im Jahre 1953 eine vorbildliche Freihandausleihe unter der Initiative des damaligen Direktors Dr. Beckers einrichtete. Um den Schloßplatz herum ist mit Kulturamt, Schulamt, Stadtarchiv, Stadtbibliothek, Wetterauischen Gesellschaft, Volkshochschule, Kaufmännischen Schulen und Gymnasium für Mädchen ein wahres Kulturzentrum entstanden.

Eine wichtige Aufgabe war mit dem Wiederaufbau des Stadtkrankenhauses, der gewaltige Summen verschlang, zu lösen. Auch das St. Vincenz-Krankenhaus wurde im Laufe der Jahre wieder aufgebaut und modern gestaltet. Man vergaß auch nicht, an die alten Menschen zu denken, und schuf ihnen Altersheime (Hochstädter Landstraße, Martin-Luther-Anlage, Fasanerie).

Für die Jugend entstand in der Philippsruher Allee das „Haus der Jugend“, und im Schullandheim Rückersbach können Hanauer Schulkinder und Jugendliche frohe Stunden bei Spiel, Sport und Wanderung verleben. Aus eigener Initiative und Kraft schufen sich die Angehörigen der Hanauer Polizei schon frühzeitig eine Sport - und Ku1turhalle. Auf dem Gebiete des sozialen Wohnungsbaues gab es seither keine Ruhepause: überall entstanden moderne Siedlungsbauten. Aber auch der private Wohnungsbau wurde wesentlich gefördert.

Die zerstörten Kirchen wurden wieder aufgebaut, neue sind erstanden: Marienkirche, Katholische Kirche, Christuskirche. Johanneskirche (als Gemeindezentrum). Die Niederländische Kirche soll ebenfalls wieder erstehen. Am Altstädter Markt wurde das Rathaus von 1537 als „Deutsches Goldschmiedehaus“ mit ursprünglicher Fassade aufgebaut. Und auf dem Neustädter Markt ist das Barock-Rathaus mit dem netten sechseckigen Uhrtürmchen (von 1755) mit dem Schwan als Wetterfahne im Werden; es wird die Dominante bleiben in dem wiedererstandenen Marktplatz-Viereck.

Am Freiheitsplatz erstanden das imposante Gebäude des Arbeitsamtes an der sogenannten „Gelben Mauer“ neben dem gewaltigen Bau des Kaufhauses „Hansa“, und auf der Südseite ist ein großer Wohn- und Geschäftsblock geplant. Dieser schöne Platz wird durch die Erbauung eines Hochhauses und die Bebauung der Südseite seinen letzten Schliff bekommen. An verschiedenen Plätzen konnten Spielplätze eingerichtet werden. Der Mangel an solchen ist allerdings noch lange nicht behoben. Ebenso fehlen noch immer Turnhallen für Schulen und Vereine. Die Turnhalle für die Hohe Landesschule konnte kürzlich ihrer Bestimmung, übergeben werden.

Der Wiederaufbau der Stadt wurde wesentlich gefördert durch das Wiedererstehen der Industrie. Kurz nach der Zerstörung ließen es sich die Arbeitnehmer der großen und kleinen Firmen nicht nehmen, ihre alten Arbeitsplätze aus dem Trümmerzustande wieder gebrauchsfähig zu machen. Unsere Weltfirmen hatten in kurzer Zeit ihre Positionen wieder eingenommen, und Dunlop-Reifen, „Höhensonnen“ Original Hanau u. a. preisen längst wieder Hanaus hervorragende weltweite Wirtschaft. Die städtischen Versorgungsbetriebe wurden nach der fast völligen Vernichtung im Jahre 1945 sofort wieder in Gang gebracht. Daneben wurde von der Hanauer Straßenbahn AG ein moderner Omnibusbetrieb eingerichtet, und der Mainhafen mit dem Hafenbahnbetrieb verspricht im Zuge der allgemeinen Wirtschaftsförderung eine günstige Aufwärtsentwicklung. Der Schlachthof wurde teilweise wieder aufgebaut, erfordert aber für die Zukunft wesentliche Baumaßnahmen.

Das Fürsorgewesen, insbesondere die Jugendfürsorge. fand in der Wiederaufbauzeit besondere Förderung. Das Kulturleben erreichte ein recht beachtenswertes Niveau. Nicht allein das Bibliothekswesen hat einen gewaltigen Aufstieg aus dem Nichts zu verzeichnen; auch auf dem Gebiete des Theater- und Konzertwesens wurde eine ungeahnte Höhe erreicht. In der Stadthalle konnten in den letzten Jahren bei mäßigen Eintrittspreisen wertvolle Werke kulturell Interessierten aus allen Volksschichten geboten werden. Durch die Errichtung und den Ausbau des Sportplatzes Wilhelmsbad erhielt das Sport1eben neuen Auftrieb. Von der Stadt nicht vergessen wurde die Schaffung von Grünflächen. Insbesondere wurden die Parkanlagen im Schloßgarten und am Schloß Philippsruhe so gestaltet, daß sie zu den schönsten Erholungsstätten weit und breit wurden.

Daß auch sonst alles geschah. um das Stadtbild wieder zu normalisieren und dem zunehmenden Verkehr einigermaßen gerecht zu werden, beweisen die zum größten Teil in guter Verfassung befindlichen Straßen. Allerdings bleiben noch manche Wünsche offen: das Hallenschwimmbad stockt im Aufbau, Turn-, Sport- und Spielplätze, Kindergärten und -horte werden benötigt, Aufgaben, die in naher Zukunft gelöst werden müssen.

Wenn es möglich sein wird, in demselben Tempo wie seither den Wiederaufbau fertigzustellen und wenn auch weiterhin so umsichtige und mutige Oberbürgermeister wie der verstorbene Karl Rehbein und der jetzt an der Spitze der Stadtverwaltung stehende Oberbürgermeister Heinrich Fischer in Verbindung mit einer fortschrittlich gesinnten und tatkräftigen Bürgervertretung die Geschicke unserer so schwer geprüften Stadt lenken, dann wird Hanau seinen alten Ruf als Stadt des edlen Schmuckes, als Stadt der Schulen, als theaterfreudige und konzertliebende Stadt, vor allem auch als Industrie- und Handwerkszentrum, als Tor zum rhein-mainischen Wirtschaftsgebiet behalten.

 

Weitere Artikel in „Hanau, Stadt und Land“:

Hexenverfolgung im Hanauer Land, Seite 363

Eine Hanauer Kolonie (1669), Seite 368

Hessische Soldaten im Dienste Englands (1777), Hanau Stadt und Land, Seite 371

Das Jahr 1813, Seite 375

Vom „Hanauer Krawall“ und dem Krawall-Graben (1830), Seite 378

August Schärttner und seine Hanauer Turnerwehr (1848),Seite 380

Die „Strafbayern“ in Hanau 1850/51, Seite 382

Die Juden in Hanau und ihr Leidensweg, Seite 383

Hanau, die Stadt der Gold- und Silberschmiedekunst, Seite 393

Hanauer Drucker, Seite 394

Hanauer Fayence, Seite 397

Von den alten Hanauer Apotheken, Seite 400

Vom Wein- und Tabakanbau im Hanauer Land, Seite 402

Hanauer Post- und Verkehrsverhältnisse, Seite 405

Die Hanauer Gold- und Zigarrenarbeiter, Seite 406

Kleinbrillanten und Achtkanter, Seite 411

Die Geschichte des Handelshauses Lossow, Seite 412

Ein Hanauer lebte als Reeder in Hamburg, Seite 415

Der Mainhafen und seine Bedeutung, Seite 419

Die Hanauer Großindustrie, Seite 420

Der Hanauer Schlachthof, Seite 427

Die Zerstörung der Stadt Hanau am 19. März 1945, Seite 385

Hoffnungsvoller Wiederaufbau, Seite 388

 

Buch: Hanauer Juden 1933-1945, Entrechtung, Verfolgung, Deportation, 1998

 

 

Die Altstadt Hanaus

 

„Hier war einmal ...“ lautet der Standardsatz, den die Stadtführerin bei ihren Führungen häufig verwendet. Denn oft erinnern nur noch Gedenksteine oder Hinweisschilder an einstmals prächtige Bauten, die allesamt der Bombardierung zum Ende des Zweiten Weltkriegs zum Opfer fielen. Ganze sieben Häuser im alten Ortskern blieben damals verschont.

 

Verwaltungsbau Heinrich-Bott-Straße

Es wurde erbaut auf dem Gelände der Störgerschen Turnhalle in der Heinrich-Bott-Straße, vormals Marienstraße. Der auf einem T-förmigen Grundriß realisierte Verwaltungsbau entstand in traditioneller Weise im späthistoristisch-gotisierenden Stil in den Jahren 1902/03 durch den Architekten Professor Friedrich Pützer aus Darmstadt (* 25. Juli 1871 in Aachen; † 31. Januar 1922 in Frankfurt am Main). Auf den Jugendstil finden sich an den Fassaden keine Hinweise, jedoch späthisto­ris­tisch-goti­sierenden mit Anteilen im Stil der Renaissance. Das ist der „historistischen Stil“, in dem von 1820 bis 1910 Kirchen und Profanbauten in Deutschland errichtet wurden.

Das Haus hat einen polygonalen Eck-Erker mit gotischem Maßwerkdekor im Brüstungsbereich, und einem als Treppenturm („Schneck)) mittelalterlich gestalteten, rückwärtigen Treppenturm unter pittoreskem Spitzhelm. Die Fassaden mit Fensterbändern, Drillingsstaffeln, Vorhangbogen- und Kreuzstockfenstern in profilierten Sandsteinrahmen. Einen aufwendigen Akzent setzt das von Säulen flankierte Prachtportal aus Buntsandstein unter dem als traditionelles Zeichen kommunaler Bauten übernommenen Verkündigungsaltan im ersten Obergeschoß des risalitartig vortretenden, viergeschossigen Turmbaus.

Im Jahre 1945 wurde das Haus teilweise zerstört und ist bis auf die Umfassungsmauern ausgebrannt. Der Wiederaufbau erfolgte 1949 unter der Leitung von Architekt Kleinert. Das flache Mezzaningeschoß wurde neu ausgeführt und auch das verschieferte Walmdach aufge­setzt, das sich der späthistoristischen Grundform unterordnet. In den Thermogrammen sind die Bombenschäden vom März 1945 erkennbar.

 

Ehemaliges Landratsamt

Das Landratsamt Eugen-Kaiser-Straße 17a wurde 1908 bis 1910 nach Plänen des aus Hanau stammenden Architekten Georg Clormann gebaut. Wegen seiner kulturhistorischen Bedeutung ist es auf die Denkmalliste des Landes Hessen gerückt. Es ist nun ein anerkanntes und geschütztes Kulturdenkmal, die entsprechende Plakette hängt jetzt an der Außenfassade. Heimleiter Friedhelm Preis sagt dazu: „Wir haben beim Umbau stets darauf geachtet, die historische Struktur des Gebäudes zu erhalten.“ Auch der Eigentümer des Hauses, Franz Schnagl, war zur Anbringung der Denk­mal­schutz-Plakette gekommen.

Im einstigen Amtsgebäude, einem Jugendstilaltbau, eröffnete kürzlich das „Stadtteilzentrum an der Kinzig“. Der Komplex, der aus dem alten Behördenhaus, einem umgestalteten Neubau und einem komplett neu errichteten Gebäude besteht, will mehr sein als ein Altenheim. Es sieht sich laut Eigendarstellung als „modernes Dienstleistungszentrum für ältere Menschen“. Neben den Altenwohnungen befindet sich im Haus auch ein Senioren-Fitnesszentrum, das auch Bürgerinnen und Bürgern offensteht.

 

 

Betrieben wird es von dem kommunalen Betrieb Alten- und Pflegezentren des Main-Kinzig-Kreises. Es ist die zweite Pflegeeinrichtung der Alten- und Pflegezentren des Main-Kinzig-Kreises in der Brüder-Grimm-Stadt. Nach umfangreichen Sanierungs- und Umbauarbeiten entstanden darin 32 barrierefreie Appartements für das Service-Wohnen.

 

Burg

Die Burg war vermutlich in der Mitte des 12. Jahrhunderts entstanden (angeblich schon von 1143 eine Urkunde). Die erste ausdrückliche Erwähnung des „Castrum Hagenowe“ fällt in das Jahr 1234. „Hag“ bedeutet dabei „Burg“, und die lag auf der Au. So entstand der Name „Hanau“. Leider läßt sich das Bild der alten Wasserburg nur noch aus Plänen und Ansichten und mit Hilfe archivalischer Nachrichten rekonstruieren. Die Stadtansicht von Dilich aus dem Jahre 1605 zeigt noch den alten Turmabschluß mit dem Zinnenkranz, dem zurückgesetzten Turmaufsatz mit Zinnen und einem Kegeldach.

Die Kernburg hatte die charakteristische Gestalt einer mittelalterlichen Talburg. Sie hatte hohe, um einen kleinen Innenhof mit dem Bergfried sich erhebende Wohngebäude. Umgeben war die Anlage von einem Wassergraben. Wesentlicher Bestandteil der Burg war der sechseckige Bergfried. Nach der „Hanau-Münzen­bergischen Landesbeschreibung von 1720“ trug „ein alter Turm“ die Jahreszahl 1375. An der Nordostecke stand der wehrhafte, dicke Archiv- oder Taubenturm, ein kleinerer zinnenbewehrter Turm war nach Osten hin vorgelegt; die Burgkapelle lag im Erdgeschoß, die Wohnräume im ersten Stock (Abbildungen in: Hanau Stadt und Land, Seite 98, älteste Ansicht der Stadt von 1595, und Seite 139, Plan von 1773).

Schon vom 14. bis ins 16. Jahrhundert hatte die Burg manche Umbauten erfahren. So wurden 1515 Umbauten und Vergrößerungen vorgenommen. Eine Vorburg mit großem Hof legte sich um den alten Kern. Die ganze Anlage wurde durch eine starke Mauer gesichert und mit der Stadtbefestigung verbunden.

Die Burg Hanau war wahrscheinlich aus Buckelquadern erbaut. Sie war genauso von Wasserarmen und Gräben umgeben wie die Burg in Niederdorfelden und die Burgen in Gelnhausen und Büdingen. Ihr ursprüngliches Bild müssen wir uns ähnlich vorstellen wie das der Burg in Büdingen, die in ihrer Gesamtanlage trotz aller Umbauten noch durchaus „romanisch“ ist.

Graf Philipp Ludwig II. wollte zu Beginn des 17. Jahrhunderts aus der kleinen mittelalterlichen Burg ein Renaissanceschloß machen. Aus dem Plan wurde durch den frühen Tod des Grafen (1612) nicht viel. Der Turm wurde umgebaut und ein „Erkerbau“ mit einem Renaissanceportal errichtet.

Kurz darauf wurde der Turm umgebaut: Er erhielt jetzt über den Steingeschossen einen Aufbau, der sich in drei schieferverkleideten Holzgeschossen bis zur abschließenden Haube verjüngte (siehe Abbildung Seite 130). Vorbild für diese „welsche Haube“ war offenbar der Turmabschluß der Marienkirche, der nach einer Inschrift am oberen Steingeschoß vermutlich aus dem Jahre 1568 stammt. Auch die Johanniskirche erhielt 1679 - 1691 einen ähnlichen hölzernen Turmaufbau. Die drei gleichartigen Turmabschlüsse gaben der Altstadt damals ihre charakteristische Silhouette.

Kurfürst Wilhelm II. ließ den ganzen Komplex der mittelalterlichen Burg im Jahre 1829 abreißen.

Eine Ansicht des Hanauer Schlosses vom Jahre 1693 findet sich in: Hanau Stadt und Land, Seite 130. Heute steht von allen abgebildeten Gebäuden nur noch das Regierungsgebäude (E, mit Storchennest links oben, heute Stadtbibliothek) und der Wasserturm (D, daneben).

 

 

Befestigung

Die erste Abbildung Hanaus mit der Neustadt (aus W. Dilich, Hessische Chronika, 1605, in: Hanau Stadt und Land, Seite 126 und 139) zeigt ganz rechts das Schloß mit dem alten Bergfried, dann die Altstadt mit Marienkirche, Rathaus von 1537 / 1538 und den Tortürmen; davor die Neustadt mit den sternförmig vorgeschobenen Wällen. Die wallonisch-niederländische Kirche hat noch kein Dach (ähnlich wie heute stehen also nur die Umfassungsmauern). Hinter der Spitze des Walles links mit dem spitzen Türmchen die Kinzdorfkirche; dahinter Kesselstadt mit Kirche und Schlößchen (ganz links).

Die Stadt Hanau wurde mit einem Mauerring und starken Wehrtürmen umgeben. Windecken erhielt um dieselbe Zeit eine Stadtmauer. Ebenso stammen auch die Mauerringe um mehrere hanauische Dörfer vermutlich aus dem Beginn des 14. Jahrhunderts. Diese erste Stadtmauer Hanaus ist noch an einigen Stellen erhalten. Am schönsten südlich der Johanneskirche in der Schlendergasse, dann im Innenhof eines Wohnblocks der Großen Dechaneigasse (zwischen Metzgergasse und Dechaneigasse?), weiter in einem Seitengäßchen östlich der Marktstraße.

Ein etwa 200 Meter langes Stück mit zwei Mauertürmen wurde 1950 beim Bau von Wohnblöcken abgebrochen.

 

Historisch hatte sich die spätere Residenzstadt Hanau südlich um die Wasserburg Hagenouwe aus dem 12. Jahrhundert entwickelt. Die Niederungsburg war in einer Auenlandschaft angelegt worden (heute „Schloßgarten“). Die Umgebung war durch eine letzte große Mäanderschleife der Kinzig vor der Mainmündung geprägt. Südlich der Burg befand sich ursprünglich eine leicht erhabene Sandbank in West-Ost-Ausdehnung, worauf sich im 13. Jahrhundert neben einer Burg­mannen­siedlung auch ein ziviler Bevölkerungsanteil mit Wohnstätten gebildet hatte.

Mit der Stadtrechtsverleihung 1303 erhielt diese noch kleinflächige Kernsiedlung aus Burg, Vor­burg und bürgerlichem Wohnbereich eine Stadtmauer, deren Bau 1338 als abgeschlossen galt. Der Zugang zur Zivilstadt durch den Mauerring war über zwei Tore gewährleistet, im Westen durch das Metzgertor und im südlichen Stadtbereich durch das Kinzigtor.

Das Hauptbett der Kinzig verlief zwar in einem ausgreifenden Bogen um Burg und Stadt, Altarme jedoch faßten Burg und auch die Sandbank mit der städtischen Siedlung ein. Entlang des südlichen Stadtverlaufs reichte der Altarm bis nahezu an die Stadtgrenze. Immer wieder, bis in die Moderne, haben Hochwässer die Altarme als Wege genutzt. Gerade der Norden und Westen der Altstadt waren betroffen, wenn der Hochwasser führende Main zu einem Rückstau der Kinzig führte. Historische Beschreibungen zeigen auf, daß bei heftigen Naturereignissen nur der Altstädter Marktplatz trocken blieb. Wahrscheinlich war es ein Leichtes, diesen Verlauf über ein Grabensystem zu kanalisieren. Über die Gräben dieser ersten Befestigungsphase und deren Ausbau ist jedoch relativ wenig bekannt.

Die Lage des mittelalterlichen Kinzigtores ist jedoch überliefert. Es stand in Höhe Marktstraße 3, Ein Teilstück dieses ersten Befestigungsringes ist in der Schlendergasse noch bis heute erhalten und sichtbar. Die Toranlage wurde 1767 im Zuge der Umgestaltung abgebrochen. Im Verlauf des Mittelalters bildeten sich an den Toren kleinere Vorstädte aus. Im Bereich der Metzgerstraße im Westen sind erste Häuser aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts bekannt. Orientiert war die nun W- O verlaufende Bebauung an der Ausfallstraße des Metzgertores. Nach der Verlegung des Hospitals aus der Marktstraße (1501 - 1505) wurde dieser an das Metzgertor anschließende Straßenverlauf „Hospitalstraße“ genannt, das Viertel Hospitalvorstadt. Eine schmale Erweiterung gab es jedoch auch in Richtung Süden. Das westliche Vorstadtgebiet wurde auch „Zingel“ benannt. Wahrscheinlich bezeichnete Zingel auch südwestlich und südlich der Altstadt gelegene mauer­umwehrte Vorstadtbereiche. Im südwestlichen Bereich verläuft heute die Bangertstraße.

 

Eine zentrale Rolle bei der Stadtentwicklung von Hanau spielte auch die geographische Position

an einem wichtigen Straßenknotenpunkt. Zwei Fernstraßen führten von hier aus nach Süden bis Nürnberg und nach Osten bis Leipzig. Zudem wurde Hanau im 15. Jahrhundert Residenzstadt, als Reinhard II. seine Wohnstatt von Windecken nach Hanau verlegte. Einhergehend mit der Verleihung er Grafenwürde 1429 scheint der nun auch auf Repräsentation bedachte Reichsgraf mehrere Bauvorhaben an Schloß und Marien-Magdalenen-Kirche durchgeführt zu haben. In der zweiten Hälfte es 15. Jahrhunderts wurden unter Philipp dem Jüngeren weitere Baumaßnahmen durchgeführt. Zudem erwirkte er bei Kaiser Friedrich III. das Privileg in Hanau zwei Jahresmessen abzuhalten. Anscheinend hatte dieses Privileg auch schon früher gegolten, jedoch erhielt es mit der neuerlich verbrieften Betätigung angesichts der geplanten und begonnenen baulichen Attraktivitätssteigerung der Stadt einen höheren Stellenwert.

Auch die Vorstadt erhielt nun eine im Nordwesten und Südosten an den alten Mauerring angeschlossene Umfassungsmauer (Zingel). Das an der Hospitalstraße neu aufgebaute Hospitaltor trug die Jahreszahl 1484 als Baudatum. Dieser zweite spätmittelalterliche Mauerring, der die Stadt im Westen und Süden umgab, wiederholte die Toreingänge zur Stadt und fügte noch einen zusätzlichen hinzu. Der im Süden nun dem mittelalterlichen „Kinztor“ vorgelagerte neue Stadtzugang zeichnete sich durch zwei Festungstürme aus. Die neue Vorstadtbefestigung verlief dann ostwärts entlang der Schirnstraße, an deren Ende sich wiederum eine Toranalage befand - das „Neue Tor“. Aus den historischen Unterlagen geht der weitere Mauerverlauf ostwärts dieses zuletzt genannten Tores am Ende der Schirnstraße nicht mehr eindeutig hervor

Möglicherweise verbirgt sich in der Diskussion um den Zwinger im Bereich der heutigen Nordstraße das Mauerwerk der zweiten Ausbauphase zur Stadtbefestigung. Dieser dem zweiten Mauerring zugehörige Bauabschnitt auf der Südseite der Altstadtinsel von Hanau scheint während der Bauausführung eine veränderte Planung und Gestaltung erfahren zu haben. Die Veränderung geht einher mit der Schließung des Torbereichs an der Marktstraße und der Verlegung von einem der Hauptzugänge an den Südostrand, dem „Neuen Tor“.

Bau und Unterhaltung der Stadtmauer und ihrer Tore zur Stadt oblagen den Hanauer Bürgern. Auch Bewachung und Verstärkung der Verteidigung im Angriffsfalle gehörten zu den Bürgerpflichten. Die kurze Zeit später erbaute Festung mit Rundbastionen auf der Südseite der Altstadt gehörte als rechtliche Einheit den Grafen von Hanau. Die Bürgerschaft übernahm hier nur noch die Aufgaben der Grünpflege auf den Wallanlagen und die Grabenwartung und nicht mehr die Finanzierung der neuen Festung. So findet sich dann auch mit Bezug auf die Dekonstruktion der frühneuzeitlichen Festungsanlage am Ende des 18. Jahrhunderts der Verweis, daß die Kosten für die Pflasterung im Bereich der Festungsanlage nicht von der Stadt übernommen würden.

 

Die alte Stadtmauer hatte zwei befestigte Tortürme: Das Kinzdorfer Tor war im Süden der Stadt vor dem Ausgang der Marktstraße, wo vor der Zerstörung im zweiten Weltkrieg das Gasthaus „Zur Sonne“ stand. Es war ein viereckiger, aus der Mauer heraustretender Torturm mit gewölbter Durchfahrt und mit Pförtnerwohnung und Bürgergefängnis im oberen Teil. Der Turm ist im Sommer 1769 beseitigt worden.

Das Metzgertor wurde auch „Katzenturm“ genannt. Es befand sich an dem westlichen Ausgang der Metzgergasse. In dem runden Türmchen des Tores hing das Armesünderglöckchen. Im Jahre 1510 erhielt das Tor eine „Uhr mit Zeiger“. Abgebrochen wurde das Metzgertor im Jahre 1771 auf Befehl des Erbprinzen Wilhelm, des späteren Landgrafen Wilhelm IX.

Außer diesen beiden Tortürmen hatte die Stadtmauer in den ersten Jahrhunderten ihres Bestehens eine Anzahl (wahrscheinlich acht) Wart- oder Wehrtürme, deren stärkster der „Hexenturm“ war, von dem heute noch ein Stumpf im Knick der Nordstraße steht, zugänglich von dem Weg an der Ghettomauer entlang  nördlich der Polizei.

 

Im 15. Jahrhundert entstand eine erste Vorstadt (später Spitalzone), deren Abschluß das 1528 entstandene Spitaltor bildete, ein viereckiger Torturm mit gewölbter Durchfahrt. In den Jahren 1816 und 1817 wurde es als verkehrshemmend abgerissen.

Infolge des Erweiterungsbedürfnisses der Stadt und vor allem auch der Notwendigkeit, durch modernste Befestigungsanlagen Stadt und Bürger in Kriegszeiten besser schützen zu können, wurden neue Befestigungswerke nach dem Basteisystem am Anfang des 16. Jahrhunderts erbaut und damit auch weitere Tore.

Mit dem Ausbau der Bastionen entstanden im Jahre 1531 entstand das Neue Tor (am nördlichen Vordereck des heutigen Behördenhauses, auch Schützentor genannt, mit dem daran gebauten Schützenhaus), die Spitalpforte von 1528 vor dem Spitaltor und das Walltor oder das Rote Tor östlich des Schlosses, das im Jahre 1535 angelegt und erst 1615 fertiggestellt wurde. Mit einem Torturm wurde 1615 auch versehen die 1556 -1559 erbaute Kinzigbrücke, deren Margarethenturm 1829 abgerissen wurde.

Mit dem Bau der Neustadt wurden in den einspringenden Winkeln der Befestigung Tore angelegt: 1. das Frankfurter Tor,

2. das Kanaltor: Das Fundament wurde 1609 gelegt, der Bau erst 1617 vollendet. Als man 1829 bis 1831 ein neues Schlachthaus errichtete, wurden auch am Kanaltor zwei größere Wachthäuser gebaut, die leider in der Nachkriegszeit entfernt wurden, da sie stark beschädigt waren.

3. das Steinheimer Tor: Es wurde bereits im Jahre 1600 begonnen. Im Jahre 1601 war der Torturm fertiggestellt und mit Glocke versehen. Der Dreißigjährige Krieg war die Veranlassung dazu, daß das Steinheimer Tor 1619 geschlossen wurde. Es blieb gesperrt bis 1776. Im Jahre 1827 erhielt es ein eisernes Gittertor, das Tor wurde abgerissen. In diesen Jahren wurden die bis dahin hölzernen Brücken durchweg durch steinerne ersetzt, die wesentlich kleiner waren, da der Wallgraben im Laufe der Zeit auf einen schmalen Wassergraben zusammengedrängt worden war.

Nach der Schleifung der Festungswerke errichtete man an den Ausfallstraßen Torhäuschen, von denen das eine Wachhäuschen vom Nürnberger Tor noch in seinen Umfassungsmauern und dem Säulenvorbau erhalten ist.

4. das Nürnberger Tor: Es wurde in den Jahren 1600 bis 1605 erbaut. Bereits 1604 war die Brücke über den Wallgraben fertiggestellt. Das Jahr 1614 brachte Hochwasser und zerstörte die Brücke und auch den Torbau, die in den Jahren 1615 und 1616 wieder neu hergerichtet werden mußten. Im Jahre 1820 wurde das Nürnberger Tor abgerissen und eine neue Toranlage mit zwei Wachthäuschen und einem schönen Gittertor angelegt. In dem einen Wachthäuschen (Accise­häuschen) war zuletzt das Ehrenmal untergebracht (Bild in: Hanau Stadt und Land, Seite 358).

Am 19. März 1945 wurde die Wache zerstört und 1981-82 von der  gegenüberliegenden Straßenseite auf die Nordseite versetzt.

In dem torlosen Winkel zwischen dem Steinheimer Tor und dem Nürnberger Befestigungswerk, dem sogenannten „Hünnerloch“, stand eine kleine Mittelbastion.

5. das Mühltor: Es wurde nach 1609 erbaut. Es wurde mit Kriegsbeginn geschlossen. Der Durchgang wurde erst nach mehr als zwei Jahrhunderten (1852) als Passage wieder geöffnet.

 

Alle Tore sowohl der Altstadt als auch der Neustadt mit Ausnahme des Frankfurter Tore sind im Laufe der Zeit aus verschiedenen Gründen niedergelegt worden. Nur Straßenbezeichnungen wie „Vor dem Kanaltor“ und „Mühltorweg“ erinnern noch an alte Tore. Auf Befehl Napoleons wurden die Festungswerke im Winter 1806/07 niedergelegt. Damit verschwanden das Nürnberger Tor, das Mühltor und das sogenannte Haustor oder Walltor. Alle anderen Tore sowohl der Altstadt als auch der Neustadt sind im Laufe der Zeit aus verschiedenen Gründen niedergelegt worden (Zeichnungen der Tore in: Hanau Stadt und Land, Seite 356).

 

Stadtschloß

Von der Gebäudegruppe des Hanauer Stadtschlosses sind nur noch die Stadthalle und das Regierungsgebäude erhalten. An der Stelle des Schlosses stand die ehemalige Wasserburg der Herren von Hanau, „die Keimzelle Hanaus“, die im Jahre 1143 schon bestanden haben muß. Aber durch chronodendrologische Gutachten wird man nach den Grabungen im Jahr 2001 auf eine Dekade genau sagen können, wann die Eichen geschlagen worden sind, deren Stämme zur Gründung der Wasserburg beziehungsweise Schloßanlagen in den Boden getrieben und gitterartig aufgelegt worden waren (die Stelle der Burg liegt aber außerhalb des Aktionsfeldes der Grabungen).

Vor die alte mittelalterliche Burg wurde ein stattliches Barockschloß mit hohen Räumen und langen Zimmerfluchten gelegt. Dicht neben der Altstadt Hanau wuchs so eine kleine barocke Residenz empor. Schon während der Arbeiten zum Marstall ließ 1713 – 1714 Graf Johann Reinhard III. (der Bruder Philipp Reinhards) mit der Errichtung des Nordflügels des neuen Stadtschlosses, des sogenannten Fürstenbaues anfangen.

Als breite Durchfahrt wurde das prächtige Hauptportal zur damals noch bestehenden Wasserburg erbaut. Dicht dahinter schlossen sich die beiden langen Flügel im flachen Winkel nach innen an. Der dreistöckige mit einem Mansardendach abgeschlossene Bau stellte sich in betonter Schlichtheit dar. Das Hanauer Stadtschloß war künstlerisch kein sehr wertvoller Bau, weder im Grundriß noch in der Ansicht bot sich Bemerkenswertes. Der Speisesaal mit einer mächtigen Holztonne wurde im Jahre 1721 vollendet; der Saal wurde unter Kurfürst Wilhelm II. in zierlichen Formen des späten Empirestiles ausgemalt.

Auf dem Gelände des Fürstenbaues wurde in den 60er Jahren das Bürgerhaus errichtet. Bei den Bauarbeiten im Jahr 2001 wurden parallel zur Heinrich- Bott-Straße die Grundmauern des nordwestlichen linken Flügels freigelegt (zudem wesentlich ältere Reste einer Brücke über den Burggraben). Pflaster kam zum Vorschein: Der Fußboden des Erdgeschosses des Stadtschlosses in der äußersten nordwestlichen Ecke. Man erhofft sich aber auch Aufschlüsse zur Geschichte von zwei deutlich älteren Gebäuden. Sie standen separat, wie auf Darstellungen aus der Mitte des 17. Jahrhunderts zu sehen ist. Beide Häuser wurden dann aber Anfang des 18. Jahrhunderts abgebrochen, um Platz für das Stadtschloß zu schaffen.

 

Auch der Erweiterungsbau des Schlosses, des sogenannten Friedrichsbaues der im Jahre 1763 (also schon in landgräflich-hessischer Zeit) ausgeführt wurde, brachte keine neuen Momente in die Schloßanlage. Er war genau so schlicht und bescheiden wie der Nordflügel des Schlosses. Im Inneren dieses Südflügels waren einige Zimmer in sehr geschmackvollen Rokokoformen ausgeschmückt. Der Stuck und die Holzverkleidung eines Saales und zweier Zimmer hatten sich erhalten. Die künstlerische Qualität des Stuckes war gut, die Formen standen der leichten und beschwingten Manier des Johann August Nahl nahe.

Bei der Renovierung des Schlosses im Jahre 1829 wurden auch mehrere Zimmer im gleichen Stil ausgeschmückt. Diese Ausstattung hatte große Ähnlichkeit mit Schmuckformen in Schloß  Adolfs­eck bei Fulda, das ebenfalls unter Kurfürst Wilhelm II. von Hessen 1825 - 1827 im Inneren ausgebaut wurde. Kurfürst Wilhelm ließ in den Jahren 1829 und 1830 auch die Reste der romanischen Burg Hanau abreißen, weil er plante, an dieser Stelle ein neues Schloß zu errichten.

Das Stadtschloß wurde 1866 der gräflichen Linie Hessen-Philippsthal überlassen und ging 1890 in das Besitztum der Stadt Hanau über. Am 6. Januar 1945 brannten die Schloßbauten aus. Das Stadtschloß wurde 1960 abgerissen. Die Fläche blieb zum Teil unbebaut und wurde ein Teil des Schloßgartens. An der Stelle des Friedrichsbaues entstand die Karl-Rehbein- Schule. Durch den Anbau des Kongreßzentrums auf der Nordseite und den Vorbau vor dem Marstall an der Südseite

wurden die Gebäude ziemlich entstellt.

Bilder in: Hanau Stadt und Land:

Stadtschloß vom Schloßgarten aus vor der Zerstörung am 6. Januar 1945, Seite 149

Stuckdekoration im Stadtschloß in Hanau, nach 1763, zerstört, Seite 150.

Stadthalle, Seite 172

 

Regierungsgebäude:

Über dem Eingang prangt noch immer ein Manifest der Dorfelder Trauungspolitik: ein Allianz­wappen, also ein Herrschaftssymbol zweier durch Heirat verbundener Familien Ehe man aber an den Bau eines Schlosses gehen konnte, wurden erst einmal die Nutzbauten errichtet. Das Regierungsgebäude war das erste große Barockgebäude in Hanau. Philipp Reinhard erbaute dieses Gebäude für Konsistorien, Kanzlei und Ratsstube. Das Erdgeschoß sollte als „Marstall, Kutschen- und Reithaus“ dienen. Die Risse wurden im August 1685 von dem gräflichen Baumeister Johann Philipp Dreyeicher (Architekt beim Neubau der Südfassade der Johanniskirche) und dem Zeugwart Heuringer gemacht. Ein schönes Sandsteinportal mit dem Doppelwappen Philipp Reinhards und seiner Gemahlin Magdalena Claudina von Pfalz-Zweibrücken bezeichnet mit dem am Kranzgesims eingehauenen Datum 1691 die Vollendung des Baues (Bild in: Hanau Stadt und Land, Seite 439).

Durch das stattliche Portal gelangt man zur barocken Treppe des Baues. Dieser erste Bau des Regierungsgebäudes hatte noch nicht so viele Fensterachsen wie heute. Auf der Ansicht des Stadtschlosses aus dem Jahre 1693 sehen wir nur zwei Fensterachsen links und drei Achsen rechts vom Portal.

Das Haus wurde nach 1691 auf beiden Seiten erweitert, auf der Rückseite des Gebäudes erkennen wir heute noch eine Baunaht. Eine Jahreszahl über einem rückwärtigen Eingang des Anbaues neben dem „Wasserturm“ gibt uns das Datum des Erweiterungsbaues an: 1700. Der an das Regierungsgebäude angelehnte Wasserturm an der früheren Marienstraße war einst die Überleitung von der Burgbefestigung zur Stadtmauer der Altstadt.

Das Regierungsgebäude trug nach seiner Erbauung ein einfaches Satteldach. Erst später setzte man ihm ein Mansarddach auf, das nach dem Brand der Stadt im Jahre 1945 wieder durch das „stilreinere“ Satteldach ersetzt wurde.

Das breit gelagerte Gebäude am Schloßplatz ist, wie fast alle Hanauer alten Bauten, aus Basalt gebaut. Man brach diese haltbaren Bausteine in den Steinbrüchen bei Wilhelmsbad, die der Herrschaft gehörten. Die Architekturteile des Regierungsgebäudes sind aus rotem Mainsandstein. Die Rahmungen der Fenster, die steinernen Fensterpfosten und das schöne Portal heben sich gliedernd und schmückend von dem Bruchsteinmauerwerk ab.

 

Als Kulturzentrum war das Haus Stätte naturwissenschaftlicher Arbeiten: Das Ende des 18. Jahrhunderts brachte für die kleine Residenz Hanau eine kulturelle Blüte. Die absolutistischen Fürsten des Barock und Rokoko waren großzügige Förderer aller kulturellen Bestrebungen. Die Beschäftigung mit den Naturwissenschaften, seit der Renaissance in den Vordergrund des wissenschaftlichen Forschens getreten, brachte auch in Hanau an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert gleich­gesinnte Menschen zusammen. Die Vorliebe des Barock, Gegenstände kurioser Art zu sammeln und in Raritätenkabinetten aufzubewahren, war einer systematischen wissenschaftlichen Methode beim Sammeln von naturwissenschaftlichen Gegenständen gewichen.

Einer der führenden Naturwissenschaftler in Hanau war der Mineraloge Carl Caesar Leonhard. Er besaß eine große Mineraliensammlung, und seine Veröffentlichungen brachten ihn bald mit Goethe, der ja auch als Naturwissenschaftler Bedeutendes geleistet hat, in Berührung. Leonhard und andere Naturforscher gründeten in Hanau, mitten in den Kriegswirren unter französischer Herrschaft, im Jahre 1808 eine wissenschaftliche Vereinigung, die „Wetterauische Gesellschaft für die gesamte Naturkunde“. Die Gesellschaft bildete lange Zeit eine Pflegestätte und einen Sammelpunkt für die naturwissenschaftlichen Bestrebungen eines großen Teiles von Mittel- und Süddeutschland. Sie wurde das Vorbild für die berühmte Senckenbergische Gesellschaft in Frankfurt. Goethe erhielt als einer der ersten ein Diplom als Ehrenmitglied der „Wetterauischen Gesellschaft“; er kam mit fast allen führenden Männern und tätigen Mitarbeitern der Vereinigung in Berührung.

Aus den Sammlungen der Mitglieder und durch eine systematische Ergänzung der Bestände hatte die Gesellschaft in Hanau ein bedeutendes naturwissenschaftliches Museum eingerichtet. Die Sammlungen waren zuletzt in dem ehemaligen Regierungsgebäude der gräflich-hanauischen Verwaltung am Schloßplatz aufgestellt. Leider sind die Bestände dem Krieg zum Opfer gefallen. Die Gesellschaft aber ist bemüht, die Tradition ihrer Arbeit weiter leben zu lassen.

Das alte Regierungsgebäude wurde zeitweise als „Kulturhaus“ bezeichnet und beherbergt heute die Stadtbibliothek, das Stadtarchiv und die Räume des Geschichtsvereins und der Wetterau­ischen Gesellschaft (die reichhaltige Bibliothek der „Wetterauischen Gesellschaft“, vorwiegend naturwissenschaftliche Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts, ist gerettet und nimmt die Hälfte der unteren Räume des Gebäudes ein).

Hinter dem Regierungsgebäude liegt der Fronhof mit dem Polizeigefängnis (andere Überlieferung: im Turm ein Adelsgefängnis). Rechts davon das Denkmal Winters von Güldenborn, der 1638 die Stadt aus den Händen der Schweden befreite.

 

Marstall (Stadthalle):

Der Bruder Philipp Reinhards, Johann Reinhard III., vollendete im Jahre 1713 den bereits 1712 begonnenen Neubau des Marstalles, der heutigen Stadthalle. Der schlichte, wohlproportionierte Bau mit Mansarddach hat am Portal zur ehemaligen Reithalle zwei relifierte Pilaster.

Das beachtliche große Portal der Südseite zeigt das gräfliche Wappen und seitlich gute Reliefs von allerlei Reit-Utensilien und Stallgeräten. Das Hanauer Gesamtwappen aus der Lichtenberger Zeit besteht in der oberen Reihe aus den Hanauer Sparren, den Rienecker Balken und dem roten Zweibrücker Löwen in goldenem Feld, in der unteren Reihe aus dem geteilten Münzenberger Schild, dem schwarzen Lichtenberger Löwen im rot eingefaßten silbernen Schild und den silbernen Ochsensteiner Balken in rotem Feld. Der Herzschild zeigt das goldumrandete rote Bitscher Wappen.

Die früheren Herrscher von Hanau arrangierten viele reiche Hochzeiten, um das eigene Einkommen aufzubessern. Auf diese Weise kamen sie auch zu ihrem heutigen Wappentier: der Schwan. Der gehörte eigentlich den Münzenbergern und wurde durch eine solche Heirat erworben. Ansonsten hatten die Hanauer Grafen lediglich ihre - recht langweiligen - roten Sparren auf goldenem Grund als Enblem aufzuweisen. Schwan und Sparren thronen auf dem Giebelportal des ehemaligen Marstalls.

Die Stadthalle am Schlossplatz diente den Adligen als Reithalle und als Stall, weshalb das Gebäude an der Seite über ein großes Portal verfügt. Es wurde unter Graf Philipp Reinhard 1712 begonnen und unter seinem Bruder und Nachfolger Johann Reinhard III. 1713 vollendet. Auf dem Seitenportal aus Sandstein sind noch die Utensilien zu sehen, die zur Pflege der Rösser benötigt wurden. Nur den Tränkeimer hatte der Bildhauer vergessen. Daß sich der Baumeister umgebracht haben soll, als man diesen Fauxpas bemerkte, ist allerdings Legende.

In den Jahren 1926 - 1928 wurde der Marstall unter Oberbürgermeister Kurt Blaum zur Stadthalle umgebaut. Heute ist sie Stätte der kulturellen Veranstaltungen, der Kongresse und im Winter der Bälle.

Neue und zum Teil unerwartete Funde legten Archäologen im Jahr 2001 vor und in der Stadthalle frei. An der Wand des ungefähr zwei Meter tiefen Grabens reicht der geschichtliche Blick bis in das 13. Jahrhundert zurück, angefangen bei den Sanddünen des Kinzig-Deltas, auf denen die frühe Siedlung gegründet wurde.

Einen halben Meter höher erstreckt sich eine ziegelrote Erdschicht, ein Brandhorizont, den man auf das 14. Jahrhundert datiert. Wenn Fachwerkhäuser brannten wird die Lehmfüllung zwischen dem Gebälk zu Ziegelstein. Offensichtlich fielen damals mehrere Häuser den Flammen zum Opfer, ein möglicher geschichtlicher Hintergrund ergibt sich mit der Jahreszahl 1348. Seinerzeit soll der Burgherr die Bürger zu einem Pogrom gegen die Hanauer Juden angestachelt haben, weil diese angeblich das Archiv angezündet haben sollen.

Den Verlauf der verschiedenen Erdschichten dokumentierte man mit hunderten weißen und numerierten Plastiklöffeln, um ihn dann zu zeichnen und zu fotografieren - ebenso wie die Mauerreste kurz vor dem Orchestergraben, die von der Stärke her auf die rund 400 Jahre alten Reste einer Zeugkammer schließen lassen. Aus dem gleichen Jahrhundert datiert man die zwei Erdkeller an der Außenwand, auf denen Fachwerkbauten standen. Vermutlich wurden die Keller, deren Wandung möglicherweise aus Holz und Weidengeflecht bestand, noch in jener Zeit mit Erde und Bauschutt gefüllt. Ob dies geschah, weil das Grundwasser zu oft im Vorratsraum stand, bleibt Spekulation. Möglicherweise wohnten Bedienstete des Burgherren, etwa Waffenträger, in den Häusern. Grünlasierte Kacheln (von einem Ofen?) zeugen jedenfalls davon, daß dort keine armen Leute lebten.

Der größte Fund ist ein mehrere Meter langer, fast unversehrter Abschnitt einer gepflasterten Straße aus dem 17. Jahrhundert. Sie hat den Querschnitt einer zur Mitte zulaufenden Rinne, in der das Regenwasser abfließen konnte. Erhalten ist auch die dicht darunter liegende Straße, die die Archäologen gut 200 Jahre älter schätzen. Was tragbar ist, wie die Scherben oder die mittelfingerlange Eisenspitze eines Großarmbrustpfeils, wird nach der Dokumentation abgeräumt. Leider wurde auch die Brücke über den Schloßgraben beseitigt. Das einmalige Bauwerk aber an Ort und Stelle zulassen, das hätte in der Tiefgarage sechs Stellplätze gekostet und das sei für die Stadt nicht vertretbar gewesen.

Heute ist das Portal durch den Glasvorbau eingeschlossen. Es wird in der Vertikalen das Reiterportal von zwei Betonsäulen auf Höhe der reich mit kunstvollen Steinmetzarbeiten geschmückten Pilastern und in der Horizontalen von dem Boden des Obergeschosses verdeckt und zerschnitten. Die einstige Forderung des Geschichtsvereins Hanau an den Magistrat, die Stadtverordnetenversammlung und den Denkmalbeirat, das „kunstvoll gestalteten Sandsteinportal ( ... ) zu schützen und für zukünftige Generationen zu bewahren“, ist zwar gegeben, nur mit dem freien Blick auf die Marstallfassade ist es Essig. Je nach Lichteinfallswinkel könne man durchsehen oder nicht. Weil die Glasfassade aber auf der zur Sonne zugewandten Seite liegt, sei davon auszugehen, daß man in den meisten Fällen nicht durchgucken kann. Die Säulen stehen direkt in Blickachse auf die Pilaster und nicht 1,5 Meter weiter rechts oder links.

Aber das Südfoyer sollte das Gegenstück zum Nordfoyer  und damit als architektonisch unabdingbar sein. Die Landesdenkmalpflege hat die Pläne des Bauherrn abgesegnet, um die Nutzung des Hauses nicht zu gefährden.

 

Schloßplatz

Im Wohnviereck Ecke Nordstraße/ Im Schloßhof wurden im Jahr 2001 zwei der vier Wohn­blocks abgerissen, die anderen zwei sollen saniert werden. Auf einem steht in riesigen rotbraunen Lettern: „Am 19. März 1945 niedergebrannt: Im Jahre 1951 wieder aufgebaut von der Baugesellschaft Hanau.“ Darunter prangt ein Wappen und eine stilisierte Stadtmauer mit Bastionen. Hier ist eine siedlungs- und kulturgeschichtlich bedeutsame Ecke. Beim Wiederaufbau wurde hier die ehemalige Wolfsgasse teilweise überbaut, teilweise mit Trümmerschutt überdeckt.

Zutage traten eher unbedeutende Funde: Bestecke aus den 20er Jahren, Löscheimer, verbrannte Bettfedern. Aber es fanden sich auch die Fundamente eines ehemals zum Schloßambiente gehörenden Barockgebäudes, dessen Keller offenbar im letzten Krieg auch als Luftschutzraum benutzt wurde (davon zeugen die noch sichtbaren Steigeisen).

Hier stand eines der schönsten Gebäude im gesamten Stadtschloss-Ensemble: Das barocke Witwen-Palais der Gräfin Anna Magdalena von Hanau, ein schlichter wie raffinierter, stattlich-behäbiger Bau mit Walmdach und Gauben. Der Bau war später der Sitz der Finanzkammer.

Neben den Barockfundamenten lag in etwa einem Meter Tiefe das historische Kopfsteinpflaster. Unter den Fundamenten fanden sich Gründungen in Form von Rahmen und Rosten, durchaus nicht nur aus Eichenholz, sondern teilweise auch aus Nadelhölzern. Und nicht nur auf senkrechten Pfosten, sondern auch auf Sand, wo die Gründungen nur aufgelegt wurden. Nicht nur die alte Wasserburg, sondern auch die ganze Altstadt war auf höchst unsicherem Grund errichtet worden - moorig, sandig, schlammig.

Noch interessanter war ein gemauerter historischen Abwasser-Kanal, der teilweise freigelegt und auch aufgebrochen wurde: Die letzten Verfüllungen stammen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, die ältesten vom Anfang des 18. Jahrhunderts. Der Kanal liegt direkt neben einer Mauer, die von der Richtung und Struktur her die historische Stadtmauer sein könnte. Schräg durch den Innenhof verläuft nämlich die historische Stadtmauer (natürlich auch nur unterirdisch in Resten). Die eigentlich noch geplante Grabung zur Dokumentation der Stadtmauer ist unterblieben, weil damit eines der Häuser in der Louise-Schröder-Straße gefährdet worden wäre.

Es wurden auch ungewöhnlich gut erhaltene Skelette von Frauen, Männern und Kindern gefunden. Die Menschen sind nach den ersten Erkenntnissen der Archäologen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts gestorben und wurden ganz ordentlich begraben - obwohl es sich bei der Fundstelle durchaus nicht um einen ehemaligen Friedhof handelt, sondern um einen Teil des Zwingers, also eines Trockengrabens der historischen Wehranlage. Daß der Hanauer Stadtmauer einst ein Zwinger vorgelagert war, wußte man bisher nicht, denn auch Merian hat ihn in seinen Stichen nicht dargestellt.

Es handelt sich um Grablegungen in Holzsärgen, wie man aufgrund gefundener Nägel mit anhaftenden Holzresten weiß. Es wurden auch Metallhaken von standardisierten Totenhemden gefunden. Die Gräber werden wohl aus den Jahren 1635/36 stammen, als Hanau während des Dreißig­jährigen Krieges belagert wurde. Es gab ungewöhnlich viele Tote - und keinen Weg raus auf die Friedhöfe. Die Begräbnisstätte könnte früher ein Garten außerhalb der Stadtmauer gewesen sein. Die Gräber sind nebeneinander im rechten Winkel zur Mauer ausgerichtet, in drei hintereinander gestaffelten Reihen. Die Skelette sind so gut erhalten, weil sie unter einer dicken Kalkschicht lagen.

 

Altstadtkern

An der Südseite des Schloßplatzes befindet sich die Schule am Schloßplatz, früher Kaufmännische Schule. Von dort geht man die Graf-Philipp-Ludwig-Straße (ehemals „Schloßstraße“) entlang in Richtung Altstädter Markt. Links geht es in die Steinstraße. Das Eckhaus links, Hausnummer 4, war das „das Edelsheimsche Palais“, weil das Fachwerkhaus um das Jahr 1680 von dem Hanauischen Geheimrat und Regierungspräsidenten Freiherrn Johann Georg von Edelsheim erbaut und von seinen Nachkommen bis 1820 bewohnt wurde. Nach der Steinstraße zu sieht man noch eine Sandsteinskulptur, den Oberkörper eines Mannes, der sich aus dem Haus zu lehnen scheint. Ein Männchen aus Sandstein mit übergroßen Ohren und dem Finger auf dem Mund stützte einst den gotischen Erker; eine Nachbildung schmückt das Haus in der Steingasse 8. Auch an anderen Gebäuden der Altstadt finden sich beim genaueren Hinsehen solche skurrilen Figürchen; sie wurden bei den Aufräumarbeiten nach dem Krieg aus den Trümmern geborgen.

An der Ostseite des Hauses schräg gegenüber ist erhalten ein Stein von 1550 und ein Stein mit der Inschrift „1992 Baugesellschaft Hanau“. In der Graf-Philipp-Ludwig-Straße Nummer 1 auf der rechten Seite sieht man einen Pfeiler, der noch halb aus der Wand herausragt.

Einige Häuser in der Altstadt Hanau um den Altstädter Markt und in den Hauptstraßen zeigten die gleichen Fachwerkstellungen und kündeten so von ihrem Alter. Die meisten anderen Fachwerkhäuser in der Hanauer Altstadt stammten aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert. Fachwerkhäuser in der Nähe des Rathauses, die mit ihren schmalbrüstigen Giebelfronten nach der Straße standen, ließen den Stilwandel, der im 16. Jahrhundert in Deutschland einsetzte, deutlich werden. Die Häuser der Renaissance zeigten mit ihrer Traufseite nach der Straße, die „Vertikale“ war der „Horizontalen“ gewichen.

 

Ein wie auch immer gestalteter Hotel-Neubau im Bereich des Schloßplatzes, Fronhofes und hinter dem heutigen Staatlichen Schulamt (Bottstraße) stelle einen erheblichen über- und unterirdischen Eingriff in unmittelbarer Nähe der „Keimzelle“ Hanaus dar, warnt Geschichtsvereinsvorsitzender Hoppe. Auch im Hinblick auf das 2003 anstehende Altstadtjubiläum sei auf eine behutsame Einbindung entstehender Neubauten in diesem historischen Umfeld zu achten.

Um seine mahnende Stellungnahme zum Hotelprojekt am Schloßplatz anschaulich zu machen, hat der Vorsitzende des Geschichtsvereins 1844 Hanau, Martin Hoppe, den Angeschriebenen Kopien von Plänen und Ansichten zukommen lassen, die sozusagen einen Blick durch die Jahrhunderte rückwärts ermöglichen.

Durch den geplanten Abriß des so genannten Handwerkerhauses sowie das Anlegen von Kellern und einer dem Vernehmen nach zweigeschossigen Tiefgarage für ein Hotel würden wieder archäologische Untersuchungen nötig. Dazu weist Hoppe eindringlich darauf hin, „daß, sobald der Boden aufgenommen wird, mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit neben Stadtmauerresten, Grabensysteme, Straßenpflasterungen und Brunnen die Fundamente der Bücherthaler Renterei, der Hofküferei, des Fruchtbodens, von Remisen, Waschhaus und anderen Gebäuden zutage treten werden, die bis in das 14. Jahrhundert zurückreichen können“. Diese Funde müßten zeitlich angemessen archäologisch begleitet und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Wenn es 2003 zur zeitlichen Überschneidung mit dem Altstadtjubiläum käme, könnte für die Öffentlichkeit eine „Archäologische Stadtbaustelle“ installiert werden.

Schließlich bietet Hoppe an, mit der Geschichtsvereins-Arbeitsgemeinschaft „Archäologische Denkmalpflege“ die Untersuchung des Altstadtquartiers zu übernehmen. „Diese Arbeiten würden ehrenamtlich, das heißt quasi kostenlos erfolgen“, verspricht Hoppe, es sei denn, es würden ABM-Kräfte eingestellt oder Zeitarbeitsverträge geschlossen. Durch den sich nun bereits wieder abzeichnenden Zeitdruck erscheint dem Verein aber eine wissenschaftlich fundierte Untersuchung auf Vereinsbasis kaum noch möglich, so daß die Arbeiten wieder durch kommerzielle Profis erfolgen müßte.

 

Johanniskirche

Durch die Straße Johanniskirchhof kommt man Richtung Westen zur Johanniskirche. Der Grundstein der Johanneskirche wurde am 25. Mai 1658 unter Schirmherrschaft des Kurfürsten Johann Georg II. von Sachsen gelegt, der auch Namensgeber des Sakralbaus ist. Johann Georg kam 1658 vom benachbarten Frankfurt, wo er sich anläßlich der Kaiserwahl Leopolds I. aufhielt. Er ließ sich zu einem Abstecher nach Hanau überreden, um der Grundsteinlegung beizuwohnen. In ganz Deutschland habe man damals für die Kirche gesammelt. Und obwohl der Dreißigjährige Krieg die Lande verheerte, reichten die Spenden zumindest für einen Anfang.

Der Kirchenbau entstand auf besonderes Betreiben des lutherischen Grafen Friedrich Kasimir von Hanau-Lichtenberg gegen den Protest der reformierten Körperschaften in der Stadt. In den Bau wurde die alte Stadtmauer einbezogen: Ihre Westseite wurde auf die überflüssig gewordene alte Stadtmauer aufgesetzt, eine im modernen Putz der Südfassade ausgesparte Stelle zeigt das Profil der Stadtmauer.

Am 17. Januar 1664 fand die Einweihung der Kirche statt. Als Planleger der Johanniskirche wird Johann Wilhelm aus Frankfurt genannt. Er stammte aus Betzenau im Bregenzer Wald und hatte 1621 in Frankfurt als Zimmermann Bürgerrechte erhalten, 1649 gab er ein Buch, „Architectura civilis“ betitelt, heraus. Bauten kennen wir sonst von ihm nicht.

Der Gründungsbau war eine schmale einschiffige Kirche mit einem Drei-Sechstel-Schluß. Die Fenster des ersten Baues, die sich auf der Ostseite und am Chorschluß noch erhalten haben, sind spitzbogig und schließen mit einfachem Maßwerk. Im Außenbau hatte also dieses Kirchlein durchaus noch den Charakter einer gotischen Kapelle. Ein kleiner Dachreiter saß über der einfachen Südwand. Die Portale waren in den klassischen Ordnungen der Renaissance vorgesetzt worden.

Nachdem sich der ursprünglich kleine Kirchturm nach 20 Jahren als zu schwach für einen Glockenturm erwies, wurde 1679 mit dem Bau eines neuen massiven Turms begonnen. Das 1691 vollendete Mauerwerk mit seiner kräftigen umlaufenden Sandsteingalerie als Krönung und dem dort befestigten Wasserspeier - kupferner Drachenkopf von kunstvoll geschmiedeter Stütze getragen - besteht heute noch.

Leider zerstörte schon der Umbau aus dem Jahre 1727 den einheitlichen und stilreinen Raumeindruck der Renaissancekirche. Die Westwand der Kirche wurde nach außen geschoben, die Sakristei angebaut und eine Herrschaftsloge mit kunstvollem Wappen und einem neuen Osteingang eingebaut.

Den Umbau zur großen Saalkirche leitete vermutlich der Baumeister Hermann. Während die Grafen von Hanau sich für ihr großes Lustschloß vor den Toren der Stadt auswärtige Baumeister und Stukkateure holten, konnte die kleineren Aufgaben der einheimische gräfliche Baudirektor erfüllen. In dem Baudirektor Christian Ludwig Hermann hatte das Grafenhaus einen vortrefflichen Baumeister gefunden. Nach dem „Dienerbuch“ des Hanauer Archivars Bernhard (Manuskript im Geschichtsvereins-Archiv) kam Hermann in den zwanziger Jahren als Baumeister aus Berlin nach Hanau; er wurde später Baudirektor und starb im Mai 1751 im Alter von 63 Jahren (demnach kann er beim Bau des Stadtschlosses 1712/15 nicht mitgewirkt haben).

Der hohe Turm vor der Kirche mit dem charakteristischen Balustergeländer als Abschluß wurde noch im 17. Jahrhundert mit einer neuen Südfassade vorgesetzt. Über dem dreistufigen Steinsockel saßen, nach oben schmäler werdend, drei Holzgeschosse auf, die eine welsche Haube trugen und so den Turmabschluß der Marienkirche und des Schloßturmes wiederholten. Vom Jahre 1679 bis 1691 wurde der Turm mit der barocken Doppelhaube nach den Plänen von Johann Philipp Dreyeicher erbaut. Der gräflichen Baumeister war auch Architekt des Regierungsgebäudes am Stadtschloß.

Der Bau der Johanniskirche brannte am 19. März 1945 aus. Die Kirche in weiten Teilen zerstört. Der Bausubstanz konnte der Brand nichts anhaben, die Außenmauern und der schwere Turmsockel blieben erhalten; die Mauern wurden erst 1955 eingerissen (Bild in Hanau Stadt und Land, Seite 155, Aufnahme vor 1945). Heute ist die geschwungene Haube des Turms wieder mit einer Eisenkonstruktion nachgebildet.

Die Johannesgemeinde baute sich an der Frankfurter Landstraße ein neues Gotteshaus mit Campanile, das wegen seiner höchst eigenwilligen Form schon längst unter Denkmalschutz steht. In den Jahren 1955/56 wurde die Kirche als Gemeindehaus wieder aufgebaut.

Der Platz der Alten Johanneskirche liefert ein trauriges Bild. Rund um das frühere Gotteshaus, das heute Gemeindezentrum ist, drängen sich parkende Autos, nebenan steht ein häßlicher flacher Betonklotz, in dem die Sucht- und Drogenberatung untergebracht ist, zwischen beiden Gebäuden prangt eine tiefe tote Ecke.

Südlich des Turms der Johanniskirche kommt man in die Schlendergasse. Dort steht noch ein sehr schöner Rest der alten Stadtmauer. Dann kommt man in die Metzgergasse. Nach links geht es zum Altstädter Markt. Das Eckhaus links war das älteste Rathaus der Stadt Hanau.

 

Altstädter Markt

Das älteste Rathaus:

An der Ecke zur Metzgergasse stand an der Nordseite auf einem steinernen Untergeschoß mit einer ehemals sicher offenen Halle das alte Fachwerk-Rathaus. Das Rathaus wurde 1484 vorgebaut, damit die Stadtväter vom Ratszimmer im ersten Stock aus die Kontrolle über die beiden Stadttore am Ende der Markt- beziehungsweise der Metzgerstraße hatten. Auf der Zeichnung des Maurermeisters Feldmann vom Altstädter Markt aus dem Jahre 1731 kann man sehen, daß die Ecken des stattlichen Hauses durch kleine, spitze Türmchen hervorgehoben waren. Ein Erker an der Metzgergasse trug eine Aufschrift mit der Jahreszahl 1484. Die Fachwerkbalken des Obergeschosses hatten die typische Stellung des Fachwerkes aus der Zeit um 1480. An das alte Spielhaus erinnert heute nur noch ein Relief an dem neueren Gebäude.

 

Markt:

Im Jahre 1306 erhielt Hanau das Stadtrecht und durfte damit einen Markt abhalten. Das war zwar auch zuvor möglich, allerdings standen die Marktbeschicker nicht unter dem Schutz der Soldaten des Königs und mußten wegen der zahlreichen Wegelagerer im Mittelalter um ihre Waren fürchten. Außerdem wurde Hanau eine beschränkte Selbstverwaltung zuteil, die auch die Rechtspre­chung beinhaltete. Zeugnis dieses Privilegs ist die Justitia-Figur auf dem Brunnen am Goldschmiedehaus. Vor dem heutigen Goldschmiedehaus war mittwochs und samstags der Hanauer Wochenmarkt.

Um herauszufinden, ob auf dem Markt betrogen wurde, war mit einer Metallschiene die Hanauer Elle an der Front des Gebäudes angeschlagen. Jede Stadt hatte ihr eigenes Maß. Der Markt war auch ein Platz für raffinierte Schlitzohren: Da die Elle als Maßeinheit von Stadt zu Stadt unterschiedlich definiert und in Gelnhausen länger als in Hanau war, kauften sie Stoffe in der Bar­ba­rossa­stadt ein, fuhren nach Süden und verkauften sie zum gleichen Preis weiter.

 

Strafvollzug:

Auf dem Altstädter Markt spielte sich historischer Strafvollzug ab: An einem Halseisen am Goldschmiedehaus wurden Verurteilte fixiert und mußten sich von den Passanten bespucken. beschimpfen oder schlagen lassen. Rund um den Brunnen auf dem Altstädter Markt zeigte sich auch die Grausamkeit der Epoche. Zwar erfolgten Exekutionen mit dem Strang außerhalb der Stadt, mit dem Schwert gerichtet wurde aber in bester Lage, da die Vollstreckung der Todesurteile große Menschenmassen anzog.

 

Neues Rathaus:

Nur 40 Jahre später wurde 1537 ein neues Rathaus gebaut. Offensichtlich war die Stadt Hanau damals sehr reich, sonst hätten sich die Stadtväter das nicht geleistet. In den Jahren 1501 bis 1505 war am Ende der damaligen Vorstadt ein großes Hospitalgebäude mit einer kleinen Kapelle entstanden. (Reste 1951 abgerissen). Im Schloß waren 1515 Umbauten und Vergrößerungen vorgenommen worden. Die Altstadt hatte man 1528 bis 1535 durch eine neuartige Bastionsbefestigung zur starken Festung gemacht. Die Bürger der Stadt konnten es sich leisten, ein stattliches Rathaus zu erbauen. Eine für damalige Verhältnisse ungewöhnlich hohe Summe hat die Stadt 1537 dabei verbaut: 770 Gulden, das waren mehr als 90 Prozent des gesamten Bauhaushalts. Und auch im folgenden Rechnungsjahr verschlang des „new huß“ noch einmal 75 Prozent des Etats.

Das Rathaus war nicht nur Behördensitz, sondern auch Wirtschaftsgebäude. Die städtischen Gremien kamen mit weniger Platz aus als heute und nahmen nur das erste Geschoß in Beschlag.

Dort tagte einmal in der Woche der zwölfköpfige Rat. Er hatte über Steuern zu entscheiden und wählten auch den Bürgermeister. Sie mußten sich aber dem mit einem Vetorecht ausgestatteten Grafen beugen. Zu seinen Aufgaben auch die Justiz zählte - von außen gut erkennbar am Pranger. Für die Bürgerschaft gab es zwei Waagen und eine Tabakpresse im Erdgeschoß, Keller und Böden waren vermietet.

Der Bau des Rathauses nimmt eine Seite des Altstädter Marktplatzes völlig ein. Auf einem steinernen Untergeschoß sitzen zwei von vielen Fenstern durchbrochene Fachwerkwände, die zwischen den hohen steinernen Staffelgiebeln eingespannt sind. Die Rückwand des Hauses ist eine dicke Steinmauer. Die doppelt vorkragende Fachwerkfront mit den Schmuckformen des hessisch-fränkischen Fachwerks wurde von zwei Erkern belebt, die auf hölzernen Knaggen ruhten. Weitere Knaggen vermittelten zwischen der Steinwand des Untergeschosses und dem ersten Fachwerkgeschoß. Kunstvoll skulptierte Steinkonsolen mit Wappen und Fratzen trugen die Knaggen.

Von Anfang an waren die beiden beherrschenden Brandmauern mit den fünfmal terrassenförmig gestaffelten Giebeln das charakteristische Merkmal des Hauses. Das schöne Fachwerk und das steile Dach mit den zweifach reihenweise aufgesetzten Giebeln waren die anderen Charakteristiken, die bestimmend für die Eigenart des Baues wurden. Die zahlreichen Fenster in den beiden Stockwerken mit den zwei Erkern, die steinerne Halle und die breiten Tore prägten im übrigen das Bild dieses imposanten Baues. Auch die doppelte Freitreppe war von jeher auffallend. Sie führte zur Diele neben der rechts und links die Amtsstuben und der Ratssaal lag.

Es war eine städtebaulich genau abgewogene Absicht des Baumeisters zwischen die hohen Steingiebel die leichten Fachwerkwände einzuspannen. Der schwer und breit hingelagerte Baukörper gewann so an Leichtigkeit und Bewegtheit. Der Hanauer Baumeister wollte mit der Fachwerkfront dem Rathaus ein charakteristisches und einmaliges Gesicht geben. Die breite und behäbige Ruhe des nur durch kleine Dachgauben gegliederten Daches stand in starkem Kontrast zur bewegten Sprache der Fachwerkstreben (Bild in Hanau Stadt und Land, Seite 137: Die Fachwerkverstrebungen entsprechen der Zeit und sind Vorläufer des „ Wilden Mannes“; die des Hauses rechts sind noch älter, etwa von 1480-1500).

 

Der Rat der Altstadt Hanau ließ im Jahre 1611 durch den Büdinger Bildhauer Konrad Büttner als Gegenstück zu den Neustädter Marktbrunnen auf dem kleinen Marktplatz der Altstadt ebenfalls einen stattlichen Brunnen errichten. Er vermeidet (ebenso wie die gleichzeitigen Fachwerkbauten der Altstadt) bewußt alle Zierformen, die wir in der Neustadt finden: Über kannelierten Rundsäulen mit korinthischen Kapitellen steht auf dem kräftig profilierten Sturz eine „Justitia“ zwischen zwei wappenhaltenden Löwen, die im Kriege Schwert und Waage verlor. Die Schilde zeigen die Wappen der Grafschaft Hanau-Münzenberg und der Altstadt halten. Die Bestandteile des Hanauer Wappens vor der Lichtenberger Zeit sind die rot-goldenen Sparren, der rot-gold geteilte Münzenberger Schild und die rot-goldenen Balken von Rieneck. Das Wappen der Altstadt ist ein gespaltener Schild mit den halben Hanauer Sparren und einem goldenen Löwen im schwarzen Feld.

Einschneidende Veränderungen erfuhr Haus 1767 unter Erbprinz Wilhelm, der in Hanau als Bauherr großen Stils auf trat: Der heutige Freiheitsplatz, das im zweiten Weltkrieg zerstörte Stadttheater die Kuranlage Wilhelmsbad mit dem Comoedienhaus gehen auf ihn zurück. In die im Geschmack dem Klassizismus verpflichtet, konnte der Erbprinz dem vom Fachwerk geprägten Erscheinungsbild des Altstädter Rathauses nicht viel abgewinnen. Kurzerhand ließ er die „altmodische“ Fassade unter schmucklosem Putz verschwinden, dabei gleich die Erker abschlagen und die Fenster verändern. Die Brüder Grimm erinnerten sich, daß das Haus ganz scheußlich grau verputzt war. Der Grund für den Anstrich war zum einen der Brandschutz, zum anderen das Vortäuschen von Prestige. Wer reich war, baute aus Stein - unter der Farbe war aber nicht mehr zu erkennen, um welche Bausubstanz es sich handelt.

Ab 1821 wurde das Goldschmiedehaus nur noch als Gerichtsgebäude genutzt. Im Jahre 1835 verlor das Gebäude mit der Vereinigung von Alt- und Neu-Hanau noch seine bisherige Funktion, Verwaltungssitz wurde die modernere Neustadt. Ins Altstädter Rathaus zog das kurfürstliche Landgericht ein - und bereits knapp 30 Jahre später wieder aus. Dabei ließ man die Erkerfront beseitigen und von einer wenig malerischen Putzwand übertünchen.

Ab 1851 wurde es eine Knaben-Schule, ebenfalls nur für 26 Jahre. Danach stand der einstige Mittelpunkt Hanaus stand so gut wie leer und verkam zusehends, bis 1898 Stadtbaurat Johann Peter Thyriot das Gebäude nach originalen Plänen mit seiner alten Fachwerkfassade restaurieren ließ. Im Jahre 1902 machte es sich der Geschichtsverein zu seinem Domizil und blieb 40 Jahre mit dem Heimatmuseum dort. Im Jahre 1942 verschlug es die Deutsche Goldschmiedegesellschaft aus Hamburg an den Altstädter Markt. Dann wurde das ehemalige Rathaus „Deutsches Goldschmiedehaus“.

 

Deutsches Goldschmiedehaus

Treibende Kraft war der Berliner Goldschmied und ehemalige Schüler der Hanauer Zeichenakademie, Ferdinand Richard Wilm. Doch schon drei Jahre nach der glanzvollen Eröffnung mit viel Naziprominenz wurde das Goldschmiedehaus durch den Luftangriff auf Hanau im März 1945 zerstört. Alte Fotografien zeigen die Ruine mit den freistehenden Giebeln, die einsam in den Himmel ragen. Nur das Untergeschoß, die hohen Steingiebel und die Rückwand blieben erhalten.

Der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg ging unter der Schirmherrschaft des damaligen Bundespräsidenten Heuss vonstatten. In einem finanziellen Kraftakt zog die Stadt auf Initiative des damaligen Oberbürgermeisters Karl Rehbein, der selbst gelernter Goldschmied war, das einstige Wahrzeichen Anfang der 50er Jahre wieder hoch, von den Hanauern als Höhepunkt des Wiederaufbaus euphorisch gefeiert. Beim Wiederaufbau werden die beiden Fachwerkwände rekonstruiert.

Für heftige Gemütsbewegungen sorgte bei den Bürgern Anfang der 80er Jahre noch einmal die Entscheidung, das bisher schwarz-braune Fachwerk rot zu streichen - so soll die originale Farbgebung gewesen sein. Am Giebel nach der Marienkirche zu wurde ein Portal eingebaut, daß sich früher in der Altstraße 2 befand.

Nur geringfügige Veränderungen sind vorgenommen worden, die sich aber so in den Stil und den Rahmen des ganzen Hauses einfügen, daß nichts von der Ehrwürdigkeit des alten Gebäudes verlorengegangen ist. Seit 1958 ist es nun wieder, im alten Glanz, das „Haus der Ratgebung“ für die Gold- und Silberschmiede und für alle Schmuckliebhaber überhaupt.

Das Deutsche Goldschmiedehaus ist ein wahres Schmuckstück. Sein wunderschönes Fachwerk läßt die Herzen der Betrachter höher schlagen. Ihn beeindruckt der mächtige Giebel ebenso wie das schlichte und dennoch so prachtvolle Portal mit der bronzenen Eingangstür. Tritt er durch diese Tür, so ruft das Innere des Hauses sein Erstaunen hervor. Hier ist wirklich mit künstlerischer Hand geschaffen worden und man merkt sofort, daß es den Menschen, die gearbeitet beben, darum gegangen ist, etwas Vollendetes zu schaffen. Vollendet ist hier schlechthin alles, was man in diesem Hause sieht, angefangen von den stilvollen Räumen des Ratskellers über das schlichte Treppenhaus bis zu den Ausstellungsräumen im ersten und zweiten Stockwerk, deren Beleuchtung ebenso wie die des Treppenhauses bei allen Besuchern auf besonderes Wohlgefallen stößt.

Man hat den Eindruck, als sei bei der Gestaltung der Innenräume des Goldschmiedehauses ein besonderer Künstler am Werk gewesen, so harmonisch zusammenkomponiert ist alles. In wirkungsvollem Kontrast zu den Ausstellungsstücken stehen im Gold- und Silbersaal die Parkett­fußböden (in dem einen Saal hell, im anderen dunkel) und die Vorhänge.

Seit mehr als 400 Jahren ist es das Schmuckstück in der Hanauer Altstadt. Das dreigeschossige Gebäude bietet nicht nur Platz für hochkarätige Ausstellungen von Schmuck und Gerät, sondern beherbergt auch eine umfangreiche Sammlung von Fachliteratur und die „Internationale Gesellschaft für Goldschmiedekunst“.

Zwei Ausstellungsräume hat das Deutsche Goldschmiedehaus. Im ersten Stock befindet sich der Silbersaal und darüber, im zweiten Stock, ist der Goldsaal. In den geräumigen Ausstellungsvitrinen werden Schmuck- und Ziergeräte aus zwei Jahrhunderten gezeigt. In den Räumen sind wechselnde Ausstellungen zu sehen, die sich auf Hanaus Tradition als „Stadt des edlen Schmuckes“ beziehen.

In dieses Ganze vom Parterre bis zum Dachgeschoß des Hauses reicht, gehört auch die Gaststätte hinein. Gerade gegen den Einbau dieses Ratskellers hatten viele Bürger Protest erhoben mit der Begründung, im Altstädter Rathaus sei nie ein Ratskeller gewesen. Aber auch die ursprünglichen Gegner haben sich davon überzeugen lassen müssen, daß dieser Ratskeller, so wie er hier errichtet worden ist, dem Haus zur Zierde gereicht und außerdem einem dringenden Bedürfnis nachkommt, denn zu einem Ausstellungshaus gehören auch Restaurationsräume. Und wenn der Stil dieses Gebäudes so gewahrt wird, wie das bei dem Hanauer Ratskeller der Fall ist, dann kann man sich glücklich schätzen.

 

Die Stadt des edlen Schmuckes

Vor allem im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert hatte Hanau weithin einen Namen als „Stadt des edlen Schmuckes“. Der Grundstein dafür wurde nicht von den alt eingesessenen Bürgern, sondern von flämischen und wallonischen, später auch hugenottischen Einwanderern gelegt. Vertrieben aus ihrer Heimat, hatten sie vor 400 Jahren Zuflucht in Hanau gefunden und dort die Neustadt gegründet, wo ihnen Graf Philipp Ludwig das Recht auf freie Religionsausübung und in beschränkter Form auch Gewerbefreiheit zubilligte.

Unter den Glaubensflüchtlingen waren auch einige namhafte Goldschmiede. Bereits bis zum Jahr 1610 war ihre Zahl in Hanau so stark gewachsen, daß sie eine eigene Zunft der Gold- und Silberschmiede gründeten. Ihr Geschäft florierte, begünstigt auch durch die gute Straßen- und Schiffsverbindung zum Handels- und Börsenplatz Frankfurt. Durch den Dreißigjährigen Krieg kam das Gewerbe zwar fast völlig zum Erliegen, erlebte aber knapp 100 Jahre später einen erneute Blüte, als Landgraf Wilhelm ein Patent erließ, das den Fabrikanten Abgaben auf zehn Jahre ersparte und Handelsfreiheit gewahrte. Das zog viele Manufakturen nach Hanau, darunter etliche französische Goldarbeiter und Bijoutiers, die einen neuen Erwerbszweig mitbrachten: die Anfertigung von Galanteriewaren und ähnlichen Preziosen in Gold und Silber, die bisher nur in Paris und Genf hergestellt worden waren. Ihre Kunden verkauften diese Artikel als Pariser Arbeit von Hanau aus in die Welt.

Die Bijoutiers waren es auch, die 1772 die Gründung einer Akademie der Zeichenkunst forderten, die nicht nur Nachwuchs für das heimische Gewerbe garantieren, sondern auch die Grundlage des künstlerischen Lebens in der Residenzstadt bilden sollte - das war die Geburtsstunde der Staatlichen Zeichenakademie in Hanau. Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert gelang der Branche durch die nun mögliche Serienfertigung ein weiterer Aufschwung. Damals wurden einige der heute noch existierenden Betriebe gegründet.

Von den traditionsreichen Betrieben haben nur wenige überlebt: die einer historisierenden Formensprache verpflichteten Silberwarenmanufakturen Schleissner (seit 1816) und Neresheimer seit 1890), die Firma Otto Klein für Juwelen und Goldarbeiten (seit 1909) sowie die. bereits seit 1759 in Hanau etablierte, auf die Anfertigung von Ketten spezialisierte Firma Bury. Insgesamt gibt es in Hanau noch rund ein Dutzend Betriebe für Gold- und Silberschmiedekunst, darunter Ateliers einzelner Künstler,

Zwei Galerien für selbst entworfenen und gefertigten Schmuck haben in den vergangenen fünf Jahren eröffnet: „Made in Hanau“ in der Innenstadt, eine Ateliergemeinschaft ehemaliger Absolventen der Zeichenakademie ebenso wie „Possible“, eine Galerie mit integrierter Werkstatt in einem ehemaligen Laden in der Nachbarschaft des Deutschen Goldschmiedehauses.

 

Links vom Deutschen Goldschmiedehaus geht es in die Marienkirchstraße. Das Haus Nummer 2 (Haus nach dem Eckhaus) hieß früher „Zur Linsensupp“, heute ist dort unter anderem sinnigerweise die „Hanauer Tafel“ untergebracht.

 

Marienkirche

Ein alter Erbteilungsvertrag zwischen zwei Brüdern aus dem Geschlecht der Herren von Dorfel­den und Hagenowe vom Jahre 1234 erwähnt zum ersten Male, daß bei der Burg Hagenowe dem Zisterzienserorden das Recht zum Bau einer Kirche samt dem dazugehörigen Gelände eingeräumt wurde.

Der Baubeginn läßt sich nicht genau fixieren, er lag wohl um die Mitte des 13. Jahrhunderts. Als im Jahre 1303 Hanau sein Stadtrecht erhielt, hat die Kirche sicherlich schon gestanden. Urkundlich erwähnt ist die „eclesia Marie Magdalena in Haynoe Moguntine diocesis“ (Maria-Magdale­nen-Kirche in Hanau in der Mainzer Diözese) in drei Ablaßbriefen aus den Jahren 1316 (Ablaßbrief), 1317 und 1322. Fest steht weiterhin, daß im Jahre 1353 bereits fünf Geistliche an der Kirche amtierten.

Der einzige spätgotische Bau im Hanauer Land von besonderer Bedeutung ist der Neubau des Chores der Marienkirche. Der erste „Graf“ von Hanau, Reinhard II., verlegte den Begräbnisplatz seines Geschlechtes vom Kloster Arnsburg nach Hanau. Dem Grafengeschlecht einen würdigen Ruheplatz zu schaffen und der Erhebung der Pfarrkirche zur Stiftskirche Ausdruck zu geben, war der Anlaß zum Neubau des prächtigen Chores. Das Schiff wurde deshalb in den Jahren 1449-1454 erweitert. Die Architektur der Marienkirche weist mit den etwa gleich großen Bauteilen Schiff und Chor eine architektonische Besonderheit auf. Das vorher einschiffige Langhaus erhielt zwei Seitenschiffe, die mit den heutigen Ausmaßen übereinstimmen. Die Apsis wurde auf neun Meter Tiefe erweitert und diente von da an als Begräbnisstätte der Hanauer Grafen. Auch ist wohl um diese Zeit der heute noch stehende Turm erbaut worden. Bauherr war Reinhard II., der erste „Graf“ von Hanau (er wurde 1429 in den Grafenstand erhoben). Er wurde als erster 1451 im erweiterten Chorraum beigesetzt. Sein Grabstein befindet sich heute noch an der Nordwand.

Was sofort auffällt, ist ein Kontrast zwischen dem fast wie ein Würfel geschnittenen Kirchenschiff in neuzeitlich wirkender Nüchternheit und dem dahinter hochaufragenden Chor von etwa gleicher Tiefe. Der scheint gleich ein paar Nummern zu groß geraten. In der linken Wand über einem Grabdenkmal ragt ein großer Stein ein wenig hervor, über dessen Bedeutung die Übersetzung seiner Inschrift informiert: „Grundstein zum Neubau des Chores im Jahr 1485 zur heutigen Gestalt“. Bauen ließ Graf Philipp der Jüngere, Enkel von Reinhard II., der die ehemals bescheidene Marien-Magdalenen-Kirche bereits zwischen 1449 und 1454 größer und prächtiger hatte bauen und den Chorraum als Erbbegräbnis hatte errichten lassen. Reinhart II. starb allerdings schon während der Bauzeit 1451 und wurde an Ort und Stelle begraben.

Den wesentlichsten Umbau verdanken wir also Graf Philipp dem Jüngeren. Von einer Jerusalemfahrt heimkehrend baut er den Chor in den Jahren 1485 - 92 zu seiner heutigen Größe um. Der Grundstein zum hohen Chor wurde am 4. August 1485 gelegt. Eine Bauinschrift in der halben Höhe der Chornordwand im Chor gibt diesen Tag an. Die Bauzeit zog sich bis zum Jahre 1492 hin.

Aus einer Urkunde vom 30. Mai 1485 hören wir, daß die Steinbildhauerarbeiten an Siegfried Ribsche aus Büdingen vergeben worden sind. Der Hanauer Steinmetzmeister Martin Merkel und sein Sohn waren bei dieser Vergebung anwesend. Ob Ribsche der Planleger des Chorneubaues ist, erfahren wir nicht. Wir müssen nur annehmen, daß der erfahrene Bildhauer das kostbare Netzgewölbe, die reichen Steinmetzarbeiten an den Dienstsockeln, das Sakramentshäuschen am Äußeren des Chores und ein verschollenes Sakramentshaus im Innern gearbeitet hat. Siegfried Ribsche ist - zusammen mit Hans von Düren - der Meister des 14 Meter hohen Sakramentshauses in der Friedberger Liebfrauenkirche.

Dieser Bau ist ein herrliches Werk spätgotischer Baukunst. Von dem ursprünglichen Bau stammt nur noch der untere Teil des Turmes bis zur Höhe des Chordachansatzes. Das sauber geschichtete Basaltbruchstein-Mauerwerk durchbrechen schlanke, gekuppelte Fenster aus Sandstein; unter dem spitzbogigen Schluß sind steile Kleeblattbögen.

Mit Blick von Süden auf die Marienkirche erkennt man den Kontrast zwischen Kirchenschiff und spätgotischem Chorbau. Die äußeren Strebepfeiler des Chores aus Sandsteinquadern tragen konkave Pultdächer. An dem nordöstlichen Eckstrebepfeiler des Chores ist auf den Sandsteinquadern eine von zwei Engeln gehaltene gotische Monstranz in Relief ausgehauen. Der übernächste Pfeiler nach Süden zeigt eine hockende vogelartige Figur, ein leeres Spruchband haltend. Von Westen her ist die Giebelfront mit den kleinen rechteckigen Fensteröffnungen zu sehen.

Beim Betreten der Marienkirche über das erst 1963 fertiggestellte Eingangsportal im Westen sieht man über dem Haupteingang das Wappen Philipps III. von Hanau-Münzenberg und seiner Gemahlin aus dem Jahre 1561. Über der Eingangstür liegt innen die Empore mit der 1964 fertiggestellten Orgel. Sie wurde in zwei Abschnitten durch die Firma Hammer, Hannover, erstellt. Unter dieser Empore befinden sich zahlreiche, bei den Ausgrabungen (1946) sichergestellte Grabplatten.

Der östliche Schluß des Schiffs enthält die dabei in den Boden eingelassenen Grabplatten. Vom Schiff aus sieht man in den Chor. Am Chorbogen rechts der Epitaph der Adriane von Nassau. In dem ausgemalten Gewölbe, in den Schnitt- und Gabelpunkten des Netzgewölbes, sieht man die heraldische Ahnengalerie Philipps des Jüngeren sowie seiner Familienangehörigen.

Von dem Durchgang in der Chorsüdwand gelangt man in die jetzt links anschließende Sakristei (im 15. Jahrhundert Kapitelsaal der Stiftsgeistlichen, Laurentiuskapelle). In der Ostwand dieses Raumes befinden sich die erst 1945 entdeckten Wandgemälde aus dem 15. Jahrhundert.

Sehenswert sind auch die spätgotischen Glasmalereien dieser Kirche. Die Kirche bewahrt eine Gruppe von alten Bildfenstern, die zusammen mit der Architektur ein Stück von Hanaus Vergangenheit wiederspiegeln. Sie erinnern an Zeiten tiefer Frömmigkeit, in der die Kirche vor allen anderen Bauten mit dem Kostbarsten ausgestattet wurde, und sind Zeugen einer Kunst, die durch die besondere Eigenschaft, Materie in verklärtes Licht aufzulösen, das Mittelalter ganz besonders faszinierte.

 

Der Chor ist nicht nur atemberaubend schön ist mit seinem Kreuzrippengewölbe und den erwähnten Fenstern, sondern auch Hanaus ältestes original erhaltenes Gebäude. Der Chorraum von erstaunlichen Ausmaßen (22 Meter tief, 10 Meter breit und 16,4 Meter hoch) ist überwölbt von einem kunstvollen Netzgewölbe aus profilierten Sandsteinrippen, die in ihrem östlichen Abschluß einen Stern bilden. Er besteht aus vier Jochen und hat einen Drei-Achtel-Schluß. Die Dienste, die die Joche voneinander trennen und das Netzgewölbe vorbereiten, beginnen auf der Höhe der Fensterbrüstungen. Sie stehen auf reich geschmückten Konsolen, die prachtvolle Meißelarbeiten zeigten.

Aus den die Chorwände gliedernden Diensten wachsen unorganisch die Rippen des Netzgewölbes, das den Chor der Marienkirche überspannt. Dieses Netzgewö1be ist der kostbarste Schatz aus dem Mittelalter, der sich in Hanau bewahrt hat. Das System des Gewölbes ist verhältnismäßig einfach. Von jedem Dienst gehen drei Rippen aus, die sich in der Zone des Gewölbescheitels netzförmig überschneiden. An jeder Überschneidungsstelle sitzen Wappensteine.

Die besonders schönen sechs Wappen der Mittelreihe im Gewölbescheitel geben dreimal das Hanauer, zweimal das nassauische und einmal das pfälzische Wappen wieder (Bild in: Hanau Stadt und Land, Seite 134). Die mittleren Schnittpunkte der Rippen sind gekrönt mit den Wappen des Erbauers, seiner Gemahlin, seiner Eltern und Großeltern. Hier findet sich auch das Wappen Philipps des Jüngeren, das heute das Hanauer Stadtwappen ist.

Der Schlußstein im Gewölbe des Chorschlusses zeigt in plastischer Arbeit Christus als Gärtner vor Maria Magdalena. Ein spitzbogiger Triumphbogen, der als Schlußstein das Hanauer Wappen trägt, schließt den Chor gegen das Schiff ab. Unter dem Triumphbogen war ehemals ein Lettner vom Jahre 1492.

Die seitlichen Rippenschnittpunkte tragen 48 kleinere Wappen. Alle Wappen sind als Hochrelief in Sandstein gehauen und bunt gemalt. Auch zwischen den Rippen sind reizvolle Rankenmalereien angebracht. Von gleicher Schönheit ist das Maßwerk der hohen Kirchenfenster, deren Abschluß im Spitzbogen jeweils andere Ornamente zeigt.

 

Schon 34 Jahre später, im Jahre 1485, wollte Reinhards Enkel Philipp der Jüngere noch weit höher hinaus. Er ließ die Marien-Magdalenen-Kirche zu einer Stiftskirche erheben, an welcher ein Kapitel von zwölf Geistlichen und einem Dechanten dienten. Die heutige Sakristei war damals Kapitelraum. Die Pfründen der Stiftsherren sind heute noch in der sogenannten „Hanauer Präsenz“, einer kirchlichen Vermögensverwaltung, im Wesentlichen enthalten.

Die Stellung des Chores zum Schiff - der Chor ist leicht abgewinkelt - läßt darauf schließen, daß der Bauherr wahrscheinlich auch das dreischiffige Langhaus erneut erweitern oder gar ein neues Schiff bauen lassen wollte. Der Plan kam nicht mehr zur Durchführung; die Reformation setzte all diesem Streben um die Verschönerung der Stiftskirche ein Ende. Man erhöhte nur die Seitenwände des Schiffes (1561) und brachte das Dach auf gleiche Höhe mit dem Chordach.

In der Gruft der Marienkirche ruhen neben vielen anderen adligen Gebeinen auch die sterblichen Überreste von Graf Philipp Ludwig II., der 1597 glaubensflüchtigen Wallonen und Niederländern die Gründung der Neustadt ermöglichte. Die Büste des klugen und toleranten Herrschers, der zudem 1603 auch den Juden die Wiederansiedlung in Hanau ermöglichte, steht in der Französischen Allee vor der Wallonisch-Niederländischen Kirche.

Zur Zeit der Fertigstellung des hohen Chores befanden sich fünf Altäre in der Kirche: Die in den vier Ecken des Schiffes waren „Unserer lieben Frau“, St. Katharina, St. Georg und St. Bartholomäus geweiht, der Hochaltar im Chor der Kirchenpatronin Maria-Magdalena, deren Bild er auch trug (Ölbild des Malers Fyol aus Frankfurt, das später durch ein geschnitztes Retabel ersetzt wurde). An weiteren Ausschmückungen dieser Zeit sind noch zu erwähnen: Die Kreuzwegstationen, deren Ölbergszene noch bis zur Zerstörung der Kirche relativ gut erhalten war. Das Grabmal der Gattin des Chorerbauers, der Gräfin Adriane von Nassau, hat vorgenannte Zerstörung überstanden, ebenso die geschnitzten Chorwangen, deren eine das Bildnis Philipps selber trägt.

Bei der Renovierung der Sakristei hat man alte Fresken entdeckt, die sich in der dortigen Altarnische befinden. Sie stellen das Martyrium des Heiligen Laurentius und die Anbetung des Kindes durch die drei Könige dar; darüber sind Gruppen von Heiligen abgebildet. Diese Fresken und einige Weihekreuze an den Wänden wurden restauriert und bilden eine wertvolle Bereicherung der leider nicht mehr so zahlreich vorhandenen kunstgeschichtlichen Zeugnisse einer reichen Vergangenheit. Gelegentlich ist eine Besichtigung der Krypta unter dem Chor möglich.

 

Mit der Einführung der Reformation wurde die Kirche einer ziemlich radikalen Bereinigung von Bildern, Altären und Stationen unterzogen. Der leer gewordene Chorraum wurde mit einer Chorbühne versehen, die in ihrem unteren Teil eine Glasfensterfront zeigte. Auf den oberen Teil der Chorbühne wurde später die prächtige Orgel gestellt. So blieb im Wesentlichen die Gestaltung des Chores bis zum Jahre 1945.

In den Jahren 1559-1561 wurde das Langhaus zum Saalbau umgebaut. Das Kirchenschiff wurde unter Philipp III. im Jahre 1561 erhöht. Das hohe weiträumige Dach konnte dadurch als Lagerraum für die Naturalien aus den Pfründen Verwendung finden, wovon heute noch die vielen Luken und Türen im Oberteil des Westgiebels zeugen. Im Inneren des Kirchenschiffs wurde durch Einbau einer doppelten Emporenreihe und einer erhöhten Kanzel der reformatorische Charakter des Gotteshauses als einer Stätte der Wortverkündigung zum Ausdruck gebracht. In dieser Gestalt blieb die „Hochdeutsche Reformierte Kirche“ seit den letzten drei Jahrhunderten im Wesentlichen unverändert.

Das Gotteshaus der Hochdeutsch-Reformierten diente früher auch als Lagerhaus. In den drei obersten Stockwerken wurden die Vorräte aus den Ernten der Pfarräcker aufbewahrt. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts wohnte im hohen Turm ein Wächter, der eigentlich nie richtig schlafen konnte. Laut Vertrag mit der Stadt mußte der Tag und Nacht alle Viertelstunde Ausschau halten, ob ein Feind heranrückte oder ein Feuer ausgebrochen war. Dann mußte er ins Horn stoßen. Besucher konnten ihm damit eine Freude machen, Kohlen, Wasser oder Nahrungsmittel hinauf in seine Stube zu schleppen.

Nach der Reformation verschwanden auch die zahlreichen wertvollen Schnitzaltäre und mit ihnen die gesamte Ausstattung an Meßgewändern, an Meßbüchern und kirchlichen Geräten. Im Jahre 1595 führten die Calvinisten (zusammen mit den Lutheranern eine der Hauptströmungen des Protestantismus) einen „Bildersturm“ durch. Sie wollten keine Kunst und keinen teuren Schmuck in ihrer Kirche. Also stürmten sie das Gebäude und rissen alles heraus. Besonders Graf Philipp Ludwig Il. räumte 1596 „in calvinischem Eifer“ die Kirche aus. Nur Teile der alten Glasmalereien haben sich erhalten. Eine Rundscheibe mit einem Wappenpagen stammt von dem am Mittelrhein tätigen Hausbuchmeister. Einem anonymen Meister „W. B.“ will man andere Scheiben zuschreiben. Großartig in Komposition und Farbwirkung ist die Scheibe mit dem Heiligen Georg und der Pietà im westlichen Chorfenster der Nordwand.

Zwischen den Diensten steigen hohe, dreiteilige Fenster auf, die mit Spitzbogen schließen. Reiches Fischblasenmaßwerk füllt die Felder der Spitzbogen. Auf der Südseite der Kirche reichen die Fenster nur bis zum Dachansatz der Sakristei, die sich an den Neubau des Chores anschließt. In den Jahren 1847 bis 1849 erfolgte eine „Restaurierung“ ohne jede Rücksicht.

 

Wie durch ein Wunder überstand der Chor der Marienkirche den Bombenhagel der Sprengbomben. Brandbomben setzten das Dach und das Innere der Kirche in Brand. Die Flammen zerstörten das Schiff und die Inneneinrichtung des Chores. Ein besonders großer Verlust war dabei die Zerstörung der im Jahre 1696-1697 von dem Hanauer Orgelbauer Valentin Marekart erbauten Barockorgel auf der breiten Chorbühne.

Die Zinksärge derer von Hanau, die in der Gruft lagerten, überstanden das Feuer einigermaßen unbeschädigt. Einer der Grafen hatte sich hingegen in einem Marmorsarkophag zur letzten Ruhe betten lassen: Der schmolz in der Hitze zur Unkenntlichkeit zusammen.

Nach dem Brand bot sich uns aber der hohe Raum des Chores in seiner alten Reinheit und Größe dar. Die störenden Einbauten waren verschwunden und das mittelalterliche Bild war wiedergewonnen worden, so daß wir heute einen beglückenden Raumeindruck von großer Würde und künstlerischer Qualität finden.

Nach der schweren Kriegszerstörung am 19. März 1945 wurde sie in den drei vorgenannten Bauabschnitten unter großen Opfern wiederaufgebaut. Im Jahre 1946 wurde mit dem Wiederaufbau begonnen. Nach dem Entwurf von Prof. Gruber, Darmstadt, sollte das Kirchenschiff wieder seine ursprüngliche Gestalt einer dreischiffigen Basilika erhalten. Diese, ohne Emporen ausgestattet, ist betont schlicht gehalten, um den hohen Chor in seiner ganzen Schönheit als die beherrschende Dominante des Kircheninneren hervortreten zu lassen. Die neue Orgel wurde auf die Westseite verlegt, damit die Höhe und Tiefe des Chores zu ihrer vollen Geltung kommt.

So ist der Blick frei auf das herrliche Netzgewölbe mit seinen Wappen und dem Schlußstein, der Maria-Magdalena vor dem auferstandenen Herren zeigt. Die wertvollen Glasmalereien aus dem Mittelalter leuchten wieder in ihren kräftigen Farben von den Fenstern. Die Epitaphien der Hanauer Grafen an den Chorwänden sind erneuert, und die Gestühlswangen mit ihren alten Schnitzereien haben wieder ihren Ort gefunden.

In der Kirche befindet sich eine Kurzbeschreibung „Kleiner Rundgang“ mit Daten zur Geschichte und Baugeschichte auf der Rückseite.

 

Nachdem im November 2001 bereits der Vertrag mit der spanischen Firma Grenzing über den Neubau einer Orgel für 1,8 Millionen Mark innerhalb von zwei Jahren abgeschlossen wurde, ist inzwischen auch die Gesamtfinanzierung des Kirchenumbaus gesichert. Ausschlaggebend war eine zusätzliche Zuweisung über eine Viertelmillion Mark von der „Stiftung Kirchenerhaltungsfonds“ der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck. Die Marienkirche soll mit dem Neubau der Orgel und der damit zusammenhängenden Umgestaltung der Decke, dem Ausbau der Empore zur Aufführung von Chorwerken - inklusive Erneuerung der Heizung - ein „würdiges Zentrum der Hanauer Kirchenmusik in der Innenstadt“ werden.

Die Finanzierung der mit 942.000 Mark veranschlagten Kosten teilen sich drei Geldgeber: die Landeskirche, der Kirchenerhaltungsfonds und die Evangelische Präsenz Hanau (ein Baukostenträger für evangelische Kirchen, resultierend noch aus Jahrhunderte altem Grafenrecht). Indem der Fonds 250.000 Mark Zuschuß gewährt, teilen sich Landeskirche und Hanauer Präsenz den Rest etwa zu gleichen Teilen.

Der neue Eingangsbereich ist kühl und klar. Ein Foyer ist vom Kirchenschiff abgetrennt durch eine Glaswand und zwei Vitrinen mit Plakaten, Broschüren, Büchern und Informationsmaterial. Die Doppel-Schwingtür aus Glas hat Griffe in Form von senkrechten Edelstahlstäben.

Die spanische Firma Grenzing baut die Orgel nach einem Prospekt-Entwurf des Hanauer Architekten Simon Platt. Mit der neuen Orgel soll sich die Marienkirche zu einem regionalen Kulturzentrum und zu einer touristischen Attraktion entwickeln.

Die Landeskirche von Kurhessen-Waldeck habe vier Schwerpunkte der Kirchenmusik gesetzt: Kassel, Bad Hersfeld, Marburg und Hanau. In Hanau habe man traditionell ein hohes Niveau gehabt, das mit Kantor Christian Mause fortgesetzt werde. Um ihm ein adäquates Spielen auf einem guten Instrument zu garantieren, habe die Landeskirche beschlossen, hier in Südhessen einen ganz besonders bedeutenden Schwerpunkt zu setzen, was sich auch in Zahlen ausdrücke. Im November 2001 war für 1,8 Millionen Mark der Auftrag an die Firma Grenzing gegangen, die bereits rund 150 musikalisch und technisch hochwertige Orgeln nach der seit der Barockzeit bewährten Mechanik gebaut hat, unter anderem für die Kathedrale in Brüssel und die Konservatorien in Lyon und Paris.

Für die Aufstellung der Orgel ist die Decke im Hauptschiff angehoben und - nahezu gotisch anmutend - gewölbt worden. Für die Konstruktion hat sich Rainer Krebs von dem Göttinger Akustik-Spezialisten Dr. Alphei beraten lassen. Die alte Empore hat Krebs so erweitert, das ein hundertköpfiger Chor auf gestuften Podesten Platz hat und davor ein 40-köpfiges Orchester.

Darüber baute der Architekt eine zweite Empore. Auf einem mächtigen Stahlträger ruht eine Betonplatte, die der Grundriß der Orgel ist. Ein Vorsprung in der Mitte trägt die Orgelbank und bietet Raum für einen Solisten. Der schwarz gestrichene Stahlträger ist als solcher zu erkennen, der Beton bleibt nackt, auch in Form von zwei flankierenden Wänden, die nicht nur tragende Funktion haben, sondern auch die Treppen verbergen. „Ich will bewußt zeigen, was neu ist“, sagt Krebs. Die Kirche ist ja eigentlich ein Bauwerk der 50er Jahre. Die Wiederherstellung war 1956 abgeschlossen. Es gab zwar wieder gotische Fenster, aber keine Emporen mehr. Nur der Chor war erhalten geblieben. Er ist heute das einzige original historische Bauwerk der Altstadt.

 

Geht man die Marktstraße weiter, so zweigt links die „Große Dechaneigasse“ ab. Das Haus Nr. 25 an der Südseite hieß das „Geibelhaus“, weil dieses Haus mit seinem Erker das Stammhaus des Dichters Emanuel Geibel gewesen ist. Es gehörte dem Großvater des Dichters, dem Ratsdiener Johannes Friedrich Geibel. Johann Geibel, der Vater Emanuels, wurde 1776 in diesem Haus geboren.

Ein Stück weiter geht es links in eine Stichstraße, wo ehemals die Stadtmauer und der Graben der Altstadtbefestigung sich hinzogen. Ein Stück Altstädter Stadtmauer steht noch. Schließlich kommt man zum Freiheitsplatz, ehedem Paradeplatz genannt. Doch hier beginnt schon die Neustadt.

 

Bilder Hanau in: Hanau Stadt und Land

Goldberg, Glockenbecherkultur        Seite 48

Brandgrab Urnenfelderzeit                 Seite 52

Dunlopgelände, Hortfund                  Seite 54

Hanauer Wappen                                Seite 82 und 106

Mainkanal und Marktschiff               Seite 369 und 370

Schlacht bei Hanau                             Seite 377

Ehrensäule                                            Seite 392

Fliegendes Pferd Druckerei Wechel Seite 395

Fayencen Seite                                    Seite 398 f

Stadtschloß, Stuckdecke                    Seite 150

Deutscher Friedhof                             Seite 436

Rathaus Neustadt                               Seite 154

Theater                                                 Seite 442

Grimm-Denkmal                                Seite 447

 

 

Modell von Alt-Hanau

Durch den engen Flur des alten Bürgerhauses in der Rosenstraße steigt Matthäus Steiger hinab in das Allerheiligste, einen kleinen Kellerraum, in dem alte Hanauer Ansichten im Format 1: 52 wiederauferstehen, hergestellt aus Gips, Leim und Balsabrettchen, die leichter zu verarbeiten sind als Sperrholz. Eine seiner jüngsten Nachbauten ist das ehemalige Regimentsquartier der Hessen-Homburg-Kaserne, auch als Bavariahaus bekannt. Das Original im Stadtteil Lamboy wurde vor einigen Jahren renoviert, diente dann der Bereitschaftspolizei und nunmehr der Justiz als Domizil.

Am liebsten widmet sich der 73-Jährige allerdings Gebäuden, die nicht mehr existieren, und davon gibt es in Hanau jede Menge oder eben nicht, etwa das frühere Arbeitsamt am Sandeldamm. Nach alten Plänen und Zeichnungen werden sie im Keller des Friseurgeschäftes rekonstruiert. In manchen Fällen wie beim Nachbau der Wallonisch-Niederländischen Kirche stehen ihm noch nicht einmal solche Unterlagen zur Verfügung. Dann nimmt Steiger auch schon einmal den Zollstock zur Hand und vermißt das betreffende Gebäude neu.

Für die ausgebombte Kirche stand dem Modellbauer lediglich der Grundriß zur Verfügung. Kein Wunder, daß er die steile Dachkonstruktion zweimal anfertigen mußte, bevor sie den statischen Belastungen gewachsen war. Der vielstündige Aufwand hat sich jedoch gelohnt. Das damalige Herz der Hanauer Neustadt, errichtet gleich für zwei Glaubensgemeinschaften, ist ein Prachtstück in der umfangreichen Sammlung, die sich über den gesamten Dachboden erstreckt. Auf dem Kirchenvorplatz ist die Übergabezeremonie mit Zinnfiguren nachgestellt: Umgeben von Alt- und Neubürgern nimmt Graf Philipp Ludwig II., der die Niederlassung der Glaubensflüchtlinge in Hanau förderte, den Gebäudeschlüssel entgegen.

Mit dem Zinngießen hat alles angefangen, vor rund 30 Jahren, erzählt Matthäus Steiger. Sein Sohn Joachim, der inzwischen das elterliche Geschäft übernommen hat, brachte eine Figur mit nach Hause. Damit erwachte die Neugier. Die erste Form wurde gekauft, die erste Miniatur gegossen, Literatur für die geeignete Bemalung besorgt.

Schon bald reifte die Idee, die Schlacht bei Hanau im Jahr 1813 nachzubauen. „Wenn ich seinerzeit gewußt hätte, auf was ich mich da einlasse“, grinst Steiger, ohne den Satz zu vollenden. So war ihm beispielsweise nicht bewußt, daß die napoleonische Armee häufig die Uniformen wechselte und die zunächst angeschafften Figuren die falschen Röcke trugen. Diese Einzelheiten bei hunderten von Miniaturen zu ändern, war schon alleine eine Sisyphusarbeit, die man dem heutigen Diorama nicht mehr ansieht.

Auf vier Etagen sind die einzelnen Abschnitte der Rückzugsschlacht der Franzosen gegen die Bayern verteilt. Allein die Darstellung der Hauptattacke benötigt einen Raum von zwei Quadratmetern. Überhaupt ist der Steiger’sche Speicher dicht an dicht mit Modellen und Szenerien besiedelt. In Zinn besitzt er übrigens auch eine Reihe von historischen Persönlichkeiten aus Hanau, neben dem Neustadtgründer Philipp Ludwig und Feldmarschall Lamboy, der im Dreißigjährigen Krieg die Belagerung der Stadt leitete, sind das Ulrich Ritter als Gründer der Altstadt, der Revolutionär von 1848 August Schärttner, natürlich die Brüder Grimm und einige weitere Prominente der Vergangenheit. Die Gußformen wurden nach seinen Entwürfen von einem Graveur aus Krakau gefertigt. Fein und aufwendig bemalt von Matthäus Steiger gibt es sie inzwischen als Serie im Stadtladen zu kaufen. Auch die japanische Delegation aus der Partnerschaft Tottori erhielt einen Satz.

Zurück zu den Gebäudemodellen, die der Senior zusammenbaut: Wiedererstanden ist die älteste Burganlage in der Nähe des heutigen Kongreßzentrums aus dem 13. Jahrhundert, das erste Rathaus das Goldschmiedehaus, die alte Kommandantur (dort steht jetzt die Ludwig-Geißler- Schule), Johannes- und Marienkirche, ein Patrizierhaus und die Hellerbrücke in einer Zeit, als dort noch Wachposten standen und nicht jeden in die Stadt ließen.

Daneben erhebt sich der „Goldene Löwe“ in einer Szenerie der Biedermeierzeit, schließlich die gewaltige Anlage von Schloß Wilhelmsbad. Für die zahlreichen Säulen und Gesimse hat Matthäus Steiger eigens Formen aus Silikon entwickelt, um nicht jedes Teil einzeln anfertigen zu müssen. Es folgen weitere historische Darstellungen, etwa der Bau des Walls nach dem Hochwasser am Nürnberger Tor oder eine Revolutionsszene am früheren, runden Stadttheater. Der Steiger’sche Dachboden - eine Fundgrube der Hanauer Geschichte, die nur selten, etwa bei Ausstellungen im Puppenmuseum oder an anderen Orten, auch von einem größeren Personenkreis bestaunt werden kann.

Matthäus Steiger braucht für sein Hobby kein applaudierendes Publikum. „Ich tue das für mich, einfach weil es mir Freude macht“, sagt er. In der dritten Generation erlernte der Pensionär das Friseurhandwerk. Der Begründer dieser Hanauer Dynastie war Adam Steiger, der das erste Geschäft im Jahr 1890 in der Rappengasse eröffnete. Vater Louis machte sich 1930 mit einem eigenen Laden in der Rosenstraße selbständig, wo Enkel Joachim inzwischen die Regie übernahm. Anfang der 90er hat der 73-Jährige die Verantwortung Stück für Stück abgegeben und widmet sich seitdem noch stärker seinem Hobby. So lange er noch über ruhige Hände verfügt, wird das auch so bleiben.

Über das Zinngießen kam Matthaus Steiger vor fast drei Jahrzehnten auch zum Modellbau. Beides ist für ihn wie für andere Hobbybastler keine nostalgische Schwärmerei, sondern eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Geschichte, die akribisch betrieben wird. Sie sind also zugleich Historiker, sich mit dem Leben der Menschen in der abgebildeten Epoche, ihrer Kleidung, ihren Wohnungen, Geräten und Techniken ebenso wie Sitten und Gebräuchen auseinander setzen. Sie müssen - oder besser: wollen - wissen, wie die Architektur zu jener Zeit aussah, in welchem geographischen Umfeld sich die Vorbilder der Metallfiguren bewegten, ja sogar, in welcher Botanik sich die Szenen abspielten.

Mit Nadel und Stichel werden die auf Schieferplatten durchgepausten Zeichnungen in Vertiefungen umgesetzt. Ein Gußkanal wird eingegraben, ferner kleine Kanäle zum Entweichen der Luft. Dann kann der Probeabdruck mit Plastilin genommen werden, um zu sehen, ob und wie die Feinheiten der Figur rüberkommen.

Schließlich folgt der Guß: Der Tiegel mit der Legierung wird in einem Ofen auf 400-Grad erhitzt, die beiden Formhälften aufeinander gepreßt, das geschmolzene Metall läuft hinein, wo es nach wenigen Sekunden erstarrt. Dann werden die Formen auseinander genommen, die Figur vorsichtig mit einer Zange gelöst. Ist sie gelungen, müssen nur noch die unvermeidlichen Grate abgefeilt werden, ehe die Figur grundiert und bemalt wird. Die Form kann nach dem Guß immer wieder verwendet werden.

Die Art und Weise der Herstellung von Zinnfiguren ist schon seit über 100 Jahren die gleiche.

Für den Guß wird eine Mischung von Zinn und Blei im Verhältnis von 60:40 verwandt. Bei den selteneren halb- oder vollplastischen Miniaturen kann der Bleigehalt höher sein. Matthaus Steiger verwendet auch noch einen geringen Anteil Wismut. Außerdem braucht man „viel Gefühl“. Diese Mischung eignet sich am besten für das Gießen der typischen, etwa 30 Millimeter großen, abgeflachten Figuren, dessen Erfolg davon abhängt, ob das flüssige Metall in alle Ritzen der Form dringt und keine Lufteinschlüsse bildet. Blei alleine wäre für die Bearbeitung der Figur zu weich, Zinn zu fest. Das Material bezieht Matthäus Steiger übrigens von Altwarenhandlungen. Eingeschmolzen werden auch alte Bierleitungen oder Coladosen.

 

 

 

 

Die Neustadt Hanaus 

 

Neben den kleinen Häuschen und Bauten der Altstadt nahmen die Häuser der Neustadt sich merkwürdig weit und prächtig aus. Man kann sich vorstellen, wie fremd den Bewohnern der Altstadt diese neue Stadt vorkam. Zwei Welten standen sich gegenüber.

Die Neustadt ist ein leicht unregelmäßiges Fünfeck mit quadratischer Blockbebauung und dem Marktplatz als zentraler Fläche. Die Hauptachse bildet die heutige Nürnberger Straße. Die Querachse wird durch einen zweiten quadratischen Platz geprägt, auf dem der Doppelrundbau der Wallonisch-Niederländischen Kirche steht. Die durchdachte Anlage wurde in der kostengünstigen „altniederländischen“ Art errichtet, die sich durch mächtige Erdwälle und breite Wassergräben auszeichnet.  An der Außenseite war eine Stützmauer mit der Höhe von einer Rute (3,5 Meter). Die Basaltsteine kamen aus den Steinbrüchen in Wilhelmsbad. Diese Mauer trennte den Wassergraben von einem flachen, begehbaren Niederwall. An diesen schloß sich der eigentliche höhere Wall an, der mit Grassoden gefestigt und mit Dorngestrüpp bepflanzt oder mit einer Brustwehr ausgerüstet sein sollte. Erst im Dreißigjährigen Krieg wurde die Anlage durch Hornwerk im Bereich der Tore verstärkt. In den Jahren 1807/ 1807 wurde die Wallanlage auf Befehl Napoleons zurückgebaut und man verfüllte den Wassergraben mit dem Erdreich des Walls. Das Bett des Grabens wurde schmaler gemacht und später teilweise mit Mauern gefaßt.  Erst in den sechziger Jahren verschwand auch dieses Überbleibsel der Befestigungsanlage, ein letzter Rest war vor der Reichsbank in der Nußallee (Höhe Bleichstraße).

 

Spektakulär sind die Mauerfunde, die im Frühjahr 2007 auf dem Gelände des Klinikums zwischen den Bauten HA und HC am Mühltorweg gemacht wurden. Gefunden wurde ein 15 Meter langes Mauerteilstück auf einer 20 Zentimeter starken Holzkonstruktion aus Erlenholz.-Die Maser war aus Basalt errichtet mit unterschiedlich großen Mörtelpackungen. Die Mauer war 2,20 Meter hoch erhalten und  unten 1,60 Meter dick und oben 1,20 Meter.

Beim Bau des Kinocenters in der Straße Am Steinheimer Tor fand man eine Bruchsteinmauer aus Basalt und Sandstein in einer Höhe von 4,30 Meter und einer Breite von mindestens 1,10 Meter.

Im Februar 2009 konnte auf dem ehemaligen Schlachthofgelände (neben Kinocenter) die zweite Ausbauphase der Wallanlage nach 1806 / 1807 erfaßt werden.

Im April 2010 konnte im Bereich des Kanaltorplatzes ein etwa 12 Meter langer Mauerverlauf  bis in drei Meter Tiefe dokumentiert werden. Auch an der Ecke Nußalleee / Bleichstraße konnte ein Teil der Stadtmauer dokumentiert werden. Der ersten Bauphase konnten zugeordnet werden: Klinikum, Kinocenter, Bleichstraße. Der zweiten Bauphase 1806 /1807 gehören an: Klinikum, Schlachthof und Kanaltorplatz (Hessenarchäologie 2017, Seite 220 - 223)(Die Ausgrabung an der Bleichstraße ist auf den Seiten 224 - 226 dokumentiert).

 

Baugeschichte

Das 16. Jahrhundert brachte noch in seinen letzten Jahren ein für die kleine Stadt Hanau völlig unvorhergesehenes Ereignis. Religionsflüchtlinge aus den Niederlanden, die in Frankfurt Unterschlupf gefunden und dort eine eigene kirchliche Gemeinde gegründet hatten, wandten sich, an den Grafen Philipp Ludwig II. von Hanau und an seine Vormünder wegen einer Übersiedlung nach Hanau. Sie hatten mit den weltlichen und geistlichen Behörden der freien Reichsstadt Zwistigkeiten bekommen.

In einem Schreiben vom 27. Januar 1597 verpflichteten sich 58 Gemeindemitglieder in einer neu zu erbauenden Stadt je ein bis vier Häuser zu errichten. Ein genauer Plan sollte dem Grafen vorgelegt werden. Dieser wollte den Bau der Befestigungen und Tore und die Anlage eines Kanals übernehmen. Am 1. Juni 1597 unterschrieben die vertriebenen Niederländer und Wallonen die „Kapitulation“ mit der Verpflichtung zum Bau einer neuen Stadt auf dem Garten- und Ackergelände südlich der Altstadt, durchschnitten von den vom Neutor ausgehenden Wegen nach dem Kinzdorf, nach Auheim und nach der Lehmkaute.

Der Grundrißplan für die gesamte neue Stadt stammte von Nicolaus Gillet. Die Neustadt Hanau ist das typische Beispiel einer auf dem Reißbrett entworfenen Stadt der Renaissance. Überall in Deutschland entstanden bis zum Dreißigjährigen Krieg durch die wegen ihres Glaubens vertriebenen Flüchtlinge solche Städte. Pfalzburg, Hanau, Freudenstadt, Mannheim, Lixheim, Mühlheim am Rhein und Glückstadt waren durch bastionierte Umwallungen befestigt. Der Grundriß all dieser Städte bildet eine regelmäßige Figur oder einen Teil davon. Das Straßennetz ist überall regelmäßig angelegt. Harmonische Zahlenverhältnisse in den Abmessungen der ganzen Anlagen oder einzelner Baublöcke spielen eine große Rolle (Mannheim, Hanau). Die Städte liegen durchweg in der Ebene, wo die Entwicklung des Straßengrundrisses auf keine Hindernisse stößt.

Ein Blick auf einen Stadtplan von Hanau zeigt die Anlage der Neustadt Hanau: Plan der Stadt Hanau 1775 von Johann Jakob Müller: Die Befestigungen zwischen Alt- und Neustadt sind gefallen. An ihre Stelle ist der große Paradeplatz mit Kollegienhaus und Theater getreten (Hanau Stadt und Land, Seite 139).

Vor der kleinen Residenzstadt Alt-Hanau muß ein ungeheurer Baubetrieb eingesetzt haben. Von überall her waren die Bauarbeiter zusammengeströmt, die in notdürftigen Unterkünften hausten. In wenigen Jahren war auf einem freien Felde eine Stadt entstanden. Eine Stadt, die in nichts der Nachbarschaft ähnelte, die in ihrem Grundplan und in ihren Bauten eine völlig neue Zeit repräsentierte.

Die Wohnbauten waren Reihenhäuser vom gleichen Typ. Je nach den Vermögensverhältnissen waren sie mehr oder weniger patrizierhaft ausgestattet mit Zwerchhäusern und Prunkportalen, mit großen Eingangsdielen und breiten Treppenhäusern. Die meisten Häuser der neuen Stadt waren bis zum Jahre 1606 fertig. Sie waren meist zweigeschossig. In den Straßen in der Nähe der Festungswälle durften die Häuser wegen der Gefahr der Beschießung nur ein Stockwerk hoch sein. Einzig um den Marktplatz standen elf Häuser, die dreigeschossig erbaut waren.

 

 

Freiheitsplatz

Der große Freiheitsplatz trennt weiterhin Alt- und Neustadt. Die Schleifung der Festungsanlagen zwischen Alt- und Neu-Hanau brachte die Voraussetzung für diesen Platz und für die Bauten an seinem Rande. Die neuen Bauten in der Stadt schlossen sich in ihrer strengen Auffassung an die vorher entstandenen Schloß- und Profanbauten in Hanau an. Auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verhielt sich Hanau gegen das süddeutsche Rokoko abwehrend und blieb bei einem strengen und sachlichen Stil. Der Baumeister des Erbprinzen war Franz Ludwig von Cancrin. Er kam 1764 an die Rentkammer in Hanau, wurde dort Assessor, dann Professor der Mathematik am Gymnasium und schließlich auch Leiter des Bauwesens in der Grafschaft.

 

Karstadt-Kaufhaus:

An der Westseite des Platzes stand die Karstadt-Filiale,  eines der prägenden Gebäude am Freiheitsplatz. Als das Haus als „Kaufhaus Wronker“ am 28. Mai 1929 an der Ecke Sternstraße/ Platz der Republik in einem neu errichteten Gebäude eröffnet wurde, war es zugleich ein markantes Stück Architektur, voll auf der Höhe der Zeit. Ganz in der klaren, dem rechten Winkel verpflichteten Architektursprache des Bauhauses errichtet, setzte das neue Warenhaus in der damals weitgehend in ihren ursprünglichen Strukturen und Bauformen erhaltenen Hanauer Innenstadt einen deutlichen Akzent.

Nicht anders übrigens als das nahezu gleichzeitig errichtete Haus der Konkurrenz: Der Kaufhof baute damals an der Ecke Nürnberger und Hirschstraße ein gleichfalls stark am Bauhaus-Stil orientiertes Warenhaus. Beide Gebäude überlebten den Bombenhagel des Zweiten Weltkrieges schwer beschädigt und wurden wieder neu aufgebaut. Der Kaufhof entschied sich in den späten 1950er Jahren jedoch für einen Neubau am Marktplatz, der „alte Kaufhof“ erfuhr in den folgenden Jahren eine unterschiedliche Nutzung, ehe er in den späten 1970er Jahren dem heutigen Parkhaus weichen mußte. Das Haus am Freiheitsplatz erfuhr indes lediglich mehrfach kosmetische Veränderungen, etwa durch eine vorgehängte Fassade. Damit waren aber beide markanten Zeugnisse der Bauhausarchitektur in der Hanauer Innenstadt verschwunden.

Als Wronker 1927 mit der Planung für sein Hanauer Warenhaus begann, stellte sich die Platz­situation am ehemaligen Paradeplatz völlig anders dar als heute. Der schlecht proportionierte Platz, einst durch die Schleifung der Befestigungsanlagen zwischen Alt- und Neustadt entstanden, war nach den Plänen des Hanauer Erbprinzen Wilhelm in den 1760er Jahren für eine Bebauung vorgesehen. Als Wilhelm jedoch 1785 nach Kassel ging, um seinem Vater als Landgraf Wilhelm IX. von Hessen in der Regierung zu folgen, schliefen diese Pläne ein.

Lediglich drei Bauwerke waren auf dem riesigen Areal verwirklicht worden: Die neue Kanzlei, später Infanteriekaserne im Osten (heute Behördenhaus mit Finanzamt), das Zeughaus, das sich an von der Einmündung der Nordstraße parallel zur heutigen Bebauung auf dem Busbahnhof erstreckte und nach dem Zweiten Weltkrieg beseitigt wurde  und das im Krieg stark beschädigte und Anfang der fünfziger Jahre beseitigte alte Stadttheater an der Einmündung der  Bangertstraße.

Durch das Kaufhaus Wronker bekam der Freiheitsplatz eine andere optische Gewichtung. Bis dahin gab es nur eine niedrige Bebauung an der Ecke Sternstraße und anschließend daran die so genannte „Gelbe Mauer“, die ein Gartengelände abschloß. Der Infanteriekaserne gegen­über­liegend, stellte der Kubus einen gewichtigen Platzabschluß dar, der zugleich durch seine Funktion als „Publikumsbringer“ die Hammerstraße quasi verlängerte und die Innenstadt in Richtung Bangertstraße/ Altstadt erweiterte. Zugleich bildete er ein Gegengewicht zum Behördenhaus.

 

Stadttheater („Komödienhaus“):

Wilhelm, Erbprinz von Hessen und Graf von Hanau, der von seiner Mutter, der Landgräfin Marie, die Liebe zur Kunst und besonders zum Theater geerbt hatte, schreibt im Januar 1768 in seinen „Memoires de ma vie“: „Bau des Theaters zwischen Alt- und Neustadt nach Huths Entwürfen als Comédie francaise. Viele Maskeraden und Amüsements in diesem Winter durch Carl angeregt...“

Hier erfahren wir zum erstenmal von der Absicht, in Hanau ein Komödienhaus zu bauen. Die Ausführung der Pläne des Generals Huth lag in den Händen des im Baugewerbe sehr erfahrenen Münz- und Salzwerkdirektors Franz Ludwig von Cancrin, der sehr viel Verständnis für die Ideen seines Auftraggebers hatte. In Hanau gab es zu dieser Zeit keinen Saal, in dem man größere Feste oder Bälle hätte veranstalten können. Deshalb schuf Cancrin 1768 in dem Theater die Möglichkeit, den Zuschauerraum mit der Bühne auf gleiche Höhe zu bringen, und schenkte so der Stadt Hanau den ersten großen Saal.

Am 17. Oktober 1768 wurde das „Comoedienhaus“ eingeweiht. Einen festlichen Auftakt erlebte dies mit zwei Rängen versehene Theater durch den Besuch des Königs Christian VII. von Dänemark, des Schwagers des Erbprinzen, am 22. Dezember 1768.

Das Theater war ein schlichter Bau in guten Proportionen am anderen Ende des Platzes, das halbrunde Bühnenhaus lag am großen Platz. Die Fürstenloge im Inneren des Theaters war reich geschmückt. Diese Einrichtung blieb 100 Jahre erhalten und wurde erst beseitigt, nachdem das Theater in den Besitz der Stadt übergegangen war.

Über die kurze Bauzeit berichtete ein unter dem Dach des Gebäudes angebrachter Stein, der die Aufschrift „VOM XI. APRIL BIS DEN XXIII. JUNI MDCCLXVIII IST DIESES MAUERWERK AUFGEFÜHRT WORDEN“ trug. Unter diesem Stein fand man bei dem Abtragen der Gebäuderuine im Mai 1954 eine Kupferplatte und eine Blechbüchse. Die Inschrift auf der Platte war lateinisch und lautet, ins Deutsche übertragen: „WILHELM, Landgraf von Hessen, Erbprinz, Graf von Hanau, der fromme glückliche erhabene Fürst hat durch eine hochherzige Spende ein Theater für die zu veranstaltenden öffentlichen Spiele und szenischen Aufführungen dessen Gründung im Anfang des Jahres 1768 und dessen Vollendung im Ausgang des Sommers geschah für den gesamten Chor der Musen und Tugenden geweiht.“

In der Bleibüchse fand man ein größeres und ein kleineres Päckchen von graugrünem Löschpapier, von denen das größere sechs verschieden große silberne und eine kupferne Münze und das kleinere eine Goldmünze enthielt. Alle diese Münzen waren in der Hanauer Münze neben dem Frankfurter Tor geprägt worden.

Von der ersten Aufführung im neuen Komödienhaus erfahren wir in den Memoiren des Erbprinzen, der hier am 17. Oktober 1768 schreibt: „Während meiner Abwesenheit Eröffnung der Comédie francaise im neuen Theater, spielt den ganzen Winter. Direktor Kyraski. Marie hat viel Plaisier, ebenso der Adel, der gratis hingehen darf.“ In der in Hanau erscheinenden „Europäischen Zeitung“ aus dem Jahr 1768 ist über diese Aufführung nichts zu erfahren. Erst in der Ausgabe vom 26. Dezember 1768 wird hier im Zusammenhang mit dem Besuch des dänischen Königs über zwei Aufführungen am 22. und 23. Dezember 1768 berichtet:

„Des Abends (22.) gefiel es dem Monarchen, sich in Gesellschaft unserer gnädigsten Herrschaft in das Comödien-Hauß zu begeben und das auf Höchstdero Befehl aufgeführte Französische Lustspiel ‚La Partie de, Chasse de Henri IV.’ nebst der Opera Comique ‚Rose et Colas’ aufführen zu sehen; worüber Ihro Majestät Dero gnädigste Zufriedenheit bezeigten.“ - „Gegen 6 Uhr des Abends (23.) erhuben sich Ihro Majestät abermal in die Comödie, wo auf gnädigstes Verlangen die ‚Zaire’ und zum Nachspiel die Comische Oper ‚Le Tonnelier’ vorgestellet wurde. Nach geendigtem Schauspiel und eingenommener Abendmahlzeit nahm der masquierte Bal in dem zu dem Ende herrlich erleuchteten hiesigen Comödien-Hause seinen Anfang und wurde bis 6 Uhr des Morgens fortgesetzt. Ihro Majestät wohnten demselben nebst unseren gnädigsten Herrschaften bis gegen 3 Uhr bey . . .“. Bei diesem Ball ist die Hebevorrichtung des Theaters zum erstenmal verwendet worden.

Das damalige Theaterrepertoire war vorwiegend französisch; auch die Bernardische Truppe, die 1770 die von Kyraski ablöste, spielte fast ausschließlich französische Werke. Erst nach dem Tode der Landgräfin Marie im Januar 1772 kamen auch deutsche Stücke zur Aufführung.

Im Frühjahr 1777 war Adolf Freiherr von Knigge, aus Kassel kommend, in Hanau eingetroffen. Hier versuchte der Schriftsteller vergeblich in Hofdienste zu treten, so wie er ab 1771 in Kassel Hofjunker und Assessor gewesen war. Sein bekanntestes Werk „Über den Umgang mit Menschen“ wie sein „Roman meines Lebens“ sind teilweise in Hanau geschrieben worden. Im Jahre 1777 wurde unter der Leitung des Freiherrn Adolf von Knigge, der damals als „maitre de plaisier“ am Hofe angestellt war, eine Truppe zusammengestellt. Knigge brachte es dann fertig, daß nicht nur im Hanauer Komödienhaus weiterhin regelmäßig Theater gespielt, sondern auch im Residenzschloß ein Theatersaal eingerichtet wurde, auf dessen Bühne am 28. November 1778 die erste Vorstellung stattfand.

Nach dem Tode des Landgrafen Friedrich II. zog Erbprinz Wilhelm nach Kassel, und damit ging auch die Blütezeit des Hanauer Theaters zu Ende. Nur wenig wissen wir über das Leben und Treiben im Komödienhaus in der Zeit zwischen 1785 und 1877.

Im Jahre 1794 mußten vorübergehend 200 verwundete und kranke Franzosen darin untergebracht werden, da es noch immer keinen geeigneteren großen Saal in der Stadt gab. Nach der Schlacht bei Hanau im Jahre 1813 diente das Theater nochmals als Lazarett. Im Jahre 1817 wurde eine größere Wiederherstellungsarbeit am Gebäude nötig, wobei der südliche Teil wegen schlechter Fundamente abgebrochen werden mußte, dann aber wieder in der alten Form aufgebaut wurde.

Im Jahr 1866 schließlich sollte das Theater für die Zeichenakademie erworben und umgebaut werden.

Doch gelang es nach langen Kämpfen im Jahre 1872, es der Stadt als Theater zuzusprechen. Das bedeutete, daß die Stadt es nun an einen Direktor verpachten konnte. Als erster Theaterdirektor wurde der Hanauer Commissionsrat Daniel Frey, der damals in Berlin lebte, verpflichtet. In der Folgezeit übergab die Stadt die Leitung des Stadttheaters an Direktoren (später Intendanten), von denen einzelne einen vorzüglichen Ruf in der Theaterwelt genossen. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts spielten nur Wandertruppen im Hanauer Theater, die meistens für ein oder zwei Jahre hierblieben.

Und dann kam das Ende. Im August 1944 wurden alle Theater geschlossen, auch das Hanauer. Der für die Spielzeit 1944/45 neu verpflichtete Intendant Gerhard Zimmermann konnte nur noch die Auflösungsarbeiten leiten ... Und zuletzt trafen die Bomben das Gebäude am 6. Januar 1945. Die Ruine stand noch bis in den Mai 1954. Aus dem Wiederaufbau wurde nichts mehr; die Trüm­mer wurden beseitigt. Kein Fremder, der heute nach Hanau kommt, ahnt, was wir Hanauer mit der Vernichtung unseres Musentempels verloren haben.         

Bild in. Hanau Stadt und Land, Seite 442: Das Theatergebäude in Hanau, nach dem Umbau von 1904. Die kleine Anlage am Stadttheater hieß „Erbprinz-Wilhelm-Anlage“.

 

Die Hohe Landesschule:

Universitäten und Schulen sind von jeher geistige Mittelpunkte im Leben einer Stadt gewesen. Seit dem 14. Jahrhundert gibt es in Deutschland Universitäten. Nach der Reformation bemühten sich die protestantischen Landesfürsten, durch die Errichtung von neuen Landesuniversitäten dem wissenschaftlichen und kulturellen Leben neuen Auftrieb zu geben. Im heutigen Hessen war es neben der Universität Marburg im 16. Jahrhundert besonders die Hohe Schule in Herborn, die Studenten aus allen reformierten Ländern anzog.

Unter den Schülern der Herborner Schule war auch der junge Graf Philipp Ludwig II. Nach dem Vorbild von Herborn wollte er in Hanau eine Schule errichten. Schon im Frühjahr 1612 hatte man mit den Bauarbeiten am Gymnasium, das eine großangelegte Bildungsstätte werden sollte, begonnen. Als Bauplatz war der Baugrund über dem ehemaligen Stadtgraben vor der Stadtmauer am Ende der Judengasse bestimmt worden, an der heute aber nicht mehr bestehenden Schirn­straße.

Jede kleine Herrschaft versuchte, eine „Hohe Landesschule“ einzurichten, die fast so etwas wie eine Universität sein sollte. Eine repräsentative Schule gehörte zum Staatswesen wie Schloß, Theater oder die zentrale Kirche. Um die Hohe Landesschule zu unterhalten, wurde aber von den Gemeinden der Grafschaft eine Umlage erhoben. Die Gemeinden mußten dann sehen, wie sie das Geld aufbrachten. Die Gemeinden erhoben dann ihrerseits Umlagen. Geldquellen waren der Weinschank und kirchliche Amtshandlungen, besonders bei Sonderwünschen. Die Abgaben dienten auch dazu, die Schule im Bewußtsein der Bürger zu verankern und ihren Stolz auf die Schule zu wecken.

Doch Graf Philipp Ludwig II. starb im Jahre 1612, wenige Wochen nach der Grundsteinlegung zu einem neuen Schulgebäude. Der frühe Tod des kunstsinnigen und humanistisch denkenden Grafen Philipp Ludwig II., des „Gründers der Neustadt“, unterbrach den kaum begonnenen Bau. Das Kellergeschoß und das Sockelgesims des Unterbaues waren allein fertig geworden. Der Sockel des Gymnasiums zeigte schwere Rustikagliederung.

Der Dreißigjährige Krieg verhinderte einen Ausbau der Schule; bei der Einweihung der „neuen Akademie“ im Jahre 1623 bestand der Lehrkörper aus vier „Professoren“. Erst unter Friedrich Kasimir von Hanau-Lichtenberg fand der Schulbau endlich seine Vollendung. Am 28. August 1663 wurde der Baumeister Rumpf mit der Herstellung eines Risses beauftragt. Quader- und Mauersteine, „120 Riegen bretter und 95 böden allerley Gattung Holz“ kamen den Main herunter.

Das Gymnasium war ein dreigeschossiger, hoher Bruchsteinbau. Der Eindruck des gewaltigen Gebäudes war bestimmt durch die harmonischen Proportionen, die klare Gliederung und die großen Fenster. Das steile Schieferdach mit einem Dachreiter und einer volutenverzierten Gaube nach Süden gab dem Steinbau einen architektonischen Akzent.

Den künstlerischen Hauptschmuck des Baues bildete das an der Hofseite gelegene Sandsteinportal. Das in seinem strengen Aufbau altertümlich wirkende Renaissanceportal (Bild in: Hanau Stadt und Land, Seite 438) schuf der Steinmetzmeister Caspar Klunzig, der seinen Namen am Hauptgesims uns überliefert hat. Neben den Wappen in der Portal-Bekrönung unter dem Sprenggiebel steht die Jahreszahl 1665. Auch an diesem Portal finden wir die für die Neustadthäuser so charakteristischen Obelisken. Die Ornamentik um die Schrifttafel und die Wappenbekrönung zeigt Rollwerk, geht aber schon zum Ohrmuschelstil über. Besonders die Fratze als Schlußstein über dem Eingang ist typisch für die Zeit um 1660.

Schulen gibt es zunächst nur in den Städten. Nach dem Dreißigjährigen Krieg wird die „neue Schul“ in Hanau, die Hohe Landesschule gegründet und wird von den Dörfern unterstützt. Hochstadt muß jährlich vier Gulden geben. Beim  Weinschank wurde eine Abgabe von dem außer Landes verkauften Wein erhoben, um die Beiträge für die Hohe Landesschule aufzubringen

In der Kirchenrechnung Hochstadt von 1612 erscheint unter „Ständige Ausgaben“: Hohe Landesschule Hanau ein Gulden. Hochzeitleute müssen generell einen Betrag an die Hohe Landesschule zahlen.  Der Schulmeister muß am Hochzeitstisch das Geld einsammeln. Die Haustaufen müssen extra bezahlt werden.  Außerdem muß auch noch etwas für die Hohe Landesschule gegeben werden. Im Jahre 1803 werden einige Gemeinden von den Zahlungen an die Hohe Landesschule entlastet, aber Hochstadt muß noch zwei Gulden zahlen. Die Zahlungen werden 1820 eingestellt, aber 1822 bekommt die „Hola“ wieder vier Gulden.

Der Herborner Professor Ganterswiler erhielt 1664 seine Bestallung als Professor der Theologie und Philosophie. Zeitweise waren nun an der Schule  alle vier Fakultäten mit Professoren besetzt. Heidelberg und Marburg sollten mit ihren Statuten als Vorbild zur Errichtung einer Universität dienen. Doch der Plan des Grafen Friedrich Kasimir, beim Kaiser ein Universitätsprivilegium zu erwirken, scheiterte durch allerlei Intrigen. Das Gebäude war im Jahre 1664 fertig. Die Inauguration der „Hohen Landesschule“, wie die Anstalt nunmehr genannt wurde, fand am 21. Februar 1665 statt.

Die Versuche, in Hanau eine Hochschule oder gar eine Universität zu errichten, gehen neben der Tradition der gräflichen Lateinschule her, die seit dem Jahre 1538 bestand und deren Geschichte man in ununterbrochener Linie bis zur heutigen staatlichen „Hohen Landesschule“ verfolgen kann. Beide geschichtliche Überlieferungen vereinen sich in dem Begriff „Hohe Landesschule“. Seit dem Jahre 1671 waren an der „Hohen Schule“ die Einkünfte der Professoren von denen der Lehrer an der „Trivialschule“ getrennt. Beide Teile der Schule, das „obere Gymnasium“ und das „Pädagogium“ bestanden von nun an nebeneinander bis zum Jahre 1812.

Das Gebäude war schon 1912 durch einen Brand beschädigt worden. Das Dach brannte ab und wurde durch ein Notdach ersetzt. Die schweren Mauern des Gymnasiums überstanden auch gut den Zweiten Weltkrieg. Das Innere war allerdings ausgebrannt, das Portal blieb unbeschädigt erhalten. Erst im Jahre 1954 zerstörte man das Gebäude, indem man die noch festen Umfassungsmauern mit großer Mühe abriß.

Ein kostbares Stück zur Hanauer Kunstgeschichte und ein wichtiges Dokument zur Geschichte der Schule aber hatte sich an der Rückwand erhalten: Es ist das kunstvolle Portal mit den flankierenden Säulen und Obelisken, mit den beiden Wappen und der Inschrift, die von der Existenz der alten Schule kündet. Es wurde vor der Beseitigung der Ruine ausgebrochen und wurde an der neuen Schule am Alten Rückinger Weg eingebaut (Bild in: Hanau Stadt und Land, Seite 147 und 438). (Gerhard Bott in: Hanau Stadt und Land, herausgegeben vom Hanauer Geschichtsverein 1954, Seite 437-438, und Chronik Heckert: Aus dem Leben der alten Hochstädter).

 

Die Hohe Landesschule ist Versammlungsort bei der sogenannten „Hanauer Union“, der Vereinigung der reformierten und lutherischen Kirchengemeinden im Hanauer Gebiet. Am 28. Mai 1818 zieht die Versammlung vom reformierten Konsistorium neben dem Neustädter Rathaus zur Aula der Hohen Landesschule, wo die Vertreter der beiden Konsistorien schon anwesend sind. Die Kirchliche Vereinigung wird beschlossen. Freudentränen fließen bei den Pfarrern der nun vereinigten Kirchen. Am 1. Juni wird die Synode geschlossen. Der Landesfürst bestätigt die Vereinigung am 4. Juli 1818.

Ein Schüler der Hola ist auch Horst Bingel: Sein Vater lehrt später an der Brüder-Grimm-Schule und zieht dann ganz nach Hanau. Horst Bingel besucht die Hohe Landesschule in Hanau bis zur mittleren Reife. Danach macht er eine Lehre im Verlagsbuchhandel. An der Zeichenakademie studiert er zwei Jahre Malerei und Bildhauerei. Nebenbei schreibt er Gedichte. Es erscheint „Der kleine Napoleon“. Gleich nach der Schule wird Horst Bingel Schriftsteller. Sein Äußeres macht ihn im Dorf zum Außenseiter: Die Haare gehen „bis zum Hintern“, wie er selber bei einem späteren Besuch in Hochstadt sagt. Auf dem Fahrrad oder zu Fuß ist er immer in Schlappen unterwegs. Auch am späten Nachmittag kann man ihn noch im Morgenrock über die Straße gehen sehen.

 

Synagoge:

Bereits im Mittelalter bestand eine kleine jüdische Gemeinde. Eine Synagoge, beziehungsweise ein Betraum, war bereits vorhanden, die Synagoge wurde von Ulrich II. von Hanau 1362 als Burglehen verliehen. Im Jahre 1608 konnte eine neue Synagoge erbaut werden. Im Jahr 1845 erstellte man am Platz der alten einen Neubau, die Einweihung der Synagoge war im Herbst 1845. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg plante die Gemeinde einen Neubau auf dem Grundstück des Gymnasiums der Stadt. Der Krieg zerschlug die Pläne, die bestehende Synagoge wurde 1922 umgebaut und erweitert. Sie stand in der Nordstraße (die an der Nordostseite des Freiheitsplatzes beginnt) in der Kurve, wo jetzt eine Autoreparaturwerkstatt ist. Bereits vor dem Novemberpogrom 1938 kam es zu Anschlägen. Im Mai 1938 wurden die Syna­gogen­eingänge zugemauert. Am 9. November 1938 wurde das Haus geschändet und niedergebrannt.

Nach 1945 wurde das Grundstück neu überbaut, eine Gedenkstätte wurde 1964 gegenüber dem Synagogenstandort eingeweiht und 2003 neu angelegt. Gegenüber der früheren Synagoge zwischen den  Hecken einer kleinen Grünanlage befindet sich der Gedenkstein für die alte Hanauer Synagoge. An dieser ­Stelle stand früher die erste Synagoge, deren Inschrift überliefert ist.  An einem Stück der Gettomauer kann man vorbeigehen an dem Weg nördlich der Polizeidirektion zur Main - Kinzig-Halle. Am Ende dieses Weges stehen noch die Fundamente des Hexenturms.

An der Halle vorbei kommt man in den Sandeldamm. Dort geht man rechts weiter und kommt nach einer Linkskurve zum jüdischen Friedhof auf der linken Seite. Vom Nachbargrundstück aus kann man über die Mauer sehen. Den Schlüssel erhält man bei der Friedhofsverwaltung am Hauptfriedhof.

Knapp 20 jüdische Einwohner waren Mitte der sechziger Jahre in der Stadt noch gezählt worden. Erst im April 2005 kam es wieder zur Gründung einer neuen Gemeinde. Kurz nach der Neubegründung konnte die entstandene jüdische Gemeinde ein Gemeindezentrum mit Synagoge im Empfangsgebäude der ehemaligen Zahnradfabrik  Schwahn einrichten.

 

Kollegienbau:

Der erste Bau, den Wilhelm 1768 am Paradeplatz errichtete, war der „Collegien­bau“, das Amtsgebäude für die gesamte Verwaltung der Grafschaft. Der monumentale Bau, der die Ostseite des Platzes einnahm, wurde 1858 zur Infanteriekaserne umgebaut bzw. der Collegienbau in die Kaserne eingebaut. Im Jahre 1945 wurde die Kaserne zum Behördenhaus mit dem Finanzamt und anderen behördlichen Stellen. Im Jahre 1954 konnte man die Ausdehnung des Kollegienbaus noch genau in dem Baugefüge der Kaserne erkennen: Ein Mittelrisalit von drei Achsen war vor die Fassade gezogen, eine geschwungene Freitreppe lag vor diesem Mittelteil. Die „neugotischen“ Formen wurden beim Wiederaufbau des „Behördenhauses“ weitgehend beseitigt. An der Südwestecke des Behördenhauses sind heute zwei alte Stadtansichten zu sehen.

Zeughaus:

Das Zeughaus auf dem Platz vor dem Kollegienbau wurde 1777 von Cancrin erbaut. Es war ein reiner Zweckbau. Das hohe Mansarddach gab ihm die charakteristische Silhouette. Es wurde 1945 zerstört. An der Nordostecke des Platzes (heute: Gewerkschaftshaus) stand das Gymnasium in der (heute nicht mehr vorhandenen) Schirnstraße.

 

Alte Stadtpläne am Finanzamt:

Obwohl der Plan von Johann Jacob Müller (Seite 23) aus dem Jahr 1780 stammt, sagt er viel über die heutige Stadt aus. Noch heute umfließt die Kinzig in einem weiten Bogen den Stadtkern; die Grünflächen am Fluß haben sich bis heute als Kleingärten und Felder erhalten; mitten durch die „Milch“ wo einst die Mühlen standen, führt uns der Hessenradweg in Richtung Innenstadt. Wie man auf dem „Müllerplan“ von 1780 sieht, zerfällt Hanau in zwei Teile: Zum einen in die verwinkelte Altstadt, die von der im 12. Jahrhundert erbauten Wasserburg der Herren von Hagenowe ihren Ausgangspunkt nahm und sich entlang einer hochwasserfreien kleinen Erhebung Richtung Süden entwickelte und im Plan auf der linken Seite zu sehen ist.

Diese Altstadt war lange ein bescheidenes Provinznest. Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, daß Hanau 1303 Stadtrechte erhielt, die Grafen die Stadt 1442 zu ihrer Residenz machten und mit dem (wiederaufgebauten) ehemaligen alten Rathaus, dem heutigen Goldschmiedehaus, und der spätgotischen Marienkirche, deren kunstvolles Maßwerk und Fenster wie ein Wunder der Zerstörung entgangen sind, städtische Akzente setzten.

Der entscheidende Umschwung in der Stadtentwicklung trat 1597 ein. Der aufgeklärte junge Graf Philipp Ludwig II. entschied, daß aus den Spanischen Niederlanden vertriebene calvinistische Glaubensflüchtlinge vor den Toren der Hanauer Altstadt eine Neustadt errichten durften. Die Refugies erbauten auf einem im Schachbrettmuster angelegten Grundriß die erste „Idealstadt“ in Deutschland mit vielen repräsentativen Gebäuden, die von der wallonisch-niederländischen Doppelkirche, in der bis zum Jahr 1914 noch in französischer Sprache gepredigt wurde, überragt wurde. Der idealstädtische Grundriß erkennt man deutlich auf dem „Müllerplan“. Viele Besucher Hanaus glauben, daß diese Struktur den Wiederaufbaubemühungen nach dem Zweiten Weltkrieg zuzuschreiben sei.

 

Südseite des Freiheitsplatzes:

An der Südseite des Freiheitsplatzes liegt ein großer runder Stein mit einer Inschrifttafel. Sie weist darauf hin, daß schräg gegenüber vor dem Kino (heute Stadtmetzgerei) sich das Geburtshaus der Brüder Grimm befand. Hier wurde Jakob Grimm am 4. Januar 1785 und Wilhelm Grimm am 24. Februar 1786 geboren. Hanauer Bürger ließen das Haus im Jahre 1871 mit einem Bronzerelief der Brüder und einer Marmortafel mit Inschrift schmücken. Am Eingang der heutigen Fahrstraße war die Philipp-Ludwig-Anlage mit dem Röhrbrünnchen. Das Haus Nummer 7 hieß „Zur buckligen Farbe“ (heute: Reformhaus).

 

Bebauung nach dem Krieg:

Obwohl es nach dem Krieg und dem Wiederaufbau der Innenstadt auch Pläne gab, den Freiheitsplatz nach fast 200-jähriger Unterbrechung weiter zu bebauen, sah die Praxis dann doch anders aus. Man setzte, vor allem nach dem Abriß des Stadttheaters eher auf einen Randbebauung. So entstand anschließend an das inzwischen als Kaufhaus Hansa firmierende Warenhaus das Arbeitsamt, anstelle des Stadttheaters wurde zur Marktstraße an der Nordwestseite hin das BfG-Hochhaus errichtet.

Im Süden des Freiheitsplatzes entstand ein Riegel von Wohnblocks, die zumindest zwischen Fahrstraße und Hammerstraße von durchaus hoher architektonischer Qualität sind. Dabei wurde auch die Südseite des Platzes, wo sich früher die Philipp-Ludwig-Anlage befand, „begradigt“.  Damit wurde aber auch die heutige Platzsituation sozusagen zementiert, die Anlage hatte sich einst zur Neustadt hin geöffnet, heute hat der Platz eher einen „Handtuchcharakter“. Wo der Erbprinz einst ein repräsentatives Zentrum seiner Residenzstadt Hanau geplant hatte, sollten fortan die Autos parken und Busse halten.

Dem automobilen Zeitgeist der frühen Bundesrepublik entsprechend, befand sich das Kaufhaus Hansa, später Hertie, heute Karstadt also genau an der richtigen Stelle, nämlich dort, wo der Verkehr hinfloß. Bei einer Bebauung des Freiheitsplatzes wird man heutigen Perspektiven gerecht werden müssen. Sowohl was den ungehinderten Individualverkehr betrifft, als auch die Strukturen eines modernen Warenhauses, so hat sich die Sichtweise deutlich geändert. Mit entscheidend für den Erfolg des geplanten Stadtumbaus wird dabei, ebenso wie vor 80 Jahren, die Qualität der Architektur sein, welche die Menschen, oder besser: die Kunden nach Hanau locken soll.

 

Archäologische Funde:

Wegen der Umgestaltung des Freiheitsplatzes waren Bodeneingriffe auf einer Fläche von 300 mal 100 Meter nötig. Archäologisch betrafen sie vor allem die südliche Befestigung der Altstadt.

Bei einer der Probebohrungen an der Nordseite des Freiheitsplatzes ist im März 2010 ein Stück Stadtmauer zum Vorschein gekommen. In vier Metern Tiefe hat das Grabungsteam die drei letzten Steinlagen der unteren Fundamente und damit einen 40 bis 50 Zentimeter hohen Rest der Stadtmauer freigelegt. Mit einem solchen Fund hat man gerechnet. Allerdings erstaunte, daß die Festungsmauer viel schmaler sei als nach den historischen Plänen zu erwarten war.

Legt man den historischen Plan von Christoph Metzger aus dem Jahr 1735 an, liegt das freigelegte Stück Mauer nicht genau dort, wo Stadtmauer oder die der Mauer vorgelagerten Rondelle einst verlaufen sind. Entweder haben die Pläne und Stiche bei der Befestigung rund um die Altstadt überzogene Größenmaße vorgegaukelt  oder die gefundenen Steine gehörten zu Mauerresten. die in der Nähe der Stadtmauer verliefen.

Auf zeitgenössischen Karten ist bildlich dargestellt, wie am Freiheitsplatz bis Mitte des 18. Jahrhunderts die Befestigungen der Alt- und der Neustadt aufeinandertreffen, geprägt durch Bastionen und getrennt durch Wassergräben. Erbprinz Wilhelm ließ diesen militärisch überflüssigen Abschnitt der Befestigung beseitigen und eine Esplanade anlegen. Sie sollte der zentrale Stadtplatz seiner Residenzstadt werden und im östlichen Teil (heute Busbahnhof) als Paradeplatz dienen. Doch blieben die Ausbaupläne in den Anfängen stecken, denn 1785 beerbte Wilhelm seinen Vater und ging als Landgraf nach Kassel.

 

Das ursprüngliche Gelände hat dort früher etwa anderthalb Meter tiefer gelegen und wurde später verfüllt. Es gibt Fundamentreste von beeindruckendem Ausmaß, die zu einer äußeren und einer inneren Festungsmauer im Bereich der Bastion in der Verlängerung der Marktstraße gehören.

Dies wurde im Zuge der „Aufrüstung“ der Hanauer Altstadt im frühen 16. Jahrhundert der mittel­alterlichen Stadtmauer vorgelagert. Davor wiederum lagen die Äcker, Gärten und Wingerte der Altstadtbewohner, die 1597 der Neustadt weichen mußten.

In diesen Zusammenhang ist möglicherweise auch eine vor den Festungsmauern verlaufende gepflasterte Straße zu sehen, die jetzt deutlich unter der heutigen Geländeoberkante freigelegt wurde. Ihre tiefen Spurrillen lassen auf eine lange Benutzung schließen. Sie wurde beim Bau des großen Rondells samt Wassergräben von 1527 bis 1531 nicht ausgebaut und blieb innerhalb der Bastion erhalten.

Um 1850 wurde quer über den Paradeplatz ein Kanal verlegt. An dessen nördlicher Seitenwand nutzte man die innere Festungsmauer. Die Kanaldecke sowie ein freigelegter Revisionsschacht sind gleichfalls aus dem Bruchsteinmaterial der Festungsmauer errichtet.

Doch auch die jüngere Geschichte spiegelt sich in der Grabung wider. Reste der ausbetonierten Splittergräben aus dem Zweiten Weltkrieg kamen ebenso zutage wie verfüllte Bombentrichter. Zur Sicherheit hatte vor Grabungsbeginn erst einmal der Kampfmittel-Räumdienst das Gelände begutachtet und grünes Licht für die Arbeiten gegeben.

Daß man sich in der Bastion am Ende der Marktstraße befindet, ist sicher. Jetzt fehlen nur noch die Details. Der Ausgräber braucht einen markanten Punkt, etwa eine Gebäudeecke, um den Verlauf der Mauern anhand der historischen Pläne exakt einmessen zu können.

Man hat erwogen, das Pflaster durch ein so genanntes „archäologisches Fenster“ in der geplanten Bebauung oder bei der Neugestaltung des Platzes sichtbar zu machen. Die Kleinfunde wie Keramikteile, Murmeln und ein Hufeisen sollten ihren Platz in Vitrinen des neu entstehenden Portals Stadtgeschichte der Stadtbibliothek finden.

Wider Erwarten ist kein Fließwasser festgestellt worden, wie oftmals von alten Kinzigarmen vermutet. Über die Jahrhunderte und Jahrzehnte muß der Grundwasserspiegel in dem Bereich erheblich gesunken sein.

 

Bei den Grabungen am Nordrand des Platzes im Juli 2012 sind die Archäologen auf die Reste der uralten Wehrtürme und Mauern der Altstadt gestoßen. Dabei legten sie auch eindrucksvolle Belege für die Lage der Stadt Hanau an verschiedenen Fernstraßen frei. Teile dieses Gassenpflasters sind ausgesprochen gut erhalten. Einer in den Archiven verwahrten Handwerkerrechnung aus dem Jahr 1476 kann nun exakt das dazugehörige Mauerstück zugeordnet werden. Und diese Mauer kappt gewissermaßen eine zeitlich davor existierende Straße. Das zeugt davon, daß nicht nur heute, sondern bereits vor über 500 Jahren gravierende Veränderungen im Weltgeschehen stattgefunden haben.

 Zu Beginn der Renaissance erforderte die Verteidigung einer Stadt ganz andere Parameter als zuvor, bedingt durch das immer stärkere Aufkommen von Feuerwaffen. So fand man eine perfekt erhaltene Schießscharte aus Sandstein, bei der sogar noch die Führungen für zusätzliche Verschmälerungen zu erkennen sind. Ein Beweis: Musketen ersetzten Kanonen. An jenen Turm mit der Schießscharte reichte einst auch der Wassergraben heran, gebildet von einem alten Kinzig­arm.

Im Jahr 1768 aber war diese Wehranlage bereits Geschichte. Nach der Schleifung gründeten sich auf seinen Fundamenten auch jene des alten Gewandhauses, das ein Teil des historischen Hanauer Theaters war. Später stand in etwa auf jenem Gebiet das „Central-Kino“ und heute das Rodenbacher Theater „Steins Tivoli“ an. Möglicherweise legen die Steins die Außenmauer des Gebäudes teilweise frei, und dann stehen die erhaltenen Reste der Stadtmauer an dieser Stelle auch wieder im Lichte der heutigen Zeit.

Es gab Überlegungen, aus der Ausgrabungsstelle am Freiheitsplatz ebenfalls eine Art Freilichtmuseum zu machen, so etwas wie einen „Geschichtspark“. Die Idee stößt allerdings auf ein gravierendes Problem: die Bodenhydraulik. Durch aufsteigende Feuchtigkeit würde das Gebilde schnell zum „Gewächshaus“ für Algen, die Mauern genau das tun, was sie über 500 Jahre lang nicht getan haben:  verrotten. Und die Reste der historischen Hanauer Stadtmauer aus der Renaissancezeit werden ohnehin verschwinden, denn dort liegt genau die Parkebene eins der geplanten Forums-Tiefgarage. Man denkt aber auch an die Möglichkeit, etwa Teile der versunkenen Wehranlage auszugraben, zu konservieren und andernorts auszustellen.

Von all diesen Plänen ist nur die Rekonstruktion einer vormittelalterlichen Straßenkreuzung in einem Betonblock an der Nordseite vor dem ersten Bau (Kulturforum) vorgesehen. Leider ist auch die Symmetrie der Plätze in der Neustadt gestört, denn die neuen Bauten auf dem Freiheitsplatz stehen auf der Höhe des Marktplatzes. An der Ecke zur Hammergasse ist noch ein Baum stehen geblieben, unter dem Tische und Stühle zum Verweilen stehen. Ein Übergang im ersten Stock führt zu den Geschäften auf dem ehemaligen Karstadtgelände, an dessen Ende das Parkhaus ist.

Eine militärische Karte war vom Vermessungsamt der Stadt skaliert und auf den modernen Katasterausschnitt der südlichen Altstadt Hanaus übertragen worden. Aber weder die Ausmaße noch die genaue Lage der mittelalterlichen und renaissancezeitlichen Befestigungen stimmte mit der Planprojektion überein. Die Ungenauigkeit ist darauf zurückzuführen, daß die Plangrundlage zu einem Zeitpunkt entstanden war, bevor große bauliche Eingriffe und zuletzt auch noch die Kriegszerstörung das lokale Stadtbild nahezu vollständig verändert hatten. Zudem war jetzt im Ergebnis zu konstatieren, daß auch die Plangrundlage zwar die wesentlichen Bestandteile der Befestigungen zeigte, eine Maßgenauigkeit in sich jedoch nicht gegeben war.

Dieser südliche Befestigungsabschnitt der Hanauer Altstadt hatte schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts seine Funktion verloren. Mit der Projektierung der Hanauer Neustadt am Ende des 16. Jahrhunderts und der Gesamtbefestigung von Alt- und Neustadt mit bastionierten Festungswerken des Barock lag dieser Befestigungsabschnitt nun zwischen der Altstadt Hanau und der Neustadt Hanau.

 

Umbau und Erweiterung der Befestigungsanlage erfolgten ab den 1520er Jahren und wurden von Graf Philipp II. und Baltasar von Hanau-Münzenberg beauftragt. Nach dem Tode Graf Philipps II. im Jahre 1529 übernahm der zeitweilige Vormund seiner Kinder, Graf Reinhard von Solms, die Ausführung des Baus. Letzterer war bereits als Festungsbaumeister in Büdingen und Lich tätig gewesen.

Die spätmittelalterlichen Mauern waren einem Angriff mit den zu dieser Zeit neuartigen Feuerwaffen nicht gewachsen. Es wurden vor den Mauern Bastionen angelegt, die zum einen zur Aufstellung von Kanonen dienten und zum anderen bei Beschuß nicht gleich zu Breschen führten. Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts wiesen die Bastionen eine halbrunde Form auf (sogenannte „Rondelle“), danach setzte sich eine spitzwinklige Bauweise durch (Bastion im engeren Sinn). An der Festung Hanau können beide Formen festgestellt werden: Nach Süden ragten drei Rondelle aus der Umfassung der Altstadt hervor, im Osten und Westen wurde die spitzwinklige Variante gebaut.

Im Bereich des heutigen Freiheitsplatzes mit dem östlich angrenzenden Busbahnhof befanden sich das mittlere und das östliche Rondell. Auf der Darstellung von Abraham Saur aus dem Jahr 1595 ist ein Blick auf die Festung Hanau von Süden dargestellt. Im Vordergrund sind die Bastionen mit dem vorgelagerten Wassergraben erkennbar. Das Innere des mittleren Rondells war mit Erde aufgeschüttet und wies keine Bebauung auf. Auf das östliche Rondell führte eine schräg über den Graben verlaufende Brücke. Laut einer bis nach 1945 erhaltenen Inschrift war das „Neue Tor“ auf der östlichen Bastion 1531 fertiggestellt worden.

Der aus dem Jahr 1636 stammende Merian-Plan zeigt im Bereich des heutigen Freiheitsplatzes ein von zwei Türmen flankiertes Gebäude mit Satteldach. Möglicherweise handelte es sich bei dem Gebäude bereits um das Zeughaus. Auf dem sogenannten Metzgerplan von 1684 / 1735 ist das Zeughaus als annähernd quadratischer Bau mit einem weiteren Turm im Süden dargestellt. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde die Bastion zwischen Alt- und Neustadt niedergerissen Es entstand ein freier Platz mit Esplanade, der lange weitgehend unbebaut blieb.

 v

Noch bevor im Herbst 2012 am Freiheitsplatz die große Aushubmaßnahme begann, waren die im Platz befindlichen Leitungsbahnen durch neu verlegte in den um den Freiheitsplatz verlaufenden Straßen ersetzt worden. Als erste große Gräben im Straßenraum nördlich des Freiheitsplatzes ausgehoben wurden, kamen Mauerbefunde aus Basaltbruchstein zum Vorschein, deren Abbruchkronen unmittelbar unter dem modernen geringmächtigen Straßenaufbau lagen (Straßenniveau um 104 Meter ü. NN).

Es handelte sich dabei um die noch in spätmittelalterlicher Tradition ausgeführte Vorstadtberingung aus dem ausgehenden 15. Jahrhundert. Ihrem Verlauf folgten die Bangertstraße und die Schirnstraße (heute „Am Freiheitsplatz 6-12“) auf der Südseite der Altstadt noch bis in die Moderne. Die Vorstadtmauer diente in den folgenden Jahrhunderten zumeist als Rückseite von Bürgerhäusern. Dieser Umstand war der Erhaltung des spätmittelalterlichen Berings zum Teil abträglich. Große Teile und Abschnitte blieben jedoch erhalten. Im Süden der Altstadt verlief der spätmittelalterliche Vorstadtbering in einer Entfernung von etwa 30 - 40 Meter vor der mittelalterlichen Stadtmauer.

 

Die Marktstraße vor dem mittelalterlichen Kinzigtor hatte man nach Süden um etwa 40 Meter verlängert. Dort war ein weiter Torzugang in der Vorstadtbefestigung angelegt worden. Bewehrt war dieser Zu- und Ausgang mit zwei Türmen. Der östliche Turm wurde genau in der heutigen Achse der Marktstraße angetroffen. Die Schirnstraße, die seit 1945 nicht mehr existiert, folgte von diesem Ostturm aus dem Mauerverlauf bis zum „Neuen Tor“.

Der gleich zu Anfang im Bereich der ehemaligen Schirnstraße (heute „Am Freiheitsplatz 6 - 12“) freigelegte Mauerzug hat eindeutig einen Abschnitt der am Ende des Spätmittelalters gebauten Vorstadtbefestigung gebildet. Der Mauerzug konnte in den Bauflächen am Freiheitsplatz über 140 Meter weit nachgewiesen und über einen Großteil dieser Strecke auch archäologisch bearbeitet werden. Dieser zuerst angetroffene Mauerzug (etwas östlich zur Einmündung in die Marktstraße) zeigte eine Stärke von insgesamt etwa 2,50 Meter.

In der Oberflächenstruktur der Abbruchkrone wies er eine Baufuge auf, die den Baukörper etwa 2 : 1 teilte. Es handelte sich demnach um zwei aneinandergefügte Mauerkörper, deren Verlauf W-O orientiert war. Die nördliche Setzung erreichte nach etwa 1,30 Meter unterhalb der modernen Straßenoberfläche ihre Fundamentierung (102,85 Meter ü. NN). Drei horizontal parallel verlaufende langrechteckige Hohlräume gehen an der Fundamentbasis auf eine einstmalige Mauergründung mittels Holzrost im anstehenden sandig-kiesigen Sediment der Sandbank zurück. Die Hölzer waren vergangen, die Hohlräume und die Balkenabdrücke am Mörtel sind sichtbar geblieben. Die Hölzer bestanden den Resten zufolge aus Nadelholz, waren quadratisch zugerichtet worden und hatten Kantenlängen von 15-20 Zentimeter aufgewiesen. Weitere Hohlräume waren unter dem nördlichen Bauteil der Mauer festzustellen.

Bei der Untersuchung dieser Befunde stellte sich heraus, daß die Hohlraumbildung unter der nördlichen Mauer von vergangenen Pfahlbündeln herrührte, die hier eingerammt gewesen waren. Sie bildeten punktuelle Anker und stützten sowohl Rost als auch Mauerwerk. Demnach bestand im nördlichen linear verlaufenden Mauerteil ein anderes Konstruktionsprinzip als an dem angesetzten südlichen Mauerzug, dessen Unterkante vorerst nicht erreicht wurde. Die rund 0,70 Meter hoch erhaltene Mauer ließ sich auf nahezu 30 Meter verfolgen.

 

Der südliche Mauerkörper, der sich durch eine klare Trennlinie auf dem Niveau der Abbruchkrone absonderte, war deutlich schmaler und wie eine Blende vorgesetzt worden. Diese schürzenartige Mauersetzung war nicht absolut senkrecht, sondern sprang nach unten vor. Der Winkel von der Grabenseite aus betrug etwa 95 Grad, das heißt auf vertikales Gefälle von zwei Metern betrug der Versatz der Mauer etwa 20 Zentimeter nach Süden. Die Mauerschürze zeigte auf ihrer südlichen Seite eine sehr gute Oberflächenerhaltung. Diese Sichtseite wies einen Pietra-Rasa-Verputz auf. Dieser zeigte nahezu keine Verwitterungsspuren, daher ist anzunehmen, daß er nur wenige Jahre oder Jahrzehnte sichtbar gewesen war. Die Erhaltungstiefe der Mauer betrug zwischen zwei und drei Metern und unterschnitt ein davorliegendes Grabensediment. Ihr Gründungsniveau lag auf 100,5 Meter ü. NN, also etwa 2,30 Meter tiefer als ihr Gegenpart im Norden.

Die Dimension des Grabens war baubedingt nur schwer zu erfassen. Einzig im Bereich des Vorstadttores an der Marktstraße konnte der westliche Grabenkopf in seiner ursprünglichen Weite erkannt werden. Dort hatte sich das spätmittelalterliche Laufniveau erhalten, das eine ursprüngliche Grabenbreite von etwa 7 Meter belegte. Es handelte sich um einen einfachen Sohlgraben von 2 - 2,50 Meter Tiefe, der nach seiner Auflassung im Südabschnitt flächig und schnell mit Sand und Kies einplaniert worden war. So kamen in seinem humos geprägten schwarzbraunen Sediment nur wenige Artefakte zutage. In einem östlich gelegenen Abschnitt konnten jedoch noch im Sediment eingeschlagene Pfosten festgestellt werden, die für eine dendrochronologische Bestimmung vorgesehen wurden. 

Der Grabenkopf jedoch wies eine andere Verfüllung auf. Er strich in seiner Form leicht halboval an der Oberfläche aus und die Sohle steigt aus dem Bett schräg nach oben an. Hier waren hauptsächlich Basaltbruchsteine eingefüllt worden, die mit einer Sand-Kiesschicht abgedeckt worden waren. Dieses Grabenende mündete an einem Pflasterbereich, der auf eine Erdbrücke gesetzt worden war. Der zu erwartende östliche Grabenkopf ließ sich nicht mehr feststellen, da der Zeughausbau und die Bastionierungen aus dem 16. Jahrhundert das spätmittelalterliche Grabensystem überprägt hatten.

Das Pflaster zeigte tief eingeschliffene Fahrspuren und gehörte zu einem Straßenkörper, der sich auch noch in der Mittelbastion des Festungskörpers befand. Die Straße führte durch die Toranlage der spätmittelalterlichen Befestigung zur Marktstraße.

Die Toranlage war in ihrer Basis erhalten, denn sie war in der nachfolgenden Festungsarchitektur ein integrierter Bestandteil geworden. Sie bestand aus zwei Turmbauten, die eine massive Mauer verband. Die offene Weite des Tores betrug 3,50 Meter. Die unteren Eckquader der Torleibung bestanden aus Buntsandstein und zeigten gegenständig zur Stadtseite hin jeweils eine vertikale rechteckige Aussparung zur Aufnahme der Balken für den Rahmen. Die Toreinfahrt befand sich jedoch nicht mittig zwischen den beiden Türmen, sondern war nach Osten versetzt, sodaß sich zum Westturm ein Abstand von fast 19 Meter ergab, während derjenige zum Ostturm gerade einmal 2,60 Meter betrug. Die Toröffnung war mit massivem Mauerwerk geschlossen worden.

Unter den verwendeten Basaltbruchsteinen befanden sich einzelne Exemplare mit einer durchschnittlichen Kantenlänge von 0,60 Meter. Das Zusetzen der Toranlage hatte auf der Außenseite zu einem massiven Bauschuttklotz geführt, der sich mit seinen Mörtelanteilen fest mit dem Untergrund, nämlich dem Straßenpflaster, verbunden hatte und einen festen Block aus Steinabschlägen, einzelnen Bruchsteinen und Mörtel bildete. Das Zumauern des Tores ist sicherlich mit der Quelle von 1476 zu verbinden, als Graf Philipp der Jüngere seine Zuwendung an die Maurer hatte dokumentieren lassen („2 Alb. schenkte mein Herr den Maurern, da sie die Pforte gen Kinzdorf zumachten“).

 

Das Gelände südlich der nun zugemauerten Toreinfahrt blieb jedoch weiterhin in Nutzung. In einer Phase zwischen dem Zusetzen dieses Tores und dem Bau der Festung ab 1528 umfing ein in der Fläche rechteckig ummauerter Platz diesen Bereich. In der südlichen Mauersetzung waren zwei Zugänge zu beobachten. Davon wies der kleinere eine offene Weite von etwa 1,50 Meter auf, der etwas größere, weiter westlich gelegene eine Weite von etwa 2,20 Meter. Die Erstreckung dieses mauerumfaßten Bereiches nach Osten ist nicht mehr zu ermitteln, da die Ostmauer des Zeughauses den Baubefund dort störte.

Damit ergab sich ein noch faßbares Areal von über 300 Quadratmeter innerhalb des späteren Zeughauses, wobei die östliche Grenze nicht der tatsächlichen Grenze dieser Bauphase entsprach. Das Mauerwerk der Umfassung war aus Basaltbruchsteinen gesetzt und hatte eine Stärke von etwa 0,80 Meter. Interessanterweise schnitt sie den Grabenkopf auf eine Länge von 10,50 Meter ab, als sie das Gelände umfing. Es hatte fast den Anschein, als sei der westliche Grabenabschnitt in dieser Zeit auch nicht mehr genutzt worden. So zeigte die westliche Mauer in dem Abschnitt, in dem sie den Graben schnitt, keine Anhaftungen eines Grabensediments. Die westliche Mauer dieser Umfassung ist tief gegründet und stimmte auf ihrer Fundamentbasis mit der ehemaligen Grabensohle überein. Wäre der Graben also beim Bau noch wasserführend gewesen, hätte dies seine Spuren hinterlassen. Daß jedoch beim Bau Rücksicht auf den Graben genommen wurde, zeigen zwei vergangene Balkensetzungen in der Grabenzone. die in der Mauer zu deren Stabilisierung eingebaut worden waren.

Die beiden Türme waren hinsichtlich ihrer Ausführung und Positionierung im Befestigungssystem der Vorstadt unterschiedlich. Sie standen rund 26 Meter einander gegenüber und waren über eine Mauer verbunden. Der westliche Turm ragte etwa zu zwei Dritteln aus der Befestigungsmauer heraus, wohingegen der Ostturm etwa mittig in der Vorstadtmauer eingebaut war. Die weiter aus der Mauer vorragende Position ergab sich aus dem Richtungswechsel der Vorstadtmauer nach Nordwesten. So hatte der Westturm sich in einer Eckposition im Mauerverlauf befunden und nicht nur einen Teil der Südseite dem Kinzigtor kontrolliert, sondern auch noch den Mauerabschnitt bis zum Hospitaltor im Nordwesten. Dadurch war eine bessere Kontrolle des Umfeldes gegeben. Der Turm war im frühen 19. Jahrhundert als Fundamentbereich bei der Erweiterung des Comoedienhauses genutzt worden.

Hinsichtlich ihrer Durchmesser unterschieden sich die beiden Türme um nahezu einen Meter, wobei der östliche zwar schlanker als der westliche war, jedoch über stärkere Außenmauern verfügte. Die Wandstärke am Ostturm lag bei rund zwei Metern, am westlichen Turm war sie 0,70 Meter geringer. Beide Türme bestanden aus einem Mauerwerk aus Basaltbruchsteinen, vereinzelt waren auch Buntsandsteine verbaut. Die Außenseiten des Ostturmes zeigten einen ursprünglichen Verputz, wie er auch an der Grabenschürze der Vorstadtmauer sichtbar geworden war.

Der Westturm wies einen Flächenputz auf, der vermutlich noch aus dem 18. Jahrhundert stammte. Auf der Höhe der Abbruchkronen waren noch Schießscharten festzustellen. Im Westturm hatte sich noch der vollständige Unterbau der Scharte erhalten. Sie war aus behauenen Buntsandsteinquadern gesetzt und bildete im Mauerschnitt eine sanduhrförmige Konstruktion aus. Die Verjüngung in der Mitte der Schießscharte war mit einer Nut zur Aufnahme einer Platte versehen worden. Die Schartenform ist typisch für die Zeit, in der Feuerwaffen in Gebrauch waren. Bearbeitungsspuren lassen darauf schließen, daß hier eine frühere Ausbauphase ersetzt wurde.

Im Ostturm konnten noch drei Schartenplätze nachgewiesen werden. Sie zeigten nach Osten, Westen und Süden. Hier waren noch kleine, im Grundriß trapezoide Nischen im Mauerwerk eingezogen, die sich von 1,56 Meter auf einen Meter verjüngten und bis auf etwa die Hälfte des Mauer­werkkörpers reichten. Nur auf der Südseite des Ostturmes befand sich noch ein Buntsand­steinrest der eigentlichen Scharte. Demnach muß es sich hierbei um eine andere Schartenform als im West­turm gehandelt haben. Gemäß der Rundung im Buntsandstein handelte es sich um eine Schlüsselscharte. Dieser Schartentyp ist für das Spätmittelalter typisch; die Rundungen, die als Schlitzerweiterungen dienten, waren schon durchaus für die Läufe von Büchsen vorgesehen.

Die beiden Türme sind aufgrund der genannten Unterschiede somit nicht als Baueinheit mit dem Kinzigtor der Vorstadtmauer zu betrachten. In der nachfolgenden Festung ab 1528 bildeten sie jedoch die nördlichen Ecken des Zeughauses aus.

 

Es zeigte sich, daß die Mauer der mittleren Bastion - anders als auf den historischen Plänen dargestellt - keine exakte halbrunde, sondern eine polygonale Form aufwies. Das Rondell hatte einen Durchmesser von etwa 82 Meter. Die Längen der geraden Abschnitte zwischen den Mauerknicken waren sehr unterschiedlich. Einige betrugen 3 Meter, den westlichen Abschluß hingegen bildete ein 28 Meter langer gerader Abschnitt.

Es ließen sich keine vertikal verlaufenden Baufugen unterschiedlicher Bauphasen erkennen. Auf der Außenseite befanden sich zwei Reihen aus bossierten Basaltquadern. Letztere maßen jeweils etwa 100 mal 40 mal 30 Zentimeter. In einigen Bereichen waren bereits Quader der oberen Reihe herausgebrochen, wohl im Zuge der Schleifung der Anlage Ende des 18. Jahrhunderts, sodaß nur noch die Abdrücke erkennbar waren. Die Schauseiten der Bossenquader waren unterschiedlich stark profiliert. Es konnte zwischen fast vollständig flachen Oberflächen und 10 - 15 Zentimeter hoch herausragenden Buckeln unterschieden werden. Im Aufbau ließ sich jedoch keine regelhafte Verwendung unterschiedlich bearbeiteter Steine feststellen.

Eine Vielzahl von Quadern wies spätgotische Steinmetzzeichen auf. Diese dienten zur Abrechnung der erbrachten Leistung der einzelnen Meisterbetriebe. Es können drei Meister, die am Bau der renaissancezeitlichen Anlage beteiligt waren, anhand ihrer Zeichen unterschieden werden. An einigen Quadern konnten Ergänzungen der Steinmetzzeichen um ein Kreuz festgestellt werden. Die genaue Bedeutung dieser Ergänzung ist nicht klar. Möglicherweise waren die betreffenden Quader von einem für die Baustelle hinzugezogenen Gesellen hergestellt worden, der durch die Ergänzung hatte nachweisen können, wie viele Steine er gefertigt hatte.

Oberhalb sowie unterhalb der Quaderreihen befand sich kleinteiliges Mauerwerk. Hauptsächlich wurde die Mauer aus 5 - 50 Zentimeter großen Basaltbruchsteinen errichtet. Vereinzelt wurden auch rote Sandsteine verwendet. Eine hohe Konzentration roter Sandsteine konnte im geraden westlichen Abschnitt beobachtet werden. Dort sowie im Südosten hatte die ein Meter breite Mauer noch eine erhaltene Höhe von gut 2,50 Meter.

Die gesamte äußere Rondellmauer ruhte auf einem Rost aus Holzbalken. Dieser bestand aus zwei Balkenreihen, die in unregelmäßigen Abständen durch quer verlaufende Balken verstärkt wurden. Die Lage der inneren, längs verlaufenden Balkenreihe entsprach nicht der Mauerkante. Sie war etwa 50 Zentimeter in die Mitte der Mauer versetzt. Die Querbalken wiesen schwalbenschwanzartig verbreiterte Enden auf, welche eine Verzahnung mit den Längsbalken gewährleisteten. An der Westtangente ließ sich deutlich erkennen, daß der Bau des Rondells - vermutlich aufgrund der Feuchtigkeit des Untergrundes - sehr schnell hatte erfolgen müssen.

Die Holzbalken waren verrutscht, woraus sich entweder Lücken zwischen den Balken ergaben oder diese bis zu 10 Zentimeter seitlich unter der Mauer herausragten. In die Lücken zwischen den Balken war Baumaterial nachgerutscht, was ein Zeichen dafür ist, daß die Lücken nicht nachträglich, sondern bereits beim Bau der Mauer entstanden waren. Die nach außen verrutschten Balken wurden zum Teil anhand kleiner in den Boden getriebener Pfosten gestützt. Den nördlichen Abschluß des Rondells bildeten zwei gerade verlaufende Mauern sowie mittig ein kleines Rondell.

Die östliche Mauer verlief von NO - SW, hatte eine Länge von etwa 32 Meter und war ein Meter breit. Das kleine Rondell wies einen Durchmesser von 21 Meter auf. Die westliche Mauer hatte einen Verlauf von NW - SO und war etwa 30 Meter lang. Ähnlich wie das große Rondell verliefen die nördlichen Mauern nicht symmetrisch. Die westliche Mauer traf fast rechtwinklig auf die innere Rondellmauer. Die östliche hingegen verlief in einer Kurve, die im kleinen Rondell mündete.

Anders als bei der äußeren Rondellmauer befanden sich unter der nördlichen Mauer keine Holzbalken, wie an der Nordwestecke beobachtet werden konnte. In den Fundamentbereich waren zur Stabilisierung der Mauer Basaltbruchsteine bis zu einer Größe von 80 mal 50 mal 50 Zentimeter eingebracht worden.

Da die westliche Mauer als Wand für einen im 18. Jahrhundert angelegten Kanal gedient hatte, war sie noch höher als das äußere Rondell erhalten. Dort war ein nach Süden weisender bossierter Quader eingebaut. Davon ausgehend, daß der Quader sichtbar gewesen war, muß er oberhalb der Rondellmauer gesessen haben. Daran ist abzulesen, daß die ursprüngliche Oberfläche des Rondells etwa bei 101,75 Meter ü. NN. gelegen haben muß, also etwa 2,30 Meter unterhalb der heutigen Geländeoberfläche.

Westlich und östlich des großen Rondells erstreckte sich jeweils eine kleinere Rundbastion. Auf der östlichen - die im Bereich des heutigen Busbahnhofs zu lokalisieren ist - hatte sich ab 1531 der südliche Zugang zur Festungsanlage befunden. Eine Steinbrücke verlief den Plänen nach schräg über den Graben. In dem bereits untersuchten nördlichen Teil des Busbahnhofs wurden ein Brückenpfeiler sowie die von NW- SO verlaufende Bastionsmauer angetroffen. Die eigentliche Brücke bestand am Übergang zur Bastion aus Holz und ist daher nicht mehr erhalten. Lediglich die Auflageflächen konnten dokumentiert werden. Es handelte sich uni drei Konsolen aus rotem Sandstein, die in einem Abstand von 1,30 Meter aus der Mauer hervorsprangen.

Zwischen den Konsolen waren rote Sandsteinquader eingebaut. Oberhalb dieser erstreckte sich eine zweite Lage aus Sandsteinquadern, die gegenüber der Mauervorderkante um etwa 20 Zentimeter zurückversetzt waren. Etwa 50 Zentimeter nordwestlich der Konsolen wurde eine 50 mal 70 Zentimeter große Aussparung in der Mauer angetroffen, die vermutlich zur Auflage eines massiven Holzbalkens gedient hatte. Nach Südosten lief die Bastionsmauer aus der Untersuchungsfläche heraus. Vermutlich konnte trotzdem die gesamte Breite der Brücke erfaßt werden, da sich südöstlich der Konsolen kein weiterer Sandsteinquader mehr anschloß. Demnach läßt sich eine Breite von etwa 5,50 Meter ermitteln. Möglicherweise war der hölzerne Abschnitt der Brücke mit einem Zugmechanismus ausgestattet gewesen, da der Abstand zum Brückenpfeiler lediglich 3,20 Meter betrug und daher leicht zu überwinden gewesen wäre. Eine Zugbrücke verschloß den Eingang und wurde nur bei Bedarf heruntergelassen.

In ihrem weiteren Verlauf nach Nordwesten konnten auf der Südwestseite der Bastionsmauer zwei stumpf angesetzte Stützpfeiler beobachtet werden. Die Pfeiler entsprachen hinsichtlich ihrer Form den Pfeilern des Zeughauses. Da die Mauern im Bereich des Busbahnhofes nur so weit freigelegt wurden, wie sie von der Verlegung des neuen Kanals betroffen waren, wurde die Bastionsmauer nicht auf ihrer gesamten Höhe und Länge erfaßt.

Der Brückenpfeiler war der Bastionsmauer nach Südwesten vorgelagert. Er befand sich an der südlichen Grenze des Untersuchungsbereichs und konnte daher nicht vollständig untersucht werden. Die Nordostseite des Pfeilers war aus roten Sandsteinquadern errichtet worden, die an der Nordecke bossiert waren. Anders als die bossierten Basaltquader wiesen die Sandsteinquader keine Steinmetzzeichen auf. Südwestlich der Sandsteinquader hatte man den Brückenpfeiler aus Basaltbruchsteinen erbaut. Der Abschluß des Mauerwerks verlief leicht bogenförmig, was darauf hindeutet, daß ab der betreffenden Stelle die Brücke aus Stein bestanden hatte. Auf dem sogenannten Metzgerplan von 1684 / 1735 sind Bögen zwischen den Brückenpfeilern dargestellt, die eine Brücke mit Geländer tragen.

Die Rondelle waren durch gerade verlaufende Mauern, sogenannten „Kurtinen“ verbunden. Die westliche Kurtine konnte auf einer Länge von 110 Meter dokumentiert werden. Ein Abschluß der Mauer wurde jedoch nicht erreicht. Die Mauer wies eine Breite von 1,30 Meter auf und war an einigen Stellen über 4 Meter hoch erhalten. Ihr guter Erhaltungszustand ist darauf zurückzuführen, daß die Mauer zum Fundament für moderne Mauern genutzt worden war, etwa für einen Stromverteiler der Stadt Hanau, der sich im Nordwesten der Untersuchungsfläche befand und unmittelbar auf der renaissancezeitlichen Mauer gründete. Die östliche Kurtine erstreckte sich vom Bereich des „Forum Hanau“ bis auf das Gelände des zentralen Busbahnhofs. Sie hatte eine Gesamtlänge von etwa 129 Meter

Sowohl die östliche also auch die westliche Mauer knickten im Bereich des Freiheitsplatzes um etwa 90 Grad nach Norden ab und stießen an die bereits im Spätmittelalter errichteten Türme. Die Schauseiten der Kurtinen wiesen zwei Reihen roter Sandsteinquader auf. Ähnlich wie die bossierten Basaltquader an der Rondellmauer dienten diese Quader der Machtdemonstration. Daher waren sie auch nur im sichtbaren, nicht vom Rondell verdeckten Bereich verwendet worden. Gegründet waren die Mauern wiederum auf einem Holzrost.

Auf dem sogenannten Metzgerplan ist im Bereich des mittleren Rondells ein annähernd quadratischer Bau dargestellt, der leicht schräg zum Rondell angelegt ist. Dabei handelt es sich um das Zeughaus. Während der Ausgrabungen konnte für das Gebäude eine Innenfläche von 26,5 mal 27,2 Meter festgestellt werden. Die Mauern hatten eine Mächtigkeit zwischen 1,50 und 1,60 Meter und waren an einigen Stellen fast 5 Meter hoch erhalten. Das Fundament ruhte nicht erwartungsgemäß auf einer Konstruktion aus Holzbalken, sondern wurde durch bis zu 50 mal 80 Zentimeter große Basaltbruchsteine verstärkt. West- und Ostwand wiesen zusätzlich an der Innenseite drei oder vier mit den Mauern verzahnte Stützpfeiler auf. Vermutlich trugen diese Pfeiler den Unterbau für das dargestellte Flachdach. An den Außenseiten der Mauern befanden sich weitere Stützpfeiler (Ost- und Westmauer 3 Pfeiler, Nordwand 1 Pfeiler), die jedoch lediglich als Zierelemente gedient hatten. Die Pfeiler waren stumpf an die Mauern angesetzt und sprangen nach unten immer weiter von den Wänden vor. An den Ecken der Pfeiler saßen bossierte Basaltquader, welche die gleichen Steinmetzzeichen wie am Rondell aufwiesen.

Der Innenraum wurde durch zwei N - S verlaufende Mauern gegliedert, die einen Zugang zum südlich vorgelagerten halbrunden Turm bildeten. Die westliche stammte vermutlich von einem ins Spätmittelalter datierenden Vorgängerbau des Zeughauses. Der Turm war über eine Treppe aus roten Sandsteinquadern begehbar. In der dem Turminneren zugewandten Zeughauswand konnten auf der Höhe der unteren Treppenstufe Balkenlöcher des Dielenbodens festgestellt werden. Nach Westen und Osten wiesen Schießscharten in die Grabenzone, die zu einem späteren Zeitpunkt zu Fenstern umgebaut worden waren.

Der Wassergraben südlich der Bastion hatte etwa eine Breite von 30 Meter Das Breitenmaß konnte lediglich in der Südostecke der Untersuchungsfläche ermittelt werden, da dort ein etwa 5 Meter langer Abschnitt der Kontreeskarpe untersucht werden konnte.

Die Kontreeskarpe war nur 65 Zentimeter hoch erhalten und gründete anders als die Rondell­mauer nicht auf Holzbalken. An der Grabensohle konnte noch das dunkelbraune bis schwarze, etwa 0,6 - 0,7 Meter mächtige Grabensediment beobachtet werden. Oberhalb des Grabensediments befanden sich Planierschichten mit Keramikmaterial aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als die Anlage geschleift worden war. Neben Keramik, Glas und Metallfunden kam organisches Material in Form von Leder zutage, dessen Erhaltung das feuchte Milieu begünstigte hatte. So wurden zahlreiche Schuhsohlen gefunden.

Aus dem 15./16. Jahrhundert stammte eine Bauernwehr, die in der Grabenzone angetroffen wurde. Das einschneidige Hiebmesser saß in einer Lederscheide, auf deren Außenseite sich ein kleines Einsteckmesser befand. Beide Messer waren in einem sehr guten Zustand und vermutlich kaum benutzt worden. Bei einer Bauernwehr handelte es sich um eine typische Verteidigungswaffe der zivilen Bevölkerung. Da das Tragen von zweischneidigen Schwertern und Dolchen in der beginnenden Renaissance dem Adel vorbehalten war, führten Bauern und Händler oftmals solche Hiebmesser mit sich.

Besonders zahlreiche Funde konnten in der südöstlichen Grabenzone geborgen werden. Vermutlich resultiert die Funddichte aus einer Verengung des Grabens durch eine Wehr. Geht man davon aus, daß der Graben regelmäßig gereinigt worden war, müssen Wehre zur Schließung einzelner Grabensegmente existiert haben. Im Süden des Rondells konnte möglicherweise ein Teil eines solchen Wehrs dokumentiert werden. Es handelte sich um einen 2,30 Meter breiten Steg, der etwa 7 Meter in die Grabenzone hineinragte. Errichtet worden war der Steg aus Basaltbruchsteinen und handlichen Quadern aus rotem Sandstein. Am Rand konnten Aussparungen festgestellt werden, die auf weitere Bauteile aus Holz schließen lassen. Neben der Interpretation als Wehr erscheint es auch denkbar, daß es sich um eine Brücke handelte, jedoch ist in keiner bildlichen Darstellung der Stadt Hanau in diesem Bereich der Anlage eine Brücke verzeichnet.

Trotz der recht guten Quellenlage zur renaissancezeitlichen Stadtbefestigung Hanaus konnten die Ausgrabungen neue Erkenntnisse liefern. So zeigte sich, daß die existierenden Pläne nicht der Realität entsprechen, sondern ein geschöntes Bild darstellen. Das Rondell, das auf den Plänen eine halbrunde Form aufweist, hatte eigentlich einen polygonalen Umriß mit unterschiedlich langen geraden Abschnitten. Das Zeughaus ist auf dem sogenannten Metzgerplan als quadratischer Bau mit Flachdach dargestellt. Die vorgelagerten Stützpfeiler sind auf keiner Abbildung wiedergegeben. Andere Pläne unterschlagen das zur Zeit ihrer Erstellung bestehende Zeughaus offenbar ganz bewußt. Dies unterstreicht zum wiederholten Mal die Notwenigkeit, auch die Neuzeit anhand archäologischer Methoden zu erforschen. Bis in die Moderne hinein sind immer wieder Perioden und Räume zu verzeichnen, in denen Baulichkeiten bewußt nicht schriftlich oder zeichnerisch dokumentiert wurden.

 

Oppenheim-Denkmal:

Im Juli 2015 erfolgte die offizielle Einweihung des Oppenheim-Denkmals, das Robert Schad gemeinsam mit seinem Bildhauer-Kollegen Pascal Coupot erschaffen hat. Als Hommage an den in Hanau geborenen jüdischen Maler Moritz-Daniel Oppenheim hatte vor allem die elf Meter hohe Stahlskulptur mit ihren dickwandigen Vierkantstahlsträngen immer wieder zu heftigen Diskussionen geführt. „Wirr“ „ungreifbar“ oder „Sieht aus wie Pommes Frites“ befanden anfangs deren Gegner. Diese Stimmen scheinen weitestgehend verstummt. Das Oppenheim-Denkmal gefällt, so der Tenor der Einweihungs-Gäste, von denen viele nicht müde wurden, sich vor Moritz oder dem tanzenden Bild fotografieren zu lassen. Unter ihnen befanden sich auch Patricia und Stephane Lewin aus Paris, deren Ururgroßvater Moritz Daniel Oppenheim war.

Das Denkmal nimmt Bezug auf ein Erlebnis von Moritz Oppenheim, als er bei einem Spaziergang ein Bild in viele Linien zerfließen so, so daß er im Grunde die erst hundert Jahre später aufkommende abstrakte Malerei vorweggenommen hat. Eine nähere Beschreibung findet  man an dem linken Gebäude (von Osten her gesehen).

Jetzt ist dem Leben und Werk des international bekannten Malers inmitten der Stadt ein unübersehbares Denkmal gesetzt. Es wertet den neu gestalteten Freiheitsplatz auf und positioniert Oppenheims Persönlichkeit nachhaltig in Hanaus Mitte. „Er schien mir ein Mann aus  der Mitte der Gesellschaft zu sein“, erklärte Robert Schad den Grund, weshalb der Standort für sein Werk so passend sei. Zudem sehe er Moritz und das tanzende Bild als aktiven Partner des Forums an. Der Künstler verriet, daß sich die Skulptur bei Sonneneinstrahlung als Schatten auf dem Boden fortsetze und auch bei Nacht dank eines ausgeklügelten Beleuchtungskonzepts deutlich sichtbar sei. „Hanau setzt mit dem Werk ein urbanes, selbstbewußtes Zeichen“, befindet Schad.

Bis zur Errichtung des neuen Wahrzeichens war es allerdings ein weiter Weg. So hatte 2007 das Stadtparlament entschieden, dem Maler der Stadt mit einem Monument in der Innenstadt zu huldigen. Im Jahre 2012 wurde durch das Gesamtkonzept „Kunst und Kultur im öffentlichen Raum“ von Magistrat und Stadtverordnetenversammlung auch der finanzielle Weg geebnet (damals war ein Etat von 350.000 Euro vorgesehen). Im Frühjahr 2013 entschied sich eine Fachjury und kurze Zeit später der Magistrat für den Schad-Entwurf - sechs Entwürfe waren insgesamt eingereicht worden. Im Jahre 2014 schließlich wurde von Parlament und Kulturausschuß die endgültige Realisierung beschlossen. Die Kosten für das Werk konnten komplett durch Sponsoring getragen werden.

Die Brüder-Grimm-Stadt untermauere damit ihren Anspruch, Kulturhochburg im Osten der Rhein-Main-Region zu sein. Das Oppenheim-Denkmal trage zum Wunsch bei, der Innenstadt ein unverwechselbares Gesicht zu geben. „Unser Oppenheim. Denkmal ist einzigartig“, könne man nun mit Stolz sagen. Hier sei ein Ort der Reflexion und Kommunikation mitten in der Stadt geschaffen worden, ein Denkmal zum Denken und Nachdenken.

Für Professor Alfred Jacoby, dem Vorstandsmitglied des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden in Hessen, demonstriert das Werk die Integrationskraft jüdischer Kunst: „Für den Mut, dieses Kunstwerk zu realisieren, kann ich der Stadt nur danken. Danke, daß sie einem jüdischen Bürger Einzug in die Mitte der Stadt gewährt haben.“ Diese Ansicht teilte auch Schad und betonte, es sei an der Zeit, Aus- und Abgrenzungen zu überwinden: „Wir leben alle auf einem Stern, den es zu bewahren gilt.“

 

Bangert/Katholische Kirche:

Westlich des Freiheitsplatzes ist der „Bangert“. Der baumbestandene Platz zwischen Frankfurter und Hospitalstraße heißt „der Bangert“, weil zu Beginn des 16. Jahrhunderts um die Altstadt und die älteste „Vorstadt“ (heute: Hospitalstraße) eine neue Wallbefestigung angelegt wurde. Damals entstand auch der Bangert, d. h. Baumgarten. Er lag zwischen dem alten Kinzdorfer Tor und dem Spitaltor und war ursprünglich und während des 16. bis zum 18. Jahrhundert der Gemüsegarten für den herrschaftlichen Hof.

Im Jahre 1851 wird die Bezeichnung „Der Bangertgarten“ in „Bangert“ umgewandelt. Um diese Zeit wurden verschiedene Parzellen des „Bangerts“ verkauft. Das nördlich der Hospitalstraße liegende Terrain zwischen Stadtmauer und Wall bildete ebenfalls einen größeren baumbesetzten Schloßgarten. Das Haus Bangertstraße 6 hieß zum „Zum Affen“ (östlich der Kirche, heute der Stadtkirchnerei gehörend).

Um das Jahr 1750 hatten sich in Hanau die ersten katholischen Familien nach der Reformation angesiedelt. Den Gottesdienst konnten sie nur in den kurmainzischen Orten Großauheim und Groß-Steinheim besuchen. Der jungen Gemeinde erwuchsen rührige Laienhelfer, besonders Hofrat Johann Jakob Bernay de Merville, der Fabrikant Johannes Eckstein, Kaufmann Georg Anton Waltz, Andreas Schulz und die Gebrüder Stöcklein.

Als ersten Erfolg konnten diese wackeren Männer die Genehmigung zu eigenem Gottesdienst verzeichnen, die Landgraf Wilhelm von Hessen-Kassel am 20. April 1787 erteilte. Als Notkirche wurde der obere Stock des Hauses „Am Birnbaum“ in der Gärtnerstraße für 160 Gulden jährlich gemietet. Pfarrer Kuhn von Steinheim weihte den Betsaal ein, wobei Vikar Menninger vom Bartholomäusstift in Frankfurt über Johannes 13,35 predigte.

Der Wunsch nach einem eigenen Gotteshaus verstärkte sich. Die genannten Männer unternahmen Bettelreisen nach Holland, Spanien und Portugal. Andreas Schulz sammelte in Köln von Haus zu Haus. Sogar an Papst Pius VI. erging die Bitte um eine Kollekte im Kirchenstaat. Pius sandte der Gemeinde Hanau ein huldvolles Schreiben mit dem Versprechen, die Kollekte zu unterstützen, doch unterblieb sie wegen der Umständlichkeit (Dieses wertvolle Schreiben ist mit vielen anderen bedeutenden Urkunden und Archivalien leider am 19. März 1945 verbrannt).

Am 14. Juli 1809 gründete Napoleon die katholische Pfarrei Hanau, die dann Fürstprimas Karl von Dalberg von Regensburg aus errichtete. Die Seelsorge der jungen Gemeinde übte zuerst Pfarrer Kuhn von Steinheim aus. Ihn unterstützte der spätere Bischof von Fulda, Johann Adam Rieger, Stadtpfarrer in Kassel. Er wohnte in Wilhelmsbad und hielt den dortigen französischen Emigranten Gottesdienst. Vorübergehend pastorierte in Hanau der Universitätsprofessor Dr. Kaspar Müller und der pensionierte Vikar des Petristiftes zu Fritzlar, Kaspar Henzerling. Letzterer wurde bald Hofkaplan des Königs „Lustik“ von Westfalen in Kassel, später Ehrendomherr.

Mit der Anstellung des ersten Pfarrers Adam Ruppert im Juli 1809 begannen die Streitigkeiten um einen geeigneten gottesdienstlichen Raum. Napoleons Beamte boten die Hospitalkirche an. Wegen Hochwassergefahr wurde sie abgelehnt. Die Gemeinde bat um die französische Kirche, konnte aber mit dieser Bitte nicht durchdringen. Karl von Dalberg, jetzt Großherzog von Frankfurt, versprach, einen Teil des Marstalls im Schloß zu einer Kirche umbauen zu lassen. Die Schlacht von Leipzig setzte seiner Herrlichkeit ein Ende. Pfarrer Ruppert verlor seine Staatseinkünfte, für die sich dann als Minister Freiherr vom Stein, der Reorganisator Preußens, einsetzte, und zwar mit gutem Erfolg. Am 15. März 1828 starb Pfarrer Ruppert, betrauert von arm und reich.

Die Tätigkeit des neuen, erst 27 Jahre alten Pfarrers Johann Franz Schaum galt der brennendsten Hanauer Seelsorgefrage, der Kirchennot. Zehn Jahre lang wandte sich der unermüdliche, mit 32 Jahren zum Dechant ernannte Pfarrer Schaum mit Bittschriften an die Regierung um einen geldlichen Zuschuß. Oberbürgermeister Eberhard unterstützte ihn. Schaum betonte immer wieder das Recht auf Staatsunterstützung, da die Staatskasse durch Einziehung der säkularisierten Klostergüter der Grafschaft Hanau bereichert worden war.

Die Bemühungen Schaums waren von Erfolg gekrönt. Sammlungen in allen Orten des Kurfürstentums erbrachten erkleckliche Summen. Besonders zu rühmen ist, daß die drei evangelischen Gemeinden Hanaus eine beträchtliche Summe opferten. Die Katholiken der Stadt und die Pfarreien des Bistums standen nicht zurück. So hatte die restlose Arbeit Schaums einen verhältnismäßig hohen Betrag zusammengebracht.

Als Bauplatz hatte Schaum sofort den Bangert ins Auge gefaßt, Domänenbesitz der kurhessischen Regierung. Aber der Platz war für ein Polizeigebäude oder eine Kaserne vorgesehen. Die Regierung schlug nun der Gemeinde der Reihe nach die Mühlenschanze, den Umbau des Stadttheaters und den Platz neben der Niederländischen Kirche vor; doch alle diese Pläne zerfielen. Schließlich einigte man sich doch auf den Bangertplatz.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wandte man sich rückwärts und zog einen erneuerten „gotischen“ Stil hervor. Die Katholische Kirche am Bangert in ihrer ursprünglichen Gestalt ist ein Bau dieser Zeit.

Am Mittwoch, dem 11. August 1841, begann der Neubau. Am 2. Mai 1842 wurde der Grundstein unter dem rechten Portal gelegt. In ihm sind verschlossen die Urkunde der Grundsteinlegung auf Pergament, zwei Flaschen Wein von 1798 und 1841, eine Schaumünze von 1821 und mehrere Silbermünzen. Der Aufbau ging rasch seinem Ende entgegen; da stürzte das Gebäude am 14. Januar 1843 abends zwischen sechs und sieben Uhr zusammen. Ein Wirbelwind soll die Ursache gewesen sein. Ein kunstvoller Turm war geplant gewesen, wie auch die Höherführung des Mittelschiffes um einige Meter mit Oberfenstern, was später beim Neuaufbau unterbleiben mußte. (Das Holzmodell befand sich noch in einem Schrank der rechten Sakristei und ist leider ebenfalls verbrannt).

Der so verdiente Pfarrer Schaum mußte die Trümmer seiner jahrzehntelangen opferreichen Tätigkeit mit eigenen Augen sehen. Fast das ganze Kapital war verbaut, und nun brach diese schwere Heimsuchung über Pfarrer und Gemeinde herein. Niemand brachte Hilfe. Weitere Zuschüsse unterblieben; ein neuer Plan wurde verworfen. Das neue Gotteshaus lag fünf Jahre als Trümmerhaufen da, von 1843 bis 1848. Dechant Schaum mußte seine Gemeinde in solch trostlosem Zustand verlassen. Er wurde nach Fritzlar versetzt und starb in den sechziger Jahren als Domkapitular in Fulda.

 Erst sein Nachfolger konnte den Kirchenbau zu Ende führen; am 28. August 1850 wurde die Kirche feierlich geweiht. Die Stadtpfarrkirche „Mariae Namen“ war eine dreischiffige gotische Basilika mit sechs Fensterachsen. Der ursprünglich quergestreiften Fassade mit blauem und rotem Sandstein diente die italienische Gotik, hier besonders die Dome von Orvieto und Siena, als Vorbild (Bild in: Hanau Stadt und Land, Seite 469: Die katholische Kirche im Bangert in Hanau, erbaut 1841-1850, Stich von W. Lang nach einer Zeichnung von L. Rohbock 1850).

Am 7. Dezember 1944 wurde das Gotteshaus durch eine Luftmine zerstört und, brannte am 19. März 1945 vollends aus. Mit dem Wiederaufbau des Gotteshauses wurde am 1. Oktober 1951 begonnen. Am 8. Juni 1952war die Kirche zunächst ohne Turm fertiggestellt, am 9. Juni 1952 wurde sie neu geweiht. Im Jahr 1956 wurde der Turm gebaut. Zur Ausstattung der Kirche gehören ein großes holzgeschnitztes Kreuz von Wohlfahrt aus Steinheim, ein Kreuzweg von Prof. A. Weckbecker, München, der Marienaltar mit einer modernen Marienfigur von Roland Friedrichsen, München, ein St. Joseph-Altar mit einer modernen Josephfigur von Schwester Eberhardis (Honnef). Der Hauptaltar aus Anröchter Dolomit mit Sepulcrum und Kreuzchen, Ambo aus Anröchter Dolomit mit Lesepult in Bronzeausführung, Tabernakelstele aus Anröchter Dolomit in Bronzeausführung, Ewiglicht-Halter in Bronze mit Glas. Eine Orgel ist ebenfalls vorhanden. Zum Katholischen Stadtpfarramt gehören auch die Hauskapelle des St. Vincenz-Krankenhauses und die Hauskapelle des St- Elisabethen-Hauses (Altersheim).

 

Der Hanauer Märchenpfad (Ecke Langstraße / Fahrstraße, südlich des Freiheitsplatzes):

Elf Skulpturen sind zwischen Schlossgarten und Französischer Allee verteilt. Nach einem nationalen Bildhauerwettbewerb mit über 170 Einsendungen von 74 renommierten Künstlerinnen und Künstlern wurden im Frühjahr 2016 zehn Märchenskulpturen in der Innenstadt umgesetzt. Spannend ist zu sehen, wie unterschiedlich die Bildhauer die Thematiken umgesetzt haben, von monumental über filigran bis ironisch ist alles dabei.

 

Standort

Märchen

Künstler

Schlossplatz

König Drosselbart

Hatto und Christoph Zeidler

Altstädter Markt

Von dem Teufel mit den drei goldenen Haaren

Wilhelm Zimmer

Freiheitsplatz, Finanzamt

Daumerlings Wanderschaft

Wilhelm Zimmer

Fahrstraße/Ecke Langstraße

Der gestiefelte Kater

Martin Hardt

Salzstraße/vor Dausien

Tischlein deck Dich

Hatto und Christoph Zeidler

Rosenstraße vor Café Schien

Dornröschen

Annegret Kon/Dietr. Heller

Kölnische Straße/Am Markt

Der goldene Schlüssel

Ralf Ehmann

Französische Allee

Rotkäppchen

Gerold Jäggle

Hammerstraße/Marktplatz

Schneewittchen

Theophil Steinbrenner

Hammerstraße/Freiheitsplatz

Brüderchen u.Schwesterchen

Annegret Kon /Dietr. Heller

 

Zusammen mit den Orten der einstigen Geburts- und Wohnhäuser der Familie Grimm und natürlich dem Nationaldenkmal auf dem Neustädter Marktplatz bilden sie den „Hanauer Märchenpfad“. Die Skulpturen zeigen „Märchen aus der Maingegend“, die den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm einst von Jeanette, Amalie und Marie Hassenpflug für ihre berühmte Sammlung der Kinder- und Hausmärchen erzählt worden sind. Alle hochwertigen Kunstwerke konnten durch Patenschaften von Hanauer Bürgerinnen und Bürgern sowie Hanauer Stiftungen realisiert werden. Sie erfreuen täglich viele Hanauerinnen und Hanauer und Gäste aus Nah und Fern.

 

Die Lieblingsskulptur der Hanauer sind die bronzenen Stiefel des gestiefelten Katers an der Ecke Langstraße / Fahrstraße.  Dieses Werk des ortsansässigen Künstlers Martin Hardt hatte bei der Bürgerwahl zur Einweihung des Pfads die meisten Stimmen bekommen. Und weil für jedes der märchenhaften Kunstwerke eine Patenschaft vergeben wurde, hat es die Stadt sogar hingekriegt, sich die neuen Sehenswürdigkeiten nahezu kostenneutral zu verschaffen.

 

Straßen südlich des Freiheitsplatzes:

In der Sternstraße hatten die Häuser 8, 10 und 12 die Namen „Zum kleinen Stern“, „Zum Stern“ und „Zum hohen Stern“ (heute: Karstadt).

 

Die Schreibweise „Hammerstraße“ ist an sich falsch, weil die Straße nach dem Erbauer des Hauses Nr. 5 (heute: Sauerwein, schon in der Nähe des Marktplatzes), dem Bürgermeister und Colonel Hamer genannt worden ist. Sie müßte also „Hamerstraße“ heißen (allerdings wurde der Name auch „Hammer“ geschrieben).

In der Hammerstraße stehen zwei Skulpturen vom Albrecht Glenz zu dem Grimmschen Märchen von den sechs Brüdern, die in Schwäne verwandelt worden waren und von ihrer Schwester erlöst werden: Der Schwanenbrunnen steht am Anfang und die Schwester auf dem Scheiterhaufen in der Mitte der Hammerstraße.

 

Geburtshaus von Ludwig Emil Grimm:

In der Langstraße 41 (heute: Stadtladen) stand das Haus „Zur Grünen Linde“. Hier wurde der Maler und Zeichner Ludwig Emil Grimm (14. März.1790 bis 4.  April 1863) geboren. Er gab zahlreiche Schilderungen des Lebens der Familie Grimm und Illustrierte die Werke seiner Brüder.

Hier wohnte die Familie Grimm bis zum Jahre 1791. Das ehemalige Wohnhaus ist jedoch kaum ausfindig zu machen. Zu finden ist nur ein kleines leicht zu übersehendes Hinweisschild. Im offiziellen Stadtführer der Brüder-Grimm-Stadt wird die Adresse nur in einem Nebensatz zusammen mit dem Geburtsdatum 14. März 1790 von Ludwig Emil Grimm erwähnt.

Deshalb wurde im Juni 2015 angeregt, das Haus als einen authentischen Ort Hanauer Geschichte hervorzuheben. Von dem ehemaligen Wohnhaus ist nichts mehr zu sehen. Es ist wie die gesamte Innenstadt bei einem alliierten Luftangriff zerstört worden. Heute befindet sich dort ein Nebeneingang des Rathausgebäudes. Das alte Haus an der Lange Gasse 41 kann man nicht wieder rekonstru­ieren. Aber man kann einige Elemente wieder sichtbar und erlebbar machen. Immerhin ist Verschiedenes überliefert: Das Aussehen und die hellrote Farbe des früheren Gebäudes sind heute noch bekannt

In Biographien sind Erinnerungen der Brüder Grimm an das Hanauer Wohnhaus noch gegen­wärtig. Jacob Grimm beschreibt die Mutter, wie sie zumeist in der Wohnstube auf einem Tritt am Fenster saß. Sie habe dort in den Spiegel gesehen, der draußen fest war und worin man alle Leute auf der Straße sehen konnte. Der Malerbruder Ludwig Emil Grimm hat die Mutter schließlich in einer Federzeichnung abgebildet, wie sie dort saß. Ein weiteres bedeutendes Ereignis an der Lange Gasse 41 war die Geburt von Ludwig Emil Grimm.

Die Fläche für die Illustration des Wohnhauses ist vorhanden. Die ausreichend große Betonwand an der Rathausrückseite lädt dazu ein. Die Hanauer Künstlergruppe „Hanau Radau“ hat sich in einem Projekt die Frage gestellt, wie man das zerstörte Wohnhaus wieder insoweit sichtbar machen kann, als man sich einige Teile des Hauses wieder vorstellen kann. Das Haus soll mit einer Illusionsmalerei wieder erlebbar gemacht werden: Das Wohnhaus der Grimms zum Anfassen ist das Ziel. Der Künstlerentwurf will Ausschnitte des Wohnhauses lebensecht aufbereiten. Bestimmte Bauelemente werden nicht nur gemalt. sondern mir realen Elementen hervorgehoben. So wird beispielsweise die bisherige Informationstafel auf die nachgebildete Tür  montiert. Die Ereignisse im Wohnhaus können illustriert und in das Objekt eingebaut werden.

Vor einem Jahr hat die Stadtverwaltung die Idee positiv aufgenommen. So sollte Illusionsmalerei mit Tür und Fenster weiterentwickelt werden. Das Zitat über das Wohnhaus der Grimms mit Illustration der Mutter, die aus dem Fenster blickt, sollte rechts von der Tür auf Folie an das Fenster des heutigen Wickelraumes angebracht werden können.

Die versprochene Weiterentwicklung ist unterdessen ins Stocken geraten. Im städtischen Kulturentwicklungsplan vom März 2015 wurde das Wohnhaus der Grimms schlicht vergessen. Kein Sterbenswörtchen findet sich in dem Entwicklungsplan mehr über den bedeutenden kulturellen Ort der Hanauer Geschichte. Die Stadtverwaltung scheint bei diesem Projekt in einen tiefen Dornröschenschlaf verfallen zu sein.

Die Ereignisse in und um das Wohnhaus können an keinem anderen Ort in der Stadt authentischer dargestellt werden als hier. Denn die Langstraße war Dreh- und Angelpunkt in der Kind­heit der Brüder Grimm. Hier spielten sie, besuchten ihre Verwandten und lauschten den Hanauer Bürgern bei ihren Erzählungen. Auch ihre Tante Schlemmer, die ihnen Lesen und Schreiben beibrachte, wohnte nicht weit entfernt in der Fahrstraße.

Für Touristen wäre die Visualisierung des früheren Wohnhauses ein weiterer Besuchspunkt in der Brüder-Grimm-Stadt Hanau. Kultur im Museum anzusehen, ist eine Sache. Erlebbare Kultur an den wenigen authentischen Plätzen zu zeigen, ist ein Muß. Die Hanauer Bürger sollten wie der Prinz mit einem Kuß das Projekt aus seinem Dornröschenschlaf erwecken.

 

Das Geburtshaus des Franciscus Sylvius (Römerstraße / Glockenstraße):

Nichts erinnert an der schmucklosen Kreuzung Römerstraße / Glockenstraße heute noch an das prachtvolle Haus „Zur Stadt Amsterdam“, das hier einst stand. Bauherr war zu Beginn des 17. Jahrhunderts der Calvinist Isaac de le Boé, der wegen seines Glaubens aus dem Norden des heutigen Frankreichs fliehen musste. Im Jahre 1614 kam Isaacs Sohn Francois zur Welt, der Hanau später verließ, um in Basel und Leiden Medizin zu studieren. Dort in Südholland machte er Karriere, wurde Professor und schließlich Rektor der Universität. Weil es unter Medizinern damals schick war legte er sich den lateinischen Namen Franciscus Sylvius zu. Sein besonderes Augenmerk galt der menschlichen Verdauung, die er mit Wacholder verbessern wollte. Davon hatte er aus Italien gehört, experimentierte mit den entsprechenden Beeren, Alkohol und Koriander und schuf den Genever, der später unter dem Namen „Gin“ ein riesiger Erfolg werden sollte. Denn die englischen Soldaten, die die Holländer im Krieg gegen Spanien unterstützten, brachten Getränk nach Großbritannien und von dort aus in die ganze Welt.  Allerdings dürfte es dabei wohl eher um Geschmack und Genuß als um Magenheilung gegangen sein.

Um an die Erfindung des Herrn Sylvius zu erinnern, sind Hanauer auf den Zug aufgesprungen und lassen seit ein paar Jahren den „Francois Dry Gin“ produzieren. Hergestellt wird er in Brennerei Dirker, angereichert mit jeder Menge Pflanzen. Er schmeckt so gut, dass er zum Mixen fast zu schade ist.

 

Hotel „Zum Riesen“:

An der Ecke Am Heumarkt 8, Ecke Krämerstraße steht das Hotel „Zum Riesen“. Es ist trotz der nach wie vor noch etwas schillernden Lage wieder zu einer gediegenen Adresse geworden. Am 11. Dezember 2001 feierten die Besitzer - Ritva und Wolfgang Knof - mit zahlreichen Gästen und etlicher Prominenz das 375. Jubiläum - und präsentierten einen neuen, künstlerisch gestalteten Riesen, der nun das stattliche Haus repräsentieren und bewachen soll. Das Haus ist - wie so viele andere in Hanau auch - eigentlich gar nicht als alt zu bezeichnen. Aber es hat eine wahrlich bedeutsame Geschichte.

Vermessen und verkauft worden ist das Grundstück nach Kenntnissen von Dr. Wolfgang Knof bereits im Jahr 1619. Erstmals urkundlich erwähnt wurde das Haus 1625/26 als Pferdeumspannstation und Herberge - vermutlich im Zuge der seinerzeit bedeutendsten Handelsstraße von Frankfurt nach Leipzig. Am 16. Dezember 1812 hat der Franzosenkaiser Napoleon Bonaparte im Riesen übernachtet. Davon kündete auch eine schlichte Messingtafel. Hier ließ sich der kleinwüchsige Franzosenkaiser laut Überlieferung übrigens Sauerkraut und Solber schmecken.

Lokal- und kulturgeschichtlich bedeutsam ist dann wieder der 25. November 1898. Der Riese ist das erste Haus in Hanau, das elektrischen Strom von den städtischen Elektrizitätswerken bezieht.

Im Jahr 1912 wird der Riese durch das Ehepaar Repp erworben, den Urgroßeltern von Wolfgang Knof. Doch in der Bombennacht zum 19. März 1945 fällt auch der Riese in Schutt und Asche. In den 50er Jahren wird eine Baracke errichtet und provisorisch als Gaststätte betrieben. In den Jahren 1961/62 erfolgt der Wiederaufbau als Hotel und Wohnhaus.

Seit 1992 haben Wolfgang Knof und seine Frau Ritva schon das Heft am Heumarkt in der Hand: „Ich dachte damals, ich führe das Hotel halbtags und arbeite die andere Hälfte an der Uni in Frankfurt.“ Pustekuchen: Der promovierte Mathematiker und seine Frau, die ihre Doktorarbeit im bereits laufenden Hotelbetrieb schrieb, stellten schnell fest, daß sie sich einen Fulltime-Job fürs Leben ans Bein gebunden hatten.

Immerhin übernahmen die beiden nach dem Auszug der Hähnchen-Braterei „Wienerwald“ (1961-1991) ein Haus in bemerkenswertem Zustand. Sie mußten alles neu machen, Elektrik, Fenster, Türen. Im Gegensatz zu 1945 standen aber wenigstens die Mauern noch, und es war ein Dach drauf. Inzwischen verfügt das Haus über vier Sterne, renovierte Zimmer in mehreren Gebäuden und Tagungsräume. Und, das Wichtigste für einen Hotelier, ein gerütteltes Maß an Stammgästen.

Von 1998 bis 2001 wurde aufgestockt und erweitert. Das Haus ist mit drei Sternen klassifiziert. Die Riesenskulptur am Haus ist von Joerg Eyfferth entworfen, von Helmut Kunkel und Frank Luther ins Dreidimensionale umgesetzt und von Jörg Grundhöfer gegossen worden,

In das Haus einbezogen ist am Heumarkt das Ladengeschäft von Jörg Stier, indem Apfelwein und Ähnliches verkauft werden, verbunden mit einem kleinen Apfelweinmuseum.

Haus „Zum Löwen“:

An der gleichen Kreuzung Ecke Krämerstraße / Am Frankfurter Tor stand das Haus „Zum Löwen“ von 1599. später eine Apotheke).

 

Das Gerippte Museum:

Immer das Gejammer der Nicht-Hessen, die mit unserem Wein nicht umgehen können. Da lassen sie sich zu zweit einen Sechser-Bembel bringe, am beste noch mit einem Speierling-Anteil, und machen beim ersten Schluck ein Gesicht, als wenn ihnen einer ein unreifes Quittenstück in den Mund gesteckt hätte. Dann lassen sie sich eine Limo kommen und wundern sich, wenn ihnen der Kellner einen schlappmäulischen Spruch sagt.

Darum, ihr Zugezogenen, holt euch professionelle Hilfe, bevor eure erste Begegnung mit unserm Stöffche zum Fiasko wird. Der Jörg Stier hat in seinem Laden am Heumarkt mehr als 30

unterschiedliche Sorte im Angebot. Da ist wirklich für den lumpigsten Labbedubbel noch etwas dabei.

Und wenn ihr schon da seid, dann lasst euch in den hinteren Räumlichkeiten einmal die Rekord-Utensilien zeigen. Im angeschlossenen Museum hat der Verein „Apfelwein Centrum Hessen“ nämlich des größte „Gerippte“ (Apfelweinglas) der Welt stehen, mehr als 80 Zentimeter hoch und oben ein Durchmesser von fast einem halben Meter und mit Platz für 84 Liter Apfelwein. Das haben sie in der Glashütte von Limburg produziert. Daneben steht gleich der weltgrößte Bembel, der sogar 670 Liter fasst. Er ist natürlich schwer und steht deshalb auf einem riesigen „Faulenzer“, einem schwenkbaren Ständer aus Eisen. Aber wer sich ans Nationalgetränk herantastet, schafft das auch ohne Ausstellungsstücke.

 

 

 

 

 

Marktplatz

Hof- und Schwanenapotheke, Markt 17-19:

Sie bildete mit dem Nachbarhaus an der Westseite des Marktplatzes eine Einheit. Die niederländischen „Jubilierer“ Cornelius van Dahl und Hektor Schelckens ließen sich die beiden Häuser am Markt bauen. In das Doppelhaus führten zwei geschmackvolle Portale. Das Portal an der Hofapotheke überstand den Brand der Neustadt, auch Teile vorn Portal des Nebenhauses wurden gerettet. Die Zwerchhäuser gaben dem Haus das charakteristische Gesicht. Durch den großen Giebel in der Mitte des Doppelhauses ging genau die Grenze zwischen beiden Grundstücken. Voluten und abwippende Schnörkel, Obelisken und Hausteinbänder, das „Beschlagwerk“ der Zeit um 1600 und die großen Muscheln in den Giebeln der Gauben waren die stilistischen Merkmale der Renaissance, ebenso wie die beiden Portale für diese Zeit typisch sind (Bild in: Hanau Stadt und Land, Seite 141).

Das bürgerliche Wappen des Portals am Haus Nr. 19 zeigt einen Diamantring, für uns eine Erinnerung an die Tradition Hanaus als Schmuckstadt.

 

Neustädter Rathaus:

Pläne für einen Rathausbau der Neustadt Hanau existierten schon bei Stadtgrün­dung. In einem Plan von 1597 taucht ein zu erbauendes Rathaus der Neustadt auf, und man fand Baurechnungen, die darauf hinweisen, daß am 31. Juli 1606 eine erste Grund­steinlegung zu einem Rathaus stattfand, das dann wohl aus Finanznot nicht zur Ausfüh­rung kam. Der Rat der Neustadt Hanau kaufte daher schon errichtete Bürgerhäuser auf, die in der Folgezeit als provisorische Rathäuser dienten. Der Platz an der Nordseite des Marktplatzes, der für den Rathausbau vorgesehen gewesen war, wurde nicht bebaut und diente als städtischer Lagerplatz. Später wurde hier eine provisorische Bürgerwacht errichtet.

Das Neustädter Rathaus wurde erbaut von dem Baumeister Christian Ludwig Hermann. Der „Herr Hermann, Bau-Meister ihro Hochgräflichen Gnaden zu Hanau“, machte einen Riß „vor das Neu erbauende Rathaus nach dem Grundriß 3 Stockwerk hoch mit Läng 88 schuh, Breit 46 Schuh, mit einem französischen Dach“.

Beim Hanauer Rathaus handelt es sich um eines der Gebäude, die sich unzweifelhaft auf Baumeister Christian Ludwig Hermann zurückführen lassen. Er lieferte also die Risse zum Rat­hausbau. Gebunden an die Weisungen des Rates, der seine Vorstellungen berücksichtigt sehen wollte, stand er hier vor der Aufgabe, ein repräsentatives Gebäude zu schaffen. Gleichzeitig mußte er die ältere Bebauung des Platzes berücksichtigen. Es galt, das Ge­bäude in die Häuserzeile einzufügen aber dennoch als Sitz des Rates hervorzuheben. Lei­der geben die Hanauer Akten nicht darüber Auskunft, inwieweit Hermann, auch über die Fertigung der Risse hinaus, noch Einfluß auf die Ausgestaltung nahm. Es existieren in den Bauakten einige Detailzeichnungen. so u. a. zum Balkongitter, die aber alle ohne Signatur sind und dort, wo Erläuterungen zu diesen Entwürfen gemacht wurden, sind die Schrift­züge nicht identisch mit denen Hermanns. Belegt ist er demnach nur als Architekt, der Fassade und Raumaufteilung gestaltete.

Erst über 100 Jahre nach der Stadtgründung wurde der Rathausbau erneut in Angriff genommen und konnte mit Unterstützung des Hanauer Grafen endlich durchgeführt werden. Am 11. Juni 1725 fand in Anwesenheit des Grafen Johann Reinhard III. und seiner Gemahlin Dorothea Friederike von Brandenburg-Ansbach die feierliche Grundsteinlegung statt. Bis Ende 1726 war der Rohbau ausgeführt und unter ein „französisches“ Dach gebracht.

Bis zum Ende des Jahres 1726 konnte der Rohbau vollendet werden. Im Dezember 1726 wurde mit den Dachdeckerarbeiten begonnen. Der weitere Ausbau ging jedoch wesentlich langsamer voran. Im Frühjahr 1728 schienen die durch Baurechnungen belegten Weißbinderarbeiten auf ein baldiges Ende der Bauzeit hinzuweisen. Doch erst am 5. November 1733 konnte die Einweihung des Gebäudes gefeiert werden. Wieder war der Graf erschienen, diesmal begleitet von der Gemahlin seines ver­storbenen Bruders. Ein Bild dieses 1733 eingeweihten Rathauses kann man sich anhand der Zeichnungen in der Chronik Dhein machen. Die Aufrißzeichnung zeigt uns das Rat­haus mit dem ursprünglichen Dach. ohne das Uhrtürmchen und mit zwei mächtigen Schornsteinen auf dem Dachfirst.

 

Baubeschreibung: Das Neustädter Rathaus ist ein herrlicher Barockbau mit einem Dreiecksgiebel, Wappenschmuck und einem schönen sechseckigen Uhrtürmchen. Der dreigeschossige querorientierter Bauwendet sich mit seiner Hauptfassade dem Marktplatz zu. Ursprünglich in eine Baulücke eingepaßt. d. h. in seiner Ausdehnung an vorgegebene Bedingungen gebunden, konnte es 23,74 Meter breit werden. Die Tiefe des Gebäudes beträgt 18 Meter und es erreicht bis zum Abschlußgesims eine un­gefähre Höhe von 12,50 Meter.

Die Hauptfassade, die völlig mit rotem Sandstein verblendet ist, zeigt eine strenge Gliederung.

Die neun Achsen der Vorderfront, die in je drei Fensterachsen geschieden sind, ergeben ein harmonisches Verhältnis der einzelnen Teile.  Die drei mittleren sind zu einem leicht vorsprin­genden Risalit zusammengefaßt. Wie beim Frankfurter Tor werden die Geschosse durch einfache Sand­steinbänder getrennt. Die Ecken werden durch breite genutete Lisenen betont. Das Erdgeschoß wird gebildet von neun Arkaden.

Der Dreiecksgiebel mit dem Wappenschmuck in qualitätvoller Steinmetzarbeit hebt den Mittelteil zusammen mit dem Balkon im ersten Obergeschoß aus der Front. Der Dreiecksgiebel über den drei Mittelachsen zeigt plastischen Schmuck aus hellgrauem Sandstein. Die Wappenkartusche mit dem farbig hervorgehobenen Allianzwap­pen des Grafen Johann Reinhard III. und seiner Gemahlin Dorothea Friederike von Brandenburg-Ansbach wird von zwei sitzenden Gestalten flankiert. Wir sehen Justitia mit Waage und Zepter. Ihr zu Füßen ein Adler mit Schwert. Die Frauenfigur auf der rechten Seite symbolisiert den Frieden. Sie hält Fackel und Buch und wird von einem Kra­nich begleitet. Im Balkongeländer des ersten Stockes ist das Wappen der Neustadt, die vor den Hanauer Sparren sitzende „Belgia“, zu sehen.

Erstes und zweites Obergeschoß sind ähnlich gestaltet. Die Fenster zeigen hier eine schlichte Sandsteinrah­mung und auch ihr Brüstungsfeld wird durch einen plastisch vorspringenden Rahmen be­tont. Das erste Obergeschoß wird durch die hier ein wenig höheren Fenster und den Bal­kon mit dem wappengeschmückten Gitter betont. Der Balkon ist durch drei Türen zugäng­lich, die durch ein „Bekrönungsgesims“ hervorgehoben werden.

Das geschieferte Mansarddach wird von mehreren Gauben durchbro­chen: drei zu jeder Seite des Frontispiz und zwei kleinere hochovale in der darüberliegenden Dachzone. Das Türmchen wurde später aufgesetzt und der Dachfirst war ursprünglich nicht so hoch.

Heute öffnen sich die drei mittleren zu Eingängen, während die seitlichen jeweils eine leicht zurückge­setzte Fensteröffnung zeigen. Ursprünglich waren nur die drei linken Arkaden ge­schlossen, die übrigen sechs öffneten sich zu einer schmalen Vorhalle. Man blickte durch diese Arkaden auf die zurückliegende Wand, deren Tür- und Fensteröffnungen - durch ein blindes Fenster ergänzt - Symmetrie vortäuschen sollten.

Die klare und ruhige Verteilung der Akzente, die beinahe klassizistische Sachlichkeit der Architekturglieder und der strenge Aufbau geben dem Rathaus eine gewisse Monumentalität. Es ist dem Architekten ausgezeichnet gelungen, das barocke Rathaus in die etwas trockene Atmosphäre der Neustadt Hanau an die gerade Platzwand des Marktes einzufügen. Das Rat­haus hat nichts von dem sprudelnden deutschen Barock der süddeutschen Bauten an sich, seine Haltung ist durch den französischen Einfluß am Hanauer Hof bestimmt, der früher als an allen anderen deutschen Höfen schon mit dem Bau von Philippsruhe um 1700 einsetzte (Bild in Hanau Stadt und Land, Seite 154).

 

Die Rückfront des Rathauses zeigt sich als Putzfassade mit Sandsteingliederung. Eck­quaderung und die auch hier zu sehenden schmalen horizontalen Bänder aus rotem Sandstein heben sich stark vom hell verputzten Mauerwerk ab. Auch die Rückfront zeigt neun Fensterachsen. Wieder sind die drei mittleren zu einem Risalit zusammengefaßt, doch springt dieser Risalit so weit vor, daß in jedem Stockwerk ein zusätzliches Fenster bzw. im Erdgeschoß einmal eine Tür an seinen beiden Seitenwänden Platz findet.

Die Fenster ent­sprechen denen der Vorderfront. Sie zeigen eine schlichte Rahmung und werden durch ein einfaches Brüstungsfeld. beides aus rotem Sandstein, betont. Etwas abweichend sind die Fenster des Erdgeschosses. Sie werden nach oben hin durch einen Segmentbogen nicht ge­rade abgeschlossen. Entsprechend der Vorderfront zeigt das Dach je drei Dachgauben links und rechts des Mittelrisalites.

Bei der Wiederherstellung in den sechziger Jahren wurde eine kleine Veränderung vorge­nommen. An Stelle des Mittelfensters des Risalites war hier im Erdgeschoß ursprünglich, wie auf alten Fotografien zu sehen ist, der Kellerzugang mit einem darüberliegendem quer-ovalen Fenster.

Die ursprünglich verbauten Seitenwände erhielten in den 60er Jahren Fenster im zweiten Stock und in der Mansarde. Auch hier sieht man heute schmale Sandsteinbänder zwischen den Geschossen.

Das Innere des Rathauses zeigt heute keinerlei Ähnlichkeit mit dem Hermannschen Bau. Man nutzt das Gebäude heute in erster Linie für Repräsentations- und Ausstellungs­zwecke.

 

Im Eingangsbereich des Stadtladens im Rathaus am Neustädter Marktplatz kann seit Jahrzehnten das einstige Uhrwerk der Wallonisch-Niederländischen Kirche besichtigt werden. Der Zahn der Zeit ging an dem eisernen Koloss aus dem Mittelalter nicht spurlos vorüber. Diplom-Restaurator John-Ernst Ludwig säuberte das schmiedeeiserne Meisterwerk im Dezember 2018 fachmännisch.

Das Uhrwerk wurde am 11. November 1611 vom Turm des ehemaligen Steinheimer Tores der Hanauer Neustadtbefestigung geholt und im ehemaligen gemeinsamen Turm der Wallonisch-Niederländischen Doppelkirche aufgestellt. Ursprünglich war es mit der damals üblichen Waaghemmung gebaut worden und 1742 auf die zeitgemäße Pendelregulierung umgestellt. Uhrmacher war Heinrich Joost, Hof-, Stadtuhr- und Großuhrmacher. Im Jahre 1809 wurde es renoviert.

Im Jahre 1899 hatte das Uhrwerk ausgedient, denn es konnte nicht mehr ohne besondere Regulierung den Anforderungen der Neuzeit folgen und die mittlere Zeit auf die Sekunde bestimmen. So wurde es dem Hanauer Geschichtsverein für sein Museum im Altstädter Rathaus, dem heutigen Gold- schmiedehaus, überwiesen. Schlossermeister Adam Wörner hat es dort vermutlich am 1. Mai 1905 zusammengebaut, so eine eingeschlagene Marke.

Aufgrund seiner Größe und Gewichts war das Uhrwerk während der Luftangriffe und der Zerstörung Hanaus zu Ende des Zweiten Weltkrieges nicht ausgelagert worden. Hugo Birkner konnte es in den Nachkriegsjahren aus den Trümmern bergen. Die Einzelteile waren bis Anfang der 1980er Jahre in einem Kellerraum des ehemaligen Gefängnisses im Fronhof gelagert.

Von dort wurden sie in das Depot des Historischen Museums Hanau Schloss Philippsruhe gebracht. Im Jahre 1990 restaurierte Gerhard Conrads, Uhrmachermeister aus Aachen. Dank der großzügigen Unterstützung der Frankfurter Sparkasse 1822 wurde das Uhrwerk 1999 erneut überholt und schließlich im Hanauer Stadtladen aufgestellt. Eine Informationstafel im Eingangsbereich informiert seitdem über die Geschichte des Meisterwerks (MHB 24.12.2018).

 

Die ursprüngliche Raumaufteilung ist verschwunden. Da wir - wie schon erwähnt - die Grundrisse aus der Chronik Dhein besitzen. wissen wir von der Aufteilung, die Hermann vornahm. Es galt, in diesem Gebäude die Räume des Rates und der Bürgerwacht unterzubringen. Ein langgezogenes Vestibül in der Mitte zerlegte das Erdgeschoß in zwei Hälften. Rechts waren die Räume der Bürgerwacht untergebracht, die durch die davorge­legene offene Halle zugänglich waren. Die linke Gebäudehälfte stand dem Rat zur Verfü­gung. Die den vorderen Teil einnehmende große Ratsstube war ebenfalls direkt von der Vorhalle aus zu betreten, während der Zugang zu den übrigen Räumen durch das Vestibül erschlossen wurde. Die Treppe zu den oberen Geschossen fand Platz in dem rückseitigen Risalit.

Im ersten Stock befanden sich die repräsentativen Räume, so im vorderen Bereich ein großer Ratssaal, im zweiten Stock sehen wir dagegen eine kleinere Raumaufteilung. die ich ähnlich auch für die Mansarde vermuten möchte. doch liegen hier keine Pläne vor.

In den fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts wurde das Dach des Rathauses umgestaltet. Man setzte auf das Rathaus ein Türmchen auf, das Raum für eine Uhr mit Glockenspiel bot. Am 22. Dezember 1751 war ein Polizeidekret erlassen worden, das dem Rat der Neu­stadt nahelegte, eine Uhr auf dem „...Rathaus oder sonstigem schicklichen Orthe...“anzu­bringen. Die Stadtväter hatten es aber mit der Anschaffung dieser Uhr nicht sehr eilig. Erst als die Stadt von der Herrnhuter Brüderkolonie bei Büdingen eine Uhr samt Schlagwerk günstig kaufen konnte, kam man der Aufforderung nach. Das Rathaus erhielt sein Türmchen. gleichzeitig wurde der Dachfirst erhöht, auch wurden die auf Dheins Ansicht zu sehenden Schornsteine nach hinten versetzt

Auch im Innern wurde das Rathaus umgestaltet. In der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hunderts muß ein Umbau stattgefunden haben. Der Grundriß, der der Chronik Dhein beigefügt ist, zeigt uns die ursprüngliche Raumaufteilung. Gegen Ende des 19. Jahrhun­derts war die Halle, die hinter sechs zunächst offenen Arkaden lag, verschwunden und es öffneten sich nur noch die mittleren drei zu einem kleinen Vorraum.

Zum Neustädter Rathaus gehörte ursprünglich ein separater Hinterbau, der das Grundstück nach der heutigen Langstraße hin abschloß. Wir erfahren Aus der obenerwähnten Bauakte erfährt man, daß Hermann auch die Pläne zu diesem Gebäude lieferte, das dann in den Jahren 1739 bis 1741 gebaut wurde. Aus einem Ratsprotokoll vom 16. Juni 1739 geht hervor, daß Baudirektor Hermann einen Riß zum Hinterbau geliefert hat, den man ganz aus Stein errichten will und der Ratsdienerwohnung, Gefängnis und Archiv beherber­gen soll. Karl Dilmann beschreibt den Bau in einem Aufsatz. Es war demnach ein dreistöckiges Gebäude mit einer Tordurchfahrt, die den Zugang zum eigentlichen Rathaus von der Langstraße her ermöglichte.

Auf einem Foto ist zu erkennen das dunkle Bruchsteinmauerwerk, und man sieht den Torbogen der bei Dielmann erwähnten Durchfahrt, die mit einem schlichten Sandsteinrahmen versehen und von einem Wappenstein ge­krönt war. Als man den modernen Verwaltungsbau errichtete, beseitigte man die Reste des Hin­tergebäudes. Der Wappenstein über dem Torbogen kam ins Historische Museum im Schloß Philippsruhe und erinnert dort an ein Bauwerk von Hermann, das heute spurlos verschwunden ist.

Als am 19. März 1945 ein großer Luftangriff die Stadt Hanau fast vollständig zer­störte, wurde auch das Neustädter Rathaus nicht verschont. Es brannte völlig aus und nur das Mauerwerk blieb erhalten. Erst in den Jahren 1962 bis 1965 wurde das Bauwerk wieder hergestellt. Beim Wiederaufbau erhielt das Rathaus äußerlich das Aussehen von 1755, d. h. es wurde wieder ein hohes Uhrtürmchen auf das Dach gesetzt. Der zuständige Archi­tekt, Theo Pabst aus Darmstadt, löste das Rathaus aus dem Verband der Häuserzeile und ließ es isoliert stehen. Es wird heute hufeisenförmig von einem modernen Rathausbau umgeben, mit dem es aber nicht direkt verbunden ist

 

Brüder-Grimm-Denkmal:

Die Stadt ist stolz auf ihre berühmten Söhne. Deswegen war kurz nach dem Tod der beiden klar, dass Jacob und Wilhelm einem Denkmal geehrt werden sollten. Zunächst mal musste sich Hanau als Geburtsort gegen Wirkungsstätten der Grimms durchsetzen - auch Kassel, Göttingen und Berlin hatten Interesse angemeldet. Aber die Spenden kamen zusammen und auch die Zusage für großzügigen Zuschuss vom preußischen Staat.

Bereits 1853 - noch zu Lebzeiten der Grimms - hatte der Hanauer Bürger Pedro Jung die Idee, den beiden Märchensammlern und Sprachforschern ein Denkmal in ihrer Geburtsstadt zu errichten und stellte dafür 500 Gulden zur Verfügung. Er lag mit seinem Vorschlag im Trend der Zeit, war es im 19. Jahrhundert doch zur regelrechten Manie geworden, geschichtliche Größen mit Standbildern zu würdigen.

Jungs Initiative blieb allerdings erfolglos, ebenso wie die der Hanauer Zeitung im Jahr 1870 und die von Oberbürgermeister Rauch elf Jahre später. Die entscheidende Anregung lieferte schließlich der Gymnasialoberlehrer und Archäologe Dr. Georg Wolff auf Versammlungen des Hanauer Geschichtsvereins und der Wetterauischen -Gesellschaft im Januar 1884. Schon wenig später wurden ein großes Komitee und ein Grimmverein gegründet und das Vorrecht der Geburtsstadt Hanau gegenüber den Wirkstätten Kassel, Göttingen und Berlin gesichert.

 

Für das Hanauer Nationaldenkmal warben die Organisatoren in lokalen und überregionalen Zeitungen um Spenden. Allein das „Ministerium der geistlichen und Medicinalangelegenheiten“ sagte einen Zuschuß von 25.000 Mark zu - eine stattliche Summe, auf die Komitee und Grimmverein aber später nicht zurückgreifen konnten. Denn das Berliner Ministerium hatte quasi als „Gegenleistung“ Mitsprache bei der Wahl des Entwurfs gefordert. Elf Bildhauer hatten ihre Modelle bei einem eigens ausgeschriebenen Wettbewerb eingesandt. Die Jury entschied zunächst - auch ganz im Sinne des preußischen Spenders - indem es dem Hanauer Professor Max Wiese, der Direktor der Zeichenakademie war, den ersten Preis zuerkannte.

Doch die Bevölkerung angestachelt - auch von der Hanauer Zeitung, die in zahlreichen Artikeln kräftig Stimmung machte - war mit diesem Votum nicht einverstanden. Den Siegerentwurf fanden die Hanauer unmöglich. Wie Jacob da väterlich die auf die Schulter seines sitzenden Bruders legt! Als würde Wilhelm leiden! Und überhaupt, wie Anarchisten sähen die aus, verschlagen geradezu!

In die erbitterten Streitigkeiten, die monatelang das Thema Nummer eins in der Stadt waren, schaltete sich schließlich auch Hermann Grimm ein: „Jakob würde nie so dagestanden, Wilhelm nie so dagesessen haben“, lästerte er über Wieses Modell. Beleidigt zog das Ministerium 1890 sein Geld-Versprechen zurück.

Die Bürger favorisierten die Entwürfe, die auf Platz zwei und drei gekommen waren: den des Berliner Künstlers Gustav Eberlein und den des Münchner Bildhauers Syrius Eberle. Das Komitee beugte sich dem Furor Volks und war bereit, von seiner Festlegung abzurücken. Stattdessen sollte Wilhelm Grimms Sohn Herman entscheiden - ein Kunst- und Literaturhistoriker - wie Denkmal auszusehen hatte. Der fand den drittplatzierten Entwurf am besten, und so wurde es schließlich gebaut. „Dieses Denkmal wird Hanau, Hessen und Deutschland zur Ehre gereichen“, befand Hermann Grimm 1894 enthusiastisch. So machte schließlich der Entwurf von Eberle das Rennen.

Es mußte weiter gesammelt werden. Es dauerte noch weitere Jahre, bis das Denkmal endlich vollendet und auf dem Markplatz plaziert werden konnte. Es ist 6,45 Meter hoch und sieben Tonnen schwer. Es hat 95.000 Mark gekostet. Als es am 18. Oktober 1896 enthüllt wurde, nahmen die Festredner das publikumswirksame Ereignis zum Anlaß, deutsch-nationales Kaisertum zu feiern - ein Gedankengut, das mit den Grimms herzlich wenig tun hatte: Ihre politischen Leitgedanken waren Freiheit und Demokratie.

Die schweren Bombenangriffe im zweiten Weltkrieg konnten dem Denkmal nur wenig schaden. Auch den verheerenden Bombenangriff auf die Stadt am 19. März 1945 überstand es weitgehend unbeschadet. Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges bildete das Standbild der Brüder Grimm deshalb ein beliebtes Fotomotiv für amerikanische Soldaten, die sich vor den monumentalen Märchensammlern ablichten ließen. Heute ist das Denkmal umgeben von Verwaltungs- und Geschäftsgebäuden. Die Wiederherrichtung hat der Hanauer Geschichtsverein übernommen. Während sich das Gesicht des einstmals in sich geschlossenen Marktplatzes in den vergangenen hundert Jahren völlig verändert hat, steht das Nationaldenkmal immer noch an seinem ursprünglichen Platz.

Zum Zeichen der Hoffnung wurde die Doppelstatue, als nach Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg die Hanauer Innen in Schutt und Asche lag. Alles war kaputt, nur Jacob und Wilhelm blieben wie durch ein Wunder unzerstört auf ihrem Sockel stehen. Und nach den rassistischen Anschlägen vom Februar 2020 wurde das Denkmal zum zentralen Platz für die Trauer um neun tote Menschen. Und so ist dieses Monument für die Hanauer nicht nur einfach eine Statue, sondern ein Symbol gelebter Geschichte in Stadt - in guten wie in schwierigen Zeiten.Man erzählt sich: In der Silvesternacht tauschen die Brüder miteinander. Dann darf sich der andere für ein Jahr lang hinsetzen.

Das Geburtshaus Ludwig Emil Grimms befindet sich in der Straße hinter dem Rathaus neben dem Stadtladen.

 

Wochenmarkt:

Mit der Erteilung der Stadtrechte für Hanau am 2. Februar 1303 durch König Albrecht an Graf Ulrich I. von Hanau erhielt die Stadt auch das Marktprivileg. Mittwochs wurde ein Wochenmarkt zum Nutzen jeder Art von Handel gehalten und den reisen Marktleuten Schutz zugesichert. Der Markt war einst auf dem Platz vor dem zweiten Rathaus der Altstadt, dem Deutschen Goldschmiedehaus, am heutigen Altstädter Markt. Mit dem Marktprivileg verbunden war auch das Recht, zwei Jahrmessen abzuhalten, die erste Messe fand allerdings erst 1589 statt.

Aufgrund der Lage Hanaus mit seinen Grenzen zur Freien Reichstadt Frankfurt, zum Erzbistum Mainz auf der anderen Mainseite, zu isenburgischen und anderen Grenzen waren verschiedene Maße und Gewichte und Münzen nicht ungewöhnlich.

Am heutigen Goldschmiedehaus findet sich noch die eiserne Elle, ein Längenmaß, als verbindliche Einheit für die Marktleute damaliger Zeit. In den damals offenen Arkaden des Gebäudes befand sich die Waage. Auf dem Platz steht noch der Ziehbrunnen, der Gerechtigkeitsbrunnen, zur Wasserversorgung.

In der „Capitulation“, dem Vertrag zur Neustadtgründung zwischen und wallonischen und niederländischen Neubürgern und dem Grafen Philipp Ludwig II. von Hanau, war in Artikel 16 das Recht auf einen Markt für die Neustadt vereinbart. Mittwochs und Samstag wurde Markt gehalten. Der Rat der Stadt bestimmte einen Marktmeister zur Aufsicht, der Betrug mit Maßen und Gewichten verhindern sollte.

In der neueren Geschichte der Stadt entwickeln sich spezielle Märkte. So wurde ein Fruchtmarkt (Kornmarkt) zeitweise auf dem Platz des Heumarktes gehalten: Ein Weinmarkt war um den Kran am einstigen Mainkanal. Der Fleischverkauf fand bei den Metzgern an der Schirn, der heutigen Nordstraße, statt. Ein Viehmarkt wurde am Sandhof, dem heutigen Heinrich-Fischer-Bad gehalten. Der Marktplatz war auch die Bühne für die Ausübung der Gerichtsbarkeit.

 

Heute heißt es, der Hanauer Markt er sei der schönste Wochenmarkt Hessens. Zu Füßen des Brüder-Grimm-Denkmals liegend dreht sich auf dem Neustädter Marktplatz jeden Mittwoch und Samstag alles um Obst und Gemüse, Wurst und Käse, Blumen und Kräuter, bevorzugt aus der Region. Und es geht ums Sehen und Gesehenwerden. Im Jahre 2016 feierte der Samstagsmarkt sein 400-jähriges Bestehen (nur der Markt am Samstag,  nicht der Markt überhaupt). Anlaß genug, einen Blick auf die Geschichte des hessenweit größten Wochenmarkts zu werfen. Seit 1303 hat Hanau einen Markt - unterhalb der Woche. Vor 400 Jahren dann konnten die Hanauer ihre frischen Viktualien auch samstags erwerben. Das ist bis heute so, von morgens ums sechs bis nachmittags um 14 Uhr.

Das Recht, einen Wochenmarkt abzuhalten, ist seit jeher ein Teil der städtischen Privilegien: Was eine Stadt ist, hat einen Markt, oder auch mehrere. In Hanau war es seinerzeit König Albrecht, der am 2. Februar des Jahres 1303 mit der Besiegelung des Stadtrechtsprivilegs der damals noch kleinen Kommune an der Kinzig das wöchentliche Marktrecht verlieh. Aus besonderer Gnade hat der König dies seinerzeit getan, so zumindest ist es auf der Internetseite der Stadt zu lesen: „Wir fügen aus zusätzlicher besonderer Gnade hinzu, daß in dem genannten Ort Hanau von jetzt an und in Zukunft ein Wochenmarkt zum Nutzen jeder Art von Handel jeweils am Mittwoch abgehalten wird", heißt es da vom lateinischen Original ins Deutsche übersetzt.

Im  Jahre 1597 wurde die Hanauer Neustadt gegründet. Dieser hatte Graf Philipp Ludwig II. zwei Wochenmärkte zugestanden. Es heißt dazu: „So solle die anordnung undt versehung geschehen, das wochendtlich zwey offentliche marktäge, uff welchen, soviel möglich, alle notdürftige victualien mögen gebracht und zu feylem kauff gegeben, angesteldt undt geholten werden."

Markttag für den Neustädter Markt war ab Mai 1605 der Dienstag. Über den zweiten Termin gab es lange Verhandlungen und massive Beschwerden der Neuhanauer, die ihren zweiten Markttag forderten. Doch diesen genehmigte Landesherrin Catharina Belgica mitsamt ihren Räten erst am 27. Mai 1616.

Daß dieser zweite Markttag auf einen Samstag gelegt wurde, hat nach Meises Vermutung mit den jüdischen Hanauern zu tun. „Während der Frankfurter Fettmilchunruhen des Jahres 1614 hatten viele Frankfurter Juden ihre Zuflucht in Hanau gefunden. Nach einer amtlichen Zählung am 4. Oktober 1614 waren zu den 49 Hanauer Haushalten (212 Personen) noch zusätzlich 50 Familien (209 Personen) aus Frankfurt gekommen Die Judengasse war übervölkert. Sie alle besuchten die Hanauer Wochenmärkte, waren dort aber nicht sonderlich gern gesehen. Deshalb versuchte sowohl die Alt- als auch die Neustadt, mit Hilfe einer besonderen Judenfahne die Zeit, die den Juden zum Marktbesuch zur Verfügung stand, einzuschränken. Erst wenn die rote Fahne mit dem gelben Ring, dem traditionellen Erkennungszeichen der Juden, aufgezogen war, durften Juden den Markt besuchen.

Die Räte der Neustadt haben wohl auch deshalb den Samstag als Markttag ausgewählt, weil an diesem Tag, dem jüdischen Sabbat, sicher keine Juden auf den Markt gingen. Damals habe man „unter sich“ bleiben wollen. Die bis heute ungebrochene Attraktivität des Hanauer Wochenmarkts wird durch  die große Vielfalt und Frische regionaler und internationaler Qualitätsprodukte garantiert. Doch die Besucher schätzen auch die Lebendigkeit, das Markttreiben, die umtriebige Geschäftigkeit. Peter Krebs, Vorsitzender des Wochenmarktvereins, liefert eine weitere Antwort auf die Frage, warum die Hanauer ihren Markt so sei lieben: „Unser Wochenmarkt hat ein ganz besonderes Ambiente und Flair, er ist, obwohl mit nahezu 80 Ständen relativ groß, dennoch familiär.“

 

Kaufhof

Das Kaufhauszeitalter in der Grimm-Stadt begann, wo das bekannte Gasthaus „Zum braunen Hirsch“ stand und einst die Postkutschen vorfuhren. Am 24. April 1929, nach neunmonatiger Bauzeit, eröffnete in der Nürnberger Straße 18 ein neuzeitlicher Warenpalast. Die Eröffnung des Kaufhauses Tietz war am Mittwoch für Hanau eine Sensation. „Tausende aus der Stadt und dem Landkreise hielten die Straßen besetzt“, jubelte die Lokalzeitung. Rund 4.000 Quadratmeter, von den anfänglich nur die Hälfte für den Verkauf genutzt wurde, umfaßte die moderne Eisenbetonkonstruktion des Hanauer Möbelfabrikanten Friedrich Kling. Auf 25 Jahre sollte sie an die Firma Leonhard Tietz vermietet werden, die zwei Jahre zuvor an der Ecke Hammerstraße/Langstraße ihr erstes kleines Geschäft in Hanau eröffnet hatte. „Wir sind wichtig für 90 Prozent der Bevölkerung“, notierte die Firma in einer Anzeige.

Aber bereits ein paar Jahre später mußte der 1905 zur Aktiengesellschaft umgewandelte Familienbetrieb dem Naziterror mit Geschäftsboykott und Enteignung Tribut zollen. Das Kaufhaus in Hanau wurde 1943 Ausweichlager der Firma Heraeus, noch ein paar Monate wurde bescheiden am Markt weitergehandelt, dann fielen die Bomben.

Nur wenige Wochen nach dem Krieg zog das Haus als eines der wenigen von Sprengbomben verschonte der Innenstadt wieder Einzelhändler an. In Ladengemeinschaft übernahm der Kaufhof die Versorgung der auf 9.000 Einwohner zusammengeschmolzenen Bevölkerung. Der offiziellen Wiedereröffnung folgte 1957 der Wechsel zum Marktplatz.

Erneut wurde das Warenhaus für neue Technik und moderne Einrichtung gelobt. „Städtebaulich hat der Kaufhof Hanau durch die in Aluminium gefaßte grüne Glasfläche dazu beigetragen, eine für seine Zeit modernen Kontrast zum romantischen Renaissancestil des Marktplatzes zu setzen, hieß es zum 100.Firmenjübiläum 1979.

Zu diesem Zeitpunkt war das markante Gebäude schon wieder mehrfach erweitert und um eine Tiefgarage unter dem Marktplatz ergänzt worden. Mit dem Wirtschaftswunder erlebte das Haus in den 60er Jahren seine Blütezeit. Mehr als 600 Mitarbeiter kümmerten sich um das Sortiment von etwa 70.000 Artikeln. Heute zählt der Kaufhof in Hanau noch rund 150 Beschäftigte und setzte nach Angaben von Geschäftsführer Ekkehard Busch im vergangenen Jahr rund 50 Millionen Mark um.

Zuletzt investierte der Konzern 1998 noch einmal 14 Millionen in den Standort und wertete das Haus zur Galeria-Kaufhof mit neuen Sortimenten und Markenshops auf. Die Optik des Gebäudes blieb davon unberührt. Die für den 50er Jahre-Stil typische Fassade steht mittlerweile unter Denkmalschutz.

 

Brunnen:

Vier Ziehbrunnen aus rotem Sandstein. standen früher an den Ecken des Marktplatzes Im Jahre 1605 hatte der Büdinger Steinmetz Conrad Buttener den ersten dieser Brunnen errichtet, und zwar war dies der Fischbrunnen, der an der Südwestecke seinen Platz hatte. Er diente den drei anderen Brunnen zum Vorbild, die in den Jahren 1615 bis 1621 geschaffen wurden. Sie hießen Rabeneck­brunnen, Schwanen- und Zangenbrunnen. Später gesellte sich noch ein fünfter Brunnen hinzu: der im Jahre 1768 errichtete Röhrenbrunnen, dessen Obelisk von der steinernen Figur des hessischen Löwen gekrönt wurde. Als jedoch das Denkmal der Brüder Grimm seinen Platz einnahm, mußte der Röhrenbrunnen weichen und in die Philipp-Ludwig-Anlage am heutigen Freiheitsplatz umsiedeln.

Fast alle Brunnen wurden im vergangenen Krieg zerstört. Übrig blieben auf dem Marktplatz. nur ein Rest des Fischbrunnens (des letzten Brunnens, der noch Wasser gespendet hatte), und der Schwanenbrunnen von 1616, allerdings stark beschädigt. Der Schwanenbrunnen wurde restauriert von dem fast 70jährigen Steinmetz Josef Hutsteiner. Der Schwanenbrunnen ist heute an der Südseite des Platzes in der Achse Rathaus-Paradiesgasse aufgestellt. (Bild in: Hanau Stadt und Land, Seite 142). 

 

Haus „Zum braunen Fels“, Markt 5:

Das Haus wurde im Jahre 1599 erbaut. Es war ein Eckhaus an der Paradiesgasse und lag dem ältesten Haus der Neustadt gegenüber. Der Giebel lag nach der Paradiesgasse. Sieben Achsen bildeten die Vorderfront nach dem Marktplatz. Die mittelst Fensterachse war als Risalit aus der Fassade herausgehoben. Auf diesem Mittelrisalit saß die Achse nach oben verlängernd, eine steinerne Dachgaube, die mit Bauornamentik reich geschmückt war. Unter dem kleinteiligen großen Doppelfenster saß eine Steinbalustrade. Zu beiden Seiten der Gaube standen spitze Obelisken. Zwei Voluten stiegen vom Dachgesims auf und trugen einen Architrav, auf dem ein Giebelfeld aufgesetzt war. Den Giebel begrenzten wieder zwei steigende Voluten, die eine Muschel trugen, die von einem Obelisk bekrönt war. Alle diese Bauornamente entsprachen dem Stilgefühl der Renaissance. Das Untergeschoß war durch eine Rustika-Struktur gegliedert. Auch an den Ecken des Hauses stiegen Rustika-Bänder auf. Das Portal mit den gedrehten Säulen und dem reichen plastischen Schmuck stammte aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts (Bild in: Hanau Stadt und Land, Seite 140).

 

Häuser und Straßen südlich des Marktes

Römerstraße und Nebenstraßen:

An der Ecke Am Markt / Lindenstraße (Südwestecke) befindet sich an dem Haus an der Ostseite ein Sandsteinskulptur „Römer-Eck 1788“: Zwei Knaben füllen Weinreben in ein Römerglas.

In der Langstraße 86 stand das Haus „Zum fliegenden Pferd“. Hier war von 1600-1712 die Buchdruckerei Aubry-Wechel. Der Pegasus, das Dichterroß, war das Buchdruckerzeichen.

Das Haus Langstraße 34 (neben Reisebüro Neckermann) hieß „Das Wasserweibchen“ und zeigt noch heute an der Fassade Reste von Sandsteinschmuck.

Der Name „Römerstraße“ hat nichts mit den Römern zu tun, sondern sie wurde so benannt, weil der in den Jahren 1617 bis 1629 als Ratsherr und 1629 als Bürgermeister der Neustadt amtierende Franz Römer die Tochter des Francois de la Boé (verwitwete Chombart) heiratete, die aus dem Hause Nr. 34 (später: Römerstraße Nr. 9) stammte.

Rosenstraße: Haus Nummer 1 „Zur Rose“. Die Häuser Römerstraße 5 und 7 wurden 1599 erbaut und standen auf der Südseite der Straße östlich vor der Einmündung der Steinheimer Straße (eventuell identisch mit Haus „Zum Bären­eck“ von 1599 an der Ecke Römerstraße/Steinheimer Straße oder auf der anderen Ecke der Einmündung). Das Haus Römerstraße 7 war bis zum Jahre 1914 noch beinahe unverändert in seinem ursprünglichen Zustand erhalten geblieben. Man betrat durch ein schönes Portal die mächtige Diele, die von einer schweren eichenen Kassettendecke überdeckt war. Die Diele maß 12 zu 6 Meter. Rechts neben der Diele lag das Büro des Handelsherrn mit dem Kamin, gegenüber lag das quadratische Speisezimmer, dahinter lag, ganz wie in Alt-Amsterdam, die große Küche. Eine kunstvoll geschwungene Holztreppe führte zum Obergeschoß in den Empfangsraum, der eine Tür auf den Balkon über dem Portal hatte.

 

Das Geburtshaus des Franciscus Sylvius:

Nichts erinnert an der schmucklosen Kreuzung Römerstraße / Glockenstraße heute noch an das prachtvolle Haus „Zur Stadt Amsterdam«, das hier einst stand. Bauherr war zu Beginn des 17. Jahrhunderts der Calvinist Isaac de le Boé, der wegen seines Glaubens aus dem Norden des heutigen Frankreichs fliehen musste. Im Jahre 1614 kam Isaacs Sohn Francois zur Welt, der später Hanau ließ, um in Basel und Leiden Medizin zu studieren. Dort in Südholland machte er Karriere, wurde Professor und schließlich Rektor der Universität. Weil es unter Medizinern damals schick war, legte er sich den lateinischen Namen „Franciscus Sylvius“ zu. Sein besonderes Augenmerk galt der menschlichen Verdauung, die er mit Wacholder verbessern wollte. Davon hatte er aus Italien gehört, experimentierte mit den entsprechenden Beeren, Alkohol und Koriander und schuf den Genever, der später unter dem Namen Gin ein riesiger Erfolg werden sollte. Denn die englischen Soldaten, die die Holländer im Krieg gegen Spanien unterstützten, brachten das Getränk nach Großbritannien und von dort aus in die ganze Welt. Allerdings dürfte es dabei wohl eher um Geschmack und Genuß als um Magenheilung gegangen sein. Um an die Erfindung des Herrn Sylvius zu erinnern, sind Hanauer auf den Zug aufgesprungen und lassen seit ein paar Jahren den „Francois Dry Gin“ produzieren. Hergestellt wird er in Brennerei Dirker, angereichert mit jeder Menge Pflanzenstoffen und schmeckt so gut, dass er zum Mixen fast zu schade ist.

 

Auch nicht mehr vorhanden sind die Häuser „Zur Stadt Antwerpen“ von 1602 (Ecke Römerstraße/Glockengasse). In der Glockenstraße stand das Haus „In der silbernen Glocke“ (Die angegebene Hausnummer 25 kann aber nicht stimmen, denn die Nummer gibt es gar nicht). In der Fischerstraße war Nummer 11 das Haus zur „Zur silbernen Kette“, Inhaber Ochs & Bonn (heute: Hauptpost). In der Altstraße war die Nummer 20 das Haus „Die Hechel“ (heute: Maschinenbau Semmler).

 

Kölnische Straße (südlich der Südostecke des Marktes): „Der Zuckerhut“

Französische Allee (rund um die wallonisch-niederländische Kirche): Haus Nummer 2 „Zum großen Hirschsprung“, Haus „Zur Stadt Mailand“ mit Hauszeichen.

Nürnberger Straße / Ecke Sandstraße Haus „Zum goldenen Kamm“ (möglicherweise war hier eine Wollkämmerei).

 

Hausnamen und Hausnummern in Hanau:

Wie bei den Familiennamen ging auch hier der Adel wegweisend voran. Er ließ nicht nur sein Wappen an seiner Burg in Stein einmeißeln, sondern gab ihr auch einen stolzen Namen. Und selbst in den Städten, wo sich im Umkreis einer Burg Adlige niedergelassen hatten, wurden die Wappen an dem Torbogen angebracht. Warum sollte der Bürger der Stadt, der, durch geschäftlichen Verkehr zu Wohlhabenheit gekommen, immer sicherer und selbstbewußter geworden war, diesen Brauch nicht nachahmen! Manche Wohnhäuser in der Stadt standen den Häusern der Adligen nicht nach. Wahrscheinlich gingen die Wirtshäuser mit diesem neuen Brauche voraus, und sie haben ja diese Gepflogenheit bis auf den heutigen Tag erhalten.

In der Altstadt hatten nicht alle Häuser einen Namen. da das Recht, ein Schild zu führen, genehmigungspflichtig war. Die Genehmigung kostete Geld. Der Kronenwirt zum Beispiel mußte 15 Gulden bezahlen. Unter 371 Häusern der Altstadt waren nur etwa 72 mit Namen und diese Zahl genügte durchaus, da durch diese Häuser die Richtungspunkte für den Suchenden gegeben waren. In der Judengasse hatten die 80 Häuser alle Namen, da die Juden damals noch keinen Familiennamen führten.

In der Neustadt waren Hausnamen häufiger, einmal, weil die neuen Bürger aus Frankreich, Belgien und Holland kamen, wo dieser Brauch stärker verbreitet war, und dann, weil die neuen Gewerbe, die diese Hugenotten aus ihrer Heimat mitbrachten, viele auswärtige Geschäftsleute anzogen. Schilder über den Geschäften mit Hausnamen gaben Auskunft, wo der Gesuchte zu finden war.

Die Hausnamen wählte man, um geschäftliche Obliegenheiten anzudeuten. Eine zweite Gruppe war gewählt worden, um gewisse örtliche Ereignisse festzuhalten. Eine Gruppe zeigt Hausnamen, die der Einbildungskraft und der Laune der Hausbesitzer entsprungen sind. Gold als Beiwort spielt bei der Namengebung eine große Rolle: 91 mal kommt es vor! Alle bekannten Tiere sind vorhanden, und zwar in natürlichen und unnatürlichen Farben! Eine Reihe von Straßen Hanaus dankt ihren Namen den Hauszeichen und Hausnamen!

Es gab in Alt- und Neu-Hanau im Jahre 1865 1.474 Hauptgebäude, die alle numeriert waren. Die Nummern sprangen von einer zur anderen Seite, je nachdem, wie die Häuser entstanden waren - ein sehr unpraktisches Verfahren. So brachte die städtische Steuerverwaltung im Jahre 1840 den Antrag ein, diesen Zustand abzuändern; er wurde jedoch abgelehnt, da als Folge der Umnumer­ierung auch die Einträge im Grundbuch, bei der Feuerversicherung und anderen Behörden geändert werden mußten. Außerdem wären die Kosten sehr erheblich gewesen.

Aber 1865 wurde endlich Ernst gemacht, daß alle Hauptgebäude straßenweise numeriert wurden. Auf der linken Seite wurde mit der ungeraden, auf der rechten Seite mit der geraden Zahl begonnen. Das Hauptgebäude wurde in derjenigen Straße eingetragen, in der sich der Hauseingang befindet.

Am 25. Juli wurde in der Gärtnergasse (Südrand der Neustadt) am Haus Nr. 1, dem „Blasebalg“, begonnen, und Mitte 1867 war die Numerierung fertig. Straßenschilder und Hausnummern wurden auf Kosten der Stadt ausgeführt und befestigt.

 

Die Wallonische und Niederländische Gemeinde in Hanau

Graf Philipp Ludwig II. von Hanau-Münzenberg hat schon 400 Jahren fremdsprachigen Religionsflüchtlingen erlaubt, eine Kirche zu bauen. Und zwar mitten in der Neustadt, die von calvinistischen Heimatvertriebenen aus Frankreich und den damals spanischen Niederlanden besiedelt wurde. Eines der Hauptanliegen der „Fremden“, die mit Philipp Ludwig II. die Gründung einer neuen Stadt neben der Altstadt Hanau vereinbart hatten, war der unbehindert den Gottesdienst und ein freies kirchliches Leben nach der Art, wie sie es in ihren Herkunftsländern auf reformierte - calvinische - Weise angenommen hatten. Vaterland und Heimat, Haus und Hof hatten sie aufgegeben, jahrzehntelange Irrfahrten auf sich genommen, bis sie hier in Hanau endlich eine eigene Stadt gründen und eine bleibende Statt finden durften. Wen nimmt es da Wunder, daß das erste der stattlichen Gebäude am Marktplatz „Zum Paradies“ genannt wurde und die vom Markt nach der Kirche führende Straße „Paradiesgasse“?

Die Wallonen und Niederländer kamen aus dem heutigen Nordost-Frankreich, aus Belgien und Holland, aus den reichen, blühenden Handelsstädten Brabants und Flanderns, die für die damalige Zeit wohl an der Spitze standen, was die Entwicklung von bürgerlichen Freiheiten, bürgerlichem Stolz und Selbstbewußtsein angeht. Handel und Gewerbe, wie auch die Schiffahrt auf Flüssen, Kanälen und den Meeren, waren sie gewohnt; sie waren zum Teil stolze Handelsherren mit weitreichenden Verbindungen, vermögend, wenn nicht gar reich.

Und nun hatten sie ein neues Vaterland, einen neuen Landesherrn gefunden in dem Manne, der ihnen als Gemahl von Catharina Belgica, der Tochter des Niederländischen Edlen Wilhelm von Oranien, glaubensmäßig verbunden war! Die Fürstin ihres neuen Vaterlandes entstammte der gleichen Heimat, war ihres Volkes und Glaubens.

Streitfragen mit staatlichen oder anderen kirchlichen Stellen ließen sich im Laufe der Geschichte nicht vermeiden. Sie wurden beigelegt oder sie sind als Spannungen, gewollt oder ungewollt, vorhanden. Jedenfalls beruhen auch heute noch die Existenz und die Freiheiten der beiden Gemeinden auf ihren alten Privilegien, die bei Wechsel der Landesherren und politischen Änderungen - wie Übergang der Grafschaft Hanau an die lutherische Linie Hanau-Lichtenberg, an Kurhessen und schließlich an Preußen - stets neu bestätigt oder durch höchstrichterliche Entscheidungen anerkannt wurden.

Beide Gemeinden hatten sich ausbedungen, ihre Pfarrer frei wählen zu dürfen. Da Französisch und Holländisch bis gegen Ende des letzten Jahrhunderts die Kirchensprachen waren, wählten sie ihre Pfarrer zumeist aus Frankreich, der Schweiz oder Holland. Diese mußten der staatlichen Gewalt vorgestellt werden und ein Treuegelöbnis ablegen. Unter preußischer Herrschaft wurde dann verlangt, daß der Pfarrer auch die Staatsangehörigkeit annahm. Mit dem Ende des Königreiches Preußen hat dessen Rechtsnachfolger, die Landesregierung, auf die Vorstellung der Pfarrer verzichtet, so daß die Wahl und Einsetzung eines Pfarrers ganz allein bei der kirchlichen Leitung der beiden Gemeinden liegt. Beide Gemeinden sind in der Verwaltung und Anlage ihres Vermögens frei, ohne staatliche Aufsicht, natürlich auch ohne jede staatliche Unterstützung und staatlichen Zuschuß.

Neben Gottes Segen, der allem Menschenwerk beigegeben sein muß, wenn es Bestand haben soll, ruhen die Wurzeln des Gemeindelebens der Wallonen und Niederländer in ihren Bekenntnisschriften, „daß sie nämlich ihres Glaubens nach der Art, wie sie in den reformierten Kirchen Frankreichs und Hollands sich herausgebildet hatte, leben dürften.“ Als wichtigste davon seien hier nur für die Wallonen „die französische Kirchenordnung von 1559“, für die Niederländer die „Middelburger Artikel von 1581“ genannt. Beide atmen den gleichen Geist, sind sinnverwandt in der Auffassung, wie eine christliche Gemeinde und Kirche nach reformierter Art aufgebaut, verwaltet und geleitet wird.

Drei kirchliche (geistliche) Ämter sind zur Leitung und Verwaltung einer Gemeinde notwendig: Pfarrer, Älteste und Diakone. Aber nicht ein einzelner steht an der Spitze der Gemeinde, sondern eine Körperschaft, das „Consistorium“, die „venerable Compagnie“. In ihr sitzen Pfarrer, Älteste und Diakone zusammen, jeder mit einem bestimmten Aufgabenbereich betraut und dafür verantwortlich. Der Vorsitzende der Ältestenschaft, auch „Ministerium“ genannt, vertritt gemeinsam mit dem Pfarrer die Gemeinde nach außen hin, in dessen Verhinderung auch allein. Beide allein oder zusammen sind aber an die Beschlüsse des Consistoriums gebunden. Die Ältesten leiten und verwalten die Angelegenheiten der Gemeinde; die Diakonie ist speziell mit der Armenpflege und Liebestätigkeit betraut. In der Regel finden die Sitzungen gemeinsam statt, eben als „Consistori­um“, und werden vom Pfarrer geleitet. Auf allen kirchlichen Zusammenkünften haben Pfarrer und Älteste gleiche Rechte.

Anfangs konnten die Hanauer Consistorien an zahlreichen Synoden, also Kirchenversammlungen, teilnehmen. Doch durch die Wirren des Dreißigjährigen Krieges rissen die Verbindungen ab. Dazu kamen dann noch staatliche Einflüsse, die die Beschickung von Synoden schwierig machten. Als letzte und oberste kirchliche Instanz hat sich bei den Hanauer Gemeinden daher und gewissermaßen als Ersatz für die verlorengegangenen Synoden das sogenannte „Große Consistorium“ herausgebildet, eine Versammlung aller Glieder, die der Gemeinde mindestens einmal die vorgeschriebenen Jahre als Ältester oder Diakon gedient haben.

Wählbar zu den Ehrenämtern als Ältester oder Diakon ist jedes unbescholtene männliche Gemeindeglied. Zuerst bei der Niederländischen Gemeinde, dann auch bei den Wallonen, wurden Frauen in einem bestimmten Verhältnis als Älteste und Diakone zugelassen. Das Consistorium ergänzt sich durch Wahl, indem diejenigen Ältesten und Diakone, deren Dienstzeit beendet ist, ausscheiden; die neu zu Wählenden werden der Gemeinde vom Consistorium vorgeschlagen (Cooptation).

In Deutschland gibt es noch einige wenige reformierte Gemeinden, deren Freiheiten und Rechtsstellung ähnlich der beiden Hanauer Gemeinden sind. Diese haben sich Ende der zwanziger Jahre zu einem „Bund freier reformierter Kirchen“ zusammengeschlossen, der durch Anschluß der Reformierten Kirche Bayerns Verstärkung erhielt. Dieser Bund hält auch wieder Synoden ab, bildet also gewissermaßen eine reformierte Kirche und ist auch der Evangelischen Kirche in Deutschland angeschlossen.

Einen beträchtlichen Zuwachs erhielt besonders die Wallonische Gemeinde aus Frankreich nach 1685 durch die Aufhebung des Ediktes von Nantes. Doch kehrten manche der damals eingewanderten Familien in ihr altes Vaterland zurück, nachdem sich die Verhältnisse dort beruhigt hatten. Eine reiche Liebestätigkeit entfaltete die Diakonie jahrzehntelang bei dem Durchzug hugenottischer Flüchtlinge nach der Mark Brandenburg, die dem hochherzigen Angebot und Ruf des Großen Kurfürsten und seiner Nachfolger folgten oder in andere deutsche Fürstentümer zogen, deren Landesherren das Beispiel des großen Kurfürsten nachahmten.

Daher auch die innere Verbundenheit der Hanauer Gemeinden, deren Gründer, geschichtlich gesprochen, „Geusen“ waren, zu Hugenotten und Waldensern. Hugenottische und waldensische Gründungen und Siedlungen wurden daher auch jederzeit von den Hanauer Gemeinden unterstützt. Hier seien nur die Orte Frankenthal in der Pfalz, Friedrichsdorf und Dornholzhausen im Taunus, Rohrbach, Wembach und Hahn im Bezirk Darmstadt, Walldorf bei Frankfurt und Wal­densberg im Kreis Gelnhausen angeführt.

Hatten die Gemeinden in den ersten Jahren ihres Bestehens oft mit Geldsorgen zu kämpfen, so kamen sie durch Stiftungen, Schenkungen und Vermächtnisse im Laufe der Zeit zu ansehnlichem Vermögen. Es war Generationen hindurch ein edler Brauch, bei Errichtung eines Testaments auch die Ministerien- und die Diakoniekasse zu bedenken. Nachdem durch die Inflation große Verluste entstanden waren, gingen die Gemeinden dazu über, auch von ihren Angehörigen einen Beitrag zur Verwaltung und für die Armenpflege zu erbitten, der sich in Höhe der üblichen „Kirchensteuer“ hält. Nachdem Hanau in Schutt und Asche gesunken war, erwarben die Gemeinden mit dem Rest ihres Vermögens das Anwesen Nußallee 15, die ehemalige „Städtische Kinderkrippe“, die auf eine Stiftung der beiden Gemeinden an die Stadt (1897) zurückgeht.

Sind auch die Namen der alten Familien im Mannesstamme verlorengegangen, so ist das Blut der Gemeinde doch in zahlreichen Familien unserer Stadt von Frauenseite vererbt, und mancher Familienforscher wird sich freuen, bei Aufstellung von Stammbäumen und Ahnentafeln feststellen zu können, daß er zahlreiche „hugenottische“ Vorfahren hat. Ihnen in der Glaubenshaltung und der daraus resultierenden Einstellung zum Leben nachzueifern, soll innere Verpflichtung sein! Psalm 92, Vers 13: „Der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum“ ist der Wappenspruch beider Gemeinden durch eine über 350jährige Geschichte.

           

Haus „Zum Paradies“:

Mit der Grundsteinlegung des Hauses „Zum Paradies“ war am Tag der „Capitulation“, am 1. Juni 1597, begonnen worden.  Die Paradiesgasse, die vom Markt zur Wallonisch-Niederländischen Kirche führt, trägt ihren Namen nach diesem ersten Haus der Neustadt. Es stand nicht gleich an der Ecke, sondern es handelt sich um das Haus Nummer 7 an der Westseite der Straße. Die Bauinschrift blieb erhalten: „DAS ERSTE GEBAVT HAVS BIN ICH ZVM BAREDEIS MAN HEISET MICH VOR BRANT VND NOT MICH GOT BEIWAR DAS SELBICHE AVCH AN MEINEN NESTEN NIT SBAR 1597“

 

Wallonisch-Niederländische Kirche:

Noch vor dem Rathaus errichteten die Zugezogenen eine Doppelkirche mit der Sakristei in der Mitte. Das Gotteshaus in der Französischen Allee 12, das sich durch sein hohes Dach in der Silhouette Hanaus abhob und zu einem Wahrzeichen der Stadt wurde, hieß im Volksmund „Die französische Kirche“. Sie war eine Doppelkirche, bedingt durch die Zweisprachigkeit der Gemeinde, die jedoch ihre religiöse Einheit durch die bauliche Verbindung unter einem Dach hervorhob. Das größere, nach Westen gelegene, auf zwölfeckigem Grundriß erbaute Gotteshaus war die Wallonische Kirche. Das kleinere, nach Osten gelegene, war die niederländische Kirche.

Die Erbauung des Gotteshauses erfolgte zwischen 1600 bis 1609 und war ein Denkmal derer, die nicht gewillt waren, sich einem fremden Joch zu beugen und um ihres Glaubens und ihrer Gewissensfreiheit willen ihre Heimat verließen.

 

Das Problem war: Die beiden Gruppen hatten zwar denselben Glauben unterhielten sich aber in unterschiedlichen Sprachen. So sich zwei Gemeinden, die irgendwann natürlich auch ein Gotteshaus wünschten. Also einigte man sich schließlich, eine Doppelkirche zu bauen. Der größere Teil für die Wallonen, der kleinere als angebautes Achteck für die Niederländer, aber „durch eine gute Mauer“ getrennt. im Lauf der Jahrhunderte verschwanden aber Französisch und Flämisch aus den Gassen der Hanauer Neustadt, weswegen auch Gottesdienste mehr und mehr auf Deutsch gehalten wurden.

 

Über die Baugeschichte der merkwürdigen Doppelkirche geben das handschriftliche Werk des Wilhelm Sturio: „Jahrbücher“ der Neustadt Hanau und Grafschaft Hanau-Münzenberg (1597- 1620) und die Ratsprotokolle der Neustadt eingehend Auskunft: Die feierliche Grundsteinlegung der Doppelkirche wurde am 9. April 1600 vollzogen. Die Fertigstellung des Baues zog sich bis zum Jahre 1608 hin, der Innenausbau noch länger. Als Architekten werden vor allem René Mahieu, daneben Johann d’Hollande und Daniel Soreau genannt.

Der erste Gottesdienst fand am 29. Oktober 1608 in der Wallonischen Kirche statt. Der Bau als solcher war gerade eben erst roh unter Dach; die Fertigstellung der Innenräume, besonders der Niederländischen Kirche, zog sich aber noch Jahre, bis in die Anfangsjahre des Dreißigjährigen Krieges, hin (Bild in: Hanau Stadt und Land, Seite 143).

 

Der Grundriß der beiden „Neustädter“ Kirchen, der Zentralbau, stellt den idealen Typ einer protestantischen Predigtkirche dar. Den Erbauern der Hanauer Doppelkirche an der Wende zum 17. Jahrhundert bot sich keine ausgeprägte Stilrichtung an, nirgends konnte man gültige Vorbilder kopieren, der protestantische Kirchenbau war ohne eine große Tradition. So griff man auf spätgotische Formen zurück. Baugeschichtliche Verwandte der beiden Kirchen sind die „Temples“ der Hugenotten in Frankreich, die als Zentralbauten aus Holz errichtet worden waren. Aber nur der „Temple de Lyon nommé Paradis“ hat sich uns in seinem Aussehen durch einen Kupferstich erhalten.

Die Idee des protestantischen Zentralbaues wurde in Deutschland in der großen Doppelkirche weit vor den anderen Versuchen vorbildlich ausgesprochen. Das Innere der Kirchen hatte sich ganz von dem gotischen Stilvorbild gelöst. Die Emporen, die ringsum liefen, wurden von toskanischen Rundsäulen getragen, die sich über den Emporen als Deckenstützen fortsetzten. Die weitgespannten Decken in beiden Kirchen waren durch Unterzüge gegliedert, in den Feldern waren reiche Stuckornamente in einfachen geometrischen Formen. Eine technische Meisterleistung war die Dachkonstruktion; ohne Mittelstützen ruhte das Dach allein auf den Außenwänden und den in geringem Abstand von der Wand innen umlaufenden Säulen. Das Dach und die Decke waren „in sich selbst aufgehängt“.

Die hohen Kirchenfenster der Wallonisch-Niederländischen Kirche in Hanau zeigen dasselbe reiche Maßwerk wie etwa die spätgotischen Fenster der Marienkirche; allerdings wurde der Spitzbogen aufgegeben und die Fenster schwingen in einen Rundbogen aus. Seltsam muten diese Fenster über den ganz in den strengen Ordnungen der Spätrenaissance komponierten Portalen der Kirche an.

Am 19. März 1945, als kurz vor Kriegsende das alte Hanau in Schutt und Asche gelegt wurde,

überstand die mächtige Doppelkirche das alliierte Bombardement nicht. Nach dem Krieg entschied man sich, die kleinere Hälfte wieder aufzubauen, der größere wallonische Teil sollte als Mahnmal im zerstörten Zustand bestehen bleiben. Nach der Umgestaltung des Areals in den vergangenen Jahren ist rund um die Kirche einer der schönsten Plätze der Hanauer Innenstadt entstanden. Und mit der Ruine eines ehemaligen Flüchtlings-Gotteshauses symbolisiert er alles, was Hanau seit Jahrhunderten ausmacht: Weltoffenheit, Liberalität, aber auch Verwundbarkeit.

 

In der Ruine der Wallonischen Kirche wurde anläßlich des 2. Deutschen Turntages zu Pfingsten 1952 eine Schärttner-Gedenktafel angebracht. Die kleinere niederländische Kirche wurde in den Jahren 1957 - 1960 wieder aufgebaut und ist seitdem das Gotteshaus der seit 1960 vereinigten Wallonisch-Niederländischen Gemeinde. Zwischen beiden Kirchen befinden sich zwei eingebaute Treppentürmchen.

Die Ruine der Wallonischen Kirche bleibt als Mahnmal bestehen. Im wiederhergestellten Innenraum der Niederländischen Kirche war man bemüht, dem „Alten“ Rechnung zu tragen, indem die Pfeilererstellung, der Emporeneinbau, die Treppenanlagen, die Raumeinheiten, Orgel und Kanzel an ihrer gewohnten Stelle blieben. Das Kircheninnere ist calvinistisch schlicht gehalten, jedoch modern. Die Orgel wurde von der Firma Willi Peter, Köln, hergestellt. Zwei kleine Glocken befinden sich in einem freihängenden Glockenstuhl in der Ruine.

Südlich der Kirche erinnert das von Max Wiese zum 300jährigen Neustadtjubiläum 1897 geschaffene Denkmal des Hanau-Münzenberger Grafen Philipp Ludwig II. an die Gründung der Neustadt. Dem Grafen, der sie nach Hanau geholt hatte, haben die Neustädter hier ein Denkmal gesetzt.

Bilder in: Hanau Stadt und Land:

Seite 433: Wappen des Oberamtmanns Johann Engelbert Halber von Herpern (gestorben 1566) von seinem Hof in der Schloßstraße in Hanau.

Seite 434: Hauszeichen am Hause „Zur Stadt Mailand“ (Französische Allee) und „In der silbernen Glocke“ (Glockenstraße), beide 1945 zerstört.

 

Neugestalteter Platz an der Wallonisch-Niederländischen Kirche:

Auf der Zielgeraden befindet sich die Fertigstellung des Platzes um die Wallonisch-Niederländ­ische Kirche. Gekrönt werden soll dessen Neugestaltung durch das begehbare Kunstwerk „Neustadtplan“, mit dem Professor Claus Bury den Grundriss der 1597 gegründeten Hanauer Neustadt aufnimmt. Nach anderthalb Jahren Bauzeit - inklusive umliegender Straßen - wird die neue Grünanlage am Freitag, 25. September 2020 eröffnet.

Rund 3,3 Millionen Euro hat die Stadt in die Umgestaltung des letzten Hanauer Platzes investiert, weitere 3.9 Millionen in die umliegenden Straßen. Drei Bäume sind um das Neustadt-Relief gepflanzt und kommen zu den 29 neuen hinzu, die dem Platz mit 3.800 Quadratmetern Fertigrasen ein eigenes Flair geben. Die Amber- sowie Schnurbäume und Silberlinden sollen einmal 20 bis 25 Meter hoch wer-

und eine Kronenbreite von 12 bis 18 Metern erreichen. Damit sie hohe Sonneneinstrahlung besser vertragen können, erhalten alle Stämme einen weißen Anstrich. Auf einem nicht gepflasterten Schotterstück zwischen dem Denkmal von Neustadtgründer Graf Philipp II. und der großen Linde auf der Ostseite entsteht noch eine Boulebahn.

Ungewöhnliches hat der Platz auch auf den ihn unmittelbar säumenden Straßen zu bieten: Heller, gegen Aufheizung wirkender und Laternenlicht gut reflektierender Asphalt wie auf der Ostseite und der Südostseite kommt nun auch auf der West- und Südwestseite hinzu - ebenso zeitgleich in der Lindenstraße. Die Nordseite ist seit langem schon gepflastert und bleibt ohne Autoverkehr; ein Behindertenparkplatz befindet sich auf der Nordostecke neben der Gas- und Trafostation, die im Oktober mit einer Einhausung versehen wird.

Dieser Parkplatz ist ebenso mit kleinen silberfarbenen Tellern im Asphalt markiert wie die in der Französischen Allee.

In der Französischen Allee sind auf der Ostseite bereits die Sitzlinsen angebracht, die außer zum Ausruhen auch dazu dienen sollen, zu forsches Abbiegen um die Straßenecken zu verhindern wird. Insgesamt sind 20 solcher Sitzlinsen um den Kirchplatz vorgesehen. Auf dem Platz selbst kommen sechs Bänke mit hölzerner Sitzfläche auf der Nordseite und fünf Natursteinblöcke hinzu, um sich darauf niederlassen zu können. Parkscheinautomaten werden demnächst installiert. Eine Ladestation auf der südlichen Französischen Allee dient dem Betanken von Elektrofahrzeugen. Für Fahrräder stehen am Platz und in den umliegenden Straßen 36 Abstellbügel zur Verfügung.

Der gesamte Kirchplatz wird zur Fußgängerzone, das gilt auch für die Paradiesgasse. Französische Allee, Lindenstraße und Karl-Röttelberg-Straße werden zu verkehrsberuhigten Bereichen, wobei die Karl-Röttelberg-Straße als letzte möglichst noch in diesem Herbst  umgebautwird. Die Lautenchläger, Schützen-, Alt- und die Hahnenstraße werden zu Tempo-30-Zonen.

Zwischen Gehsteigen und Fahrbahn gibt es insgesamt 42 Parkplätze. Die Gebühren für die neuen Parkflächen rund um die Wallonisch-Niederländische Kirche - Französische Allee West, Ost und Süd - sind denen in der Tiefgarage am Markt angepasst. Pro fünf Minuten werden demnach 20 Cent fällig. Eine entsprechende Ergänzung der Hanauer Parkgebührenordnung hatte der Haupt- und Finanzausschuss in Vertretung der Hanauer Stadtverordnetenversammlung in seiner jüngsten Sitzung abgesegnet. Alle Fraktionen mit Ausnahme der Grünen votierten dafür. Sascha Feldes erklärte die Enthaltung seiner Fraktion mit der Überzeugung, dass die Parkplätze dort per se eine ausgesprochen schlechte Idee seien. „Der Stau vor der Tiefgarage am Marktplatz wird sich dann in einen Suchverkehr rund um die Wallonisch-Niederländische Kirche wandeln“, prophezeite Feldes.

 

Zeichenakademie

In der Gärtnerstraße stand die im 18. Jahrhundert gegründete Zeichenakademie. Heute steht an der Stelle das schöne Gebäude der Pedro-Jung-Schule (Hilfsschule). Die heutige Zeichenakademie steht in der Akademiestraße. Im Jahre 1772 hatte Erbprinz Wilhelm von Hessen-Kassel die Akademie auf Drängen der Hanauer Goldschmiede gegründet - ein Gewerbe, das im 16. und 17. Jahrhundert wallonisch-niederländische Glaubensflüchtlinge in die Stadt gebracht hatten.

Die Anfangsjahre der Schule, die stets durch das Spannungsfeld zwischen Kunst und Handwerk geprägt war; fielen in die Übergangszeit zwischen Spätbarock und Klassizismus. Nach einer ersten Blüte, die die Schülerzahlen in den reinen Zeichenklassen auf bis zu 300 Schüler anstiegen ließen, wurde der Unterricht 1830 auf Drängen der Hanauer Bijoutiers um Modellieren, Bildhauerei, Malerei und Emailmalerei erweitert.

Die Idee zu einer bedeutenden Kunstakademie konnte sich jedoch gegen die Interessen der heimischen Schmuckfabrikanten nicht durchsetzen. Unter Direktor Karl Hausmann, der 1880 auch das neue Schulgebäude eröffnete, gab es eine Neuorientierung hin zu einer praxisbezogenen Schule, an der Muster- und Ornamentzeichnen ebenso gelehrt wurden wie Gravieren und Ziselieren. Im Jahre 1889 wurde die erste Bijoutierwerkstatt eröffnet, 1902 erhielt die Zeichenakademie den offiziellen Zusatz „Fachschule für Edelmetallindustrie“.

Mit der Einrichtung der Werkstätten kamen nicht nur Lehrlinge aus Hanauer Betrieben, die sich im Zeichnen bildeten, sondern zunehmend auch Ganztagsschüler. Frauen waren eine kleine Minderheit: Um 1900 machten sie etwa zehn Prozent der etwa 330 Schüler aus. Finanziell ohnehin schon gut ausgestattet, wurde die Akademie von der Stadt Hanau, der Handelskammer, den Landkreisen Hanau und Gelnhausen sowie zahlreichen Stiftungen zusätzlich unterstützt. Medaillen bei Weltausstellungen sowie das Interesse zahlreicher ausländischer Schüler belegen ihre Bedeutung um die Jahrhundertwende. Berühmte Maler, Bildhauer und Designer wie Georg Corni­celius, Friedrich Hausmann, August Gaul, Reinhold Ewald, Hugo Leven oder Wilhelm Wagenfeld stehen für die künstlerischen Impulse, die von dieser einzigartigen Lehranstalt im Laufe ihrer Geschichte ausgingen.

Danach folgte eine Zeit des Umbruchs, in der solider handwerklicher Tüchtigkeit mehr Stellenwert als dem schöpferischen Bereich beigemessen wurde. Die Schülerzahlen gingen auf 190 zurück. Neue Impulse brachte erst Hugo Leven, 1909 die Leitung übernahm und die Schule im Sinne der Werkbundidee - mehr Qualität für die gewerbliche Arbeit - reformierte.

In einem neuen Aufschwung entwickelte sich die Einrichtung nun zu einer Ausbildungsstätte von internationalem Rang mit bedeutenden Lehrern, die sich mit der konstruktivistischen Formensprache des Bauhauses auseinander setzten. Das hohe Niveau der Ausbildung schlug sich 1923 in Anerkennung der Abschlußprüfung als Gesellenbrief nieder. Auch Wilhelm Wagenfeld, einer der bedeutendsten Industrie-Designer, erhielt in dieser Zeit wichtige Impulse als Stipendiat an der Zeichenakademie.

Levens Traum von 1927, mit einem Neubau ein „Bauhaus“ nach Hanau zu bringen, ließ sich nicht verwirklichen. Die NS-Diktatur führte zu einem Niedergang. Im Jahre 1933 wurde Leven entlassen, die Akademie verkam zu einer reinen Goldschmiedeschule. Im Jahre 1936 waren noch zehn Schüler übriggeblieben. Als „nicht kriegswichtig“ sollte sie schließlich 1943 geschlossen werden, was durch den Einsatz der Schüler in der Rüstungsindustrie verhindert wurde.

Bei dem großen Bombenangriff 1945 auf Hanau brannte auch das Akademie-Gebäude vollständig aus. Der Betrieb wurde bereits 1947 in anderen Räumen wieder aufgenommen, der Wiederaufbau vorangetrieben. Im Jahre 1949 wurde die aus der NS-Zeit stammende Bezeichnung „Meisterschule deutschen Handwerks“ in „Staatliche Zeichenakademie für das Edelmetallgewerbe“ umbenannt.

Nachdem Leven aus gesundheitlichen Gründen nur kurze Zeit das Amt erneut antrat, kam 1950 Bernd Oehmichen wieder zum Zug, der bereits 1943 Direktor der Schule war und als Parteigenosse der NSDAP 1945 seines Amtes enthoben wurde. Im Jahre 1953 wurde der Wiederaufbau des Hauptgebäudes beendet, 1965 erstmals über die Einrichtung einer Fachschule diskutiert. Bis zu seinem Ausscheiden 1967 bemühte sich Oehmichen, wieder bedeutende Lehrer an die Schule zu holen, so Eberhard Burgel, Siegfried Männle oder auch Albrecht Glenz.

Die zentralen Themen der vergangenen Jahrzehnte unter den beiden Leitern Walter Dennert und Hermann Schadt beschäftigen auch die neue Leiterin, Gabriele Jahns-Duttenhöfer, die seit Anfang des Jahres 2001 im Amt ist: Es geht um Fragen der Schulentwicklung wie beispielsweise zu einer Fachhochschule und auch der bereits 1989 geforderte Neubau.

Die Schule bietet umfangreiche und gefragte Ausbildungsmöglichkeiten mit unterschiedlichen Abschlüssen. Die Berufsfachschule besuchen etwa 170 Schüler. Sie lernen in der dreieinhalb­jährigen Ausbildung Goldschmied oder die Spezialberufe Graveur, Schmucksteinfasser, Metallbildner, ehemals Ziseleur, sowie Silberschmied. Für den Beruf des Silberschmieds gibt es allerdings nicht ausreichend Nachwuchs, im Sommer-Semester 2001 blieben noch zwei Plätze in dieser Sparte frei.

Ihr staatlicher Abschluß entspricht dem Gesellenbrief des Handwerks. Der Unterricht erfolgt in Werkstattklassen von 14 bis 16 Schülern. Theorie, zu der Kunstgeschichte, Fachmathematik aber auch Chemie oder Edelsteinkunde gehört, wird in größeren Einheiten gelehrt.

Die zweijährige Fachschule bietet eine Weiterbildung zum Staatlich geprüften Gestalter. Diese Absolventen können auch ihre Meisterprüfung vor der Handwerkskammer ablegen. Schließlich werden noch Auszubildende aus edelmetallgestaltenden Betrieben aus ganz Hessen unterrichtet.

Nach wie vor am größten ist der Andrang bei den Goldschmieden. Um die 45 Plätze drängen sich trotz zurückgehender Bewerberzahlen rund 250 junge Menschen aus dem In- und Ausland. Auch Hauptschüler werden bei entsprechendem Talent aufgenommen, sind jedoch eher die Ausnahme. Rund 80 Prozent kommen mit Abitur. In dem aufwendigen Auswahlverfahren ist die künstlerische Begabung ausschlaggebend, die in zeichnerischen oder plastischen Arbeitsproben unter Beweis gestellt werden muß. Die hohen kreativen Anforderungen schlagen sich auch im Lehrplan nieder. Seit der Gründung 1772 lag der Schwerpunkt auf der künstlerischen Bildung. Bis heute hat sie einen hohen Stellenwert.

Erst nach dem zweiten Jahr fällt die endgültige Entscheidung für den Lehrberuf. Im dritten Jahr erarbeiten die Auszubildenden zu Aufgaben des Gestaltungslehrers anspruchsvolle eigenständige Entwürfe. Die praktische Arbeit in der Werkstatt wird mit drei Tagen pro Woche intensiver, die Experimentierlust angeregt, das Selbstvertrauen in das eigene Können gestärkt.

Wichtigstes Projekt im Jahr 2002 wird der seit Jahren geforderte Neubau mit einem Investitionsvolumen von rund acht Millionen Mark sein. Das architektonisch anspruchsvolle zweigeschossige Gebäude soll 680 Quadratmeter Raum für Unterrichtsräume und Cafeteria bieten. In einem zweiten Bauabschnitt wird damit auch ein Teil des archaisch anmutenden Ambientes verschwinden: Mit einer umfangreichen Modernisierung der Werkstätten werden auch in der Staatlichen Zeichenakademie CNC-gesteuerte Maschinen (Computerized Numerical Control, numerische Steuerung per Computer) Einzug halten. Die Computer werden aber den freien Gestaltungswillen nicht behindern. Und die Arbeit mit dem Stichel, seit Jahrhunderten wichtiges Arbeitsmittel der Edelmetallgestalter, wird ebenfalls nicht verdrängt.

 

Jüdischer Friedhof

Der jüdische Friedhof zwischen Jahnstraße und Mühltorweg ist nahezu unversehrt erhalten geblieben. Die älteren Grabsteine tragen ausschließlich hebräische Inschriften und zeigen neben den Händen der Priester und den Kannen der Leviten auch Reliefs der alten Hauszeichen. Die hebräisch-deutsche und schließlich fast ausschließlich deutsche Beschriftung der neueren Steine zeugen von der allmählichen Angleichung der Judengemeinde an ihre Umwelt, die zur Gleichberechtigung zu führen schien und durch die Mordpolitik der nationalsozialistischen Diktatur so schrecklich endete.

 

 

 

 

Außenbezirke

Hessen-Homburg-Kaserne

Die Kasernengebäude nördlich der Lamboystraße wurden Anfang des 20. Jahrhunderts von der Stadt Hanau gebaut. Im  Jahre 1912 zog das 3. Eisenbahn-Pionierregiment ein. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs verbot der Versailler Vertrag die Stationierung von Militär in Hanau. Die Kasernen blieben zunächst leer. Die Eisenbahntruppe wurde aufgelöst, die Kasernengebäude schließlich für gewerbliche Zwecke und als Wohnungen vermietet. Unter anderem liefen dort eine Eisengießerei, eine Drahtfabrik, eine Diamantenschleiferei.

Ab 1937 war in der Kaserne deutsche Infanterie stationiert. Von 1945 bis Anfang der neunziger Jahre nutzten amerikanische Pioniertruppen Häuser und Gelände. Von 1992 bis 1994 brachte das DRK bosnische Kriegsflüchtlinge unter. Im späteren Gebäude der Bildstelle war während dieser Zeit eine Hundertschaft des Bundesgrenzschutzes stationiert.

Das ehemalige Wachgebäude der Francois-Kaserne ist heute die Gaststätte „Zur alten Wache“.

 

Gedenkstein Karl-Marx-Straße:

Wenn man die Lamboystraße stadtauswärts fährt und in die Karl-Marxstraße nach rechts abbiegt, steht man bald vor dem Haus Nummer 36 einem Gedenkstein.  „Schlacht am 30. Oktober 1813. Deutsches Zentrum“ ist auf ihm Gedenkstein zu lesen. Der Stein erinnert an eine Schlacht gegen Napoleon. Der französische Feldherr hatte am 29. Oktober 1813 mit seinen Truppen in Langen­selbold gestanden, der bayerische General Wrede dagegen in Hanau zwischen Kinzig und Lamboy­wald. Wrede machte allerdings den Fehler, von einem kleinen französischen Heer auszugehen. So bot der Bayer dem Korsen die Schlacht an und wurde prompt geschlagen. Napoleon ließ in der Nacht vom 30. auf den 31. Oktober die Stadt Hanau beschießen und in Brand setzen. Doch Wrede gab nicht auf und stürmte die Stadt; die Franzosen zogen ab.

Im Jahre 1857 hielt es der „Verein für Geschichte und Erdkunde“ - ein Vorläufer des Geschichtsvereins - für angemessen, dieser Schlacht Denkmäler zu setzen. Der Hanauer Steinmetz Friedrich Adelmann erhielt den Auftrag, fünf Gedenksteine aus Sandstein zu meißeln. Sie sollten an den Orten aufgestellt werden, wo die einzelnen Flügel des erfolgreichen Heeres standen - wie das „Deutsche Zentrum“ in der heutigen Karl-Marx-Straße. Die Steine wurden wohl „ohne Feierlichkeit“ eingesetzt. Das Mal in der Karl-Marx-Straße ist nicht mehr im Original-Zustand: Zwar ist der Korpus noch der alte, die Tafel mit der Inschrift wurde jedoch Ende der 80er Jahre ausgetauscht.

Ein weiterer Gedenkstein ist an der Nordbahnhofunterführung und in der Bruchköbeler Landstraße nahe der Kinzigbrücke, wo rechts die Straße „Vor der Kinzigbrücke“ abzweigt. An der Südostseite der Kinzigbrücke steht der Gedenkstein für den bayerischen General Wrede an der Stelle, wo  er verwundet wurde. Einen weiteren Stein für den „Deutschen rechten Flügel“ gab es in der Leipziger Straße, der aber laut einem Vermerk beseitigt wurde.

 

Herrenmühle:

Der Gebäudekomplex in der Nordstraße 86 ist abgeschieden, doch zentral gelegen, ein Denkmal im alltäglichen Gebrauch seit mehr als einem halben Jahrtausend. Stetigem Wandel unterworfen ist die Herrenmühle zugleich ein Ort seltener Kontinuität in dem von Kriegszerstörungen so gezeichneten Hanau.

Ernst Zimmermann erwähnt „zwei Fruchtmühlen“, die 1280 genannte Antonitermühle jenseits der Kinzig an der Mündung der Fallbach gelegen und die 1402 zuerst genannte Burgmühle (die heutige Herrenmühle). Doch einige Seiten später heißt es: „1525 kam die Herrenmühle (nach diesen Töngesherren so benannt) wieder in den Besitz der Grafen von Hanau“. Hier ist eine andere als die heutige Herrenmühle angesprochen. Mit „Herren“ gemeint sind so einmal die Hanauer Grafen, ein anderes Mal - auf dem Umweg über das niedlich an „Antönchen“ anklingende „Tönges“- die Roßdorfer Antoniter.

Vollends widersprüchlich ist Zimmermanns Aussage, Philipp II. habe die Antonitermühle zurückgekauft und sie an die Stelle der heutigen Herrenmühle „verlegt“. Wenn dort nicht schon eine Mühle war, welche Mühle haben die Grafen dann im 15. Jahrhundert stets aufs Neue an irgendwelche Müller verliehen?

Wo heute die Nordstraße verläuft, mäanderte früher die Kinzig. Trotz des „miserablen Baugrunds“ mit Kies und Schlick fanden die Herren von Dorfelden (später Hanau) einen guten Grund, hier zu bauen: die strategische Sicherheit im Kinzigbogen. Gehen wir also davon aus, daß die anfangs des 15. Jahrhunderts erstmals erwähnte Burgmühle unsere heutige Herrenmühle ist und schon am jetzigen Ort lag.

Von dieser Mühle erfährt man  aus dem Vertrag, mit dem Ulrich V. von Hanau sie einem Henne Molner zu Bruchköbel verleiht „um 65 Achtel Korn“ im Jahr. Die Mühle scheint ein sicheres Geschäft für die Pächter gewesen zu sein. Schließlich konnten sich die Bauern im Feudalsystem nicht den bestzahlenden Kornabnehmer aussuchen. Sie standen unterm „Mühlbann“. Im Jahre 1567 wird berichtet, daß Rodenbach, Kesselstadt, Dörnigheim, Hochstadt und Wachenbuchen an die Burgmühle liefern müssen. Uns mutet es fast zynisch an, wenn da von „Mahlgästen“ die Rede ist.

Die Grafen verdienten nicht nur indirekt am Nachfragemonopol ihrer Mühle. Die angelieferten Säcke durften nicht verkauft werden, bevor sie ein Stadtbeamter - gegen ein „meßgeld“ - gewogen hatte. Und es gab Privilegien bei dieser frühen Mehrwertsteuer: ausgenommen waren die „fryhen, als priester und burgmannen“.

Die Normalbevölkerung wurde außerdem zur Fron herangezogen - laut Zimmermann zum Teil mit der Hand, zum Teil mit dem Geschirr zu leisten. Eine Pflichtenliste des städtischen Rats führt 1579 an erster Stelle „Mühlenbau und Wall“ an. Seit 1528 war die neue massive Befestigung der Stadt mitsamt der Mühle in Arbeit. Aus dem Jahr 1613 stammt schließlich die Notiz, der Wasserbau der Burgmühle sei von Grund auf mit behauenen Quadern neu errichtet worden.

Im Jahre 1729 hat man die ganze Mühle neu aufgebaut, wohl in der noch als Fragment erhaltenen Barockfassung. Die den Hof dominierende Bruchstein-Fassade ist aber nur ein kleiner Rest des einst stolzen barocken Haupthauses. Der hohe Torbogen überspannte wohl nur einen Seiteneingang, vom weit größeren Mittelportal blieb nur rechts am Gebäude die Andeutung eines Bogens. Dieses Hauptgebäude wurde im Krieg zerstört.

Schon früh ist die Ausdifferenzierung in Mahl-, Schlag- und Schneidmühle bezeugt. Christoph Metzgers „eigentlichem Abriß der Stadt und Festung Hanau“ (1665) ist zu entnehmen: Der zwischen Kinzig und dem äußeren Stadtgraben liegende Standort beherbergt „Die Mühle mit 11 gängen“, direkt daneben noch „pulfer mühl“ und „see-mühl“. Links sieht man ein zugemauertes ovales Fenster, schräg links darüber ein eingemeißeltes „1679“. Dies ist die 1679 gegründete Gewürzmühle am Sandeldamm (benannt nach dem dort vermahlenen Sandelholz); sie hat sogar ihr Wasserrad noch.

Die Mahlmühle war also in dem Zentralgebäude auf dem Hof mit der Torfahrt aus Sandstein. Nicht weniger als neun Paar Mühlsteine zerrieben da das Korn. Noch in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts produzierte die Herrenmühle Mehl.

Die Maschinenfabrik Weinig als Nachfolgebetrieb bezog ab 1814 Energie aus den zwei noch zum Teil erhaltenen Wasserturbinen. Sie stellte das repräsentative Fabrikgebäude direkt an der Nordstraße hin: Der symmetrische Backsteinbau ist vom Architekturtyp her eine gigantische Orangerie, bekränzt von vorgetäuschten Balustraden; daher auch das flache Dach. Das zugehörige Herrschaftshaus steht nebenan.

Weinig führte 1892 auch Gasturbinen ein. Zudem erzeugten zwei Wasserräder bis 1942 Strom. Die Gewerbeflächen gingen 1920 an die expandierende Tabakwaren-Fabrik Gebrüder Weck­mann. Ein köstliches Beispiel kapitalistischer Selbstinszenierung ist das Bildchen in deren Briefkopf: Die Kinzig wird da zum Strom, das Firmengelände so aufgeblasen, daß die Häuserzeilen am andern Ufer ins Gigantische verlängert werden müssen.

Auf dem Herrenmühlen-Gelände tummeln sich Handwerker und halbe Künstler. Der kleine Schuster ist wohl der älteste Nutzer des Geländes, ein Original: meist fröhlich pfeifend in Arbeit versunken, zu Zeiten aber auch in Wut ausbrechend, daß selbst Stammkunden das Genick einziehen. Ein Software-Produzent hat hier sein Domizil, ein Restaurator, der auch Antikes handelt, dazu der Fotograf Olli Seikel. Bei Ulla Bladin-Reichhold tanzt Hanaus Ballettnachwuchs im alten Hauptgebäude.

Die anderen Mühlen befanden sich auf der durch den Mühlgraben abgetrennten Kinziginsel.

Von der Brücke aus erblickt man im Mühlgraben die Kanäle, in denen sich das gute Dutzend unterschlächtig angetriebener Räder drehte. Mit hölzernen Schiebewehren konnte jedes einzeln angesteuert werden. Der letzte dieser Schütze modert vor sich hin, die Holzräder sind längst verfault.

Zwischen beiden Maschinenräumen der Mühle erstrecken sich Gebäudeteile übers Wasser hinweg. Im ältesten kann man heute die von Hausverwalter Franz Karl aus dem Kanal geborgenen Reste der Mühlenmechanik bewundern: ein Turbinen-Zahnrad mit hölzernen Zähnen etwa, in das ein kleineres Rad mit Eisenzähnen „beißt“, oder Räder, die einst lederne Transmissionsriemen führten.

Im hinteren Gebäude befindet sich der Raumgestalter Harald Neumann. Die weite Decke liegt auf gußeisernen Säulen, der Bau ist aus dem 19. Jahrhunderts. Der Blick vom Büro auf das Mühlenwehr ist heute schon umwerfend. Drinnen muß man sich die Maschinenhalle denken. Im Barock war hier eher die „Stinkeseite“ des Mühlenbetriebs. Räumlich getrennt vom weißen Mehl trieben die Räder vom selben Mühlgraben aus hier die Öl-, die Tuchwalk-, die Strumpfwalk und die hygienisch problematische Gerbermühle an.

Wenn man auf der Nordstraße weitergeht und die Kinzigbrücke überquert hat man von der Otto-Wels-Straße noch einmal einen schönen Blick auf die alte Anlage. Die Gewerbebauten des 19. Jahrhunderts ruhen auf 300 Jahre älteren Bastionsmauern, mit denen die überlebenswichtige Mühleninsel in die Stadtbefestigung einbezogen worden war. Etwas von deren kanonenabwehrender „Polygonform“ ist hier noch zu ahnen.

Hiergegen vergleichsweise altertümliche Schießscharten in Schlüssellochform perforieren eine Mauer. Verteidiger nach Merians Belagerungsplan konnten von dort einst „den Guck die Mühl“ des „General Wachtmeisters“ Lamboy aufs Korn nehmen. Über das bis heute stehende Mühlwehr drang später im Dreißigjährigen Krieg das Häuflein Johann Philipp Winters heimlich in die sonst unbezwingbare Festung. Es befreite den von seinem einstigen Stadtkommandanten Jakob Ramsay in „Quarantäne“ gehaltenen Grafen. Den als „von Güldenbronn“ geadelte Befreier hält heute ein kleiner verwitterter Obelisk im Schloßgarten in Erinnerung - Luftlinie nur 100 Meter weg. Manche munkeln von unterirdischen Gängen hinüber zum Park, wo einst die Burg, dann das Grafenschloß stand. Zur Landesgartenschau soll östlich der Mühle ein Steg die Flächen an der Kinzig mit denen im Schloßgarten verbinden.

 

Heinrich-Fischer-Bad.

Eine dekorative Säulenfolge unter geschwungener Schrift und eine feingliedrig strukturierte, vorkragende Glasfassade sind die baulichen Erkennungszeichen des Heinrich-Fischer-Bades, dessen Foyer und Schwimmbadhalle von der Tagespresse 1959 überschwenglich als „Symbol des Wiederaufbaus“ gefeiert wurden. Nicht nur den Schick der Fünfziger Jahre hatte das Bad zu bieten - etwa eine Milchbar und einen modernen Friseursalon -, sondern auch eine künstlerisch hochwertige Ausstattung in der hohen Schwimmbadhalle, die der angesehene Hanauer Künstler  Reinhold  Ewald geschaffen hatte.

Zugegeben:  Heute verbirgt sich etliches hinter jüngeren Schichten. Das beschwingte Mosaik der Milchbar mit  seinen  heiteren Strand- und Badeszenen ist zu großen Teilen hinter einer modernen Bar verschwunden, die  einstige  Kassenwand wurde Aquarium und  die ovale Bar gleich daneben der heutige Eintritts- und Kassenbereich. Dennoch zeigen die verschiedenen  Ausstattungsstücke noch anschaulich, daß das Heinrich-Fischer-Bad seinerzeit tatsächlich eine Anlage war, wie es damals deutschlandweit nur wenige gab.

Erhalten blieben auch die Ewald-Reliefs im Vorraum der Umkleiden im Oberstock, sie sind Auftakt und Einstimmung für die überkörpergroßen, beeindruckenden Lehmstuckreliefs in der Schwimmbadhalle. Vor tiefblauem Grund zeugen sie noch heute vom meisterlichen Umgang Ewalds mit dem Baustoff Lehm, dem er trotz seiner material-eigenen Zähigkeit Leichtigkeit und zeichnerische Qualitäten abgewann. Die in einer Ecke der Halle plazierte „Schreitende“ bekrönte ursprünglich einen Brunnen vor dem Bad, der bedauerlicherweise wegen des stetigen Vandalismus abgebaut werden mußte.

Das freitragende Becken mit wellenförmigem Boden war seinerzeit eine kleine Sensation; leider ist die bewegte  Wellenform heute nur noch vom Kellerraum aus zu bestaunen.  Die  mit tiefblau glasierten, den Schall dämmenden Ziegeln verkleideten Hallenwände überstanden jedoch mitsamt der integrierten Duschkabinen, der Heizkörperverkleidung aus eloxiertem Aluminium und den farbigen, dekorativ gesetzten Seifenschälchen die Jahre vollkommen ungestört und gestalten den Badebesuch heute zu einem Streifzug durch die Stilvielfalt der fünfziger Jahre. Zeitzeuge ist auch der Badewannentrakt des Heinrich-Fischer-Bades, ein Luxus, den man sich damals gerne zu günstigen Preisen für einige Minuten gönnte.

 

Straßen

„Amelia-Straße“ (westlich der Bruchköbeler Landstraße):

Gemahlin des Landgrafen Wilhelm V. von Hessen-Kassel,  Tochter Philipp Ludwigs Il. von Hanau. Durch ihre Fürbitte erreichten die bedrängten Hanauer im Jahre 1636, daß sie Landgraf Wilhelm von der Lamboyschen Belagerung befreite (Lamboyfest).

 

Körnerstraße (östlich der Bruchköbeler Landstraße): 

Von dem Bauunternehmer Jean Körner privat angelegte Straße

 

„Türkische Gärten“: 

Der baulustige Graf Johann Reinhard (1712-1736) ließ nördlich der Hainstraße einen Lustgarten an legte, welcher nach einem im türkischen Stil erbauten Gartenhäuschen den Namen „Türkischer Garten“ erhielt. Als sich eine Straße bildete, erhielt diese den Namen „Türkische Gärten“.

 

„Antoniterstraße“ (von der Wilhelmsbrücke aus nach der Krummen Kinzig):

Die Antoniter von Roßdorf, die „Tönges-Herren“, besaßen nördlich der Krummen Kinzig größeren Besitz an Ackerland, der das „Töngesfeld“ hieß.

 

 „Corniceliusstraße“:

Georg Cornicelius (1825 bis 1898), Hanauer Maler, seit 1872 Ehrenmitglied der Zeichenakademie, seit 1888 Königlich Preußischer Professor, in Hanauer geboren und auch in Hanau verstorben.

 

Eugen-Kaiser-Straße:

Landrat der Weimarer Republik, der in den letzten Jahren der Naziherrschaft sein Leben lassen mußte.

 

„Ramsaystraße“ (zwischen Johanniskirchplatz und Eugen-Kaiser-Straße):

Freiherrn von Ramsay, Verteidiger der Stadt Hanau in schwerster Zeit (1635-1638), der 1638 vor seiner Wohnung im „Weißen Löwen“ am Paradeplatz schwer verwundet wurde.

 

„Hausmannstraße“(nördlich der Frankfurter Landstraße, Nähe Rosenau):

Friedrich Karl Hausmann, Hanauer Maler, 1825 bis 1864 Inspektor der Hanauer Zeichenakademie, geboren in Hanau und auch in Hanau verstorben.

 

„Röderstraße“:

Die Röderstraße an der früheren Mittelschule wurde seit 1902 so benannt nach einem verdienten Schulmann, dem Inspektor der Realschule in Hanau, Röder, als „Inspektor Röder“ allgemein beliebt und geachtet. Im Übrigen verdankt Gesamt-Hanau seinem ersten Oberbürgermeister Eberhard auch eine großzügige Schulreform. Die Mittelschule trägt als Eberhardschule seinen Namen.

 

 „Eberhardstraße“ (östlich der Nordstraße):

Genannt nach dem vom 1. Januar 1827 bis 1848 in Hanau als Oberbürgermeister amtierenden Bernhard Eberhard. Er wurde 1848 Kurhessischer Minister des Innern.

 

„Jahnstraße“:

Dort  errichtete die Turngemeinde Hanau 1901 ihr großes Vereinshaus und die Turnhalle, zu Ehren des Turnvaters Jahn, der übrigens in seinen späteren Lebensjahren nicht mehr gut auf die radikalen Hanauer zu sprechen war und Hanau nicht mehr besuchte. Bis zu dieser Zeit hieß die Straße „Maulbeerallee“, denn  seit dem 17. Jahrhundert befand sich hier eine Maulbeeranlage.

 

Klinikum:

Das Stadtkrankenhaus, Klinikum der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt, ist herausgewachsen aus dem Landkrankenhaus. Die Psychiatrische Klinik auf der Ostseite der Straße war nach dem Krieg lange Zeit Sitz der Hohen Landesschule.

 

„Heraeusstraße“:

Apotheker und Chemiker Wilhelm Heraeus (geb. 6. März 1827 in der Einhornapotheke, gestorben 14. September 1904), der die Platinindustrie in Deutschland eingeführt hat und dadurch zum Begründer des heute weltbekannten Industrieunternehmens wurde.

 

„Bernhardstraße“ (heute: Mathias-Dasbach-Straße südlich des Grünen Wegs):

Bauunternehmer Bernhard Scherf.

 

„Pedro-Jung-Straße“ und der „Pedro-Jung-Park“:

Fabrikant Pedro Jung, der im 19. Jahrhundert in Hanau als Magistratsmitglied amtierte. Dieser edle Mann zeichnete sich durch eine seltene Menschenfreundlichkeit und nimmermüde Opferbereitschaft aus. Durch verschiedene Legate und wohltätige Stiftungen haben er und seine Frau viel Gutes getan. Seit 1954 heißt die Hilfsschule Pedro-Jung-Schule.

 

Kirchen:

Evangelische Christuskirche (bestand bereits im Jahre 1934) 1949 wieder aufgebaut.

Katholische Heilig-Geist-Kirche, 1961/62.

Evangelische Johanneskirche (neu), 1958-60.

Katholische St. Josefskirche, 1958-60.

Kirche des Nazareners, 1969-70.

Evangelische Kreuzkirche, 1954.

Neuapostolische Kirche, 1959-60.

Evangelische Kirche in Hanau-Hohe Tanne, 1967-1969

Evangelische Lutherkirche in Wolfgang von 1967 - 1969.

 

Industrie:

Im Osten Hanaus kommt man zu weltbekannten Hanauer Firmen: Am Grünen weg die  Firma Heraeus und weiter östlich davon am Ende des Grünen Weges die Vacuumschmelze. Nördlich die Quarzlampengesellschaft in der Höhensonnenstraße. Nach rechts geht es weiter zum Kurt-Blaum-Platz. Links steht die ehemaligen Gebäude der Firma Degussa. An der Südseite der Hauptbahnhofstraße stand die Brauerei Nicolay.

 

Ehrensäule:

Am Ende der Hauptbahnhofstraße vor dem Hauptfriedhof steht die 1775 errichtete „Ehrensäule“.  Der Obelisk heißt so, weil der Erbprinz Wilhelm von Hessen-Kassel, Graf von Hanau, eine Verbesserung des Verkehrs durch die Herstellung guter Straßen zu erreichen versuchte. Er plante zwei große Staatsstraßen: Eine sollte nach Dettingen (in Richtung Nürnberg) und die andere nach Niederrodenbach (in Richtung Leipzig) führen. Die Straßen wurden niemals in der geplanten Weise erbaut. Aber der Wegweiser für sie, die „Ehrensäule“, mit dem sich der Erbprinz Wilhelm als bedeutender Bauherr ehren wollte, steht heute noch inmitten einer schönen Anlage.

 

Hauptfriedhof:

An der Ehrensäule beginnt der Hauptfriedhof mit besonderen Grabfeldern für die Toten des Ersten Weltkriegs, des Zweiten Weltkriegs, der Zwangsarbeiter und der ungeborenen Kinder. Östlich des Friedhofs sind die gewaltigen Industrie-Bauten der Deutschen Dunlop AG,

 

Akademiestraße:

Vom Platz mit der Ehrensäule geht ab die Akademiestraße. Links steht die Christuskirche, weiter westlich die Ludwig-Geißler-Schule. Am Ende der Straße ist die Zeichenakademie, die im Zusammenhang mit dem Gold- und Silberschmiedehandwerk entstand und bedeutende Künstler hervorgebracht hat (siehe Datei „Neustadt“).

 

Franzosenloch:

An der südlichen Ecke des Schlachtfelds von 1813 führt die Lamboysche Brücke über die Kinzig. Unweit davon nahe der Kirschenallee liegt das „Franzosenloch“, ein kleiner tiefer Landsee. Der Name kommt daher, weil nach der Volksmeinung in dem ehemals dort befindlichen Wasserloch, dessen Boden „unergründlich“ war, während der Schlacht bei Hanau zahlreiche Franzosen ertrunken seien. Auch eine Kriegskasse soll damals in dem „Loch“ versenkt worden sein. Das „Franzosenloch“ war früher ein gesuchter Ort für weibliche Selbstmörder.

Die genaue Lage wird aber nirgends  beschrieben. In einer Schilderung heißt es:  „…durch den Sandeldamm über den Kinzigdamm Richtung Franzosenloch“. Danach wird es sich wohl um den See handeln, der heute nördlich der Kinzig und östlich der Bundestraße  8 im Wald  liegt. Der Name ist auch eine Flurbezeichnung.  Auch in Langenselbold und Rüdigheim gibt es diese Bezeichnung, in Niedermittlau heißt ein Rest des Erzbergbaus so. Die Namen sind wohl entstanden, weil man bestimmte Örtlichkeiten mit den französischen Besatzern in Zusammen­hang brachte.  

 

Der Neuhof (nördlich der Kinzig, westlich der heutigen Bundesstraße 8) war Amtswohnung des Oberförsters. Napoleon hat das Gut seiner Schwester Pauline Borghese zum Geschenk gemacht.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kesselstadt

(siehe auch Datei „Hanau West“)

 

Vorgeschichte:

Die Kesselstädter Gemarkung weist in vorgeschichtlicher Zeit eine relativ dichte Besiedlung auf. Neben den etwa 6000 Jahre alten Funden aus jungsteinzeitlichen Siedlungen der bandkeramischen Kultur („Salisberg“ und „An der Lachebrücke“) sind bekannt urnenfelderzeitliche (Beethovenplatz, Salisweg, Gutzkowstraße, Hopfengarten, Wilhelmsbad) hallstattzeitliche (Salisberg, Wilhelmsbad) und latènezeitliche Grab- und Siedlungsfunde (Salisberg, Weihergraben, Weststadt).

Im Zuge einer Ortssanierung führten Ausgrabungen des Hanauer Geschichtsvereins 1985 östlich der Kirche u.a. zur Entdeckung einer frühlatènezeitlichen Siedlung. Unter dem ehemaligen Chor fand sich außerdem ein karolingisches Grubenhaus, das in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts aufgegeben und verfüllt wurde. Ungebrannte Webgewichte weisen zusammen mit anderen Funden auf den profanen Charakter dieses Funktionsbaus hin. Die frühesten geborgenen Funde der mittelalterlichen Siedlung, von der wir freilich außer dem Grubenhaus, einigen Pfostenlöchern und verlagerten Keramikscherben keine weiteren Belege kennen, sind kaum vor das 8. Jahrhundert zu datieren.

 

Römerzeit:

Im Stadtgebiet Hanaus befinden sich zwei in Größe und Funktion verschiedene Militärstützpunkte: Das Kastell in Kesselstadt und gegenüber die römischen Bauten in Steinheim, verbunden durch eine Brücke. Sie unterstreichen die strategisch außerordentlich wichtige Position des Mainknies an der Nahtstelle zwischen dem Ostwetteraulimes und der nassen Maingrenze. Von besonderer Bedeutung war neben einem Straßenknotenpunkt und der Mainbrücke sicher der Fluß selbst, der als schiffbarer Wasserweg die Versorgung und Unterstützung der in der Wetterau und im Hinterland des Mains operierenden Truppen von der Legionsbasis Mogontiacum-Mainz aus sicherstellte und erheblich beschleunigte.

Am Ende des 1. Jahrhunderts errichteten römische Truppen am östlichen Rand der Wetterau Militärstützpunkte, die mit gut ausgebauten Straßen verbunden wurden. Solche Kastelle befanden sich in Heldenbergen und Kesselstadt, später auch in Altenstadt, Marköbel, Rückingen und Großkrotzenburg, wo der Limes den Main erreichte. Der Fluß bildete im 2. und 3. Jahrhundert bis in die Nähe von Miltenberg die römische Staatsgrenze.

Schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts hat man nach Kastellen gesucht. Im heutigen Ortskern von Kesselstadt entdeckte Georg Wolff 1886 ein großes Steinkastell. Sein Grundriß wurde 1887 und 1896 im Auftrag der Reichslimeskommission erforscht. Ausgrabungen 1976 ergaben weitere wichtige Anhaltspunkte.

 

Kastell:

Das 375 Meter lange Kastell liegt auf der hochwasserfreien Mainterrasse, wobei die Seitenerosion des Prallhanges die Südost-Flanke in nachrömische Zeit abgerissen hat. Aufgrund der verschobenen Prinzipalachse dürfte die Anlage nach Nordosten zur Kinzig hin orientiert gewesen sein. Das Kastell war von Anfang an in Stein errichtet. Die auf einem 2,2 Meter breiten Fundament ruhende Wehrmauer bestand aus mächtigen Basaltbruchsteinen, die aus den nahegelegenen Wilhelmsbader Steinbrüchen stammen dürften. Das nördliche Kastelltor (porta principalis sinistra) mit zwei über die Mauerfront vorspringenden Türmen wurde vollständig freigelegt. Die Torstellen im Nordosten und Südwesten sind durch kleinere Sondagen lokalisiert.

Die Kastellmauer war in Abständen von rund 44 Meter mit Zwischentürmen (3 mal 5 Meter) bestückt; sie sprangen nicht wie die Tortürme über die Wehrmauer vor. Die 6 ausgegrabenen Zwischen- und Ecktürme erlauben – einen regulären Grundriß vorausgesetzt - eine vollständige Rekonstruktion des Lagers, das danach zusätzlich zu den 4 Toranlagen und 4 Ecktürmen mit 22 Mauertürmen befestigt war. Im Innern des Kastells begleitet eine aufgeschotterte Straße (via sagularis) die Wehrmauer; Spuren der zwei Hauptlagerstraßen sind dagegen nicht festgestellt worden. Der Kastellmauer waren zwei parallele Spitzgräben als Annäherungshindernis vorgelagert, die jedoch nicht um das ganze Lager, sondern nur an der Vorderfront und wahrscheinlich auch der östlichen Hälfte der Nordwest-Flanke ausgehoben wurden.

 

Dieser ungewöhnliche Befund sowie das vollständige Fehlen von Bebauungsspuren und Funden im Lagerinnern haben den schon früher geäußerten Verdacht bestätigt, daß der Platz nie mit regulären Truppen besetzt war, sondern schon während der Bauarbeiten oder zumindest nach Fertigstellung der Kastellmauer aufgegeben wurde. Auch die außergewöhnliche Größe von mindestens 14 Hektar und das dahinter stehende strategische Ziel verlangen eine besondere Erklärung. Es handelt sich nämlich um das größte Kastell am obergermanischen Limes überhaupt, einzig übertroffen von den Legionslagern am Rhein. Nach seiner ausgewählten Lage am Mainufer möchte man weniger an eine Garnison größerer Truppenkontingente als eher an einen Depot- und Umschlagplatz für Versorgungsgüter denken.

In jedem Fall aber konnte nur ein schwerwiegendes Ereignis die römische Heeresleitung bewogen haben, diesen wichtigen Platz aufzugeben: Nach heutiger Forschungsmeinung kommt nur die Zeit nach den Chattenkriegen des Kaiser Domitian in Frage, wobei der Aufstand des Mainzer Legaten L. Antonius Saturninus im Winter 88/89 und der anschließende Strategiewandel in der Sicherung der eroberten Gebiete Anlaß gewesen sein könnten, das praktisch bezugsfertige Kastell zu räumen.

 

Salisberg:

Auf dem Salisberg standen jedoch nacheinander mindestens zwei Kohortenkastelle - Kasernen für etwa 500 Soldaten. Immerhin ist das freigelegte Kastell am Salisberg in Kesselstadt mit 14 Hektar vermutlich eines der größten Römerlager neben Köln. Zu der Militäranlage gehörte auch ein größeres Badegebäude, dessen Fundamente 1913 im heutigen Friedhof gefunden wurden. Wohl noch zu Beginn des 2. Jahrhunderts, spätestens aber in der Regierungszeit Kaiser Hadrians, scheint das Militär abgezogen zu sein. Wohin die bisher unbekannte Einheit verlegt wurde, wissen wir nicht.

Nach einigen Einzelfunden, die bereits am Anfang des vergangenen Jahrhunderts zu Recht auf eine römische Anlage auf dem Salisberg zurückgeführt wurden, hat man 1847/48 beim Bau der Eisenbahn ein römisches Gräberfeld entdeckt. In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurden südlich des heutigen Köppelweges Gebäudereste ausgegraben, die man damals noch für Teile eines römischen Gutshofes (villa rustica).

 

Römerbad:

Das römische Badewesen war hoch entwickelt. Es gibt keine römische Stadt und kein Dorf ohne Badeanlagen. Das 1913 bei der Anlage des heutigen Friedhofes am Baumweg entdeckte römische Bad wurde vor und nach dem Ersten Weltkrieg durch Georg Wolff ausgegraben. Auf dem Friedhof am Baumweg und in der kleineren Anlage auf dem Salisberg gibt es zwei kurz hintereinander gebaute Badeanlagen aus dem späten 1. und frühen 2. Jahrhundert.

Es wurden die Reste eines älteren, nur wenige Jahre benutzen und dann zerstörten Badegebäudes aus den letzten Jahren des 1. Jahrhunderts gefunden. Ausweislich der geborgenen Ziegel wurde das Bad um 92 nCh errichtet und mußte noch vor der Wende zum 2. Jahrhundert nach einem Brand erneuert werden. Um 97 nCh errichtete man an dieser Stelle einen großen, mindestens 43 Meter langen Thermenkomplex, von dem zahlreiche unbeheizte und hypokaustierte Räume freigelegt werden konnten. Wandverputzstücke mit figürlicher Bemalung in rot, grün und blau belegen, daß zumindest einer der zentralen Räume farbig ausgestaltet war.

Das Kastellbad wurde 1913 auf dem Gelände des alten Kesselstädter Friedhofes am Baumweg angeschnitten und vom Entdecker G. Wolff 1914 und 1919 nahezu vollständig untersucht. Die Grundmauern des Gebäudes wurden konserviert und sind sichtbar. Die letzte Konservierung der Grundmauern dieser Badeanlage konnte erst 1989 abgeschlossen werden.

Die Ausgrabungen ergaben die Baureste eines älteren und eines jüngeren Badegebäudes, wobei von dem älteren Bad nur ein 5 mal 6 Meter großer, hypokaustierter Raum (Raum J, caldarium) freigelegt werden konnte. Der Bau des 43 Meter langen jüngeren Bades dagegen entspricht in Größe und Typus den bekannten Militärbädern am Limes. Man betrat das Gebäude von der Straße her im Südwesten oder Süden, wo ein hölzerner Anbau mit dem Auskleideraum gelegen haben mag, der allerdings nicht erfaßt wurde. In der Süd-Ecke des Kaltbades (frigidarium, A) wurden Baureste eines kleinen Kaltwasserbeckens (piscina) gefunden, dessen Abwasser kanalisiert und durch einen Mauerdurchbruch in der Südost-Wand ins Freie abfloß. Raum B besaß eine Unterfußbodenheizung, die von einem Schürkanal zu beschicken war. Er mag als zusätzliches Laubad (tepidarium) oder »vielleicht als Reserve für den Fall gedient haben, daß das Hauptpräfurnium und die großen Säle C und D nicht in Betrieb waren« (E. Fabricius).

Das eigentliche Laubad (tepidarium, C) ist durch drei Mauerschlitze mit der Hypokaustheizung des Warmbades (caldarium, D) verbunden, konnte aber zusätzlich noch vom Präfurnium beheizt werden, vor allen Dingen wohl um das im Anbau C installierte Wasserbecken zu temperieren. Das caldarium (D) gliedert sich in eine zentrale Halle, zwei einander gegenüberliegende, unterschiedlich große Apsiden, in denen die Becken (labra) für Waschungen gestanden haben mögen, und einen rechteckigen Raumvorsprung am Kopf des Gebäudes, in dem das Heißwasserbassin lag. Sein Gewicht trugen vier massive Sockelmauern, zwischen denen der von einem nach Nordwesten offenen Schuppen (E) aus bediente Hauptschürkanal in das Hypokaust mündete. Rote, grüne und blaue Wandverputzbruchstücke beweisen, daß zumindest das caldarium als zentraler Raum des Bades farbig ausgemalt war.

Über die bauliche Entwicklung und über die Zeitstellung der Badeanlagen geben die mehr als 250 Stempel der 14., 21. und 22. Legion Auskunft, die auf den Ziegeln der Hypokaustpfeiler, der Schürkanäle und verschiedener Reparatureinbauten angebracht waren. Danach muß das ältere Bad unter Raum A - und damit auch das erste Holzkastell auf dem Salisberg - in der Zeit um 92 entstanden sein, bald gefolgt von dem Neubau der 2. Badeanlage (95-100 nCh). Die wenigen Ziegelstempel jüngerer Zeitstellung deuten darauf hin, daß die gesamte Anlage im ersten Jahrzehnt des 2. Jahrhundert abgebrochen wurde; Ziegelstempel aus dem Bad fanden sich immer wieder im Bereich der späteren Zivilsiedlung.

Aus der bescheidenen Größe des älteren, möglicherweise provisorischen Bades und dem erheblich vergrößerten Thermenneubau hat man auch auf eine Erweiterung des Kastells geschlossen und vermutet, daß zuletzt sogar eine Kohorte bis zur endgültigen Fixierung der äußeren Limeslinie im Salisberg-Kastell stationiert gewesen sein könnte.

 

Zivilsiedlung:

Daß sich in unmittelbarer Nähe des Kastells eine Siedlung befunden haben müßte, hatten schon frühere Generationen vermutet. Sie haben auf dem ehemals als Acker genutzten Dreieck am Salisweg und Köppelweg gegraben. Da sei „nichts Nennenswertes“ zu finden, lautete ihr Urteil. Heute weiß man warum. Sämtliche 30 Grabungsschnitte lagen neben den römischen Befunden.

Bei Ausgrabungen in den Jahren 1992 bis 1997 wurde das Dreieck erneut untersucht. Es war gesättigt mit Steinen und Gebeinen, Werkzeugen und Hausrat, Waffen und Geschmeide, Speiseresten und Gewürzen, Kultgegenständen. Die pflanzlichen Reste wurden untersucht - beispielsweise auf-oxydierten Dinkel, Käferreste, Engerlinge. Hier wird der erste Nachweis geführt, daß die Römer mit ihrem Korn gleich die „Schädlinge“ mitbrachten. Die inzwischen aufbereiteten Fundstücke - nur ein Teil der Gesamtmasse von mehr als einer halben Million - wurden 1998 in einer Sonderausstellung im Hanauer Schloß Philippsruhe unter dem Titel „Die Römer an der Kinzig“ gezeigt.

Insbesondere südlich des Lagerareals gibt es Spuren einer wohl gleichzeitig mit dem Kastell entstandenen kleinen Zivilsiedlung, die auch nach Abzug der Truppen bestehen blieb. Zu ihr dürften die Gräbergruppen am Salisbach gehören. Besser bekannt ist ein größerer, schon 1880 und 1887 ausgegrabener Steinbaukomplex mit einem ummauerten Hofbezirk, der als Gutshof (villa rustica) angesprochen wurde, aber in Anbetracht seiner Lage zur Römerstraße und Mainbrücke eher als Straßen- und Raststation gedeutet werden könnte, zumal auch der Grundrißtyp keineswegs dem eines ländlichen Gehöfts entspricht.         

In den Jahren 1931-1935 folgten umfangreiche archäologische Untersuchungen unter der Leitung von Heinrich Ricken, in deren Verlauf im Bereich der damaligen Brauerei Kaiser (östlich der Straße Salisweg) die Südostecke eines schon lange gesuchten römischen Kastells ermittelt wurde. Ricken grub wie schon zuvor Wolff auch Teile der westlich und südlich des Kastells liegenden Zivilsiedlung aus. Leider sind uns von seinen Grabungen keine Pläne überliefert.

Neben einigen Notbergungen nach dem Zweiten Weltkrieg durch Hugo Birkner und Hans Kroe­gel konnte der Hanauer Geschichtsverein erst wieder 1978/79 und 1986 im Zuge der Bebauung der Gutzkowstraße größere Untersuchungen auf dem „Salisberg“ durchführen, bei denen neben vorgeschichtlichen Funden Teile der römischen Zivilsiedlung entdeckt wurden. Auch anläßlich der dringend notwendig gewordenen Restaurierung der römischen Fundamente des Bades im heutigen Friedhof wurde von 1988-1990 durch Sabine Wolfram eine archäologische Nachuntersuchung durchgeführt.

Doch erst Ende des Jahrhunderts war man fähig, eine größere zusammenhängende Fläche der ehemaligen römischen Zivilsiedlung - „vicus“ genannt - aufzudecken. Auf Hanauer Boden lag durchaus keine der bedeutenden Stätten römischer Geschichte. Keine einzige der antiken literarischen Quellen nennt irgendwelche Ereignisse aus unserem Raum. Und nirgends taucht bisher der römische Name unserer Ansiedlung auf dem Salisberg auf. Doch das Gelände am Salisberg ist mit 14 Hektar vermutlich eines der größten Römerlager neben Köln.

Die römischen Militäranlagen auf dem Salisberg gehörten am Ende des 1. und Anfang des 2. Jahrhunderts zu den östlichen Sicherungsanlagen von Wetterau und Rhein-Main-Gebiet. Bislang ist jedoch noch nicht eindeutig geklärt, wann es errichtet wurde und ob es jemals mit römischen Truppen belegt wurde. Einige Hinweise deuten eher darauf hin, daß der Standort noch während des Baus der Anlage wieder aufgegeben werden mußte.

Die nach der Aufgabe des Kesselstädter Kastells nach wie vor strategisch wichtige Überwachung am Hanauer Mainknie übernahm anschließend das erheblich kleinere und vergleichsweise schwach befestigte Holzkastell jenseits der „Lache“ auf dem Salisberg, einer schmalen, weit in die versumpfte Kinzigniederung hineinragenden Geländezunge. Die aus nördlicher Richtung (Heldenbergen) kommende spätdomitianische Grenzstraße überquerte rund 250 Meter oberhalb der Kinzigmündung den Main, wo anläßlich der Flußregulierung 1886 und beim Bau einer Werft im Jahre 1893 die Pfeilerunterkonstruktionen einer römische Holzbrücke, Pioniergerät und andere Militärfunde sowie über 70 Münzen, die als Opfergaben in den Fluß gelangten, ausgebaggert wurden.

Diese Straße bildete gewiß auch eine Achse des Holzkastells auf dem Salisberg, von dem wir infolge der dichten Überbauung nur ein 70 Meter langes Teilstück der Umwehrung mit einer 7,8 Meter breiten Torunterbrechung des Spitzgrabens durch Ausgrabungen von 1929 kennen. Ausdehnung und Größe dieses anscheinend nie in Stein ausgebauten Lagers konnten seinerzeit nicht festgestellt werden, wohl aber das zugehörige Kastellbad. Am Salisberg finden sich Umkleidehallen, Räume mit Wannen für kaltes Wasser (frigidarium), lauwarmes Wasser (tepidarium) und heißes Wasser (caldarium) sowie saunaähnliche Räume (sudatorium). Ein Denar des Alexander Severus aus den Jahren 222 - 228 nCh wurde mit anderen Funden aus der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts in einer Kellerverfüllung unter den Fundamenten des Bades entdeckt. Die Münze datiert die Errichtung des Bades in die Zeit der Alamannenkriege.

 

Eine anscheinend recht ausgedehnte Zivilsiedlung erstreckte sich südlich, westlich und vielleicht auch östlich des Kastells. Hier standen die Gaststätten, Wohnhäuser und Geschäfte der Handwerker, Gewerbetreibenden, Kaufleute und vielleicht auch von Landwirten, Fischern und Schiffahrern. Der „vicus“ vom Salisberg bestand auch nach Aufgabe der militärischen Anlagen weiter. Wann er endgültig aufgegeben wurde, ist momentan noch nicht bekannt. Etwa 200 Meter südlich der Siedlungsstelle fand sich in einer ehemaligen Sandgrube das zugehörige Gräberfeld (Archäologische Denkmale, Seite 175 und 177).

Der Plan der Siedlung ist der Schlüssel für das Verständnis der Ausgrabungen. Römische Häuserzeilen, Latrinen, Brunnen sind eingezeichnet. Man weiß, in welcher Richtung man weitergraben müßte, um mehr zu finden. Auf dem Salisberg gab es mehr als 4200 Jahre Leben. Man fand Funde aus der Spätjungsteinzeit (etwa 2200 v. Chr.), Bronzezeit (1000 v. Chr.) und von keltischer Besiedlung (vorrömisch). Von den Römern blieben Spiele, Lederwaren, Meßgeräte, massenhaft Gefäße, komplette Skelette (aus Brunnen geborgen) von Hase, Huhn, Katze, um nur einiges zu nennen.

 

Von 1992 an veranlaßte die geplante Überbauung eines großen Teiles des südlich vom Salisweg liegenden römischen vicus den Geschichtsverein zu weiteren Ausgrabungen. Am 23. Juli 1996 entdeckte man un­ter dem Wurzelwerk eines Rotpflaumen­baums einen tönernen Henkelkrug mit 487 und einer halben Silbermünze mit einem Gewicht von 1,6 Ki­logramm.  Die Archäologen bargen zunächst nur den Krug. Den wertvollen Inhalt entdeckten sie erst einige Tage später, als der Fund getrocknet war und die ersten Tonscherben abbröckelten. Im Frankfurter Museum für Vor- und Frühgeschichte wurde der Fund geröngt. Eine Museumspraktikantin erfaßte die Lage jeder Münze. Allein eine zeitliche Ordnung oder Unordnung der Münzen könnte dabei ein Indiz sein. Liegen unten jüngere, oben ältere Münzen, handelt es sich um eine Art Sparstrumpf, um eine Haushaltskasse. Sind die Silberlinge und Geldstücke aus Kupferkern mit Silberlegierung vom Alter her buntgemischt, so hat der Besitzer sie möglicherweise ganz schnell zusammengerafft, um sie zu verstecken. Vielleicht, weil die Germanen im Anzug waren?

Nach den ersten Erkenntnissen handelt es sich um Denare aus der Zeit zwischen dem ersten Jahrhundert vor Christus (Römische Republik) bis in die Mitte des zweiten Jahrhunderts nach Christus (Kaiserreich). Unter den Exemplaren befinden sich außerdem einige „Fälschungen“ - gemeint sind damit Silbermünzen, die mit einem Kupferkern versehen sind. Das war damals keine Seltenheit, denn oft wurde das Edelmetall bei der Prägung gestreckt. Peter Jüngling ist sich sicher, daß die Münzen das lebenslang Ersparte einer Per­son gewesen waren. Auf heutige Kaufkraft um gerechnet, beträgt der Wert rund 500.000 Euro. Zwanzig Monate hätte ein römischer Soldat für das Geld arbeiten müssen. Gemessen an dem heutigen Geldwert stellt der Fund vom Salisberg ein römisches Vermögen dar, denn das Geld muß wohl über mehrere Jahre hinweg gespart worden sein. Auf dem Krug wurde die Inschrift „Atti“ entdeckt. Es könnte durchaus sein, daß ein Mann namens „Attus“ den Krug einmal besessen hat.

Weshalb in dem Krug auch Getreidekörner lagen, ist ebenfalls noch ein Rätsel. Es könnte sein, daß damit die Feuchtigkeit von den Münzen ferngehalten werden sollte - oder aber das Getreide wurde genutzt, um den Schatz zu verstecken. Der Grünspan von den oxidierten Münzen hielt die Kleinstlebewesen davon ab, die Getreidekörner im Krug zu vernichten. Aus den gefundenen Spuren von Dinkel schließt sie, daß die Römer, im Gegensatz zu Kelten, diese Getreideart bevorzugten. Sie war anspruchslos und brachte große Erträge. Das war wichtig, um die großen Heere zu sättigen. Den Fund von Käfern und Mottenraupen war sensationell. Möglicherweise sei dies der Beweis dafür, daß die Römer die Vorratschädlinge in die hiesige Region einschleppten. Sollten die Körner für Trockenheit sorgen oder das Geklimper der Münzen dämpfen?

„Das ist ein beispielhafter Fund, den es in Hessen so noch nicht gegeben hat“, meinte Dr. David Wigg, der Münzkundler der Goethe-Universität, der den Schatz seit August untersucht. Einen ähnlichen Fall gibt es nur in der Schweiz. Das ist der zweite Schatz dieser Art, der so sorgfältig ausgegraben wurde und präpariert werden kann.

Daß es einen zweiten Eigner gab - wie auch immer das zu­stande gekommen sein könnte - gilt als gesi­chert. Und diese Erkenntnis sei ebenfalls einmalig. Das Indiz: Der neue Besitzer warf zehn Jahre später eine Münze in die Vase.  Die Münzen vom Salisberg weisen zudem als Prägungsort Rom, Lyon und Lon­don auf. Der Münzenfund wurde in langjäh­riger Arbeit von Mitarbeitern des Histori­schen Museums Frankfurt restauriert und von verschiedenen Forschungseinrichtun­gen untersucht, bevor er wieder nach Hanau kam.

 

Die zweite Sensation ist die im Sommer 1997 in einem Brunnen des Vicus gefundene Schreibtafel mit einer Inschrift vom 5. April des Jahres 130 nach Christus. „Das ist die älteste handschriftliche Urkunde in Deutschland, Tinte auf Holz“, sagt Peter Jüngling. Der jüngste Stolz der Hanauer Archäologen konnte der Presse aber noch nicht präsentiert werden: Es handelt sich angeblich um die älteste mit Tinte geschriebene Quittung in Deutschland, auf der der Empfang von 200 Denaren quittiert wird. Weil auch damals zum Quittieren das Datum dazugehörte, weiß man genau, daß das am Saliskastell gefundene Täfelchen am 5. April 130 nCh ausgestellt wurde. Der sensationelle Fund befindet sich zur Zeit im Römisch- Germanischen Zentralmuseum Mainz. Im Verkehrsamt trägt man sich aber mit der Hoffnung, daß die antike Quittung wieder den Weg zurück nach Hanau finden wird.

In den Jahren 2012 und 2013 hat man zur Vorbereitung der nordmainischen S-Bahn im Bereich des Bahnübergangs am Salisweg gegraben, an der alten Straße von Kesselstadt nach Heldenbergen, aber im südlichen Bereich hat man nichts Nennenswerte gefunden, außer vielen Flaschen der Brauerei Kaiser.

Im Bereich rund um den „Hopfengarten“ und die heutige Castellstraße wurden Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zahlreiche Grabfunde eines weiteren römischen Gräberfeldes aufgedeckt.

 

Das Dorf Kesselstadt:

Das unterhalb der jetzigen Kinzigmündung am Main gelegene alte Kesselstadt ist auf den Trümmern „des größten aller regelmäßig angelegten Limeskastelle“ entstanden und hat von daher seinen Namen. Im Jahre 1059 nennt eine Schenkungsurkunde Kaiser Heinrichs IV. für ein Mainzer Kloster erstmals eine Siedlung „Chezsilstat“. Im Jahre 1907 wurde der Ort nach Hanau eingemeindet.

Kesselstadt als ältester Stadtteil Hanaus ist zugleich - was wenig bekannt ist - einer der historisch interessantesten Orte an Main und Kinzig. Dabei war die Entwicklung Kesselstadts schon immer eng mit den Geschicken Hanaus und seiner Lage an Main und Kinzigmündung verbunden. Das alte Fischerdorf, keine 20 Minuten Fußweg von der Hanauer Innenstadt entfernt am nördlichen Mainufer gelegen, feiert im Jahr 209 das 950-jährige Jubiläum seiner ersten urkundlichen Erwähnung. Die erste Erwähnung Kesselstadts erfolgte in einer Mainzer Urkunde vom 14. Februar 1059.

Die Lage Kesselstadts bestimmte früher wie heute die Geschicke des kleinen Dorfes. Im Auftrag der Grafschaft Hanau wurde hier ein Mainzoll erhoben, und schon früh ergab sich die Notwendigkeit zur Anlage einer kleinen Burg, die ab dem späten 17. Jahrhundert (1696 bis 1712) zu jener eindrucksvollen Residenz Schloß Philippsruhe ausgebaut wurde.

Kesselstadt wurde im Krieg nicht zerstört. Es zeigt ein buntes Nebeneinander von Wohnbauten verschiedener Zeitepochen. An der Philippsruher Allee, die das ursprünglich an der Kinzig liegende Hanau seit dem 18. Jahrhundert städtebaulich mit dem Main und Kesselstadt verband, sind bemerkenswert der schlanke Wasserturm für Schloß Philippsruhe und das heutige Olof-Palme-Haus.

Heute hat Kesselstadt, das 1907 nach Hanau eingemeindet wurde, 11 500 Einwohner. Zahlreiche Vereine bereichern das gesellschaftliche Leben. Bemerkenswerterweise findet auch ein großer Teil des Hanauer kulturellen Lebens in Kesselstadt statt, was nicht nur auf das Historische Museum im Schloß Philippsruhe zurückzuführen ist, sondern auch an dem „Amphitheater“ im Baumgarten des Schlosses liegt. Hier finden jährlich die berühmten Brüder-Grimm-Märchen-Festspiele statt. Nicht vergessen darf man in diesem Zusammenhang aber das Comoedienhaus (eines der ältesten Theater in Deutschland) und den Kurpark in Wilhelmsbad mit dem Puppenmuseum und der berühmten „Burgruine“, das Olof-Palme-Haus mit seiner Theaterszene und manche andere reizvolle Lokalität.

Schon weit gediehen ist die Vorbereitung einer Veröffentlichung über die Geschichte Kesselstadts. Einer der weiteren Höhepunkte im Jubiläumsjahr dürfte eine umfangreiche Ausstellung über die Geschichte Kesselstadts werden, die am 30. August 2009 im Schloß Philippsruhe eröffnet werden und bis zum 10. Oktober 2009 gezeigt werden soll. Darüber hinaus planen die Organisatoren wieder einen großen Kesselstädter Handwerker- und Fischermarkt. Dieser Jubiläumsmarkt soll - wie im vergangenen Jahr - am 16. und 17. Mai 2009 im alten Ortskern von Kesselstadt, im Schlüsselnde und auf den Mainwiesen stattfinden. Künstler und traditionelle Handwerkskunst, historische Gruppen unterschiedlicher Art und Ausstellungen werden die Besucher dieses Marktes in vergangene Zeiten zurückversetzen.

 

Brauerei Kaiser:

Rechts hinter dem Westbahnhof kommt man in die kleine Straße „Schöne Aussicht“. Über eine Brücke kommt man zu den „Kaiserteichen“, wo die Brauerei Kaiser früher im Winter das Eis für ihre Bierkeller gewann. Man fährt durch die Gärten und sieht rechts einen Hügel das Gelände der früheren Brauerei Kaiser.

Ein Gedenkstein an der Ecke Salisweg/ Köppelweges erinnert an das Zwangsarbeiterlager „Schöne Aussicht, das sich von 1942 bis 1945 auf dem Gelände der Brauerei Kaiser befand und in dem rund 1.000 Zwangsarbeiter wohnen mußten.

 

Gutzkow-Haus:

Die „­Gutzkowstraße“ (am Salisberg) ist benannt nach Karl Gutzkow, Dramatiker und Romanschriftsteller und hervorragender Vertreter des „Jungen Deutschland“ (1811 bis 1878). Er verlebte drei schöne und bedeutungsvolle Jahre (1866 bis 1869) in dem Häuschen an der Philippsruher Allee (heute Hintergasse Nr. 1), heute noch „Gutzkow-Häuschen“ genannt. Er erholte sich in dieser Zeit von einer schweren seelischen Erkrankung. Von hier siedelte er, körperlich und geistig gesundet, nach Bregenz am Bodensee über. Während seines Aufenthaltes in Kesselstadt, in dem lieblichen Häuschen mit dem schönen Garten und dem einzigartigen Ausblick auf Main und Vorspessart, vollendete er seinen Roman „Hohenschwangau“ (Bild in: Hanau Stadt und Land, Seite 445).

Im Gutzkow-Häuschen wohnte zu Anfang des 20. Jahrhunderts der so früh verstorbene Lehrer-Dichter Karl Engelhard. Seine bekanntesten Werke sind: Die Eddischen Lieder „Heilwag“, „Kattenloh“, Sagengedichte, das Sagenwerk „Nornengast“, das eddische Mysterium „Hamars­heim“, das Festspiel „Pestalozzis Liebe“ u. a. m.

 

Brücken:

Die Hellerbrücke wurde 1716 über die Kinzig kurz vor ihrer Mündung in den Main gebaut und erst in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts erneuert. Da die Benutzung früher ein Heller kostete, nannte man die Brücke „Hellerbrücke“. Noch im Anfang des 19. Jahrhunderts mußte hier ein Heller Brückengeld gezahlt werden. Kurz vor der Mündung der Kinzig in den Main war ein breiter Wasserfall.

Die nächste Brücke auf der Philippsruher Allee ist die Flutbrücke. An der Abdeckung der Flutbrücke sind die Schleifspuren der Leinen zu erkennen, mit denen die Pferde die Schiffe gezogen haben.

 

Alte Pumpstation:

An der Straße steht der alte Wasserturm, der 1878 erbaut und 1895 vollendet wurde, um den Springbrunnen vor dem Schloß betreiben zu können. Das historische Pumpenhaus ist stilistisch und zeitlich baugleich mit der Pumpstation an der Philippsruher Allee, wo ursprünglich der erste grobe Dreck auf Rechen gefangen und das Abwasser per Druckleitung zum Klärwerk hinübergeschickt wurde. Das Pumpenhaus hatte die Aufgabe des heutigen Schneckenwerkes, die tief ankommende Schmutzwasserfracht zu heben.

Versteckt hinter altem Baumbestand und damit fast wie ein Dornröschenschloß, liegt auf einer kleinen Anhöhe zwischen Kinzigmündung und Olof-Palme Haus die Kesselstädter Pumpstation. Märchengleich fristet ein Großteil des Kulturdenkmals seit Jahrzehnten ein unberührtes, weil ungenutztes Dasein.

Das Gebäude steht unter Denkmalschutz und wurde restauriert. Innen gleicht es eher einer Halle, durchgängig offen vom Keller bis unter den Giebel. Die Tragekonstruktion fürs Dach gilt als baugeschichtlich besonders wertvoll. Sie besteht aus Metallprofilen wie der Eiffelturm in Paris.

Das restaurierte Gebäude wird zum Pumpenhaus für das danebenliegende Frachtausgleichsbecken, mit dem Belastungsspitzen gekappt werden. Das sieht praktisch so aus, daß in Zeiten, da am meisten Schmutzwasser anfällt, das Frachtausgleichsbecken gefüllt wird. Nachts wird das Becken dann leer gepumpt - in den Reinigungskreislauf. Mit diesem Trick kann die Kapazität deutlich kleiner gehalten werden, als eine Gesamtauslegung auf Belastungsspitzen erfordern würde.

Weil die neuen Pumpen deutlich kleiner sind als die alten, bleibt im historischen Gebäude Platz für eine Art kleines Museum. Eine alte Pumpe soll zum Vergleich aufgestellt werden, dazu informierende Schautafeln und Fotos vom Bau. Es kommen viele Schulklassen zu Besuch. Zeitweise wurde das Gebäude auch kulturell genutzt.

Erbaut wurde die unter Denkmalschutz stehende Pumpstation in den Jahren 1909 / 1910, war Teil des damals neu entstehenden Abwassersystems der Stadt und reinigte bis 1965 das Wasser der Kinzig. Im Jahr 2002 zog nach Jahrzehnten des Leerstands, die Kesselstädter Feuerwehr ein. Zudem wurden zwei Wohnungen vermietet. Immer wieder bekundeten Investoren ihr Interesse an dem Objekt, ließen ihre Pläne nach den ersten wirtschaftlichen Berechnungen aber stets fallen. Im Jahr 2016 will es Investor Ernst Hain - der in Hanau schon als in Brockenhaus, des Waschwerk und jetzt aktuell ins Cafè überm Fluß investiert hat - wissen. Sein Plan: die Sanierung der Pumpstation und die Errichtung eines Neubaus. Nach dessen Fertigstellung soll das Gesamtobjekt an das Behindertenwerk Main-Kinzig (BVVMK) vermietet werden, das mit seinem derzeit im Lamboy-Viertel beheimateten Schwanennest nach Kesselstadt umsiedeln wird und damit die Chance hat, sich zu vergrößern.

Hain wird rund eine Million Euro in den Umbau der Pumphalle in eine Multifunktionshalle investieren, weitere 2,7 Millionen fließen in den Neubau. Dieser soll als „Kinderhotel“ fungieren und der Pflege und Unterbringung von Kindern mit Behinderung dienen. Insgesamt werden bis zu 30 Plätze für eine Unterbringung, die Eltern behinderter Kinder im Alter von zwei bis 18 Jahren Gelegenheit zu einer Verschnaufpause geben soll, zur Verfügung stehen.

Nachdem die Stadtverordnetenversammlung dem Verkauf der in städtischer Hand befindlichen Pumpstation an das Behindertenwerk Anfang des Jahres 2016 zugestimmt hatte und auch die Neunutzung als Kinderhotel abgesegnet hatte, konnte Hain loslegen - nicht mit dem Bauen, sondern mit dem Einholen von Anträgen bei den 64 (!) zuständigen Behörden. Bis Ende 2016 läuft zudem noch der Mietvertrag der beiden Parteien, die im vorderen Teil der Pumpstation wohnen und der der Kesselstädter Feuerwehr, die zum Jahresende in ihren Neubau umziehen wird.

Die geplante Multifunktionshalle wird dann innerhalb der folgenden zwei Jahre saniert.

Bis dahin sind allerdings noch einige Hürden aus dem Weg zu räumen. So wird aktuell mit dem Wiesbadener Denkmalschutzamt über das Dach des Neubaus verhandelt. Hains Plan war die Gestaltung eines Flachdachs, um bei etwaigem Erweiterungsbedarf in ein paar Jahren problemlos Aufstocken zu können. Damit zeigt sich das Amt nicht einverstanden. Es fordert vielmehr ein Spitzdach. Nun muß vom Gelnhäuser Architekten Andreas Hänsel vom Architekturbüro Hänsel und Rollmann eine andere Lösung gefunden werden.

Mit der Naturschutzbehörde ist zudem zu klären, wie viele der alten Bäume rund um die Pumpstation zu erhalten sind. Fakt sei, daß durch den dichten Baumbestand zu wenig Sonnenlicht an die Hauswand gelangt und diese deshalb an vielen Stellen bereits derart feucht ist, daß sich Feuchtigkeitsschäden auch schon an den Innenwänden abzeichnen.

Weiterhin zu klären ist die Frage der Zufahrt zu dem Areal. Bei Hochwasser ist der Weg, der von der Philippsruher Allee kommt, überschwemmt. Bei hohem Wasserstand soll die Pumpstation also künftig von hinten, über die Sportplätze des VfR Kesselstadt, angefahren werden. Nötig sind außerdem ein Schallschutzgutachten und ein Bodengutachten (02.07.2016).

 

Zwei Säulen:

Auf der anderen Seite der Philippsruher Allee stehen zwei Säulen, die (in deutscher und lateinischer Sprache) an den Erbauer der Philippsruher Allee erinnern.

 

Olof-Palme-Haus

Das Olof-Palme-Haus, wie es heute als prächtige Villa die Philippsruher Allee an der Ecke zur Pfarrer-Hufnagel-Straße in Hanau schmückt, wurde 1654 als adliges Anwesen im barocken Stil von Johann von Sauter erbaut. Vorher stand auf dem Gelände eines der drei Kesselstädter Hofgüter, das im 30-jährigen Krieg zerstört worden war.

Im Jahre 1711 erwarb Philipp Christoph Fabricii das Anwesen, dessen Grundriß 1730 erstmals im Plan des Dorfes Kesselstadt dargestellt wurde. 1767 tauchte in der Hanauer „Europäischen Zeitung“ dann eine Anzeige auf, in der das Grundstück ausführlich beschrieben und zur Versteigerung angeboten wurde. Wer den Zuschlag bekam, ist allerdings nicht bekannt; ebensowenig, wer in den folgenden rund 30 Jahren die Besitzer des Hauses waren.

Die ersten Besitzer des heutigen Olof-Palme-Hauses müssen feine Herrschaften gewesen sein. Bereits 1654, als die barocke Prachtvilla an der Philippsruher Allee errichtet wurde, ließen sie eine Toilette einbauen - ein Luxus, den sich damals meist nur die Bewohner von Schlössern und Burgen leisten konnten. Der Förderverein des Olof-Palme-Hauses machte den unerwarteten Fund bei der Renovierung des „Gelben Salons“ im ersten Stock. Hinter einer Wand stießen die Arbeiter auf eine Nische im Mauerwerk. Wegen des Rundbogens, der sich über den Hohlraum rankt, dachten sie zunächst, einen Schrein für eine Marienfigur entdeckt zu haben.

Doch dann sahen die Handwerker das große Loch in der Mitte des Sockels. Ein Blick hinein offenbart ein Rohr mit einem Durchmesser von etwa 30 Zentimetern, das vom „Gelben Salon“ im ersten Stock, der früher wahrscheinlich der Schlafraum war, bis auf den Grund des Hauses reicht. Im 15. und 16. Jahrhundert etwa war es auf Schlössern und Burgen gängig gewesen, einen Erker direkt über dem Graben zu bauen, wohin die Notdurft „im freien Fall“ plumpste. Ungewöhnlich ist im Olof-Palme-Haus auch die seitliche Öffnung, die nach etwa einem Meter in das Hauptrohr mündet und ins Freie führt. Man könnte sich vorstellen, daß es eine Art natürliche Regenwasserspülung war.

Das Haus war einst Sitz des Hanauer Adels. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts diente es als Wohnort des Juweliers Christ, ein in Amerika zu Geld gekommener Hanauer, der den alten Adelssitz im amerikanischen Südstaatenstil ausbauen ließ.

Der Reichtum und der aufwendiger Lebensstil der Familie sorgten in Hanau für Aufsehen. Georg Christ, der in Amerika ein großes Vermögen erworben hatte, kaufte die Villa 1857, erweiterte sie um den Balkon auf der Mainseite und ließ den Dachgiebel verbreitern. Von ihm ist auch eine hübsche Anekdote überliefert, die der langjährige „Hausherr“ Erich Becker erzählt: Nach dem Tod seiner Frau ging Georg Christ erneut auf Brautschau. Da er selbst aber nicht mehr „taufrisch“ und „ansehnlich" gewesen sei, entschloß sich der reiche Herr zu einem originellen Trick: Er ließ einfach von seinem prächtigen Haus mehrere Bilder malen - und so für sich werben; es soll tatsächlich funktioniert haben. Dieses Gemälde ist übrigens bis heute in Schloß Philippsruhe erhalten.

Nach seinem Tod wechselte das Gebäude weitere drei Male die Besitzer. Dort wohnten die Industriellen Krebs (Klingsor Grammophone) und Kling (Holzfurniere). Nach 1945 ernannten die US-Kommandeure das Gebäude zum Amerikahaus. Es war Sitz der US-Militärregierung in Hanau wurde. Die Amerikaner wußten, wo es schön ist in Hanau: Als sie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nach einem Sitz für ihre Militärregierung Ausschau hielten, fiel ihre Wahl auf die weiße Prachtvilla mit dem großen Garten an der Philippsruher Allee, die stets ein wenig an eine Kulisse aus „Vom Winde verweht“ erinnert. In einem rundum holzvertäfelten Raum im ersten Stock, dem späteren Zimmertheater, bezog der Stadtkommandant sein Büro.

Im Jahre 1955 wurde es wieder der kommunalen Verwaltung übergeben und näherte sich dann seiner heutigen Nutzung an und wurde als „Haus der Jugend“ der Allgemeinheit zugänglich. Bis in die späten 60er Jahre war das Gebäude Jugendbegegnungsstätte und -herberge.

Die Jugendherberge wurde 1955 eröffnet und 1962 wieder geschlossen. Danach betrieb die Stadt das Haus weiter als Jugendheim für Hanauer Gruppen. Vor allem die Discos waren bei jungen Leuten beliebt. So hat auch Michael Lilienthal das Haus kennengelernt. Heute ist der Inhaber einer Firma für Audio- und Videosysteme in Maintal Vorsitzender des Fördervereins: „Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, daß dieses Haus verkauft werden sollte.“

Die Wurzel des heutigen Nutzungskonzeptes eines kommunalen Kulturhauses reichen in die 70er Jahren zurück. Die Spielstätte brachte 1980 die rührige Laienspieltruppe „Hist(o)erisches Theater“ und 1986 das bissige Kabarett „Die Brennesseln“ hervor. Die Zahl der Ensembles hat sich bis heute mit „Diewas“ und „Hermann“, den beiden Frauentheatern, der Jugendtheatergruppe „Con­fulsion“ und dem „English Theater“ verdreifacht.

Im Jahre 1980 fand das erste Musikpicknick im Garten des Hauses statt. Bis heute hat sich am Konzept der Reihe so gut wie nichts geändert: Immer noch stehen Konzerte rund um den Jazz im Mittelpunkt, immer noch macht das Spielmobil „Augustin“ an diesen Sonntagen vor dem Haus Station, immer noch werden Büchern nach Gewicht verkauft. Nur die Besucherzahlen haben sich verändert: stetig nach oben, von 100 bis auf rund 1000. Im Jahre 1987 wurde das Haus nach dem ein Jahr zuvor ermordeten schwedischen Premierminister Olof Palme benannt.

 

Der Mai 1996 schien ein Schicksalsmonat zu werden. Das Haus war in einem desolaten Zustand, die Stadt sah sich gezwungen, einen großen Sanierungsplan aufzulegen. Die Instandsetzungskosten wurden auf mehr als zwei Millionen Mark geschätzt Das Haus gelangte auf eine Liste von Immobilien, der sich die Stadt entledigen wollte. Flugs gründete Michael Lilienthal einen Förderverein und ging auf die Barrikaden.

Mit der Reaktion in der Bevölkerung hatte indes keiner der Politiker gerechnet. Denn dort löste das Vorhaben einen Sturm der Entrüstung aus. Was folgte, war ein fast beispielloses Ringen, das Haus zu retten - mit ebenso beispiellosem Erfolg: Benefizveranstaltungen gab es, Auftritte im Parlament, Briefaktionen und vor allem zahllose Unterschriften von Bürgern, die sich für den Verbleib des Hauses in städtischem Besitz - und somit für die Öffentlichkeit einsetzten. Dieser „Berg von Unterschriften“ habe wohl letztlich den Ausschlag gegeben, mutmaßt Lilienthal, daß die damalige Oberbürgermeisterin Margret Härtel (CDU) 1995 öffentlich verkündete, das Haus werde nicht an Private verkauft.

 

In zähen Gesprächen erarbeiteten Förderverein und Politik anschließend eine außergewöhnliche Vereinbarung: Die Stadt saniert Fassade, Dach, Terrasse und Garten des Hauses (900000 Mark hat das gekostet. Der Verein richtet das Innere her, kümmert sich um die Vermarktung und verpflichtet sich, die Betriebskosten auf Dauer zu tragen. Der Förderverein hat allein rund 200.000 Mark an Materialkosten aufgebracht. Bis zum Jahr 2000 gab die Stadt einen jährlichen Betriebskostenzuschuß von 60.000 Mark, der seitdem um 20.000 Mark pro Jahr bis auf Null reduziert wird. Das Haus steht jetzt im neuen Glanz da und wird demnächst wohl kostendeckend betrieben.

Bei den Arbeiten, für die bald rund 150.000 Euro investiert wurden, helfen Ein-Euro-Jobber und Männer, die Sozialstunden ableisten, sowie der Sozialarbeiter Markus Alt, den der Förderverein für Schriftverkehr und Handwerkliches in Vollzeit eingestellt hat.

Im Laufe der zehn Jahre seit seiner Gründung ist der Verein von anfangs 30 auf 180 Mitglieder gewachsen und hat in dieser Zeit auch einen Großteil der Räume saniert inklusive des Kellers, der in schlimmem Zustand war und heute als Kleinkunstbühne zu den schönsten Plätzen im Haus zählt. In anderen Geschossen trat bei den Bauarbeiten manch überraschender Fund zutage: Reste einer historischen Tapete fanden sich, ein wunderbares Deckengemälde sowie eine uralte Toilette, die nun hinter Glas als Schmuckstück der besonderen Art präsentiert wird. Während das Relikt früherer Zeiten nicht mehr benutzt werden darf, werden die Toiletten im Erdgeschoß derzeit neu gebaut. Als nächstes sollen das Foyer und die mächtige Treppe sowie der große Saal im Erdgeschoß renoviert werden.

„Wenn alles nach Plan läuft, sind wir Ende 2006 fertig“, sagt Lilienthal. Seine Arbeit ist damit längst nicht abgeschlossen. Denn er hat noch viele Pläne für das Olof-Palme-Haus: Neben den Weight-Watchers, etlichen Theatergruppen und den vielen Firmen, die regelmäßig Räume für ihre Veranstaltungen, Proben oder Seminare mieten, möchte er das Haus vor allem tagsüber stärker vermarkten: Zielgruppe sind all die Unternehmen und Gruppen, denen etwa der Congress Park zu groß, zu teuer oder zu unpersönlich ist. „Und wo sonst als bei uns findet man ein solches Ambiente“, sagt Lilienthal und lacht stolz über das ganze Gesicht. Seit 1997 saniert er die Räume des Hauses, das weiter im Besitz der Stadt ist, und vermarktet sie an Gruppen und Firmen, die dort Seminare veranstalten.

 

Das Haus in barocker Architektur hat heute drei Aufführungsräume: den großen Saal, das Zimmertheater und den jüngst ausgebauten Gewölbekeller. Überdies gibt es noch einige Seminarräume, die an Unternehmen und Organisationen vermietet werden. Vereine können die Räumlichkeiten gegen eine Spende kostenlos nutzen. Es muß aber nicht immer Geld sein. Ein Arbeitseinsatz am Getränke- oder Kuchenstand bei einem der Open-Air-Jazz- Picknicks, zu denen oft mehrere Hundert Menschen in den parkähnlichen Garten kommen, wird ebenfalls gerne angenommen. Das Haus steht zudem mit einer anderen Hanauer Institution enger Beziehung- den Internationalen Amateurtheatertagen, die seit vielen Jahren im Herbst veranstaltet werden.

Im ersten Stock ist mittlerweile der „Blaue Salon“ - dem alte Tapetenreste seinen Namen gegeben haben - komplett hergerichtet, im benachbarten „Gelben Salon“ sind die Arbeiten derzeit in vollem Gange. In beide Zimmer werden demnächst die Bridgespieler Einzug halten, die bislang in der Stadthalle ihr Domizil hatten.

Im Flur zwischen „Blauem Salon“ und dem größten Raum im ersten Stock prangt schon jetzt ein prächtiges Deckengemälde, das gereinigt wurde und noch original restauriert werden soll. Den Vermerk „Hildebrandt Wiesbaden 1897“ hat der Förderverein dort gefunden - seitdem wird in der Landeshauptstadt nach einem Meister solchen Namens geforscht, der das Deckengemälde in besagtem Jahr vermutlich ausgebessert hat. Der Saal nebenan bekommt lediglich Schönheitskorrekturen: neue Vorhänge und ansehnlichere Lampen, während für das eigentliche Schmuckstück im Haus, das holzvertäfelte Kaminzimmer, zur Zeit noch das Geld fehlt.

Das Lesecafé im Erdgeschoß mit seiner großen Front zum Garten hin ist nun komplett ausgestattet: Es hat eine Theke mit allem nötigen Inventar bekommen, wodurch sich bei Veranstaltungen besser bewirten läßt. Das Haus ist von großen alten Bäumen und einer Grünfläche von ungefähr 7.000 Quadratmetern umgeben.

Auch von außen ist das Olof-Palme-Haus mittlerweile perfekt; die Stadt, die für die Sanierung von Fassade und Dach sowie für die Parkanlage zuständig ist, hat nach einiger Verzögerung zuletzt den Balkon restauriert und dabei den schönen Zierrat an Geländer und Säulen freigelegt. Einen kleinen Schreck gab es indessen noch: Das Holz in den Sockeln aller vier Säulen - die ja immerhin den gesamten Balkon stützen - war morsch und mußte ausgetauscht werden.

Das Olof-Palme-Haus feiert am 17. Juli 2005 gleich mehrere Jubiläen: Seit 50 Jahren ist die Villa an der Philippsruher Alle im Besitz der Stadt, seit 25 Jahren werden dort die Musikpicknicks veranstaltet und seit zehn Jahren schließlich gibt es den Förderverein, der das Haus vor dem Verfall - und so letztlich auch für die Öffentlichkeit - gerettet hat

 

Friedenskirche

Die Friedenskirche wurde 1904 anstelle der spätgotischen Vorgängerkirche erbaut. In die neue Kirche wurden der barocke Orgel­prospekt, die Kanzel und der Taufstein von 1590 übernommen. Beeindruckend sind auch die aus dem Jahr 1964 stammenden Glasfenster von August Peukert.

Um oder bald nach 900 kann man mit einem ersten Sakralbau in Kesselstadt rechnen. Seine Kirche und ihr Rektor Konrad, „genannt Spiegel“, werden erstmals in einer Mainzer Urkunde vom 22. November 1275 erwähnt. Da das Recht der Pfarrbesetzung zuerst (bis 1561) beim Kloster Limburg a. d. Hardt lag statt bei dem 1323 erwähnten „Herrn von Kezzelstad“ oder den benachbarten Oberherren, den Herren von Dorfelden und Hagenowe, darf man annehmen, daß die Errichtung des ältesten Kirchenbaues in Kesselstadt und seine Einbeziehung mit der dazugehörigen Gemeinde in die gesamte kirchliche Organisation unserer Gegend schon vor dem Aufkommen dieser Territorialherren anzusetzen ist.

Von 1340 an kommen die Herren von Kezzelstad in Urkunden nicht mehr vor. Dafür setzen ein Ritter Rudolf und seine „elich Wirtin“ 1353 „einem parrer von Kezzelstad und eime Capplan daselbes, der ihren altar besinget“, je ein Achtel Korn aus. Sie hatten offenbar den Altar der heiligen Katharina gestiftet. Die Kirche wird jetzt ausdrücklich als Pfarrkirche bezeichnet.

Zu Kesselstadt gehörte bis 1720 das benachbarte Dörnigheim als Filial. Nach starkem Zerfall wurden 1471 Chor und Schiff der Kirche mit ihrem Dachreiter wiederhergestellt. Dabei beschwerte sich die ganze Gemeinde bei dem Grafen von Hanau, daß Dörnigheim sein Drittel zum Kirchbau nicht beisteuern wollte. Aber auch über seine eigenen Gemeindeglieder klagte der Vikar Friedrich Reuber 1537: „Se nemen eynem wol lieber, dann se eym etwas geben, wo se es nyt tun müssen“.

Infolge seiner offenen Lage zwischen den befestigten Städten Frankfurt und Hanau hatte Kesselstadt in den kriegerischen Auseinandersetzungen viel zu leiden. So wurde in dem Machtkampf zwischen dem Adel und der Stadt Frankfurt 1386-96 von Frankfurter Kriegsknechten die auf dem Lindenrain, dem alten Gerichtsort, stehende kleine Kirche ausgeraubt und arg beschädigt, Haus und Scheune des Kaplans verbrannt.

Bis zur Reformnation gehörte Kesselstadt zur Diözese des Erzbistums Mainz an. Offenbar infolge des Patronats des Klosters Limburg war Kesselstadt trotz seiner bereits evangelisch gewordenen Nachbarschaft bei einer 1549 von Mainz vorgenommenen Kirchenvisitation noch katholisch. Doch scheint unter dem Pfarrer Bernhard Voigt, der 1553 an der Pest starb, die Sache der Kirche sehr im Argen gelegen zu haben. So ist zu verstehen, daß das Kloster Limburg der Ernennung des im Januar 1554 in Wittenberg examinierten und zum Pfarrer ordinierten Rektors Konrad Cleß zustimmte. Cleß, ein gebürtiger Windecker, hatte schon 1545, also noch zu Luthers Zeit, in Wittenberg studiert und war dann nach einer Lehrtätigkeit an der von dem Schlüchterner Reformator Petrus Lotichius gegründeten Klosterschule von 1549 an in Hanau als Lehrer und Rektor tätig gewesen.

Während in Hanau unter Philipp Neunheller die Reformation in der den Schweizern nahestehenden Straßburger Form Eingang fand, ist die Verkündigung des Magisters Cleß infolge seiner Beziehungen zu Wittenberg wohl stärker von Luther her bestimmt gewesen. Für das seit 1552 in Hanau stärker eindringende konfessionalistisch verengte Luthertum konnte sich Cleß jedoch nicht erwärmen. Während seiner Amtszeit ging im Jahr 1561 das Recht der Pfarrbestellung durch Kauf auf die Hanauer Herrschaft über.

Schon bald nach seiner Übersiedlung nach Kesselstadt hatte Cleß auf den schlechten baulichen Zustand der für die etwa 200 Gemeindeglieder ohnedies zu klein gewordene Kirche hingewiesen. Erst 1581 konnte man nach vielem Betteln die Südseite des Kirchenschiffes weiter hinausrücken und dieses um etwa 13 Meter verlängern. Außerdem erhielt die Westseite einen Dachreiter, der ein Glöckchen trug. Leider wurden die Arbeiten - offenbar aus Mangel an Mitteln - denkbar schlecht ausgeführt.

Im dreißigjährigen Krieg hatte Kesselstadt viel zu leiden. Zuerst unter den Truppen des kaiserlichen Obersten von Witzleben (Dezember 1629 bis März 1630), dann 1633 unter den Truppen des schwedischen Heerführers Herzog Bernhard von Weimar, die auch die Kirche und die „Burg“ der Grafen von Hanau jämmerlich zurichteten, und schließlich während der Belagerung Hanaus 1635-38 durch General Lamboy, der sein Hauptquartier zunächst in und später bei Kesselstadt hatte.

Mit Hilfe von Kollekten der Nachbargemeinden wurden nach dem Kriege und auch später die gewaltigen Schäden wiederholt notdürftig behoben, bis man 1736/37 die Fundamente und das Mauerwerk zum Teil und das Dach ganz erneuerte. Außerdem wurde nun ein richtiger Turm an der Westseite errichtet. So blieb die Kirche, bis sie 1903 wegen Baufälligkeit abgetragen werden mußte. Die neue Friedenskirche wurde in den Jahren 1903 bis 1904 in gotischen Stilformen erbaut unter dem Architekten Heinrich Jasoy aus Stuttgart. An der Ostseite der Kirche steht ein alter Grabstein.

Da nach dem dreißigjährigen Krieg nur noch wenig Menschen in Kesselstadt wohnten, wurde der Friedhof westlich des Dorfes aufgegeben und der kleine Platz um die Kirche bis 1844 für Beerdigungen benutzt. Zahlreiche Gräber umgaben bereits den ersten Kirchenbau. Bestattet wurde auf diesem Friedhof bis 1839, dann war er zu klein geworden und mußte verlegt werden. Von den 134 zur Auswertung gelangten Grabbefunden sind nur 16 völlig ungestört. An zwei Stellen fanden sich auf engstem Raum Gruppen von Kindergräbern. Bemerkenswert sind eine ganze Reihe von Beigaben wie Trachtbestandteile, Werkzeuge, Tonpfeifen, Schmuck oder auch Münzen in den Gräbern, da die „heidnische“ Sitte der Mitgabe von persönlichen Gegenständen mit dem Aufkommen des Christentums weitgehend erloschen war.

Die anthropologische Untersuchung der menschlichen Skelettreste bietet trotz der in einem mittelalterlichen Friedhof naturgemäß sehr schwierigen Bearbeitungsbedingungen einen Oberblick über die ehemaligen Bewohner von Kesselstadt. Nicht unerwartet stellen wir eine sehr hohe Kindersterblichkeit und wesentlich geringere Lebenserwartung als heute fest. Erstaunlich ist die überdurchschnittliche Körpergröße der erwachsenen Bevölkerung, die sich nur wenige, von den heute üblichen Werten unterscheidet. Für diese vom Rahmen des Erwarteten abweichenden Ergebnisse werden vorwiegend ernährungsspezifische Gründe verantwortlich gemacht, die vor allem in eiweißhaltiger Nahrungsmittelversorgung (Fisch) zu suchen sein dürfte. Im gleichen Zusammenhang fallen einige Erkrankungsformen auf, die man mit dem modernen Begriff „Berufskrankheiten“ belegen möchte und die auf die Tätigkeit vieler Kesselstädter als Fischer zurückzuführen sein werden.

Pfarrer Friedrich Hufnagel (1884-1916) brachte Bewegung in das Leben der Gemeinde. Der Gründer der Kinderheilanstalt Bad Orb rief schon bald mit großer Energie und erheblichen Opfern in der eigenen Gemeinde eine Kleinkinderschule (1885) und eine Gemeindepflegestation (1888) ins Leben. Nachdem sich Hufnagels Bemühungen um die Sicherung der völlig baufällig gewordenen Kirche als sinnlos erwiesen, betrieb er tatkräftig einen Neubau.

Am 28. April 1903 wurde mit dem Abbruch der alten Kirche begonnen. Am 2. August fand die Grundsteinlegung statt. Am 25. September 1904 konnte in einem Festgottesdienst die am alten Platz - nur mit einer Nord-Südachse - errichtete, wesentlich größere, neugotische „Friedenskirche“ eingeweiht werden. Das Gotteshaus ist ein zweischiffiger neugotischer Bau. Zur Einrichtung gehören eine Kanzel, die am Ostpfeiler steht, und der Taufstein, der am Westpfeiler aufgebaut wurde. Mittelpunkt des Chores ist der Altar. Das Nebenschiff der Kirche enthält eine Empore.

Aus der alten Kirche übernahm man u. a. den schönen Orgelprospekt, die Kanzel, den wiederaufgefundenen Taufstein aus dem Jahre 1590, den wieder zutage geförderten Opferstock mit dem Wahrzeichen der ehemaligen Kesselstädter Fischerzunft, einem Fährbaum mit Haken aus dem Jahre 1696 und das wohl aus dem Jahre 1736 stammende Turmkreuz.

Die neue Kirche erhielt für den 52,5 Meter hohen Turm vier Glocken. Davon mußten im ersten Weltkrieg 1917 die drei großen Glocken abgeliefert werden, die erst 1925 (nach der Inflation) ersetzt werden konnten.

Mit erheblicher Unterstützung der Stadt konnte 1952 ein neues Geläut, das erste wieder in Hanau, beschafft werden. Die neuen Glocken in den Tönen d', e', g', a' wurden am 14. September 1952 in einem festlichen Gottesdienst ihrer Bestimmung übergeben.

Zum 50 jährigen Jubiläum 1954 wurde die Kirche mit Hilfe kirchlicher und städtischer Zuschüsse und zahlreicher privater Spenden renoviert. Dabei wurden die Jugendstilelemente weithin entfernt und die schlichten gotischen Grundformen herausgearbeitet. Emporebrüstung und Türen wurden vereinfacht, eine neue Beleuchtung angeschafft. Die Beleuchtung und die zerstörten Fenster wurden erneuert; der größte Teil der Mittel für die figürlich gestalteten Chorfenster war in kleinen Pfennigbeträgen jahrelang von den Konfirmanden gesammelt worden. Die Orgel wurde klanglich umgebaut; die klare Schönheit und der Glanz ihrer 22 Stimmen kamen seitdem zahlreichen kirchenmusikalischen Veranstaltungen zugute.

Die Fenster der Kirche wurden bei einem Luftangriff am 6.1.1945 zerstört. Im Winter 1950/51 hatte sich herausgestellt, daß infolge der 1945 nur notdürftig durchgeführten Verglasung der Fenster eine richtige Beheizung nicht mehr möglich war. Es wurde daher am 11. Februar 1951 eine Wiederherstellung der Fenster in Antikglas beschlossen und so konnten die von dem Maler August Peukert gestalteten drei Fenster 1954 eingesetzt werden. Das mittlere Fenster stellt das Thema „Jesus am Kreuz“ und die beiden seitlichen den durch Wort und Sakrament verkündigenden und sich schenkenden Christus dar. Die in der Kirche aufgestellte Orgel stammt von der Firma Wilhelm Ratzmann, Gelnhausen. Die Kirche wird auch von Altkatholiken und der Armenischen Kirche genutzt. Die Eingangshalle wurde zu einer würdigen Gedenkstätte für die Opfer der beiden Weltkriege umgestaltet. Am 3. Oktober 1954 konnte der überaus stark besuchte, festliche Gedenkgottesdienst in der erneuerten Kirche gehalten werden.

 

Reinhardskirche:

Durch eine bald nach dem Regierungsantritt des Grafen Philipp Ludwig II., 1593, erlassene Verfügung war auch in Kesselstadt das reformierte Bekenntnis eingeführt worden. Den Widerstand der zahlreichen Widerstrebenden hatte man bald unterdrückt, aber nicht überwunden. Als 1642 die reformierte Hanau-Münzenberger Grafenlinie ausstarb und die lutherische Lichtenberger Linie zur Regierung kam, suchten eine Reihe im Herzen lutherisch gebliebener Familien und die in den Kriegswirren zugezogenen Lutheraner Anschluß an die neue kleine Hofgemeinde in Hanau.

Im Januar 1692 klagte das reformierte Presbyterium über die Begünstigung der Lutheraner durch die Landesherren. Nachdem (1701-12) das Schloß Philippsruhe erbaut war, entstand auch in Kesselstadt eine kleine lutherische Gemeinde.

Am 2.Weihnachtstag 1728 wurde von dem Pfarrer der neugebildeten lutherischen Gemeinde in Hochstadt im Saal des Gastwirtes Schmidt der erste lutherische Gottesdienst gehalten. An der ersten Abendmahlsfeier am Sonntag nach Neujahr 1729 nahmen 18 Personen teil. In diesem Jahr wurde auch das (einzige) lutherische Kirchenbuch begonnen. Bald betrieb man den Bau eines Schulhauses mit Saalkirche. Schon am 21. November wurde das Kreuz auf den evang.- lutherischen Kirchturm gesteckt. Jedoch erst am 3. Oktober 1734 konnte die Kirche feierlich eingeweiht werden.

Unter dem Namen Reinhardskirchen faßt man die lutherischen Kirchen zusammen, die unter dem persönlichen Einfluß des letzten Grafen von Hanau (-Lichtenberg), Johann Reinhard III. (1712- 1736) mit seiner finanziellen Unterstützung und sicherlich auch unter Mitwirkung seines „Baudirektors“ Hermann in der Grafschaft Hanau-Münzenberg entstanden. Diese evangelischen Saalkirchen haben meist einen hohen Frontturm, dessen Untergeschoß aus Stein besteht. Auf diesem Steinbau sitzen dann die nach oben sich verjüngenden Holzgeschosse, die meist achteckig gebrochen sind und eine flache „welsche Haube“ tragen.

Von 1801 an wurde die lutherische Gemeinde von der Johanneskirche in Hanau versorgt. Die meisten dieser Kirchen wurden nach der Kirchenvereinigung von 1818 (der „Hanauer Union“) als überflüssig wieder abgebrochen (so zum Beispiel in Windecken und Rüdigheim) oder für andere Zwecke umgebaut (so Bruchköbel).

Die „Reinhardskirche“ in Kesselstadt wurde an die politische Gemeinde verkauft und seitdem als Schule benutzt. Doch blieb hier äußerlich noch der Eindruck eines Kirchenbaues bestehen (Bild in: Hanau Stadt und Land, Seite 157). Heute ist die „Reinhardskirche“ Versammlungsraum und Kulturzentrum.

In Kesselstadt gibt es noch die katholische Kirche St. Elisabeth aus den Jahren 1963 bis 1964.

 

Das Gasthaus „Zum Rothen Löwen“ gehört Diplom-Ingenieur Wilhelm Zuschlag und seiner Frau Benita von Perbandt-Zuschlag das Haus, das 1727 als Gasthaus erbaut und seitdem als solches genutzt wird, 1983 renoviert. Wirtin ist Catharina Matuschewsky.

 

Eingemeindung Kesselstadts:

Am 1. April 2007 ist es 100 Jahre her, daß das „Gesetz, betreffend Erweiterung des Stadtkreises Hanau“, in Kraft trat und damit die Selbständigkeit Kesselstadts beendet war. Am 30. März war das Gesetz, „gegeben Berlin im Schloß, den 27. März 1907“ und unterzeichnet von König Wilhelm, im preußischen Amtsblatt veröffentlicht worden und damit rechtskräftig. Mit einem Festakt in der Friedenskirche und einem Kesselstädter Nachmittag in der Reinhards­kirche würdigt die Stadt die erste Eingemeindung ihrer Geschichte. Sie verlief, glaubt man den zeitgenössischen Quellen, ziemlich reibungslos. . Binnen eines Jahres war der Vertrag, den der Hanauer Oberbürgermeister Dr. Gebeschus und sein Kesselstädter Kollege, Bürgermeister Geibel, unterzeichneten, ausgehandelt und der Vorgang gesetzesreif.

Da Hessen, seit 1866 preußische Provinz war, hatte Berlin das letzte Wort. „Wir, Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preußen, verordnen mit Zustimmung der beiden Häuser des Landtags der Monarchie was folgt: Die Landgemeinde Kesselstadt wird mit dem 1. April 1907 vom Landkreis Hanau abgetrennt und der Stadtgemeinde und dem Stadtkreis Hanau einverleibt“.

Damit hatte die aufstrebende Industrie- und Militärstadt Hanau einen Befreiungsschlag gelandet. Die Stadtentwicklung war mangels weiterer Flächen an ihre Grenzen geraten, eine Ausweitung für neue Industrie- und Siedlungsflächen gab es praktisch nur im Westen, nach Kesselstadt hin. Das einstige Dorf am Main dagegen wäre wohl kaum in der Lage gewesen, anstehende Investitionen in die Infrastruktur wie Wasserversorgung, Kanal, Straßen- und Schulbau alleine zu schultern. So profitierten beide Seiten.

 

Sehr unterschiedlich sind die Partner gewesen, Kesselstadt ein Fischer- und Ackerbürgerdorf mit 2.700 Einwohnern, Hanau eine aufstrebende Stadt mit immerhin schon 35.000 Bürgern. Vieles trennte die beiden Gemeinden, eines verband Kesselstädter und Hanauer: Wollten sie die Kinzig über die Hellerbrücke überqueren, dann mußten alle einen Heller Maut bezahlen, daher rühre der Name der Brücke. Inzwischen leben auf der alten Gemarkung Kesselstadt über 11.300 Menschen und damit mehr als in der Innenstadt.

Der entsprechende Vertrag, der am 22. November 1906 abgeschlossen wurde, regelt in gerade einmal 28 Paragraphen die gemeinsame Zukunft. Geregelt wurde zuallererst, welche Steuern künftig gelten sollten. Die Kesselstädter sollten keinen Nachteil haben, weswegen einige Hanauer Gemeindesteuern auf Kesselstadt nicht angewendet wurden. Lange Anpassungsfristen, teilweise bis in die Mitte der zwanziger Jahre, erhielten den Hanauer Neubürgern so manches Privileg. So mußten die Kesselstädter zehn Jahre lang nur 80 Prozent der (damals lokalen) Einkommens-, Grund- und Gewerbesteuer bezahlen. Die alten Ortsstatuten und Polizeiverordnungen blieben teilweise weiterhin in Kraft. So war beispielsweise die Hausschlachtung auch nach der Eingemeindung erlaubt, und auch die Beibehaltung des Kesselstädter Friedhofs wurde garantiert. Die Hundesteuer wurde für zehn Jahre zu den niedrigen Kesselstädter Sätzen festgeschrieben.

Die Dorfschule wurde nun eine städtische Schule und die Stadt Hanau übernahm von Kesselstadt neben dem Gemeindepersonal auch die Lehrer in städtische Dienste. Die Schüler waren nun ja auch Hanauer und mußten deshalb für den Schulbesuch in der Innenstadt nicht mehr das für Auswärtige fällige Schulgeld bezahlen. Hanau sagte auch vertraglich zu, vorrangig westlich der Kinzig eine neue Bezirksschule zu errichten.

Die Hanauer verpflichteten sich des weiteren, in der gesamten geschlossenen Ortslage Kesselstadt sowie in der „Kolonie“(es war dies der Bereich Frankfurter Landstraße/Rosenau) Kanalisation und Wasserversorgung „mit Beschleunigung auszuführen“ Außerdem sollten mindestens 5.000 Mark jährlich für den Bau von Bürgersteigen und deren Unterhalt aufgewendet werden. Die Freiwillige Feuerwehr sollte ihre Selbständigkeit behalten, in ganz Kesselstadt sollten zudem elektrische Feuermelder aufgestellt werden, „ebenso ist möglichst bald die Vermehrung der Straßenlaternen um 30 Stück herbeizuführen“.

Natürlich übernahm Hanau auch das gesamte Vermögen und alle Verbindlichkeiten der Gemeinde sowie die Verwaltung. Um dem Bevölkerungszuwachs gerecht zu werden, wurde die Zahl der Stadtverordneten in Hanau von 36 auf 39 erhöht, der Magistrat um ein ehrenamtliches Mitglied aus Kesselstadt erweitert. Für die Gemeindebediensteten wurden neue Gehaltseinstufungen vereinbart und auch der Bürgermeister erhielt ein recht anständiges Ruhegehalt.

 

Es ist ein Gerücht, daß die Kesselstädter Sterberate in die Höhe geschnellt sei, weil die Neubürger nun das Recht hatten, auf dem Hanauer Friedhof zu Hanauer Konditionen Familiengräber zu erstehen.

Bis heute habe die Feuerwehr ihre Eigenständigkeit - wie festgeschrieben - behalten, werde aber nach dem Neubau des zentralen Hanauer Feuerwehrgerätehauses in absehbarer Zeit ihre bisherige Unterkunft aufgeben. Auch die Übernahme des Personals der Gemeinde Kesselstadt war akribisch geregelt, wobei die Reihenfolge bemerkenswert gewesen sei: Noch hinter Feldschütz, Nachtwächter und Schweinehirt wurde als letzter der Bürgermeister aufgelistet.

Der Stadtteil zeichnet sich heute „in besonderer Weise durch einen hohen Grad an bürgerschaftlichem Engagement aus, deren tragende Säulen die Vereine sind. Die Vielfalt von 40 Kulturen im Stadtteil werde als Chance gesehen, voneinander zu lernen.

 

Nachdem dies alles in 25 Paragraphen geregelt war, muß irgend jemand in Kesselstadt noch etwas ganz Wichtiges eingefallen sein: Im Paragraph 26 wurde nachgeschoben, daß sich die Stadt Hanau verpflichtet, für Kesselstadt einen Schweinehirten zu beschäftigen, ihm eine Wohnung und ein Feld- und Wiesengrundstück zur Verfügung zu stellen und ihn zu besolden, solange er „für das Hüten der in der bisherigen Gemarkung Kesselstadt gehaltenen Schweine notwendig sein sollte“. Heute ist Kesselstadt ganz selbstverständlich ein Teil Hanaus, auch wenn sich dort vielleicht mehr als anderswo in der Kernstadt aktiver Bürgergeist erhalten hat und ein waches Interesse an der Kesselstädter Geschichte vorhanden ist (MTA, 29.03.2007).

 

Ortsjubiläum 2009:

In Kesselstadt hat man 2009 Grund zum Feiern. Erneut, muß man sagen, denn erst vor zwei Jahren wurde der 100-Jahrfeier der Eingemeindung nach Hanau von 1907 mit einem gewaltigen Spektakel gedacht. Im Jahre 2009 nun geht es um die urkundliche Ersterwähnung des Dorfes am Main. Mit der Eingemeindung vor 100 Jahren endete zwar die eigenständige Geschichte des hanauischen Dorfes Kesselstadt, doch hat der Stadtteil bis auf den heutigen Tag gewisse Eigenheiten bewahrt. Hanauer sind viele „Kesellstädter“ bis heute nicht so recht geworden, auch wenn sich ein Gutteil der Hanauer Geschichte dort abgespielt hat. Nimmt man die römische Besiedlung hinzu, dann ist Kesselstadt darüber hinaus mehr als 1200 Jahr älter als Hanau. Schließlich geht die plausibelste Erklärung des Ortsnamens Kesselstadt auf das römische Kastell zurück, welches einst dort stand und dessen Areals heute komplett überbaut ist.

Vielfach ist noch immer unvergessen, daß die Hanauer Stadtplanung der 1960er Jahre die nahezu vollständige Zerstörung des alten Ortskerns beabsichtigte, um eine Hochhausbebauung am Mainufer zu realisieren. Nicht zuletzt der Widerstand der Wirtin des „Blutigen Knochens“, Margarete Peter, und des Hanauer Kulturvereins hat diese Kahlschlagsanierung verhindert.

Heute ist Alt-Kesselstadt eine der gesuchten Wohnlagen in Hanau. Der Ort war immerhin seit 1712 Residenzort der Hanauer Grafen und als Hanau nach den Bombenangriffen von 1945 dem Erdboden gleichgemacht war, fanden viele Innenstädter dort Unterschlupf, Hanaus Handel und Wandel spielten sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Kesselstadt ab, erst 1964 zog die Stadtverwaltung vom Schloß Philippsruhe wieder in die Innenstadt.

Das Jubiläum wird mit einer Geburtstagsfeier, der „Kesselstädter Jubiläumsnacht“, eröffnet.

Über das ganze Jahr wird sich dann ein Veranstaltungsreigen erstrecken, der mit Ausstellungen, Vorträgen und einem Handwerker- und Fischermarkt (16. und 17. Mai) das gesamte historische und folkloristische Spektrum der letzten 1000 Jahre, aber auch die Zeit der Römer in Kesselstadt abdeckt. Gleiches unternimmt auch eine Ausstellung im Schloß Philippsruhe, die am 30. August beginnt. Das Bürgerfest steht ebenfalls ganz im Zeichen des Ortsjubiläums, das auch Anlaß für eine weitere Ausgabe der historischen Illustrierten „Stadtzeit“ ist, die im Frühsommer vorliegen soll.

Eine ereignisreiche Nacht steht den Kesselstädtern und darüber hinaus allen Hanauern am Freitag bevor. Die „Jubiläumsnacht“ führt direkt hinein in den 950. Jahrestag jenes historischen Datums, an dem König Heinrich urkundlich bestätigt, daß er eine ganze Reihe von Ortschaften, darunter Buchen, Dörnigheim und Kesselstadt „der heiligen Mainzer Kirch zuerkannt“ hat. Ab etwa 21 Uhr beginnen die Aktivitäten der zahlreichen beteiligten Vereine und Gruppen. Vor dem illuminierten Schloß Philippsruhe serviert das Rote Kreuz Gulaschsuppe, die Feuerwehr schenkt heiße Getränke im Bistro „Graf Ludwig“ aus. umrahmt von Fackeln und Schwedenfeuern. Der Eintritt ins Historische Museum ist an diesem Abend frei, das Museumscafé ist geöffnet. Im Roten Saal werden Bilder aus der Kesselstädter Geschichte gezeigt.

Offiziell wird es dann um 22 Uhr, wenn der Fanfarenzug der 1. Steinheimer Karnevalsgesellschaft vom Schloßtor her in den Ehrenhof einzieht. Oberbürgermeister Claus Kaminsky und Peter Jüngling von der Lenkungsgruppe Kesselstadt-Jubiläen werden dann die Gäste begrüßen.

Um 22.30 Uhr hat dann der Schauspieler Rüdiger Schade seinen ersten von acht Auftritten. Anhand der Kesselstadt-Chronik von Pfarrer Rullman  („Versuch einer geschichtlichen Darstellung des Pfarrdorfes Kesselstadt“ von 1881) führt er die Jubiläumsgäste durch 950 Jahre Geschichte und durch Rullmanns Kesselstadt. Im Schloß treten ab 23 Uhr Steve Scondo und Rambling Conrad mit Blues. Folk und Classic Rock auf. Um 23.15 Uhr führt unter dem Titel „Aus dem Rahmen gefallen“ Gräfin Dorothea Friederike von Hanau-Lichtenberg durch „ihr“ Schloß. Eine Führung durch die Amerikaner-Ausstellung schließt sich an. Um 23.30 Uhr formiert sich dann das 1. Hanauer Husarenkorps. verkleidet als Grenadiere des 18. Jahrhunderts, zum „Anschießen“ am großen Springbrunnen. Um 23.45 Uhr erklingt eine „Ouvertüre“ durch den evangelischen Posaunenchor

Kesselstadt vom Balkon des Schlosses und Rüdiger Schade hat einen Auftritt zusammen mit der Schultheatergruppe der Otto-Hahn-Schule. Dann wird auch die Urkunde vom 14. Februar 1059 verlesen, ehe um Mitternacht mit Glockenläuten, Böllerschüssen und Musketensalven der Jubiläumstag lautstark begrüßt wird.

Anschließend gibt es noch einmal Musik vom Posaunenchor, während im Schloß Steve Scondo und Rambling Conrad wieder in die Saiten greifen. Gleichfalls im Schloß findet dann noch eine zweite Führung durch Gräfin Dorothea Friederike von Hanau-Lichtenberg und von Nina Michelmann durch die Amerikaner-Ausstellung statt, ehe um 0.45 Uhr Rüdiger Schade seinen achten Rullmann-Auftritt absolviert. Um 1 Uhr - oder gegebenenfalls auch später - wird Kurt Ortner als Nachtwächter für den Kehraus sorgen.

 

 

 

 

Schloß Philippsruhe

 

Schloß Philippsruhe ist ein Kulturdenkmal von europäischem Rang. Architekten und Künstler aus Deutschland, Frankreich und Italien waren an Bau, Dekoration und Veränderungen des Schlosses beteiligt. Das Hanauer Barockschloß zählt zu den Wahrzeichen in Hessen und der Brüder-Grimm- Stadt Hanau. Der Gebäudekomplex dient vielfältigen Funktionen: Museum, städtische Repräsentation, Treffpunkt und Veranstaltungsort für Vereine und Gesellschaften, Tourismus, kulturelle Bildung, Trauungen sowie Gastronomie.

 

Planung:

Das an der westlichen Peripherie am Mainufer gelegene Schloß Philippsruhe ist das älteste nach französischem Vorbild erbaute Barockschloß östlich der Rheinlinie. Im Jahr 1701 begann Graf Philipp Reinhard von Hanau (1664-1712) mit der Errichtung des nach ihm benannten Bauwerkes. Am Mainufer in Kesselstadt ließ er den Grundstein für ein Landschloß legen.

Die Barockzeit brachte dem Hanauer Land einen großen Aufschwung. Wie an allen Fürsten, Bischöfen und großen Persönlichkeiten der Zeit nagte auch an den Hanauer Grafen „der Bauwurm“.

Mit dem Aussterben der Linie Hanau-Münzenberg hatten die Lichtenberger 1642 in Hanau die Regierung übernommen. Friedrich Casimir verlegte seinen Regierungssitz vom elsässischen Buchsweiler nach Hanau. Sein Nachfolger, der Erbauer von Philippsruhe, war nicht nur des alten verwinkelten und eher mittelalterlichen Stadtschlosses überdrüssig. Er wollte eine Art Sommerresidenz ganz im Geist der Zeit. Der wichtigste Bau des neuen Jahrhunderts war die Anlage einer Sommerresidenz am Main, zwei Kilometer vom alten Schloß entfernt. Es war ein kühner Gedanke seines Schöpfers, Schloß Philippsruhe abseits von der Residenzstadt, nahe bei dem Dorfe Kesselstadt, erbauen zu lassen.

Der Plan zum Bau des Schlosses erwuchs aus der weltoffenen Aufgeschlossenheit des Grafen Philipp Reinhard. Nur aus seinem Bildungsweg läßt sich die besondere Stellung des Schlosses im deutschen Schloßbau erklären. Aufgewachsen und erzogen in dem Bewußtsein, daß ein Fürst nicht zuletzt durch seine baulichen Maßnahmen zu repräsentieren habe, mag bei dem Aufenthalt in Frankreich bereits in den Jünglingen die Grundlage für ihre spätere Bauleidenschaft gelegt worden sein. Philipp Reinhard studierte zusammen mit seinem Bruder und Nachfolger Johann Reinhard in Straßburg. Schon in dieser Zeit wurde der starke französische Einfluß in der Gedankenwelt des Jünglings spürbar. In einer fünfjährigen Reise vervollkommnete der junge Graf seine Ausbildung. Diese Reise, über die im „Hanauischen Magazin“ von 1780 berichtet wird, führte ihn vor allem durch Frankreich. Das Schloß Versailles muß einen großen Eindruck auf ihn gemacht haben.

Vorher stand hier ein Lustschlößchen, das Philipp Ludwig II. von Hanau- Münzenberg zu Beginn des 17. Jahrhunderts seiner Gemahlin Katharina Belgica errichtet hatte. Dieses wurde jedoch im Verlauf des 30jährigen Krieges verwüstet. Das Renaissanceschlößchens wird allerdings in den Philippsruher Bauakten mit keinem Wort mehr erwähnt und dürfte deswegen bereits vorher abgetragen worden sein. Damit stand das für das neue Schloß benötigte Gelände größtenteils in Form eines herrschaftlichen Gartens zur Verfügung.

Schon im Jahre 1687 hatte Graf Philipp Reinhard (1664-1712) das benötigte Gelände zusammen. 

Was noch fehlte, wurde aus Privatbesitz hinzu erworben. Ein alter Weg, der von Nordwesten herkommend den Bereich des heutigen Schloßhofes querte und zur alten Kesselstädter Mainfurt führte, mußte zum Teil umgelegt werden. Bemerkenswert ist, daß sich dieser Weg an die zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch als sog. „Alte Mauer“ erhaltene Westflanke des Römerkastells Kesselstadt anlehnte. Er deckte sich also mit der via vallaris des römischen Standlagers, dessen Entstehung selbst nur im Zusammenhang mit der genannten Mainfurt verstanden werden kann. Solange Schloß Philippsruhe nur aus dem (später ausgebauten) Haupttrakt bestand, diente ihm die gleiche Trasse als Zufahrtsweg, wie dies auch die älteste bildliche Darstellung des Schlosses auf dem Kupferstich von Johann Stridbeck aus dem Jahre 1705 zeigt.

Die Plane für den Schloßbau stammen von dem in Frankreich geschulten Architekten Julius Lud­wig Rothweil, der sich das nahe Paris gelegene Lustschloß Clagny zum Vorbild nahm.

Das an der westlichen Peripherie am Mainufer gelegene Schloß Philippsruhe ist das älteste nach französischem Vorbild erbaute Barockschloß östlich der Rheinlinie. Doch unmittelbares Vorbild ist nicht Versailles, sondern das nahe Paris gelegene Lustschloß Clagny, ein Bauwerk des Architekten Hardouin Mansart. Hier wie dort dominiert ein dreigeschossiger, um einen quadratischen Ehrenhof gruppierter Wohntrakt, dem sich zweigeschossige Flügelbauten anschließen. Die  nur eingeschossigen Flügelbauten unterstreichen die Dominanz des Mittelbaues.

 

Mit einer solchen Anlage den Namen des Bauherrn zu verbinden, entspricht durchaus den Gepflogenheiten der Barockzeit, und die Chance, sich auf diese Weise ein „Namensgedächtnis“ zu schaffen, hat auch Philipp Reinhard nicht ungenutzt gelassen. Anonym dagegen blieben zunächst die Baumeister. Immerhin ist aber in diesem Zusammenhang eine Äußerung interessant, die Graf Philipp Reinhard abgegeben hat, als er während eines Berlin- Aufenthaltes anläßlich seiner Investitur als Ritter des Königlich-Preußischen Großen Schwarzen Adler- Ordens am 8. Juli 1710 von Königin Sofie Louise im Charlottenburger Schloß empfangen wurde. Als nämlich die Königin nach dem neuerbauten „Philippsruher Haus“ fragte, wobei sie „den dasigen Garten und das darinnen sich befindende schöne Obst, wie auch dasige Situation gelobet“, haben „Ihro Hochgräfliche Gnaden“ darauf geantwortet, „daß sie sich benebst Ihrem Herrn Bruder, so das Bauwesen verstünde, vermittelst zweier französischer sehr experimentirten Baumeistern bisher beflissen, dieses kleine Ouvrage zum Stande zu bringen, hätten auch Dero Meinung nach, einigermasen damit reusirt (Erfolg gehabt), wie dann der Hauptbau beneben dem nächst angelegenen Garten vollkommen stünde.“

Bei den beiden „experimentirten Baumeistern“ hat es sich um Julius Ludwig Rothweil und den Franzosen Girard gehandelt. Rothweil ist zwar, wie der Name verrät, kein gebürtiger Franzose, ohne Zweifel hat er jedoch seine Ausbildung in Frankreich erfahren, so daß - so verstanden - der Berliner Ausspruch des Hanauer Grafen durchaus zu Recht besteht.

In den Bauakten erscheint Rothweils Name zum ersten Mal in einer am 24. Oktober 1701 angefertigten Aufstellung. Seine Hanauer Tätigkeit war jedoch nur von kurzer Dauer. Schon wenige Monate nach der Grundsteinlegung wurde er unsittlicher Handlungen beschuldigt, unter Anklage gestellt und des Landes verwiesen, wobei die Exekution dergestalt vor sich ging, daß man den Delinquenten am Abend des 4. Mai 1702 in einen Mainkahn setzte, den Kahn vom Ufer abstieß und ihn samt seiner Fracht von den Fluten des Flusses forttragen ließ - einem zwar ungewissen, aber, wie sich zeigen sollte, bedeutenden Schicksal entgegen. Später erbaute er die Schlösser in Weilburg, Arolsen und Neuwied.

Sein Nachfolger wurde der „französische Ingenieur Girard“, Jacques Girard, von dessen Person wir noch weniger wissen als über Rothweil. Bei diesem Sachstand ist es begreiflicherweise schwer zu ermitteln, welche Details in der baukünstlerischen Konzeption des Philippsruher Schloßbaues von Rothweil und welche von seinem Nachfolger Girard stammen. Wir möchten jedoch annehmen, daß ein leider undatierter Grundriß, der in einem mit dem Jahre 1701 abschließenden Aktenstück überliefert ist und eine um den Ehrenhof angelegte Gebäudegruppe mit einfachen Seitenflügeln zeigt, entweder von Rothweil stammt oder zumindest dessen Vorstellungen entsprach. Er wies noch keine Eckpavillons an den Außenseiten aus, die dann nur als das Werk Girards angesehen werden können, zumal diese beiden Flügel samt Eckpavillons erst im Jahre 1703 errichtet wurden.

Mit anderen Worten heißt das, daß fürderhin nicht Rothweil, sondern Girard als Architekt der Philippsruher Schloßfassade zu gelten hat, einer Fassade, die gerade im Wechsel von additiv aneinandergereihten eingeschossigen und zweigeschossigen Bauteilen so ungemein reizvoll wirkt. Beherrschendes Element ist dabei die Horizontale (Sockelzone, Hauptgesims, Fensterbänder), die durch die Verwendung von Mansarddächern - einer Dachform, die hier erstmalig im Hanauer Land in Erscheinung tritt - noch eine Steigerung erfährt und damit zugleich den monumentalen Gesamtcharakter der Anlage unterstreicht. Girard machte die Risse, begutachtete die Forderungen der Handwerker und war sicher auch der Urheber der Stuckentwürfe im französischen Geschmack, die von den italienischen Stukkateuren Castelli und Genone ausgeführt wurden.

Die baugeschichtlich umwälzende Tat des Schloßbaues war der moderne Grundriß und die Gesamtdisposition der Schloßanlage. Das wichtigste Glied des Schloßbaues ist der hufeisenförmige Ehrenhof mit dem zweigeschossigen „Corps de logis“. An diesen, ehemals von einem Gitter abgeschlossenen Ehrenhof schließen zwei einstöckige Flügel an, deren Abschlüsse zwei Eckpavillons bilden. Dieses Schema war aus Versailles übernommen und hatte sich sonst in Deutschland am Beginn des 18. Jahrhunderts noch nicht durchgesetzt. Philippsruhe ist einer der ersten Schloßbauten dieses Typs.

Nach Girards Plänen entstanden fünf Jahre später auch die zwei den Seitenflügeln symmetrisch vorgelagerten Bauten des Marstalles und der Remise. Gleichzeitig begann der Innenausbau mit den Stukkateuren Eugenio Castelli und Antonio Genone.

 

Bau:

Vierzehn Jahre nach dem Erwerb des Geländes begann vor den Toren der Residenzstadt Hanau ein für das kleine Hanauer Land luxuriöser und ungeheuerlicher Baubetrieb. An einen aufwendigen Schloßbau war offenbar zunächst nicht gedacht, denn noch am 2. Mai 1701 fertigte der „deutsche Baumeister Johann Caspar Wolpert“ einen „überschlag über daß Lusthauß, so in den Herrschaftl. garten zu Kesselstadt oben bey dem Amphitheatro soll gebaut werden“ und ermittelte die dafür aufzuwendenden Kosten auf den verhältnismäßig geringen Betrag von etwa 4.000 Gulden. Bereits einen Monat später aber, am 8. Juni 1701, wurde der Grundstein zu dem großen Schloßbau gelegt. Worauf der sich darin dokumentierende überraschende Sinneswandel des Bauherrn zurückzuführen ist, läßt sich einstweilen nicht sagen.

Bis zum Jahre 1705 stand der Schloßkomplex. Im Jahre 1706 wurden die beiden vorderen Bautrakte angelegt, der Marstall und die Remise. Dabei bediente man sich des gleichen gestalterischen Grundprinzips wie bei dem Hauptgebäude, d. h. der Verwendung von nahtlos aneinandergereihten zweigeschossigen Pavillons und eingeschossigen Zwischenbauten. Die Gräfliche Rentkammer mußte erneut zum Zwecke des Grunderwerbs in Aktion treten. Jetzt waren dann auch die Voraussetzungen gegeben, um die heutige Philippsruher Allee anzulegen

Zur Stadtseite hin am Main entlang wurde ein Damm mit mehreren Flutbrücken aufgeschüttet und mit Bäumen bepflanzt, die heutige Philippsruher Allee. Der vollständige Ausbau zog sich freilich bis zum Jahre 1768 hin.

Im Spätsommer 1712 konnte Philipp Reinhard endlich nach mehr als zehnjähriger Bauzeit seinen  Einzug in Philippsruhe halten: ein Teil des Neubaues war bezugsfertig. Er ahnte freilich nicht, daß er schon nach wenigen Wochen, am 4. Oktober 1712, 48 Jahre alt, an einem hitzigen Fieber als erster in diesem Hause sterben werde. Das Schloß, mit dem er sich ein Namensgedächtnis schuf, hatte er bis zu einem Todestag noch ein Vierteljahr bewohnt.

 

Weitere Baugeschichte:

Philipp Reinhard Bruder und Nachfolger Johann Reinhard III., der letzte Graf von Hanau, vollendete die Anlage. Die weitere Gestaltung des Parks und 1723 der Bau einer Orangerie sind sein Werk.

Im Jahre 1736 ging der Besitz zusammen mit der Grafschaft Hanau-Münzenberg an die Landgrafen von Hessen-Kassel über. Sie nutzten das Schloß als Sommerresidenz und zu gelegentlichen Aufenthalten. Als Hauptsitz diente es von 1764 - 1785 nur dem Erbprinzen von Hessen-Kassel, souveräner Graf von Hanau. Kurfürst Wilhelm II. von Hessen-Kassel ließ von seinem Baumeister Johann Conrad Bromeis das Schloß teilweise renovieren. Aus dieser Zeit sind die klassizistische Innenausstattung des Weißen Saales, die beiden Seitentreppenhäuser, das südliche Treppenhaus des Remisengebäudes und der Gartenpavillon Teehaus erhalten.

Im Jahre 1806 beschlagnahmten die Franzosen das Schloß. Es wäre um ein Haar verkauft worden. Napoleon schenkte das Schloß samt Garten und zugehörigem Hofgut kurzerhand seiner Schwester Pauline, der Herzogin Borghese. Stets in Geldverlegenheit schaltete sie1810 eine Anzeige im Pariser „Moniteur“, um den Prachtbau loszuwerden. Sicherlich zu ihrem großen Leidwesen hat sie aber keinen Käufer dafür gefunden. Auch wenn sie erfolglos blieb ist die Annonce doch heute ein wichtiges Dokument, weil sie eine detaillierte Übersicht zur Lage und Ausstattung zu Beginn des 19. Jahrhunderts gibt. Um 1810 war das Schloß teilweise Lazarett für französische Soldaten.

Nach dem Rückzug der Franzosen wurde der inzwischen verwilderte Park in einen englischen Garten mit wertvollem Baumbestand umgewandelt. Nur die seitlichen Lindenalleen erinnern heute noch an den ursprünglichen Zustand. Regeres Leben zog dann erst wieder Ende der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts ein, nachdem vor allem Kurfürst Wilhelm II. die Schäden, die während und nach der Franzosenzeit entstanden waren, hatte beseitigen lassen. Besondere Erwähnung verdient, daß in diesem Zusammenhang der sogenannte „Weiße Saal“ im linken Seitenflügel seine noch erhaltene noble klassizistische Innenausstattung erhalten hat. In den Jahren 1826 und 1828 wurden die Gemäuer erstmals renoviert.

 

Die 1803 zu Kurfürsten aufgestiegenen Landgrafen von Hessen-Cassel verloren im Jahre 1866 Land- und Hoheitsrechte an die preußische Krone. Von 1873 an wurden die verschiedenen hessischen Nebenlinien wiederhergestellt. Schloß Philippsruhe kam an den Landgrafen Wilhelm von Hessen-Rumpenheim: Für den Thronverzicht erhielt er 1873 auch Schloß Philippsruhe. Als einer der reichsten Fürsten der Zeit unterzog von 1875 bis 1880 Haus und Garten einem tiefgreifenden Umbau. Er ließ durch den Kopenhagener Professor Friedrich Ferdinand Meldahl umfangreiche Umbau- und Renovierungsarbeiten vornehmen.

Friedrich Wilhelm ließ den Kardinalfehler der ursprünglichen Barockarchitekten tilgen: Der Mitteltrakt war viel zu schmal, es fehlte der Raum für repräsentative Räume und eine Treppe, um die Pracht zu demonstrieren. Am Hauptgebäude des Schlosses ließ er deshalb unter Einkürzung des Ehrenhofes um drei Fensterachsen ein neues Treppenhaus mit vorgebautem Säulenportikus errichten. Anstelle eines einfachen Uhrtürmchens erhielt der Mitteltrakt seinen jetzigen Kuppelaufsatz. Die Dächer der Seitenflügel wurden in der Form französischer Renaissanceschlösser umgebaut. Außerdem wurden zahlreiche Balkone angebaut und an Kragsteinen und Brüstung mit Bildhauerarbeiten geschmückt. Zwei eherne Portallöwen des Wiesbadener Bildhauers Haigis übernahmen die Eingangswache. Als Brüstungsbekrönung einer hinter dem Schloß angeschütteten Rampe, die über zwei Treppen den Zugang zum Park vermittelt, wurden zwei in Sandstein gehauene Wappenlöwen aufgestellt.

Auf den ersten Blick ist das Ausmaß der baulichen Veränderungen gar nicht erkennbar, weil die barocke Fassade stets voll erhalten blieb. Aber der ursprüngliche Eindruck des Schlosses wurde durch einen Umbau in den Jahren 1875 bis 1878 zerstört. Damals nötigte man dem Mittelbau eine viel zu schwere Kuppel auf und legte eine viel zu üppige Altane auf schweren Säulen vor den Haupteingang: die wunderbar stuckierten Säle und ihre Inneneinrichtung wurden völlig umgestaltet. So erhielt die Anlage ihr heutiges Aussehen.

Im Zuge des Umbaus zum Wohnsitz wurde in den Werkstätten von Bergotte und Dauvillier in Paris das kunstgeschmiedete teilvergoldete Haupttor Paris zum Preis von 32.000 Goldmark gefertigt. Ende März 1880 traf die gewaltige Sendung auf dem Hanauer Westbahnhof ein. Das Hauptportal ist 6,30 Meter breit, die Seiten kommen auf 3,40 Meter, die gesamte Anlage auf die Breite von 22 Metern.

Doch nicht nur für die äußere Neugestaltung, auch für die Instandsetzung der Innenräume hat Landgraf Friedrich Wilhelm, der in zweiter Ehe mit einer Prinzessin von Preußen verheiratet war, weder „Mühen noch finanziellen Aufwand gescheut“. So verdanken auch die jetzigen Museumsräume seiner Initiative ihre prachtvollen Stuckdecken. Ein Großteil der Räume erhielt neue Stuckdekorationen in Formen des Dritten Rokoko und Holzeinbauten der Neorenaissance. Bibliothek und Speisesaal erhielten ihre prächtige Holzvertäfelung. Leider haben die gleichzeitig angebrachten seidenen Wandbespannungen die Zeiten nicht überdauert; ihre Stelle nehmen heute moderne Tapeten ein.

Verläßlich überliefert ist, daß Professor Meldahl aus Kopenhagen die Pläne für die Renovierungs­arbeiten geliefert hat und daß die örtliche Bauleitung in den Händen des Frankfurter Architekten und Bildhauers Richard Dielmann sowie des Bauinspektors Hermann Wagner in Hanau lag. Dielmann wurde dabei von seinem Vater Johannes unterstützt, der auch an der Ausführung der Stuckarbeiten maßgeblich beteiligt gewesen ist. Überhaupt scheinen die beiden Dielmann bei Hofe in besonderem Ansehen gestanden zu haben, was sich schon daraus ergibt, daß sie als einzige von den an den Restaurierungsarbeiten Beteiligten Kaiser Wilhelm I. vorgestellt wurden, als dieser am 21. Oktober 1880 - am Tage nach der feierlichen Eröffnung des Frankfurter Opernhauses - Schloß Philippsruhe einen Besuch abstattete. Als er Station bei seiner landgräflichen Nichte in Hanau machte, soll er gesagt haben, daß es das schönste Schloß sei, welches er je besucht habe.

Wo immer sich die Möglichkeit dazu ergab, hat der Bauherr Hanauer Handwerksfirmen herangezogen, die nachmals mit entsprechenden Auszeichnungen bedacht und durch Ernennung zum Hofschreiner, Hofschlosser usw. geehrt wurden. Daneben hat man andere Arbeiten außerhalb Hanaus in Auftrag gegeben, so das kunstgeschmiedete Haupttor aus den Pariser Werkstätten von Bergotte und Dauvillier und das nicht minder kunstvoll gearbeitete Treppengeländer des Haupttreppenhauses, das in der Fabrik von Eduard Puls in Berlin hergestellt wurde. Eine Liste mit den Namen weiterer Firmen - um 1950 von Dr. Herbert Ziegner, damals Justitiar der Kurhessischen Hausstiftung, zusammengestellt - befindet sich bei den Museumsakten.

 

Nutzung des Schlosses nach dem Zweiten Weltkrieg:

Im Jahre 1914 wurde das Schloß wieder Lazarett, dann wieder Residenz. Bis zum Jahr 1918 nutzten hessische Adelsfamilien Philippsruhe als Wohnsitz. Als letzter Bewohner des Schlosses residierte hier bis 1918 der blinde Landgraf Friedrich Alexander. Danach blieb das Schloß lange Jahre unbewohnt. Es blieb aber komplett eingerichtet bis zum Jahre 1943. Als man aber dann aufgrund des sich laufend verschärfenden Luftkrieges berechtigte Sorge trug, daß das am Westrand der Industriestadt Hanau gelegene Schloß in besonderer Weise gefährdet sei, wurde das gesamte mobile Kunstgut von hier nach Schloß Fasanerie (Adolphseck bei Fulda) gebracht, wobei es sich freilich ergab, daß dort Bombenschäden entstanden sind, von denen Philippsruhe erfreulicherweise verschont geblieben ist.

Nach dem Krieg wurde Philippsruhe zunächst von den Amerikanern in Anspruch genommen, die es aber bereits im Juni 1945 bis 1964 der Stadt Hanau als Ersatz-Rathaus überließen. Die Stadt brachte dort die Verwaltung unter und richtete Notwohnungen ein. Im  Jahre 1950 erwarb es die Stadt Hanau mit einem Gesamtflächeninhalt von 11,96 Hektar von der Witwe des Landgrafen Alexander Friedrich von Hessen, Gisela von Hessen, und führte es nach dem Auszug der Stadtverwaltung Zug um Zug kultureller Verwendung zu.

Nach dem Auszug der Stadtverwaltung im Jahre 1964 wurde hier das Historische Museum eingerichtet. Seit dem Jahr 1967 residiert dort das Historische Museum mit Exponaten, die die kulturelle. wirtschaftliche und soziale Geschichte der Stadt dokumentieren. Die Basis der ständigen Ausstellungen lieferten die Sammlungen des Hanauer Geschichtsvereins. Die einzige Auflage, die 1967 von dem Museum berücksichtigt  werden mußte, war die Forderung des Magistrates, bei der Gestaltung des ehemaligen Festsaales und des vormaligen Musikzimmers so zu verfahren, daß diese Räume ohne großen Umräumungsaufwand auch weiterhin für Repräsentationszwecke zu verwenden sind.

 

Brand 1984:

Bereits im Sommer 1982 brannte es in Schloß Philippsruhe. In einem Nebenraum hatte sich ein heiß gelaufener Staubsauger entzündet, für heftigen Qualm, aber nur geringen Schaden gesorgt. Böse Zungen spotteten damals, es sei ja kein Wunder, heiße doch der Kulturamtsleiter und Chef des Historischen Museums Rauch, der Leiter der städtischen Liegenschaftsverwaltung Gluth und der Hausmeister Brandt. Zwei Jahre später war den Spöttern das Lachen vergangen: Am 7. August 1984 brannte Schloß Philippsruhe lichterloh.

Gegen 14 Uhr verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer. Über dem Kesselstädter Mainufer stand bald eine gewaltige Rauchwolke, die bis nach Kahl und Frankfurt von der Hanauer Kata­strophe kündete. Feuerwehren aus allen Nachbarorten eilten herbei, selbst die Frankfurter Berufsfeuerwehr wurde schließlich alarmiert.

Was da brannte, war nämlich nicht nur der Ort Hanauer Identifikation schlechthin, es war auch der Ort der Hanauer Kultur. Im Historischen Museum waren die Schätze der örtlichen Kunst- und Stadtgeschichte untergebracht, größtenteils aus der Sammlung des Hanauer Geschichtsvereins, der mit der Stadt gemeinsam das Haus bis heute trägt. Und soeben hatte Museumleiter Dr. Anton Merk damit begonnen, im renovierten Dachgeschoß die Museumsabteilung „Hanau im 19. Jahrhundert“ auszubauen.

War es anfangs noch eher verhaltener Qualm, der aus dem Dach quoll, so schlug am späten Nachmittag aus dem Dachstuhl beiderseits des Turmes gleich an mehreren Stellen das Feuer aus der Dachhaut. Kurz darauf stand der Turm wie eine Fackel in Flammen. Gegen 17 Uhr krachte dann mit Getöse die Turmuhr aus der brennenden Dachkonstruktion in die Tiefe. Massiver Einsatz von Wasser aus mehreren Rohren sorgte am frühen Abend dafür, daß die Flammen gelöscht waren. Aber noch am nächsten Morgen drang Qualm aus dem, was einst Hanaus Vorzeigestück war.

Eine erste Bilanz ließ Schreckliches ahnen: Die gesamte Dachkonstruktion war ausgebrannt, die darunterliegenden Geschosse durch Löschwasser und Hitzeeinwirkung arg in Mitleidenschaft gezogen, Museumsgut in den Depoträumen in unbekanntem Ausmaß verbrannt. Der Großteil der Exponate konnte aber gerettet werden, nicht zuletzt durch den beherzten Einsatz von Einheiten der Hessischen Bereitschaftspolizei aus der Cranachstraße und auch der amerikanischen Militärpolizei: Als schon das Löschwasser durch die Decke des Obergeschosses „regnete“ bargen diese Männer die Gemälde und Fayencen der Ausstellungssammlung in den fürstlichen Prunkräumen, aber auch die kostbaren Türen und Mobiliar.

Wie aber konnte es zu einem Brand solchen Ausmaßes überhaupt kommen? Es war wie so oft eine Kleinigkeit mit großer Wirkung. Man muß dazu wissen, daß Philippsruhe seit den späten vierziger Jahren nicht nur die Stadtverwaltung beherbergte, sondern daß angesichts des eklatanten Wohnungsmangels in der völlig kriegszerstörten Innenstadt zahlreiche „Ausgebombte“ im Schloß behelfsmäßig untergebracht wurden. Die Wohnungen waren klein, einfach, aber billig und manche noch bis in die achtziger Jahre hinein belegt. Der Museumsverwaltung war dies ein Dorn im Auge, denn man heizte mit Kohle und Öl, im Schloß waren Mengen von Feuerstellen und überall wurde Brennstoff gelagert.

Vor allem aber: Auch wenn das Schloß nach außen viel hermacht, so ist es kein massiver Steinbau, sondern Fachwerk, verputzt und mit aufgemalten Architekturdetails. Nur wenige Gesimse, Fensterrahmen und Balkone sind tatsächlich aus Sandstein.

Man zögerte, die Wohnungen aufzulösen, denn dort lebten auch viele alte Menschen. Es gab aber auch Kinder. Und just einige davon brachten dann die Katastrophe ins Rollen. Neugierige Buben aus einer Wohnung unter dem Dach hatten aus den Briefkästen immer wieder Sendungen geklaut und geöffnet. Um Spuren zu beseitigen, verbrannten sie die Umschläge und warfen die noch glimmenden Reste in die Dachrinne. So auch am 7. August 1984, einem heißen Tag ohne Regen, wie schon viele Tage vorher.

Eine Brise entfachte die glimmenden Papierreste, und dieses Flämmchen fand unser dem Dachüberhang Nahrung im trockenen, über 100 Jahre alten Holz des Dachstuhls. So fraß sich ein Schwelbrand, unbemerkt, von außen den Dachstuhl auf der Mainseite des Schlosses hinauf in das unübersehbare Gewirr von Trag-, Stütz- und Ständerbalken, von Brettern und Bohlen. Ohne Brandabschnitte und kaum richtig begehbar war dies auch ohne Feuer ein Alptraum für jeden Brandschützer.

Daß das Dach über nahezu das gesamte Gebäude durchgängig war, sollte denn auch fatale Folgen haben: Vom Brand sah man nämlich zunächst nichts. Doch unter der Dachhaut herrschten bereits gewaltige Temperaturen, die eine Brandbekämpfung von innen nahezu unmöglich machten. Um die 1000 Grad entwickeln solche Schwelbrände durchaus, ehe sich das Feuer explosionsartig seinen Weg durch die Dachhaut sucht. So kroch der Schwelbrand zunächst noch ohne offenes Feuer über das gesamte Dach des Zentralgebäudes, ehe er urplötzlich an mehreren Stellen aus dem Dach schlug.

Von diesem Zeitpunkt an konnte es nur noch darum gehen, so viel wie möglich aus dem Gebäude zu retten, denn es war nicht auszuschließen, daß sich das Feuer im Fachwerk des Hauses nach unten fraß. Das ganze Schloß war in Gefahr

Wer am nächsten Morgen das Schloß betrat, der brauchte einen Regenschirm. Aus den Decken tropfte das Löschwasser wie bei einem Sommerregen. Und wie die Erfahrung lehrt, so ist der Wasserschaden oft schlimmer als der Brand. Das Technische Hilfswerk rückte an und sicherte die mit Wasser vollgesogenen Decken durch Stempel. Die Tapeten begannen sich allenthalben zu lösen, Deckengemälde und Stuckornamente glänzten feucht. Das Parkett in den Sälen im ersten Stock begann sich vom Boden zu lösen und aufzuwölben. Es war ein Bild des Jammers. Was war aus Hanaus guter Stubb geworden?

Museumsleiter Dr. Merk eilte vom Krankenbett an die Brandstelle. Schon 1982 hatte er gesagt, es bereite ihm schlaflose Nächte, wenn er an einen Brand im Schloß denke: „Wenn es hier einmal richtig brennt, dann ist es aus mit der Hanauer Kultur!“ waren seine Worte. Seinen Stellvertreter, Richard Schaffer-Hartmann, erreichte die Hiobsbotschaft im Urlaub in Spanien. Vor Ort war Kulturamtsleiter Dr. Günter Rauch, zugleich Vorstandsmitglied im Hanauer Geschichtsverein. Er sieht heute noch das Löschwasser von den Wänden rinnen und hat den Brandgeruch in der Nase, wenn er an jene Tage denkt.

Daß man das Schloß wieder aufbauen werde. daran ließen der damalige Oberbürgermeister Helmut Kuhn und die Stadtverordneten keine Zweifel. Es wurden Spenden gesammelt, Spendenkarten gedruckt, Hanauer Rockmusiker spielten für den Wiederaufbau. der Hanauer Anzeiger produzierte eine Branddokumentation, die, vom damaligen HA-Chefredakteur Helmut Blome und Kulturamtsleiter Dr. Rauch in der Hammerstraße angeboten, reißenden Absatz fand.

Schon einige Tage nach dem Brand umgab das Schloß ein Gerüst, eine provisorische Dachkon­struktion überwölbte die Brandruine. Knapp zwei Jahre verschwand dann Hanaus gute Stubb hinter grünen Planen. Den Gebäudeschaden regulierte die Brandversicherung mit rund zwölf Millionen Mark, auch das Inventar war versichert.

Freilich konnte es für die zahlreichen verbrannten Werke Hanauer Malerei, vor allem des 19. Jahrhunderts, keinen Ersatz geben. Cornicelius oder Andorff gibt es ja nicht an jeder Ecke zu kaufen. Doch die ausbezahlte Versicherungssumme ermöglichte es über Jahre, die Sammlung durch Ankäufe zu bereichern.

Makabrer Nebeneffekt: Bald schon wurde klar, daß der Brand auch seine guten Seiten hatte. Die Balkenköpfe im ersten Stock waren durchweg angefault, so daß die Museumsbesucher vielleicht eines Tages mitsamt der Decke ins Erdgeschoß gekracht wären. Die Haustechnik war überholt und stammte teilweise noch aus dem 19. Jahrhundert. Auch die Heizung war ein großes Problem. Die Schäden am Stuck und an den Deckengemälden erwiesen sich überdies als restaurierbar, und so gingen Scharen von Handwerkern ans Werk, kurioserweise darunter Firmen, die schon beim Umbau Ende des 19. Jahrhunderts dort gearbeitet hatten wie die Malerfirma Geibel aus Kesselstadt.

Man begriff in Hanau den Schlossernd also durchaus auch als Chance. Die Wohnungen im Schloß wurden aufgelöst - dies schuf Platz für das Museum, aber auch Sicherheit. Es gab keine Einzelöfen mehr, sondern Fernwärme, Brandabschnitte wurden eingerichtet, die neuen Brandmelder zeigen heute schon den Rauch einer verbotenen Zigarette an.

Als das Haus im Sommer 1987 wieder eröffnet wurde, strömten die Hanauer in Scharen in ihre gut Stubb. Man machte nicht viele Worte damals, man öffnete die Tore, und die Hanauer nahmen das Haus wieder in Besitz, mächtig stolz und trotzdem bescheiden. Angesichts des neuen Glanzes verblaßten die Bilder vom Brand rasch, ausgelöscht aus dem kollektiven Gedächtnis der Stadt werden sie jedoch nie.

So resümiert Dr. Günter Rauch nach 30 Jahren, der Schlossernd habe bei aller Tragik etwas Gutes gehabt: Die Katastrophe habe eine einmalige Welle der Hilfsbereitschaft ausgelöst, seien es Firmen, andere Geschichtsvereine oder Institutionen wie die US-Armee gewesen. Und damit einhergegangen sei ein regelrechter „Identifikationsschub“, der bis heute nachwirke. Er sagt aber auch ganz nüchtern: „Hätte es an diesem Tag geregnet, es wäre gar nix passiert!“(nach Werner Kurz).

 

Nach dem Brand von 1984 wurde das Schloß gründlich renoviert und ist heute wieder Hanaus gute Stube, zu der sich die Hanauer aus ganzem Herzen bekennen. Kein Ort in dies Stadt, nicht einmal das malerische Deutsche Goldschmiedehaus, ist so sehr Ort Hanauer Identifikation.

 

Im prächtigen „Reihersaal“ des Schlosses Philippsruhe heiraten nicht nur die Hanauer. Auch viele Paare von außerhalb der Stadt wählen diesen Rahmen für ihre Trauung. Im Sommer veranstaltet die Stadt Hanau im Schloßpark die Brüder-Grimm-Märchenfestspiele. Die Philippsruher Schloßkonzerte im Weißen Saal sind für die Kenner klassischer Musik längst ein Markenzeichen.

Der Schloßpark war kein originärer Landschaftsgarten mehr, als die Stadt die Anlage 1950 übernahm. Mangelnde Pflege, später die Torturen durch das Bürgerfest, die Beseitigung von Kunstbauten wie dem See mit der Fontäne, eine Überalterung des Bewuchses, Lücken in den Alleen - der Schloßpark bot noch vor zwei Jahren ein jämmerliches Bild. Den Eindruck des Landschaftsgartens nach Vorbild versucht auch die jetzige Restaurierung nicht wieder herzustellen. Doch auf der Grundlage der historischen Substanz wird das Bild des Parks nach dem letzten großen „Umbau“ Ende des 19. Jahrhunderts doch sehr schön ins hier und heute transportiert. Was man bisher sehen kann, gibt durchaus Anlaß zu Optimismus. Die Landesgartenschau, so wird man eines Tages resümieren können, hat Hanau ein Stück historischer Gartenkultur zurückgegeben.

 

Restaurierungen:

Badezimmer 1984:

Beim Brandwurde  hinter dem Museumsshop ein komplett ausgestatteter Raum entdeckt. Wenige Meter jenseits der Besucherströme schlummert seit Jahrzehnten im Schloß Philippsruhe ein wahres innenarchitektonisches Kleinod seinen Dornröschenschlaf. Das Bad, vermutlich für Gäste gebaut hat eine bodenebene Wanne, die üppig mit anthrazitfarbenem Marmor umrandet ist und zu der zwei Treppen mit je zwei Stufen führen. Das etwas kurze Becken ist mit weißen, schlichten Kacheln ausgekleidet. Ob die Wanne noch dicht ist, wurde nach der Wiederentdeckung allerdings nicht ausprobiert.

Dennoch, alles ist unversehrt, selbst die Armaturen und das Duschgestänge samt Brausekopf sind zumindest optisch in einem schönen Zustand. Lediglich das Wasserthermometer über dem Wannen-Brause-Hebel mit seinem schweren Porzellangriff hat irgendwann einen Knacks wegbekommen. Ein wenig einfach gegenüber so viel Noblesse nimmt sich der Fußboden aus, der weiß/rot gefliest ist und eher an eine betagte Badeanstalt erinnert.

Im Gegensatz zu dem Badezimmer mit der so genannten eisernen Füßchenwanne, das derzeit zum Ausstellungsbereich des Museums gehört, ist das zeitweilig verschollene Bad neueren Datums. Offensichtlich ließ es der damalige Besitzer, Friedrich-Wilhelm von Hessen, im Zuge des Ausbaus von Philippsruhe (1875 bis 1880) erstellen. Das Zimmer zur Körperentspannung und -reinigung soll ganz dem Zeitgeschmack des Historismus entsprochen haben. Viel Ausstattung hatte der Raum, der von zwei Türen her zugänglich ist, vermutlich nicht; noch erhalten ist ein großvolumiger Wandschrank, der möglicherweise mit akkurat gestapelten Tüchern und Badeessenzen bestückt war.

Das Bad wurde mit fließendem Wasser gespeist und muß wohl auch an die Zentralheizung angeschlossen gewesen sein, denn beide technische Neuerungen in jenen Tagen ließ nachweislich der Fürst einbauen. Vermutlich verschwand die Badewanne kurz nach dem zweiten Weltkrieg, als das Schloß in der vorherrschenden Raumnot zuerst zum Domizil der Alliierten und später der Stadtverwaltung sowie vieler Vereine und Organisationen wurde.

Das genaue Jahr ist nicht bekannt, aber in dieser Zeit wurde über Becken und Fliesen ein Holzboden verlegt, um das Zimmer allgemein nutzbar zu machen. Bis zu dem Brand hatte für zehn Jahre ein Silberschmied sein Atelier in diesem Raum. 16 Jahre nach dem Feuer war das Bad, das im Gebäudeflügel hinter der Kassentheke liegt, Abstellkammer und Durchgangszimmer zwischen Hausmeisterbüro und anderen nichtöffentlichen Räumen. Mit dem jüngsten Plan, einen Museumsshop im jetzigen Hausmeisterzimmer einzurichten, wird das fast römisch anmutende Badezimmer bald ein Blickpunkt im Schloß werden.

 

Eisenportal 1996:

Doch in unserer Zeit hatte dem alten Portal der Zahn der Zeit so arg zugesetzt, daß höchste Eisenbahn angesagt war. Materialfehler, der dicht daran vorbeifließende Verkehr und die Luftverschmutzung hatten das 18 Tonnen schwere, eiserne Kunstwerk stark beschädigt. Fast zwei Jahre zogen ins Land, ehe die Reparaturarbeiten der Firma Mützel in Würzburg- Randersacker beendet waren und das gute Stück in neuem Glanz an seinen alten Platz zurückkehrte.

Im September 1996 gab das Stadtparlament grünes Licht für die längst fällige 600.000 Mark teure Restaurierung 150.000 Mark gab die Landesdenkmalpflege hinzu, den Rest brachten Stadt und Bürger auf. Im November 1996 begannen  die Arbeiten, im Februar 1998 wurde das Tor wieder montiert.

Umso unglücklicher waren Hanauer, als die neuvergoldeten Kronen geklaut wurden. Hier zeigte sich ein weiteres Mal der Hanauer Bürgersinn: Das Ehepaar Gerlind und Eckhart Fischer-Defoy sprang mit einer großzügigen Spende ein, die sie just an dem Tag übergab, als die gestohlenen Exemplare wieder auftauchten. Die Spende wurde dennoch nicht wieder zurückgezogen, sondern ebenfalls der Restaurierung beigesteuert.

Wie stolz die Hanauer noch heute auf den großzügigen Prachtbau am dem Kesselstädter Mainufer sind, belegen ihre Spenden. Die vergoldeten Kupfermünzen zum Preis von zehn Mark, die sieben Serviceclubs unter Federführung des „Zonta Clubs“ verkauften, gingen weg wie die sprichwörtlichen warmen Semmeln. So kamen laut „Goldpfennig-Initiatorin“ Irmhild Richter jene 45.000 Mark zusammen, die in die Vergoldung flossen und ein historisch sichtbares Zeichen setzen, wie sich die Bürger mit dem Schloßtor als Wahrzeichen der Hanauer Stadtgeschichte identifizieren.

Der aufpolierten Visitenkarte von Philippsruhe folgt bis zur Hessischen Landesgartenschau 2002 die Sanierung der Anlage, am 9. August 2001 wird die 300. Wiederkehr der Grundsteinlegung gefeiert. Schräg gegenüber dem Portal von Schloß Philippsruhe in Richtung Norden steht ein Brunnen mit einem Teufelchen auf dem Wasserspeier.

 

 

Brunnen 2002:

Nach einer mehrwöchigen Sanierung wurde der Fontänenbrunnen vor Schloß Philippsruhe im März 2002 mit schwerem Krangerät wieder zusammengesetzt. Der Aufbau des Wasserspiels soll ein Gesamtgewicht von knapp 20 Tonnen haben, wobei allein die im Durchmesser vier Meter große Sandsteinschale rund sechs Tonnen auf die Waage bringt. Über die Geschichte des Brunnens, der vermutlich mit der Schlosserweiterung gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand, gibt es offenbar nicht viel zu sagen, außer daß er in den vergangenen Jahrzehnten mehr als einmal undicht war. Das Becken mit seiner Blütenform wurde komplett aus wasserdichtem Beton neu gegossen. Neu ist zudem die Filter- und Pumpentechnik, die einen maximal 1,5 Meter hohen Wasserstrahl erzeugt. Die neue Anlage wälzt die rund 48 Kubikmeter Wasser im Brunnen zweieinhalb Mal in der Stunde um. Die Sandsteinplatten für die Beckenkrone und die Schalen aus gleichem Material wurden nur vom Kalk in befreit und gereinigt, so daß sie sich jetzt wieder in dem typischen Rosa-Ton zeigen.

 

Nordflügel und Turm  2014:

Schon bei der Sanierung des Marstalls wurde Hausschwamm entdeckt. Da ist man  natürlich hellhörig geworden. So mußte am Nordflügel  des Schlosses das komplette Dach gemacht werden, und zwar noch viel substantieller als ursprünglich angenommen. Der Hausschwamm hat sich eingenistet und macht den alten Balken ganz schön zu schaffen. Ein Betrieb aus Thüringen, die Firma Bennert, die sich der sich auf denkmalpflegerische Sanierungen spezialisiert hat,  legte das Mansardengeschoß samt Dach und Turm Stück für Stück offen. Sie bestätigte dabei einen Befall mit Hausschwamm und Braunfäule.

Aus den ursprünglich veranschlagten sechs Monaten für die Sanierung werden jetzt wahrscheinlich knapp zehn, auch die Kosten sind explodiert. „Wir hatten 750.000 Euro budgetiert und rechnen jetzt mit rund 1,4 Millionen Euro. Mit einer kompletten Fertigstellung des Turmbereichs rechnete  man bis Ende Juni. Die 300 Jahren alten Balken machen zwar auf den ersten Blick gar keinen geschwächten Eindruck, sind aber in Ermangelung statischer Berechnung häufig auch größer als sie eigentlich sein müßten - ergo haben sie auch der Belastung durch Hausschwamm und Fäule standgehalten. Dort, wo es geht, wird Altholz aus anderen historischen Gebäuden verwendet.  Auch bei Bearbeitung und Einbau gilt: Alte Techniken wie beispielsweise Verzapfungen voran!

Man habe sich auch die Elemente, die beispielsweise an den Gauben angebracht sind, ganz genau angesehen und festgestellt, daß hier Hof- und Parkseite unterschiedlich gestaltet wurden. Das werde bei der Rekonstruktion genau beachtet. Überhaupt, die Gauben: Ursprünglich habe man von den 22 Gauben die Hälfte retten wollen, erzählt Susanne Sittinger, doch habe sich herausgestellt. daß nur drei der historischen Umrahmungen erhalten werden konnten. Diese bekamen eine spezielle Behandlung zur Farb- und Lasurablösung, deren Verfahren Uwe Zimmermann hütet wie einen Schatz.

 

Mittlerer  Turm 2014:

Im Dezember ging es an die die Sanierung des zweiten Turms.  Wie schon beim Nordflügel sollte möglichst viel von der alten Substanz erhalten bleiben. Deutlich wird der Pilzbefall insbesondere bei den Gauben. Von dem Dutzend am Turm hoffte  man wenigstens drei erhalten zu können. Die Hoffnung machte der Experte nach der Demontage schnell zunichte, höchstens zwei waren zu erhalten. Am Nordflügel konnten damals auch lediglich zwei von 24 Gauben erhalten bleiben. Das härtet wohl ab. An einigen Stellen mußte die Firma nur wenige Zentimeter vom Balken ersetzen, an anderer Stelle ganze Pfeiler austauschen. Im ersten Quartal 2015 sollten die Arbeiten beendet sein. Dann sollte der Innenausbau starten, die Gastronomie sollte noch im kommenden Jahr an den Start gehen. Für die Turmsanierung war eine halbe Million Euro kalkuliert, die Kosten lagen aber am Ende bei 1,2 Millionen Euro. Im November sollten die Sanierungen abgeschlossen sein.

 

Außerdem wurde  die Schloßstube im Turm restauriert sowie die darüber befindlichen Räumlichkeiten im ersten und zweiten Stock. Im Zuge der routinemäßigen Vorabprüfungen (die bei Bauvorhaben in historischen Gebäuden vorgeschrieben sind) fiel ein wichtiges Detail auf: Der vorgesehene Toilettenbereich wurde als Standort von Wandmalereien, von denen historische Bilder ungeklärten Datums existieren, ausgemacht. Dies wurde durch die Freilegung eines kleines Teils der Malereien bestätigt. Die Holzdecke ist an zarten Metall-Aufhängungen befestigt. Auf ihr ist Putz aufgetragen, darauf befindet sich filigranste Malerei.

Welche Funktion der schmale Raum ursprünglich hatte, ist nicht bekannt. In zeitgenössischen Darstellungen wird er lediglich als „Galerieraum“ bezeichnet. Der vorherige Gastronomiepächter nutzte den Raum bereits für Toiletten, ein Teil der bemalten Wand fiel der Anbringung von Fliesen zum Opfer. Man kann den damaligen Verantwortlichen aber keinen Vorwurf machen. Die Wände waren mehrmals übertüncht worden und deshalb wußte man nicht, daß die Malereien darunterliegen.

Man ging davon aus, daß insgesamt rund 30 Quadratmeter bemalte Wand unter den Farbschichten verborgen liegen. Es handelt sich hierbei um neo-pompejanische Wandmalerei aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diese dem Stil des antiken Pompejis nachempfundene Malerei sei in dieser Zeit sehr beliebt bei der Verzierung von Wänden in Schlössern gewesen. Eine Kunsthistorikerin, die die Malereien untersuchte, kannte nach eigenen Angaben nur zwei Beispiele für neo-pompejanische Wandmalerei, die in einer solch hohen Qualität erhalten seien - in der Fasanerie in Fulda und im Schloß Ludwigshöhe im pfälzischen Edenkoben. Der Restaurator  meinte aber, die Malereinen in Hanau seien noch bedeutender.

Nun finden die für die Gastronomie benötigten Sanitäranlagen im Raum dahinter ihren Platz. Aber auch in diesem Raum ist man  auf eine schöne Überraschung gestoßen: Unter der abgehängten Decke verbarg sich eine wunderbare Stuckdecke. Damit diese auch in Zukunft ihre volle Wirkung entfalten kann, hat  man sich für einen modernen Toiletten-Kubus innerhalb des Raums entschieden: Die Box auf halber Raumhöhe läßt den freien Blick auf die Decke zu.

Die Galerie, die das Hauptgebäude mit dem weißen Saal verbindet und mit landschaftlichen Motiven gewissermaßen eine Vorwegnahme des Gartens darstellt, soll je nach Bedarf, für Museum und Gastronomie gleichermaßen nutzbar gemacht werden. Die Sanierungskosten für Galerie und Toiletten belaufen sich auf 470.000 Euro.

Man erwartete weitere Fördermittel, denn neben den Wandmalereien ging es hierbei vor allem um die Erneuerung des beschädigten Holzes im Südflügel. Die Schäden waren zwar aufgrund der Südlage nicht so groß wie im Nordflügel, dennoch bestand akuter Handlungsbedarf. Im Weißen Saal, der als Veranstaltungsraum dienen soll, wurden bereits Risse entdeckt, die möglicherweise eine Folge maroder Holzsubstanz an der Decke sein könnten.

Gastronom Thorsten Bamberger, der bislang lediglich die Schloßterrasse bewirtschaften konnte wird künftig zudem die Gasträume im angrenzenden Turm sowie den vom Main her zugänglichen Gewölbekeller gastronomisch nutzbar machen. Im Hinblick darauf wurde der Sockel der Außentreppe von der Schloßterrasse hinunter zu den Main-Auen verbreitert. Von der Seite her wird sie mit einer Basaltverblendung versehen. Gesamtkosten: 70.000 Euro.

In den Turm wurde ein Aufzug eingebaut. Hintergrund: Das Schloß verfügt zwar über zahlreiche repräsentative Räume, allerdings nur über wenige Nebenräume, die als Lager genutzt werden könnten. Folglich wird dieses - genauso wie die Küche - im Keller etabliert. Der Aufzug führt bis ins erste Obergeschoß. Der Blick auf den Main von hier oben ist zu herrlich, als daß er nur - wie vom Vorpächter gehandhabt - als reiner Personalraum genutzt werden sollte. Geplant ist zunächst eine Nutzung als Seminarraum, später ist gehobene Gastronomie angedacht.

 

Museum:

Mitträger des Museums ist der Hanauer Geschichtsverein 1844 e.V., in dessen Besitz ein wesentlicher Teil der Exponate ist und der im 19. Jahrhundert und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts die Hanauer Museumstradition allein verkörperte. Träger des Papiertheatermuseums ist in Zusammenarbeit mit dem Museum Hanau der Verein „Hanauer Papiertheatermuseum“.

Das Museum präsentiert Kunst, Kunsthandwerk, historische Dokumente und Exponate aus vier Jahrhunderten. In Filzpantoffeln schlurft der Besucher über die wertvollen Parkettböden durch die prachtvollen Räume mit ihren getäfelten Wänden, dem Golddekor, den bemalten Decken und reichen Stukkaturen.

 

Im Eingangsbereich des Museums kann man neben den Eintrittskarten Bücher, Postkarten, Papiertheaterbögen, Bierkrüge, Anstecknadeln, Uhren etc. erwerben.

Für das leibliche Wohl der Besucher bietet das Museumscafé den geeigneten Rahmen. Aufgrund des exklusiven Ambientes wurde es zu einem beliebten Treffpunkt in Hanau. Darüber hinaus eignet sich das Museumscafe besonders für kleinere Empfänge und Feiern. In der warmen Jahreszeit kann man vom Balkon des Museumscafés einen Blick auf die Philippsruher Allee und die Kesselstadt umgebende Mainlandschaft werfen.

 

Im Erdgeschoß:

Ausstellungen zum 20. Jahrhundert:

  1. Sammlung moderner Kunst mit regionalem Bezug, in deren Mittelpunkt der Maler Reinhold Ewald steht.
  2. Die Entwicklung des Kunsthandwerks zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Künstlern wie Adolf Amberg, August Offterdinger und Wilhelm Wagenfeld.
  3. Geschichte Hanaus im 20. Jahrhundert mit den Themen Erster Weltkrieg, Revolution 1918/19, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und auch Nachkriegszeit.

Heute wird im Erdgeschoß besonders die Stadtgeschichte dargestellt.

 

Im Obergeschoß:

Kunst und Kunsthandwerk des 17. und 18. Jahrhunderts: Eine Auswahl von Gemälden der Hanauer Maler Peter Binolt und Peter Soreau und des Frankfurter Malers Jakob Marrel, der Niederländer Abraham Bloemaert, Melchior Hondecoeter, Willem van Honthorst, Gaspar Verbrugghen, Jan Fyt, Jan Guss und Lukas Achtschelling bezeugen den bedeutenden Kunstbesitz, der im 17. und 18. Jahrhundert in Hanauer Familienbesitz vorhanden war.

Am Beginn des 18. Jahrhunderts stehen die Grafenporträts von Johann Henrich Appehus und von Johannes Appehus. Anton Wilhelm Tischbein, der Hanauer Tischbein, schuf eine Reihe Porträts der adeligen Herrscher Hanaus und vor allem bürgerlicher Standespersonen. Daneben gelangen ihm auch Historienbilder im Geiste des eleganten Rokokos. Georg Karl Urlaub, der zweite Hanauer Maler des 18. Jahrhunderts, spezialisierte sich auf kleine Genreszenen aus dem bürgerlichen Milieu.

Die Kunst des 19. Jahrhunderts  ist geprägt von Namen wie Friedrich Bury, Ludwig Emil Grimm, Conrad Westermayr, Friedrich Deiker, Theodor Pelissier, Peter Krafft und Friedrich L’Allemand. Henriette Wester­mayr, Catharina Luja und Moritz Daniel Oppenheim sind eigene Kabinette gewidmet.

Die bekanntesten kunsthandwerklichen Produkte Hanaus aus dieser Zeit sind die in der von 1661 bis 1806 bestehenden Manufaktur geschaffenen Hanauer Fayencen - ein Inbegriff der deutschen Fayencekultur.

Die für Hanau wichtige Edelmetallindustrie wird mit einer industriellen Silberschmiedewerkstatt dokumentiert. Die Sammlungen Hanauer Silber enthalten auch das herausragende Werk der Hanauer Silberschmiedekunst, den Hanauer Ratspokal, der zwischen 1621 und 1625 von dem aus Nürnberg stammenden Silberschmied Hans Rappolt d. J. geschaffen wurde.

Hanauer Eisenkunstguß der Gründerzeit ist zu sehen.

Eine komplette Apothekeneinrichtung, weitgehend aus der Hanauer Schwanenapotheke, umrahmt das einzigartige Werbebild zum himmlischen Theriak des Hanauer Apothekers Hoffstadt. Daneben ist die Wirtschaftsgeschichte durch Zunftaltertümer und Exponate zur Textil- und zur Tabakindustrie präsentiert.

 

Hanauer Papiertheatermuseum Als eigenständiges Museum im Museum befindet sich im linken Obergeschoß das Hanauer Papiertheatermuseum. Zahlreiche Verlage des 19. Jahrhunderts lieferten Bögen mit Proszenium, Dekoration, Kulissen und Figuren zum Ausschneiden, Aufleimen und Aufstellen. Neben über zwanzig kompletten Papiertheatern und Figuren bietet das Hanauer Papiertheatermuseum eine ganzjährig bespielte Papiertheaterbühne, die sich bei jung und alt großer Beliebtheit erfreut und die in dieser Form einmalig in Deutschland ist.

 

Der rechte Flügel des Obergeschosses ist der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewidmet. Drei Schwerpunkte zeichnen diese Zeit aus:

  1. Die Revolutionen von 1830 und 1848/49. Die Zeit des Vormärz und der Revolution belegt die aktive Rolle, die die Hanauer in dieser demokratischen Bewegung spielten. Nicht nur die Produkte der Industrialisierung sind Themen der musealen Präsentation, sondern auch die Entwicklung der Hanauer Arbeiterbewegung, der Industrialisierung und die Arbeitswelt der Frauen.
  2. Die Brüder Grimm, die in Hanau geboren sind: Die Darstellung der Brüder Grimm als größte Söhne der Stadt ist besonders hervorgehoben, wobei die wissenschaftliche Arbeit der Brüder, die politische Tätigkeit und die Märchen besonders hervorgehoben werden.
  3. Die Kunst des Biedermeiers, die Kunst der Gründerzeit mit Werken von Friedrich Karl Hausmann und Georg Cornicelius.

 

Moritz Daniel Oppenheim:

Das „Das Bildnis der Adelheid Cleve“ von Moritz Daniel Oppenheim hängt nunmehr im Schloß Philippsruhe. Es zeigt die erste Ehefrau des berühmten jüdischen Malers. Moritz Daniel Oppenheim wurde am 12. Januar 1800 als Sohn eines jüdischen Handelsmannes in Hanau geboren. Seine Kindheit verbrachte er in der Abgeschlossenheit des Hanauer Judenviertels, wo er die Schule besuchte. Als während der französischen Zeit das Ghetto aufgehoben wurde, konnte er das Gymnasium in Hanau besuchen.

Seine erste künstlerische Unterweisung erhielt er an der Hanauer Zeichenakademie unter Conrad Westermayr, der sein Talent erkannte und Oppenheim sehr förderte. Eine weitere Ausbildung absolvierte er an der Münchner Kunstakademie und bei Jean Baptiste Regnault in Paris. Wie viele deutsche Künstler arbeitete Moritz Oppenheim auch - von 1821 bis 1825 - in Italien.

Der Hanauer Kulturjournalist Werner Kurz entdeckte das Gemälde zufällig in einem Auktionshaus in Mutterstadt. Die Stadt Hanau griff zu und ersteigerte bei einer der nächsten Auktionen das Bildnis - für sage und schreibe 4.800 Mark! Das Bildnis der Adelheid ist mit 104 mal 84,5 Zentimetern nicht nur recht groß, sondern mit Blick auf den damaligen Stand der Emanzipation exorbitant. Anton Merk betont, daß der „Sandkastenliebe“ des Malers Oppenheim mit diesem Bildnis fast eine Vorreiterinnenrolle zukam, hatten die Frauen doch auch im traditionell-orthodoxen Judentum festgelegte Rollen, die sie nicht gerade nach außen drängen. Kurz gesagt: Männer hatten die Nase vorn und so entstanden selbstredend mehr Männerporträts.

Adelheid Cleve wurde 1800, im selben Jahr wie Moritz Daniel Oppenheim, in der Hanauer Judengasse geboren. ihr Vater, ein ehemaliger Juwelenhändler, starb früh. Ihr acht Jahre älterer Bruder Moritz Cleve gehörte als „Jäger zu Roß“ zu den jüdischen Freiwilligen in den Freiheitskriegen. Als Moritz Oppenheim plante, mit der „mir stets treu gebliebenen, guten frommen Adelheid Cleve“ den Bund fürs Leben einzugehen, gab es zunächst Widerstand von Adelheids Großmutter.

Es war für damalige Verhältnisse geradezu unfaßbar, als Künstler sein Geld zu verdienen. Auch die Behörden machten dem jungen Oppenheim Schwierigkeiten: Die Provinzialregierung des Kurfürstentums Hessen verlangte von ihm in der abhängigen Stellung eines Schutzjuden „zwecks Niederlassung und Eheschließung“ ein spezielles Gesuch und die Bereitschaft, entsprechende Abgaben zu zahlen. Nachdem die Akte 1828 vollständig war, heirateten die beiden am 18. August und bezogen eine Wohnung in der Hanauer Chaussee im benachbarten Frankfurt. Sie zeugten drei Kinder: Alexander (geboren im Jahr 1829), Simon Emil Moritz (1831) und Carl (1835). Knapp zwei Jahre nach der Geburt des Jüngsten starb Adelheid Oppenheim- Cleve am 11. Dezember 1836.

Von Adelheid Cleve waren bisher nur zwei Bildnisse bekannt. „Eines der schönsten jedoch, die sein Pinsel schuf, ein Werk voller Innerlichkeit, dem eine gewisse jüdische Sentimentalität nicht abgesprochen werden kann, voller Zartheit und Weichheit“ (Karl Schwarz: „Die Juden in der Kunst“, Berlin 1928) war die Huldigung an seine Kindheitsliebe, die mit ihm die Cheder (Schule) besucht hatte. Im Jahre 1828 schuf er ein Ehebildnis - es hängt im Jüdischen Museum Frankfurt - in dem er seine junge Frau und sich bereits als gutsituiertes Paar darstellt, allerdings noch in biedermeierlicher Zurückhaltung.

Die Neuerwerbung zeigt die damals 32jährige als eine zu Wohlstand gekommene Frau von durchaus jugendlicher Schönheit in einem repräsentativen Rahmen. Sie sitzt vor einem purpurnen Vorhang, in einem für den Sabbat üblichen weißen Seidenkleid und einem pelzverbrämten Umhang. Auf einem kleinen Tischchen neben ihr liegt ein Buch, Zeichen ihrer Bildung und Belesenheit. Dies war für jüdische Frauen in dieser Zeit keineswegs selbstverständlich. Adelheid war in idealisierter Form wohl das unmittelbare Schönheitsideal ihres Gatten, das er in vielen seiner Gemälde verwandte.

Das wohl schönste Beispiel dafür ist das Bild „Joseph und das Weib des Potiphar“ aus dem Jahr 1828. Man darf es kühn nennen, zeigt es doch eine nackte Schönheit, nur ein durchsichtiges Tuch um Hüfte und Bein gewunden, die sich begehrlich an Joseph schmiegt. Das Werk stammt aus dem ersten Ehejahr mit Oppenheim - und dieser verpaßte dem „Weib des Potiphar“ nicht nur das Antlitz seiner Adelheid, sondern auch dem Joseph die Züge seines Malerfreundes Friedrich Müller.

 

Orchestrion:

In der Altenhaßlauer Werkstatt des Orgelbauers Andreas Schmidt gab nach jahrzehntelangem Stillstand ein über 130 Jahre altes „Walzen-Orchestrion“ aus dem Hanauer Schloß Philippsruhe wieder wohlklingende Töne von sich. Schmidt hat das Werk in langer Arbeit restauriert und wußte bis zum ersten Probelauf selbst nicht, welches Musikstück von der hölzernen Walze mit der Nummer 4 abgespielt wird. Es ist ein Potpourri von Walzermelodien, das die Orgelpfeifen vibrieren läßt. 

Die eher leichte Muse war nicht die erste Überraschung, die der antike Musikbox-Vorläufer den Experten bescherte. Deutlich größer als erwartet sei der Aufwand gewesen, das Instrument mit seiner Konstruktion wieder gang- und anhörbar zu machen. Frühere hohe Schwankungen der Luftfeuchtigkeit am Standort in der Bibliothek des Schlosses hatten zu einem starken Verzug des hölzernen Grundrahmens geführt. Das wiederum habe die Blockade von Wellen und Zahnrädern verursacht.

An den metallischen Teilen - manche aus geschmiedetem Eisen  - hat Korrosion beträchtliche Schäden angerichtet. Im Antriebsräderwerk aus Messing war mancher Zahn ausgebrochen und erforderte die originalgetreue Nachfertigung. Zahlreiche Schrauben ließen sich nur noch ausbohren. Das Instrument wurde in sämtliche Einzelteile zerlegt. Alle 184 Pfeifen etwa waren neu abzudichten und zu richten. Von den Baßtönen funktionierte nicht einer. Aufgequollenes Holz war die Ursache, indem es die durchschlagenden Zungen - Metallplättchen, die durch ihre Schwingungen in einer Öffnung im Luftstrom Töne erzeugen -  verklemmt hatte.

Der Versuchung, die Maschinerie durch erst heute mögliche technische Verbesserungen zu perfektionieren, wurde widerstanden. Das hätte dem Geist des historisch korrekten Restaurierens widersprochen, das die Erhaltung der Originalsubstanz im größtmöglichen Umfang verlangt. So war es eine knifflige Aufgabe, die Windversorgung, also das System aus Blasebälgen, Luftkammern, Ventilen und der komplizierten steuerbaren Luftverteilung, der Windlade, trotz fertigungs- und alterungsbedingter Unzulänglichkeiten so herzurichten, daß es wieder funktioniert und mit dem Antriebswerk harmoniert. „Jede ganze Windlade ist verzogen und verquollen. Aber ich konnte ja nicht einfach mit der Schleifmaschine drübergehen, sondern mußte mich mit den Gegebenheiten arrangieren“, sagte Schmidt.

Glücklicherweise ist das Herzstück des Orchestrions intakt: eine Walze, aus der zahllose winzige Messingstifte und -klammern hervorstehen. Diese betätigen im Laufe der Drehbewegung filigrane Hebel, die wiederum die Orgel spielen. Schmidt staunt immer noch, mit welcher Perfektion der hölzerne Zylinder gefertigt ist. Genauester Rundlauf ist gefordert, wenn die Hebel die Walze nicht verkratzen oder gar verklemmen sollen. Um Verzug zu verhindern, ist sie aus zahllosen Holzstückchen zusammengesetzt.

Die Walze - eine Art CD des 19. Jahrhunderts -  benötigt eine Minute pro Umdrehung. Um den Hörgenuß zu verlängern, haben die Erbauer den Tonträger mit acht spiralförmig angeordneten Spuren versehen. Sie werden nacheinander ausgelesen, indem der Zylinder während der Drehung auch eine Seitwärtsbewegung vollführt. Zu dem Orchestrion soll ein Magazin mit weiteren 13 Walzen gehört haben. Doch diese sind laut Schmidt verschollen, seit das Instrument zum Schutz vor den Bomben im Kriegsjahr 1943 nach Fulda ausgelagert wurde.

Angetrieben werden Walze, Blasebälge und alle übrigen beweglichen Teile, indem man das Uhrwerk aufzieht, sprich: Mittels einer Handkurbel wird ein Seil auf eine Spindel gewickelt, an dessen Ende ein 96 Kilogramm schweres Gewicht hängt, das in die Höhe gezogen wird. Nach dem Lösen dieser Arretierung sinkt das Gewicht vier Meter abwärts und setzt über das Seil das Räder­werk in Bewegung.

Ausgetüftelt hat das Ganze ein Spieluhrmacher aus dem Schwarzwald, Michael Welte. Er gründete in Freiburg im Breisgau die Orchestrion-Fabrik Welte & Sohne, aus der auch das Philippsruher Kleinod stammt. Alte Aufzeichnungen und der Vergleich mit anderen Instrumenten lassen Schmidt vermuten, daß es zwischen 1873 und 1877 hergestellt und von dem Hanauer Instrumentengeschäft August Kraushaar ins Schloß geliefert wurde. Welte hatte später die Ehre, ein Orchestrion für die „Titanic“ zu bauen. Es blieb jedoch an Land, weil es nicht rechtzeitig zur Jungfernfahrt fertig geworden war. Heute steht es im Museum für mechanische Musikgeräte in Bruchsal.

Auch mit dem Philippsruher Instrument gab es Probleme. Häufige Reparaturen schon in den ersten Jahren, einmal sogar in der Freiburger Fabrik, sind vielleicht mit den besonderen Umständen des Aufstellungsortes zu erklären. Zum einen waren in den fraglichen Jahren umfangreiche Renovierungs- und Umbauarbeiten im Schloß im Gange, zum anderen wurde das Orchestrion nicht im Original-Gehäuse aufgestellt. Die Handwerker verfrachteten es in einen Eichenschrank, der es hinter figürlichen Reliefkassetten im Renaissance-Stil verbarg. Wenn demnächst Orgeltöne im Schloß erklingen, dann ist das renovierte Wunderwerk der Mechanik an seinen Platz zurückgekehrt.

 

Öffnungszeiten und Internet:

Das Museum im Schloß Philippsruhe, Philippsruher Allee, ist dienstags bis sonntags von 11 bis 18 Uhr geöffnet. Führungen nach Vereinbarung (Telefon 06181/ 20209).

Die Dependance des Museums, das Römerbad, eine restaurierte römische Kastelltherme, ist im Friedhof des Stadtteils Kesselstadt zu besichtigen.

In der Galerie des Schlosses finden ständig Wechselausstellungen statt. Die im Weißen Saal stattfindenden Philippsruher Schloßkonzerte sind für die Kenner klassischer Musik zu einem Markenzeichen geworden. Jährlich am ersten Wochenende im September  strömen Tausende zum „Hanauer Bürgerfest“ im und um den Schloßpark mit zahlreichen Darbietungen und einem abschließenden großartigen Brillantfeuerwerk.

 

Unter der Adresse „www.museen-hanau.de“ präsentierten, die Hanauer Museen seit mehr als zwei Jahren ihre Sammlungsbestände und alle wichtigen Ausstellungen im Internet. Mit den virtuellen Galerien im Internet haben die Museen Hanau als eine der ersten in Deutschland ein neues Programmangebot für Museumsinteressenten entwickelt, das die Vorzüge der modernen Informationstechnologien für innovative Formen der Erschließung und Präsentation der Sammlungen nutzt. Durch das Internet ist es möglich geworden, ganze Ausstellungsarchive und umfangreiche Bilddatenbanken von Museumsobjekten einfach, schnell und weltweit zu durchforschen. Die Museumsseiten im WWW bieten weit mehr als nur einfache Grundinformationen. Dem Betrachter eröffnen sich ganze Museumswelten. Er kann sich hunderte großformatige Bilder ansehen und stundenlang in verschiedenen virtuellen Galerien stöbern. Eine übersichtliche Benutzerführung erleichtert dabei die Orientierung in der Fülle des Angebots. Für die Entdeckungstour durch das Internet-Museum Hanau werden keine speziellen Computerkenntnisse benötigt. Die Benutzerführung ist einfach und klar strukturiert. Das zwanglose und spielerische Erkunden der Museumsbestände steht im Vordergrund. Bereits wenige Mausklicks machen mit der neuen Form des Museumsbesuches vertraut, so daß der „Besucher“ durch das umfangreiche Angebot virtueller Ausstellungen der Museen Hanau schlendern kann. Durchgehend geöffnet: Das virtuelle Museum jederzeit zugänglich und kostet keinen Eintritt. Schon heute besuchen täglich mehrere hundert Interessenten die Internetseiten der Museen Hanau. Eine interessante Ausstellung verpaßt? Bei den Museen Hanau ist das kein Problem. Im Internet können unter www.museen-hanau.de auch abgebaute Ausstellungen besichtigt werden.

 

Park:

Das Schloß ist auf einer künstlichen Terrasse über dem Mainlauf errichtet. Gegen das alljährliche Hochwasser mußten Schutzmauern erstellt werden: Im Frühjahr 1696 begann man mit der Errichtung der langen, jetzt noch vorhandenen Stützmauer zum Main hin. Dadurch wurde das Gebiet  über den Fluß erhoben und gab der Gesamtanlage gerade vom gegenüberliegenden Ufer einen imposanten und vielfach von Künstlerhand festgehaltenen Eindruck. Die Landschaft war zu der Zeit, als der Garten angelegt wurde, noch offen, nicht verbaut, der Blick konnte frei über die Mainebene schweifen.

Damit war auch die Voraussetzung für die Anlage eines Parks geschaffen. Noch im Herbst des gleichen Jahres 1696 konnte mit der Bepflanzung begonnen werden.  Aus der archivalischen Überlieferung geht eindeutig hervor, daß nicht die Gebäudegruppe den Ausgangspunkt der Gesamtanlage bildete, sondern ein nach den Prinzipien französischer Gartenarchitektur angelegter Lustgarten.

Axial zum Schloß, es gleichsam in die Landschaft verlängernd, wurde ein streng geometrischer Garten rein französischen Gepräges angelegt. Eine Pinselzeichnung (im Historischen Museum Frankfurt) von Johann Kaspar Zehender aus Frankfurt zeigt den Zustand des Gartens im Jahre 1774.

Viel später noch erinnerte sich Wilhelm Grimm an ein Kindheitserlebnis aus der Zeit um 1790 in diesem französischen Park. Er schrieb: „Ich weiß noch ganz klar, wie ich in einem weißen Kleid mit rotem Band in dem Bousquet zu Philippsruhe mich verloren hatte, und wie ich die g1atten, beschnittenen Baumwände, an welchen alle Blätter nebeneinander hingen, und den reinen Kies auf dem Wege ängstlich schnell, aber scharf betrachtete, wie mir die Stille, in die ich horchte, und die grüne Dämmerung immer mehr Angst machte und eine Angst auf die andere stellte, wie ein Stein auf einen Stein, und sie so immer wuchs.“

Im fürstlichen Schloßpark des Barock spiegelt sich das Weltverständnis jener Zeit. Der absolutistische Anspruch des Landesherrn erstreckte sich nicht nur über sein Territorium, auf seine Untertanen und deren Tun und Lassen, sondern auch auf die Natur, die sich, in bestimmte Formen gebracht, gleichsam ebenfalls dem Willen des Fürsten zu unterwerfen hat. In den Gärten von Versailles gipfelte dieser monarchische Anspruch: Sie wurden zugleich Vorbild für den Adel in ganz Europa, bis hin in die hinterste Provinz. Man wollte es den Großen gleichtun, auch wenn die Dimension des eigenen Schlosses bisweilen auf die Größe eines Fußballfeldes schrumpfte.

 

Die gärtnerische Oberleitung hatte der Pfalz-Birkenfeldische Hofgärtner Marx (Max, Marcus) Doßmann, dessen Anwesenheit in Hanau bereits für den 11. Mai 1696 bezeugt ist. Der Garten, der da fünf Jahre vor der Grundsteinlegung des Schlosses entstand, entsprach ganz dem Vorbild französischer Barockgärten. Graf Philipp Reinhard hatte sich viele Anregungen auf seine Jugend- und Bildungsreisen holen können. Aber es werden auch andere Anregungen eingeflossen sein, denn es war damals durchaus üblich, daß Kupferstiche von solchen Schloßanlagen kursierten wie heute Fernsehbilder. Sein Bruder - und späterer Erbe - Johann Reinhard, der letzte Hanauer, der noch in Buchsweiler residierte, hatte sich dort überdies einen weitläufigen Terrassengarten anlegen lassen, was sicher auch als Anregung und Motivation für die Hanauer Gartenpläne gelten kann.

Philippsruhe war noch nicht fertiggestellt, der Park noch nicht in seiner ganzen Pracht entwickelt, da zirkulierten schon Kupferstiche über diese imposante Anlage. Nach einer Zeichnung des Hofgärtners Christoph Schultzen hatte sie Johann Striedbeck in Kupfer gestochen und verbreitet. Man kann davon ausgehen, daß die Anlagen damals durchaus so ausgesehen haben, wenn auch nicht bis ins letzte Detail.

Im Wesentlichen stand jedenfalls die Struktur; wie wir sie auch heute noch erkennen können: An der Mainfront und gegenüber jeweils eine Allee, etwa zwei Drittel des Parks bilden den oberen Garten, der von der Schloßterrasse bis zur „Goldenen Treppe“  am heutigen Baumgarten reicht. Dies bildet das „Parterre“. Diese Struktur entsprach exakt den geltenden Gesetzen der französischen Gartenarchitektur. Die Hauptachse führte vom Schloß strikt und schnurgerade zum Baumgarten, nur von einem runden Bassin unterbrochen. Der obere Teil der Anlage war von mehreren Wegen durchschnitten, die so angelegt waren, daß präzise geometrische Grundformen entstanden wie Dreieck, Rechteck, Trapez. Diese parzellierten Flächen wurden von Buchsbaumhecken gesäumt, die präzise in Form geschnitten wurden. Dieser Garten war also bereits fertiggestellt, als man 1701 zur Grundsteinlegung des Schlosses schritt.

 

Philipp Reinhards  Bruder, Johann Reinhard III., der letzte Graf von Hanau, führte unter großem Aufwand den Schloßbau zu Ende. Die weitere Gestaltung und Erweiterung des Parks und 1723 der Bau einer Orangerie sind sein Werk;  dadurch wurde der ursprünglich als Orangerie genutzte große Saal im Mainflügel des Hauptbaues (heute als „Weißer Saal“ bezeichnet) für andere Aufgaben frei. Er ließ die zur gräflichen Fasanerie führende Kastanienallee anlegen. Ungefähr im Jahre 1726 war der Ausbau des Schlosses vollendet.

Mit dem Tod Johann Reinhards Im Jahre 1736 fiel der Münzenberger Teil der Grafschaft Hanau und damit auch die Residenz am Main an Hessen-Kassel. Die Landgrafen von Hessen- Kassel benutzten das Schloß als gelegentliche Sommerresidenz. Landgraf Wilhelm VIII. (1682-1760)  hat sich oft und gerne in Philippsruhe aufgehalten. Im Jahre 1743 fanden hier nach der Schlacht bei Dettingen - allerdings ohne Erfolg - Friedensverhandlungen statt, denen König Georg II. von England beiwohnte. Im Jahre 1745 wurde dem deutschen Kaiser Franz I. und seiner Gemahlin Maria Theresia in Philippsruhe ein glanzvoller Empfang bereitet.

Von 1764 bis 1785 diente das Schloß dem Erbprinzen Wilhelm IX. von Hessen, dem Erbauer der Kur- und Badeanlage von Wilhelmsbad, und vor allem dessen Familie als Residenz. Mit ihm begann Hanaus „güldnes Zeitalter“. Zunächst unter der Vormundschaft seiner Mutter, Maria von England, denn als eigenständigem Regenten war Wilhelm die Grafschaft Hanau zugefallen. Er veränderte das Stadtbild Hanaus nachhaltig. Im Jahr 1777 ließ der Erbprinz im „vieux bourg“ des Schlosses Philippsruhe ein Liebhabertheater bauen, in dem zuerst im Dezember 1777 gespielt wurde. Dieses Liebhabertheater diente hauptsächlich den Gesellschaftsaufführungen bei Familienfesten oder Besuchen auswärtiger Familienangehöriger und fremder Fürsten und Herrscher.

Auch der Park von Philippsruhe wurde während der Erbprinzenzeit verändert. Auf den Zeichnungen von Johann Kaspar Zehender, die um 1770 entstanden, ist er zwar noch immer von Geometrie und in Form gebrachter Natur geprägt, doch, „hatte sich der ornamentale Garten zur Repräsentation absoluter fürstlicher Macht“, so schreibt Klaus Hoffmann in seinem jüngst erschienen Buch über Philippsruhe, „in ein zwar immer noch planmäßiges Parkgebilde mit Hecken und Durchblicken gewandelt, jedoch verloren Schloß und Garten ihre Kulissenfunktion zum Feiern glanzvoller Staatsfeste; statt dessen suchte man Rückzugsmöglichkeiten, wo man fern aller Sorgen Ruhe und Erholung finden konnte.“

Nach zwei Jahrzehnten übernahm er 1785 die Regierung von seinem verstorbenen Vater und siedelte nach Kassel über. Von 1797 an hat dann sein gleichnamiger Sohn, der nachmalige Kurfürst Wilhelm II., das Schloß als Wohnsitz benutzt. Nach der Niederlage Napoleons und der Rückkehr der kurfürstlichen Familie aus dem Exil begann Erbprinz Wilhelm II. nun mit ersten Eingriffen in die bis dahin erhaltene Struktur des Barockgartens. Auf 1815 lassen sich erste Pläne zur Umwandlung in einen Landschaftsgarten nach englischem Vorbild datieren. Aus den kunstvoll angelegten Beeten und schnurgeraden Wegachsen wurde ein Lustgarten mit Baum und Strauchgruppen auf Grünflächen, durchzogen von einem unregelmäßigen Wegenetz. Doch erst 70 Jahre später sollten auch noch die letzten barocken Formen verschwinden und der Park seine heutige Struktur erhalten.

Der Park hat sein Gesicht seit Beginn des 19. Jahrhunderts verändert. Nach dem Rückzug der Franzosen 1815 wurde der inzwischen verwilderte Park in einen englischen Landschaftsgarten mit wertvollem Baumbestand, einem See und einem neuem Wegessystem umgewandelt. Nur die seitlichen Lindenalleen erinnern heute noch an den ursprünglichen Zustand.

 

Gartenkunst (Ausstellung 2002):

Vom 12. Mai bis zum 7. Juli 2002 war in Schloß Philippsruhe die Ausstellung „Hanauer Gartenkunst“ zu sehen. In der großen Ausstellung wird neues Material gezeigt. Die mehr als 150 Leihgaben aus den Magazinen der Stiftung Preußischer Schlösser und Gärten und den Staatlichen Museen Kassel bezeichnet waren ein Juwel. Die colorierten Zeichnungen und Grafiken aus der Zeit von der Mitte bis zum Ende des 18. Jahrhunderts stellen Entwürfe zu Gärten und Grünflächen für die Anlagen dar Kurpark Wilhelmsbad, Schloßpark Philippsruhe, Schloßgarten an der heutigen Stadthalle, Fasanerie und auch Schloß Rumpenheim in Offenbach, wohin die Gräfin Maria, Mutter des Erbprinzen Wilhelm ihren Sommersitz verlegte, nachdem sie Philippsruhe ihrem Sohn überließ.

Die Gartenbaupläne geben nicht nur „neue Aspekte“ etwa zum Schloßgarten wieder, sondern offenbaren auch die Lust des Prinzen, gestalterisch Grün zu ordnen - jedenfalls sollen einige Zeichnungen aus der Stahlfeder von Wilhelm stammen. Jakob Heerwagen ist eine andere bedeutende Persönlichkeit im Rahmen der Ausstellung. Der Architekt fertigte unter anderem Entwürfe zur Gartenkunst im städtischen Quartieren an. Heerwagen entwarf überdies in Zusammenarbeit mit dem Erbprinzen einen prachtvollen Rokokoplatz in der Nähe des heutigen Freiheitsplatzes.

Warum das Vorhaben nicht über das Stadium von Zeichnungen hinaus kam, lag nach Auskunft von Anton Merk vermutlich an den finanziellen Folgen und an dem Umzug von Wilhelm nach Kassel. Der Museumsleiter ist sich jedoch sicher, daß der Rokokoplatz heute in der Region ein architektonisches Highlight wäre.

Es wurde ein Katalog herausgegeben. Er begnügt sich nicht allein mit der bloßen Beschreibung der Exponate. Das Werk ist ein exakter Führer durch die bedeutendste Epoche der Hanauer Gartenbaukunst von 1632 bis 1880 mit vielen Illustrationen und Fußnoten.  Die Geschichte der Hanauer Gartenkultur beginnt mit dem Ende des 30-jährigen Krieges 1648, als die wieder wachsende Bevölkerungszahl in den Städten das städtebauliche Korsett der Stadtmauer sprengte, die ob neuer Kanonen ohnehin von ihrer schützenden Wirkung eingebüßt hatten. Die historische Betrachtung geht von den „Zwickeln“ aus, kleine Flächen zwischen der sternförmig angelegten Stadtmauer und der Bebauung. Mitte des 18. Jahrhunderts entstehen die ersten Vorstadtgärten, die Anton Merk, Direktor vom Museum Schloß Philippsruhe, in dem Kapitel „Haingassengärten“ beschreibt. Folge dieser Kulturlandschaften sind Lust- und bürgerliche Gärten.

 

Bildwerke:

Teile des Schloßparks ließen die hier aufgestellten Arbeiten namhafter zeitgenössischer Bildhauer zu einem wachsenden Skulpturenpark mit Plastiken von Rang werden, der in der Fachwelt schnell hohes Ansehen fand. Er zeigt auch die preisgekrönten Arbeiten der Hanauer Stadtbildhauer James Reineking und Alf Lechler

 

Mainaue:

Mit der Gestaltung des Projektes  „Mainaue/Schloß Philippsruhe“ wird der Regionalpark im Jahr 2003 mit den Anlagen der Landesgartenschau verbunden. Hierzu wird der von Maintal kom­mende Mainuferweg hochwassersicher befestigt und ein neuer Kinderspielplatz angelegt.

Mit Mitteln moderner Gartenkunst werden die wie überdimensionale Maulwurfshügel wirkenden Revisionsschächte des Abwasserkanals Richtung Kläranlage Kesselstadt umgestaltet. Neben den Kunstobjekten fallen die Maulwurfshügel Spaziergängern auf dem Mainuferweg sogleich auf. Sie ragen bis zu vier Meter aus dem Boden hervor. Man kann sie erklettern und hat von oben einen weiten Blick über die Mainaue.

Entsprechend ihrer neuen Nutzung erhalten sie im Zuge des Projektes auch konkrete Bezeichnungen. „Anlegbar“ soll der erste, etwas niedrigere Hügel heißen. Vorgesehen ist, diesen an drei Seiten mit einer Bank als „Warteort“ am Fähranleger zu gestalten. Gleichzeitig trete der Poller auf einer Edelstahlplatte in Dialog mit dem Schloß, das wie ein Schiff in der Aue liege, heißt es. Die zweite Erhebung soll „Besitzbar“ getauft werden. Von Stühlen oder einem Holzrost könne man das Treiben in der Aue beobachten. Der dritte Hügel wird zu einem Spielplatz umgestaltet und erhält den Namen „Bespielbar“. Kinder sollen sich am Seil hoch hangeln oder auf drei langen Bahnen auf die Wiese herunterrutschen können.

 

Hanauer „Lebenshilfe“:

Der Freizeitclub des Hanauer Vereins „Lebenshilfe“ hat sich vergrößert: Er belegt seit 1981 das Erdgeschoß des historischen Gärtnerhäuschen, um dort mit geistig und mehrfach behinderten Menschen zu arbeiten. Im  Zusammenhang mit der Landesagartenschau 2002 erhielt der Verein auch den ersten Stock  und somit das ganze Gebäude. Aus drei Zimmern wurde ein großer Saal für Versammlungen, Feiern, Theaterspielen, in weiteren Räumen sollen Büros und eine Beratungsstelle entstehen.

Eine Rampe verbindet den Philippsruher Park bereits mit dem Garten, der im Augenblick noch etwas kahl wirkt: Rasenflächen, Wege, die auf einen leeren Platz führen und ein unbepflanztes Hochbeet in einem langen, kantigen Behälter aus rostigem Eisen, dessen Anblick im historischen Ambiente leicht gewöhnungsbedürftig ist. Die Höhe ist so konzipiert, daß Rollstuhlfahrer bequem in das Beet greifen und dort arbeiten können, daß überhaupt jeder Besucher mühelos einmal an den Pflanzen schnuppern kann. Ein Pflaumen- und ein Kirschbaum sind gerade frisch eingesetzt worden, einige Sträucher sollen noch gepflanzt werden, und den kleinen Platz wird bald ein Springbrunnen schmücken.

Ganz überraschend stießen die Arbeiter im Boden übrigens auf einen historischen Grundwasser-Brunnen. Gefunden wurden seine Reste in acht Metern Tiefe unmittelbar am Eingang des Häuschens. Er wurde vermutlich zeitgleich mit dem Gärtnerhaus im Jahr 1756 erbaut. Zu sehen bekommen werden ihn die Besucher der Landesgartenschau allerdings nicht; eine Präsentation wäre zu aufwendig. Erst nach der Landesgartenschau hergerichtet werden soll das Nebengebäude.

Vom ursprünglichen Fachwerk ist allerdings nicht mehr viel zu sehen. Die Brandschutzauflagen waren so hoch, daß das Gebälk mit speziellen Platten verkleidet werden mußte. So glänzt der große Raum im ersten Stock eher durch Zweckmäßigkeit, denn durch eine behagliche Atmosphäre. Auch die Leute von der „Lebenshilfe“ müssen sich erst an den neuen, gelb gestrichenen Raum mit seinen langen Tischreihen gewöhnen: Im angestammten Erdgeschoß ist es eindeutig gemütlicher.

Vom ästhetischen Standpunkt eher ein Kompromiß aber erforderlich sind die Fluchtwege, die vom ersten Stock nach unten führen. Für die Rollstuhlfahrer wurde ein geräumiger - optisch ziemlich klotziger - Aufzug direkt an die Hauswand installiert, der bei Stromausfall auch per Handkurbel zu bedienen ist. Weil sich damit kaum mehrere Menschen befördern lassen, hat die „Lebenshilfe“ nebenan noch eine breite Metalltreppe angebaut. Beides gewaltige Konstruktionen und freilich auch Fremdkörper am historischen Platz, die den Winkel zwischen Haupthaus, Nebengebäude und Mauer nutzen, so daß sie wenigstens nur von der Straße aus zu sehen sind.

 

Im Sommer veranstaltet die Stadt Hanau im Schloßpark die Brüder-Grimm-Märchenfestspiele, heute „Hanauer Märchenfestspiele“. Sie finden statt  im Amphitheater am westlichen Ende des Parks, das auch sonst im Sommer  für kulturelle Veranstaltungen genutzt wird.

 

Brüder-Grimm-Mitmach-Museum:

Ende 2019 soll im Nordflügel von Schloß Philippsruhe das Brüder-Grimm-Mit-mach-Museum, seine Pforten öffnen. Insgesamt soll das ehrgeizige Projekt rund zwei Millionen Euro kosten, wobei der Eigenbetrieb Hanau Immobilien- und Baumanagement 1,6 Millionen Euro für die Planung und den Umbau des Gebäudeteils veranschlagt. Weitere rund 400.000 Euro werden die Planung, Ein- und Ausbauten, Möbel und Spielstationen des Museumsbereichs kosten.

Aktueller Anlaß für die Neugestaltung war der 50. Geburtstag des Bestehens des Historischen Museums Hanau, das seit 1967 seine Heimat im Schloß Philippsruhe gefunden hat. Im Frühjahr 2015 wurde die neue Museumskonzeption bereits der Öffentlichkeit vorgestellt und in den zuständigen Gremien diskutiert.  Ein wissenschaftliches Beratergremium wurde zudem im Jahr 2016 für dieses Projekt ins Leben gerufen. Eine zentrale Position der neuen Konzeption des Museums soll die Vermittlung des Lebens und Werks der Brüder Grimm mit einer aufgewerteten Museumspädagogik einnehmen. Die Verwaltung erhofft sich mit dem Konzept nicht nur ein Haus mit Alleinstellungsmerkmal im Vergleich mit anderen Brüder- Grimm-Museen einzurichten, sondern auch zu einem Besuchermagnet für Kindergärten, Grundschulen aber auch für Erwachsene zu werden.

Das neue Brüder-Grimm-Mitmach-Museumsoll in die bestehende Konzeption eingebettet werden. Vor dem Hintergrund, daß Hugenotten Märchen aus ihrer Heimat nach Deutschland brachten und mit Marianne Hasenpflug eine Nachfahrin von hugenottischen Flüchtlingen den Brüdern Grimm französische Märchen erzählte, wurde die Hanauer Migrationsgeschichte Voraussetzung und Grundlage der Weltliteratur des Brüderpaars. Dieses Alleinstellungsmerkmal soll wesentlicher Bestandteil des Museums werden.

Es ist vorgesehen, die Räume des Mitmachmuseums im ersten Stock des Nordflügels anzusiedeln und über die bestehenden Räumlichkeiten des Museums in den Rundgang einzubinden. Im Turm­raum werden jetzt bereits die Brüder Grimm auf 75 Quadratmetern gewürdigt. Ausgehend von diesem - dann umgestalteten Raum - kommt der Besucher in das eigentliche Mitmach-Museum mit Märchenstein-Stationen, Märchenkulissen, Aufgaben, Entdeckungen, Spielangeboten und einer lebendigen Bibliothek.

Rund 220 Quadratmeter Fläche wird das Museum haben, ein Büro, Lagerraum und eine Toilettenanlage werden zudem im ersten Stockwerk Platz finden. Im Erdgeschoß sollen zwei Räume für Museumspädagogik, ein Sozialraum, eine Toilettenanlage und ein kleiner Lagerraum über einen separaten Zugang erreichbar sein, von dem auch die Standesbeamten ihr Büro erreichen können. Da aus Brandschutzgründen im nördlichen Turm des Schloßflügels eine Treppe eingebaut werden muß, können darüber Gruppen direkt das Mitmachmuseum betreten. Insgesamt werden für die neuen Räumlichkeiten rund 740 Quadratmeter nutzbar gemacht (Hanauer Wochenpost vom 4.4.2018).

                       

 

Bilder in: Hanau Stadt und Land,

Seite 5: Schloß Philippsruhe im Jahre 1705, Kupferstich von Joh. Stridbeck

Seite 151: Plan des Schlosses von Johann David Füleken, gestochen von P. Fehr.

Seite 152: Gartenfront                      

Bücher:

Historisches Museum Hanau im Schloß Philippsruhe, 1967

Klaus Hoffmann: „Schloß Philippsruhe. Vom Barockschloß zum Historischen Museum"

 

 

 

 

Hanau West

 

Hospitalstraße:

Die Hospitalstraße ist benannt nach dem Haus Nummer 26 (früher 46), das 1501 als Hospital erbaut wurde. Die Straße begann offenbar früher am Altmarkt (heute: Metzgergasse). Dort gab es Gasthäuser, deren Inhaber die reich­sten Leute Alt-Hanaus waren. Es waren die Gasthäuser:

Das im Jahre 1557 als „Zur Krone“ erwähnte Gasthaus „Zur goldenen Krone“ (früher Hospitalstraße 24, Einfahrt zur EAM), das im Jahre 1511 als „Her­berge zum Swan“ erwähnte Gasthaus „Zum Schwan“ von 1540 und das Gasthaus  „Zum Bären“.

Die Verbindungsstraße von der Hospitalstraße nach der Straße „Am Frankfurter Tor’“ (früher Frankfurter Straße) hieß „Brücken­gasse“, weil sie bis 1880 ein Durchgang von der Hospitalstraße zur Frankfurter Straße war und nach einer ehemaligen Bastion „Esel“ ge­nannt wurde. Im Jahre 1818 erhielt der Durch­gang die Bezeichnung „Kommu­nikationsbrückengasse“, weil der Übergang über den Stadtgraben mit einer gewölbten Brücke ver­sehen wurde. Nach 1866 wurde daraus kurz „Brückengasse“.

 

Das Alt-Hanauer Hospital:

Die Hospitäler waren die sozialen Institute der Städte des Mittelalters. Immer lagen ihre Häuser in der Nähe der Stadtmauer am fließenden Wasser, damit für die nötige Reinigung der Kranken gesorgt werden konnte. So lag das erste Hanauer Hospital dicht beim Kinzdorfertor in der Marktgasse; nach der Entstehung der ersten Vorstadt erhielt es im Jahre 1505 seinen neuen Platz am Hospitaltor und gab der Vorstadtstraße den Namen.

Die „Hospitalstraße“ wurde benannt nach dem Haus Nummer 26, dem Hospital. Am Ende der damaligen Vorstadt entstand in den Jahren 1501 bis 1505 (Toreinfahrt 1545) ein großes Hospitalgebäude mit einer kleinen Kapelle. Über der Tür war das Hanauer Wappen - die drei Sparren - ausgehauen. Darüber aber erhob sich nicht wie sonst der Hanauer Schwan, sondern eine sanfte Taube, das Zeichen des Heiligen Geistes. Der Wappenstein kam nach dem Abbruch des im letzten Krieg zerstörten Hospitals in das Historische Museum Hanau.

Von dem spitzen Türmchen des Alt-Hanauer Hospitals bimmelte das Glöckchen zum Nachmittagsgottesdienst in dem kleinen Kirchenraum des Hospitals zum Heiligen Geist; dann konnten die armen Leute ihre Gaben in Empfang nehmen. Das Hospital übernahm im Mittelalter nicht nur die Pflege der Kranken und Gebrechlichen, sondern hatte auch die Verpflichtung, sich der armen Leute anzunehmen. Die Armenpflege wurde als religiöse Pflicht angesehen, und die kirchliche Gemeinde hatte den größten Teil der Lasten zu tragen. Die Reste des Gebäudes wurden 1951 abgerissen (Bild in: Hanau Stadt und Land, Seite 431: Das Hospital der Altstadt Hanau).

 

Vorstadt:

Am Haus Vorstadt 14 ist eine Gedenktafel für Paul Hindemith angebracht, einen der bedeutendsten Komponisten der Neuzeit. Er wurde in dem Haus geboren, das an dieser Stelle stand.

Vor der Kinzigbrücke (früher: An der Kinzigbrücke): Der Besitzer des Wirtshauses „Zum weißen Roß“, das 1566 erwähnt wird, war seit 1640 Johannes Grimm aus Bergen, ein Urahn der Brüder Grimm.

 

Am Frankfurter Tor:

Neustädter Hospital:

Auch in der Neustadt gab es schon bald nach der Gründung der Stadt ein Hospital. Es wurde auch in der Nähe eines Tores errichtet. Einer der Gründer der Neustadt versprach dem Rat der Stadt, 1.000 Gulden zum Bau eines Hospitals zu stiften. Die Bür­gerschaft spendete weitere 3.888 Gulden. Das Grundstück am Frankfurter Tor wurde zum Bauplatz bestimmt (damals Frankfurter Straße Nr. 30, „Zum Greif“ genannt).  Im Jahre 1609 war der Bau vollendet. Man hatte aber bald erkannt, daß das Grundstück mancherlei Mängel hatte. Eine weitere Ausdehnung war zu kostspielig, und so entschloß man sich schon im Jahre 1615 zum Ankauf eines Hauses in der Leimen­straße. Aus diesem Hause entstand dann das heutige Stadtkrankenhaus, das die weiten Flächen des eingeebneten Wallgeländes zum Ausbau benutzte. Die Straße heißt „Leimenstraße“, weil sich hier seit alters die „Leimenkaut“ befand. Auch bei der Erbauung der Neustadt wurde von hier Lehm geholt.

 

Frankfurter Tor

Nachdem die Neustadt Hanau in den Verteidigungsbereich Hanaus einbezogen werden mußte, entstanden auch hier neue Tore. In den einspringenden Winkeln der Befestigung wurden fünf Tore eingelegt: das Frankfurter-, das Kanal-, das Steinheimer-, das Nürnberger- und das Mühltor.

Schon beim Aufbau der Befestigungsanlagen zu Beginn des 17. Jahrhunderts erhielt Neu-Hanau ein Stadttor, das die Stadt für die von Frankfurt kommenden Reisenden öff­nete. Das erste Frankfurter Tor wurde 1603/04 erbaut und  mußte bereits 1608 und 1615 repariert werden.

Dieses Tor, ein Turmbau mit enger Durchfahrt,  mußte im 18. Jahrhundert einem re­präsentativen Neubau weichen. Unter dem Grafen Johann Reinhard III. hatten die Bauarbeiten unter Baudirektor Christian Ludwig Hermann 1721 begonnen, die Vollendung zog sich bis 1723 hin. Damit wollte der Graf ein repräsentatives Eingangstor für seine Residenzstadt schaffen. Wie das Rathaus zeigt auch das Frankfurter Tor das Allianzwappen des Grafen und seiner Gemahlin. Der Wappenschmuck an der Feldseite muß von dem gleichen begabten Steinmetz stammen, wie der Schmuck im Giebel des Neustädter Rathauses.

Auch das Frankfurter Tor trägt ein französisches Dach, ein kleines achteckiges Türmchen belebt seine Silhouette und bildet einen gewissen Gegensatz zur Nüchternheit der Fassade. Die unteren Räume des Tores dienten eine Zeitlang der gräflichen Münze, die seit 1740 dort eine „Müntz­mühl, so die metalle strecket“, unterhielt.

Es gibt nicht viele barocke Stadttore, und das Frankfurter Tor kann sich in dieser kleinen Reihe durchaus mit den anderen Beispielen messen. Heute hat Hanau nur noch dieses eine Stadttor als wertvolles Monument der alten Zeit.

Mit dem Frankfurter Tor präsentiert sich uns ein Stadttor, das nicht mehr wie sein Vor­gängerbau aus fortifikatorischen Gründen nur möglichst engen Durchlaß zuließ, sondern als repräsentativer Eingang zur Stadt diente. Es ist 15,60 Meter breit und 12,90 Meter tief und erreicht mit seinem Dachturm eine Höhe von mehr als 20 Metern. Man sieht einen mehrgeschos­sigen Bau mit reicher Sandsteingliederung. Das Erdgeschoß, das mit seinen drei Torbögen die Durchfahrt ermöglicht, bildet zusammen mit dem ersten Obergeschoß und dem niedri­geren Attikageschoß den Baukörper, über dem sich ein geschwungenes Mansardendach, gekrönt von einem sechseckigen Türm­chen, erhebt.

Die rote Sandsteingliederung prägt das Äußere des Torbaus. Breite, genutete Sandsteinlisenen, die aus abwechselnd höher- und tieferliegenden Steinschichten gebildet werden, an den Ecken des Gebäudes und zwischen den drei Torbögen verlaufend, unterteilen die beiden Fassaden in vertikale Felder. Schmale, schlichte Bänder aus dem gleichen Material trennen die Geschosse und gliedern somit in der Waagrechten. Alle Öffnungen zeigen eine schlichte Sandsteinrahmung. Dies gilt auch für die Fenster der Seitenwände, die in den Obergeschossen zu sehen sind und wie die Fenster von Haupt- und Stadtfassade gestaltet wurden.

Es gelang dem Architekten, die sich nach außen wendende Fassade hervorzuheben. Neben der reicheren Verwendung von Sandstein wird dies vor allem durch den plastisch ausgestalteten Dreiecksgiebel in Höhe des Attikageschosses erreicht. der scheinbar getra­gen von den beiden Sandsteinlisenen, die das Mitteltor flankieren, den Mittelteil der Fas­sade als Risalit erscheinen läßt.

Beide Fassaden zeigen im Erdgeschoß je einen breiten Mittelbogen und zwei schmale seitliche. die die kreuzgewölbte Durchgangspassage eröffnen. Es kam im Kapitel der Bau­geschichte schon zur Sprache, daß die Seitenöffnungen auf der Feldseite ursprünglich ge­schlossen waren. Alle Torbögen erreichen annähernd die gleiche Höhe, die ein wenig nied­rigeren Seitentore gleichen den unterschied mit einem etwas größeren Schlußstein aus, so daß jeder Torbogen mit diesem Stein an das Gesimsband stößt, das Erdgeschoß und erstes Obergeschoß trennt.

Im ersten Obergeschoß zeigen die beiden Fassaden je vier Fenster, die durch schlichte Brüstungs- und Bekrönungsfelder betont werden. Verbunden sind die Fenster durch ein Sandsteinband in Höhe der Fensterbank. Das Geschoß wird durch die vorspringende Traufkante abgeschlossen.

Die darüber liegenden Fenster des Attikageschosses stoßen mit ihrem oberen ge­schwungenen Abschluß in die Dachzone vor. Wie schon das erste Obergeschoß, zeigt auch das Attikageschoß stadtseitig vier Fenster. Die ehemalige Feldseite zeigt nur zwei. Die beiden mittleren wurden hier durch den Dreiecksgiebel ersetzt.

Dieser Giebel zeigt das Allianzwappen Johann Reinhards III. und seiner Gemah­lin Dorothea Friederike  von Brandenburg-Ansbach. Die Wappenkartusche sprengt die Giebelbasis und reicht weit in das erste Obergeschoß hinein. Die sie flankieren­den Tiere - Adler und Löwe - reichen ebenfalls bis in dieses Stockwerk und scheinen hier auf der Bekrönung der Mittel­fenster zu stehen. Die Giebelspitze ragt über die Attikazone hinweg, so daß dieser Giebel Verbindung vom ersten Obergeschoß über das Attikageschoß bis zum Dach herstellt.

Das Dach mit seinen geschwungenen Formen und dem hoch aufragenden Türmchen bildet einen beschwingten Gegensatz zu den strengen geraden Formen des Baukörpers. Den oberen Abschluß bildet der vergoldete Schwan, das Wappentier der Stadt. der über dem Turmknopf seine Flügel spreizt.

Von den Räumen. die der Hermannsche Bau in den oberen Stockwerken beher­bergte. weiß man nichts Konkretes. Die heutige Raumaufteilung wurde vom jetzigen Ver­wendungszweck bestimmt und geht nicht auf den Vorkriegszustand zurück.

In der Literatur hat es sich eingebürgert, daß das Frankfurter Tor dem Hanauer Baudirektor Christian Ludwig Hermann zugeschrieben wird. Eine Reihe von Gründen läßt sich aufführen. die das Frankfurter Tor als Werk Hermanns ausweisen. Wen anderes, wenn nicht den Direktor seines Bauwesens, sollte der Hanauer Graf mit den Plänen für diesen repräsentativen Eingang zur Stadt betrauen. Zudem empfiehlt sich dieser Baudirektor als Baumeister in militärischem Rang, der für die Betreuung der Festungswerke zuständig war.

. Stilistisch läßt sich der Torbau gut in das uns bekannte Werk Hermanns einordnen. Gerade der Vergleich von Neustädter Rathaus und Frankfurter Tor ließ Winkler und Mitteldorf annehmen. daß Hermann der Baumeister beider Gebäude war und auch Gerhard Bott bescheinigt beiden Gebäuden  „ ...die gleiche strenge Formenspra­che“.

Bis zum Zweiten Weltkrieg überdauerte das Frankfurter Tor die Zeiten nahezu unver­ändert. Im 19. Jahrhundert fanden Veränderungen statt. Auf der Feldseite war zunächst nur der mittlere Torbogen offen, während die beiden seitlichen durch Fenster geschlossen wurden. Auch der alte Plan aus dem Marburger Staatsarchiv verdeutlicht dies. Zur Stadt hin waren drei Torbögen ge­öffnet. zum Feld hin war auf Grund der schmalen Brücke, die lediglich die Breite des mitt­leren Bogens erreichte, nur die mittlere Passage geöffnet. Man kann annehmen, daß die Öffnung der seitlichen Bögen vorgenommen wurde, als man 1833 die Holzbrücke vor dem Tor durch eine breitere Steinbrücke ersetzte. Möglicherweise wurde auch die Traufkante des Tores im Laufe des 19. Jahrhunderts nach unten versetzt. Man sieht auf der obenerwähnten Zeichnung zwischen erstem und zweitem Obergeschoß, dort wo heute die Traufe zu finden ist, nur ein einfaches Sandsteinband. Dies würde bedeuten, daß die Fenster des Attikageschosses ursprünglich nicht so sehr der Dachzone zugeordnet waren.

Als der Bombenangriff vom 19. März 1945 die Stadt Hanau in Trümmer legte, wurde auch das Frankfurter Tor nicht verschont. Es brannte aus, doch überstanden das äußere Mauerwerk und die Gewölbe der Durchgangspassagen das Feuer.

Nach dem Krieg blieben die Überreste zunächst dem Verfall preisgegeben. Nachdem zunächst alles darauf zu deuten schien, daß man die Reste abtragen würde, entschloß man sich 1953 doch zur Wiederherstellung. Im Jahre 1955 erhielt das Tor im Äußeren sein altes Aussehen. Das Dach, das vorher nur provisorisch abgedeckt worden war. wurde mit Schiefer gedeckt und die Schä­den am Mauerwerk ausgebessert.

Heute steht das Frankfurter Tor vor einer kleinen Grünanlage und wird nur noch von Fußgängern durchquert. Lange Zeit stand es ungenutzt. Erst in den achtziger Jahren Tagen erfolgte ein neuer Innenausbau. Das Frankfurter Tor beherbergt nun Schulungsräume des benachbar­ten Krankenhauses. Im Rahmen dieser Baumaßnahmen wurde auch das Äußere verän­dert. Der Zugang zu den Schulungsräumen erhielt eine auffällige Überdachung, und das graue Bruchsteinmauerwerk, das zumindest seit Ende des 19. Jahrhunderts, wenn nicht sogar seit der Erbauung des Tores zu sehen war, wurde verputzt.

 

Alte Friedhöfe:

Auf Bitten der Bürgerschaft schenkte Graf Philipp Moritz der Bürgerschaft im Jahre 1633 einen Acker vor dem Frankfurter Tor, der dann 213 Jahre lang den Altstädtern als Kirchhof diente. Der alte Friedhof im Kinzdorf mußte militärischen Belangen weichen, im Dreißigjährigen Krieg brauchte die Fes­tung Hanau freies Schußfeld. Überdies wa­ren die Leichenzüge der Altstadtbürger, die zwangsläufig durch die Neustadt führ­ten, ständig Anlaß für Ärgernis. Knapp 200 Jahren war das Gelände des heutigen Gerichtskomplexes Begräbnisstätte der Hanauer Altstadt, die der Neustädter, der „Französische Friedhof“ befand sich un­weit davon in der heutigen Martin-Luther-Anlage, dort sind  noch Steine der Wallonisch-Niederländischen Gemeinde erhalten.

Im Jahre 1846 wurde der Deutsche Friedhof aufgelassen aus Furcht vor ausschwemmenden Totengiften (Er lag ja im Überschwemmungsgebiet). Am 22. Juni 1846 fand in beiden Friedhöfen eine Gedächtnisfeier statt. Dann wurde der neue Friedhof an der Dettinger Straße seiner Bestimmung übergeben. Einige Grabdenkmäler der alten christlichen Friedhöfe wurden 1898 nach deren Schließung auf den neuen Hauptfriedhof südöstlich der Stadt überführt.

Eine große Zahl der alten Grabsteine verblieb jedoch in der Nußallee. Dem Landbaumeister Bode, dem damals die Bauleitung oblag, ist es zu verdanken, daß eine große Zahl von Grabmälern, allesamt Kleindenkmale von Rang und Doku­mente ihrer jeweiligen Zeit, gerettet wur­den, anstatt als Unterbau unter der Nußal­lee in der Erde zu verschwinden. Mit eige­nen Mitteln - denn schon damals zeigte sich die Stadt knauserig gegenüber ihrem his­torischen Erbe  - ließ Bode die wichtigsten Steine als Teil einer Mauer zum Fischer­hüttenweg hin aufstellen. Seither begrenzt sie in einem sich stetig verschlechterndem Zustand den in städtischem Besitz verblie­benen Park neben dem Gericht.

Nach Ablauf der Ruhefrist wurde das Gelände zur Bebauung freigegeben und der Preußische Justizfiskus erwarb den größeren Teil des Areals, um darauf im Jahre 1908 das Gericht und das Gefängnis zu errichten.

Im Jahre 1911 hat man 70 prachtvolle Grabmale an die Außenmauer gestellt. Diese an sich sehr begrüßenswerte Erhaltung der Grabdenkmäler hat aber im Laufe der Zeit den Steinen großen Schaden zugefügt, da sie alle ihre Vorderseite der Wetterseite entgegenstellen und so stark verwittert sind. Inschriften und plastischer Schmuck des weichen Sandsteines sind abgeblättert; und Wind und Wetter werden weiter an ihnen nagen. Obendrein stehen die Platten einen Großteil des Jahres im Nas­sen, weil die Bodennässe nicht abziehen kann, weil vorJahrzehnten der hinter der Mauer verlaufende Fischerhüttenweg höher gelegt wurde und eine Asphaltdecke erhielt.

Die anfängliche Idee eines kompletten Neu­aufbaus der Mauer wurde ver­worfen, denn damit verändere sich ihr Er­scheinungsbild. So wurde die zweischalige Mauer abschnittsweise saniert und dabei die Grabtafeln ausgebaut. Nachdem die Risse und bröseligen Kanten gerei­nigt und mit eingefärbtem Mörtel verputzt waren, wurden die Steine auf einen Sockel ge­stellt. Was an Inschriften und Orna­menten nicht mehr existiert, wurde nicht ersetzt.

Die Geringschätzung der Klein­denkmale gipfelte in den frühen neunziger Jahren in der offiziell bekundeten Absicht, sie „ihrem natürlichen Verfall“ zu überlassen. Es war der Ehrenvorsitzende des Han­auer Geschichtsvereins, Dr. Eckhard Mei­se, der seit über 20 Jahren immer wieder den Finger in diese Wund gelegt hat und dabei lange auf taube Ohren stieß. Erst beim Umbau des Gerichtsgebäudes vor we­nigen Jahren wurde offenbar auch der Po­litik klar, welcher historische Schatz hier von akutem Verfall bedroht ist.  Der spätere Bürgermeister Klaus Kaminsky griff 2004 die Initiative des Geschichtsver­eins auf und verhalf dem Restaurierungs­projekt über eine Anschubfinanzierung durch die Stiftung der Sparkasse Hanau zu einem, wenn auch späten, so doch jetzt von erstem Erfolg gekröntem Start.

Der Hanauer Geschichtsverein hat zwanzig Jahre gemahnt, bis die Stadt für ein Sanierungsgut­achten bei der Sparkassen-Stiftung 7.500 Euro locker machte. Dabei geht es hauptsächlich um die Konservierung der rund 50 Meter langen Bruchsteinmauer, in die beim Bau des Amtsgerichtes Grabsteine eingesetzt wurden. Die Grabsteine sind ein bedeutendes Zeugnis der bislang viel zu wenig beachteten bürgerlichen Tradition in Hanau. In der Vergangenheit ist bei der Erhaltung von historischen Hinterlassenschaften vornehmlich auf eine fürstliche Abstammung geachtet worden, was die Stadtgeschichte in ein falsches Licht rückt. Der einstige Gottesacker ist deshalb besonders erhaltenswert. Der Friedhof soll Schulklassen „anschaulichen Geschichtsunterricht“ bieten.

Die in ihr eingemauerten Grabsteine sind ein Spiegel der Althanauer Bürgerschaft und, vor allem nach dem alliierten Bom­benterror des Zweiten Weltkrieges, die let­zen baulichen Relikte des bürgerlichen Hanau.

 

Folgende Grabsteine sind noch zu erkennen:

1. Das Bäckerwappen vom Grabstein des Bäckers David Button aus dem Jahre 1705 zeigt wie üblich Löwen als Wappenhalter und unter der Krone eine Brezel, ein geteiltes Brötchen und einen „Stutzweck“ (Bild in: Hanau Stadt und Land, Seite 436).

2. Das Wappen des Johann Philipp Dengler, gestorben um 1690, zeigt sein Handwerkszeug als Stadtpflasterer, und der Hofkellermeister Nikolaus Will, gestorben 1706, hat sich eine Weintraube als sein Berufszeichen auf seinen Grabstein meißeln lassen.

3. Der Adelmannsche Grabstein vor dem Sei­tenflügel des Justizgebäudes. Die zwei Tonnen schwere Erinnerung an den 1829 verstorbenen Adam Adelmann steht jetzt an der Fassade des Justizgebäudes. Matthias Winterstein von der gleichnamigen Gartenbaufirma barg den Stein gegen eine Spendenquittung. Als Rehbein-Schüler war er begeistert von den Geschichts- und Lateinstunden von Eckard Meise gewesen. Die Kosten für die Aufstellung des Steins - 1000 Euro - übernahm die Landesdenkmalpflege.            

4. Hier war ursprüng­lich Grabdenkmal des in der Schlacht von Hanau 1813 gefallenen Prinzen Karl von Oettingen-Spielberg hier aufgestellt, die sterblichen Überreste wurden aber im Jahr 1847 nach Oettingen in Bayern verlegt.

 

Hanaus Oberbürgermeister Claus Kamin­sky gestand offen Versäumnisse der Stadt Hanau bei der Erhaltung dieses Kultur­denkmals ein. Doch habe ein einstimmiger Stadtverordnetenbeschluß 2003 ein Umdenken eingeleitet, 2004 sei eine Schadens­analyse erstellt, 2005 Sicherungsmaßnah­men ergriffen worden. Auf insgesamt 450.000 Euro belaufe sich die Schätzung für das Gesamtprojekt, knapp zehn Prozent davon hätten Spender und Patrone inzwi­schen beigesteuert. Auch städtische Mittel fließen in die Sanierung.

Die Stadt Hanau selbst hat es sich nicht nehmen lassen, den ersten Grabstein des Deutschen Friedhofs, der am 19. März 1633 dem Studiosus Philipp Elias Wehner ge­setzt wurde, als Pate zu übernehmen. Zwei weitere Steine, die jetzt gesichert und res­tauriert sind, haben die Sparkasse Hanau und die Interessengemeinschaft Hanauer Altstadt zusammen mit Dr. Eckhard Meise zum Paten. Es handelt sich um den Stein der Bäckerfamilie Ihm vom August 1660 und dem der vierjährig gestorbenen Sybil­le Magdalena Rößler von 1676.

Die Stadtgärtnerei Hanau pflegt den alten „Deutschen Friedhof“ der Altstädter Gemeinde, der heute eine großzügige gärtnerische Anlage ist.

 

Justizgebäude:

Das Gerichtswesen in Hanau hat eine lange Tradition. Die Stadtväter legten schon im 19. Jahrhundert großen Wert auf eine eigenständige Justiz und waren bereit, dazu auch große finanzielle Opfer zu bringen, um die Konkurrenz aus Frankfurt und Fulda abzuwehren. Anläßlich der Generalinstandsetzung der Gebäude in der Nußallee blickt die Zeitung „Frankfurter Rundschau“ auf die wechselvolle Geschichte zurück, gestützt auf die Recherchen des Rechtsanwaltes und Hobbyhistorikers Hans Katzer sowie auf Nachforschungen des ehemaligen Landgerichtspräsidenten Felix Lesser.

Eine Justizchronik existiert bislang nicht und über die Zeit des Nationalsozialismus gibt es offenbar überhaupt keine Aufzeichnungen mehr. Dies lag allerdings offenbar weniger daran, daß die Gebäude bei einem Luftangriff der Alliierten am 19. März 1945 schwer beschädigt wurden, als daran, daß viele Unterlagen und Akten unmittelbar nach Kriegsende von Bediensteten verbrannt worden sein sollen.

Bekannt ist demnach nicht einmal mehr, wer zur damaligen Zeit Gerichtspräsident war. Ende der 30er Jahre soll ein Landtagsabgeordneter aus Pommern die Geschäfte geführt haben, der dann von einem Nazi abgelöst wurde, weiß Richter Ulrich Scheuermann, der sich als Baubeauftragter für die Generalinstandsetzung zwangsläufig auch mit der Historie beschäftigte. Genaueres müßte man dem Staatsarchiv entnehmen, und das sei eine sehr mühselige Arbeit.

Mehr über die Zeit davor hat Felix Lesser (1887 - 1974), Landgerichtspräsident von 1945 bis 1960, herausgefunden. Demnach gab es in der Grafschaft Hanau seit der Übernahme des römischen Rechts und der Bildung eines gelehrten Richterstandes eine ordentliche Gerichtsbarkeit. Seit dem Mittelalter kam den Stadträten die Aufgabe zu, auch als Organe der Rechtspflege tätig zu sein. Nach dem kurhessischen Organisationsedikt von 1821 - es trennte Judikative und Exekutive - verloren sie diese Aufgabe. Aus dem vormaligen Hofgericht wurde ein Obergericht, das von 1822 bis 1850 im Altstädter Rathaus (heute: Goldschmiedehaus) residierte, ehe ein neues, dreigeschossiges Gebäude im herrschaftlichen Baumgarten, dem heutigen Bangert, errichtet wurde. Ihm unterstanden 15 Justizämter, die Vorläufer der Amtsgerichte. Als höchste Instanz fungierte das Ober­appellationsgericht in Kassel.

Zum Gerichtsbezirk zählten damals nicht nur die ehemaligen Kreise Hanau, Gelnhausen und Schlüchtern, sondern zusätzlich die Gemeinden Bergen, Bockenheim, Fechenheim, Ginnheim, Preungesheim und andere. Sie gehörten damals zum Hanauer Land und wurden erst später nach Frankfurt eingemeindet. So fand ein Prozeß im Gefolge der deutschen Revolution 1848 vor dem neugeschaffenen Schwurgericht in Hanau statt, weil die Beschuldigten aus Bockenheim und Ginnheim stammten. Sie sollen für den Tod zweier Abgeordneter der Nationalversammlung verantwortlich gewesen sein. Im Jahre 1866 kam auch das bis dahin königlich bayerische Amtsgericht Bad Orb hinzu.

Aufgrund der Zersplitterung Deutschlands in Duodez-Fürstentümer und der kriegerischen Aus­einandersetzungen, die noch im 19. Jahrhundert zu ständigen Grenzänderungen führten, änderte sich die Rechtsprechung zuweilen von Dorf zu Dorf. Je nachdem wo man sich in der „Provinz Hanau“ befand, konnte demnach Gemeines Recht, Hanauer Recht, Isenburgisch-Birsteiner, oder Isenburgisch-Meerholzer, Fuldaer oder Althessisches Recht, Mainzer Landrecht oder die Fränkische Landesordnung gelten.

Mit Gründung des Deutschen Reichs 1871 wurden die bis dahin unterschiedlichen Strukturen und Instanzenwege vereinheitlicht. Dem Reichsgericht in Leipzig unterstanden nun die Oberlandesgerichte (Kassel), gefolgt von den Landgerichten und schließlich den Amtsgerichten. Zu jener Zeit entstand eine Rivalität zwischen Hanau und Fulda, die zumindest im Denken an beiden Gerichtsstandorten bis in die jüngste Vergangenheit fortwirkte. Die Planungen sahen zunächst vor, Hanau mit Frankfurt zusammenzulegen und Fulda als selbständiges Landgericht zu installieren.

Hiergegen setzte sich der Hanauer Magistrat vehement und mit mehreren Eingaben an Justizminister und den preußischen Landtag zur Wehr. Sie argumentierten mit der Größe und auch der kommerziellen Bedeutung der Stadt. Zudem seien ausreichend Gebäude mit Erweiterungsmöglichkeiten vorhanden. Daß Fulda  den natürlichen Mittelpunkt im Kurfürstentum Hessen-Kassel darstelle, wurde bestritten. Dort gebe es im übrigen nur Landwirtschaft und kaum Industrie. Nach einer ersten, knappen Abstimmungsniederlage entschied sich der Landtag schließlich doch noch für die Grimm-Stadt. Das Kreisgericht Fulda wurde aufgelöst, der Bezirk mit den Kreisen Fulda, Gersfeld, und Hünfeld wurde Hanau zugeschlagen. Die Richter wurden allerdings nicht dorthin versetzt, sondern in alle Winde verstreut, wahrscheinlich, um möglichen Animositäten vorzubeugen.

Das Landgericht war nun für 22 Amtsgerichte zuständig, wodurch das Behördenhaus am Bangert aus allen Nähten platzte und das Hanauer Amtsgericht 1880 in ein Gebäude „Am Markt 18“ umziehen mußte. Bockenheim wurde 1895 aufgelöst und der Stadt Frankfurt einverleibt.  Bevölkerungszunahme, wirtschaftlicher Aufschwung und die damit verbundene Zunahme der Geschäftstätigkeit - man denke allein an Handelsregister, Grundbuch- und Katasteramt - machten weitere räumliebe Veränderungen erforderlich, auch um Amts- und Landgericht wieder zu vereinigen. Erneut sah Fulda seine Chance gekommen, die alte Scharte auszuwetzen und pochte auf seine zentrale Lage im Bezirk.

Die gewitzten Hanauer Stadtväter aber machten dem preußischen Justizfiskus ein Angebot, das er nicht ablehnen konnte. Einerseits boten sie 300.000 Mark für den Kauf der bisher genutzten Immobilie, andererseits stellten sie ein rund 10.000 Quadratmeter großes Grundstück, den 1846 geschlossenen Friedhof aus dem 30jährigen Krieg zwischen Nußallee, Fischerhüttenweg und Katharina-Belgica-Straße als Baugrund zur Verfügung. Die Belgica-Straße war übrigens schon damals nach der Tochter des Prinzen Wilhelm von Oranien und Witwe des Grafen Ludwigs II. von Hanau benannt, die sich zu jener Zeit für die ausgeplünderte Bevölkerung, insbesondere im fast völlig zerstörten Flecken Rumpenheim einsetzte.

Im Vertrag verpflichtete sich die Stadt zur unentgeltlichen Überlassung des 98 Ar großen Areals, wovon etwa zwei Drittel bebaut werden sollten. Die verbleibende Fläche war als Park gedacht, in den die alten Grabdenkmäler des Friedhofes integriert werden sollten. Für die Unterhaltung der Grünanlagen ebenso wie die Erschließung hatte demnach die Stadt zu sorgen.

Bei allem Entgegenkommen baute der Magistrat aber auch die Rückversicherungsklausel ein, wonach der Staat eine Entschädigung von 200.000 Mark zu leisten habe, falls das Landgericht doch noch woanders hin verlegt werden sollte. Am 5. März 1906 wurde das Abkommen zwischen dem geheimen Oberjustizrat Louis Kappen als Landgerichtspräsident und dem Ersten Staatsanwalt Max Lehmann als Vertreter des preußischen Justizfiskus einerseits und dem Hanauer Oberbürgermeister Dr. Eugen Gebeschus anderseits unterzeichnet. Mit dem Projekt konnte begonnen werden.

 

Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts herrschte in Hanau ein regelrechter Bauboom, bei dem eine ganze Reihe repräsentativer Gebäude entstand. Im Nordosten wurden die weitläufigen Kasernenkomplexe hochgezogen. Im Südosten entwickelte sich das Industriegebiet. Im Westen, der vor allem durch Wohnbebauung geprägt war, wurden Schulen, Krankenhäuser, Büros und Theater errichtet.

Geld schien dabei keine Rolle zu spielen. So können die Verantwortlichen für die laufende In­standsetzung des Landgerichts nur mit blankem Neid die historischen Fotos aus der Zeit kurz nach der Fertigstellung einer der letzten großen Baumaßnahme der preußischen Justizverwaltung betrachten, während sie bei der aktuellen Sanierung jeden Cent umdrehen müssen (grünes Linoleum in den Fluren).

Eine Mischung aus Jugendstil und Barock leistete man sich damals, sowohl was die prächtige Außenfassade, als auch, was das Interieur betrifft. Und damit alles noch ein bißchen größer und protziger wirkte, wurde sogar ein wenig geschummelt, wie der heutige Baubeauftragte Ulrich Scheuermann zu erzählen weiß. Durch die vertikale Anordnung der Fenster etwa wurden von außen höhere Geschosse vorgetäuscht als tatsächlich vorhanden. Erst im Inneren wird der Betrug offensichtlich: Befindet sich die Fensterunterkante im Souterrain noch in Kniehöhe, so braucht man im zweiten Stock schon lange Arme, um die Öffnungsgriffe zu erreichen. Auch wurde das Gelände von der Straße zu dem Gebäude bewußt abschüssig gestaltet, um die gleiche Wirkung zu erzielen.

Majestätisch wirkte der dreitorige Eingang, der heute verglast ist, um mehr Sicherheit zu gewährleisten. Über den sechs Sandsteinsäulen mit den reichverzierten Fenstern dazwischen erhob sich ein klassizistischer Giebel mit dem schwarz-weißen Hoheitszeichen Kaiser Wilhelms II. in der Mitte, darüber die Kaiserkrone aus Sandstein als Abschluß. Zumindest bis zur Abdankung des Regenten nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und der Ausrufung der Weimarer Republik prangte auf dem Wappen zusätzlich ein goldenes, verschnörkeltes „W II.“

Wie im oberen Strafkammersaal umgab das ovale Signum der lateinische Sinnspruch „suum cuique" (Jedem das seine), geprägt vom römischen Rechtsgelehrten Cicero, später mißbraucht von den Nationalsozialisten.

Dieser Giebel wie auch die gesamte obere Etage fielen der Bombardierung im Zweiten Weltkrieg zum Opfer und wurden danach nicht mehr aufgebaut. Geld und Material reichten nur noch für ein unscheinbares, flaches Walmdach. Inzwischen wurden auch Überlegungen, wenigstens den Giebel im Zuge der Generalinstandsetzung zu rekonstruieren, verworfen.

Kaiser Wilhelm II. höchstselbst soll damals Einfluß auf die Pläne genommen haben. Sichtbarer Ausdruck soll demnach die Gestaltung des Türmchens zwischen ehemaligem Beamtenwohnhaus und Untersuchungsgefängnis in der Katharina-Belgica-Straße gewesen sein. Die verschieferte Haube erhielt auf seine Forderung hin die Form eines Geschosses.

Davon ist nichts mehr geblieben, wie auch von der gesamten dritten Etage, in der unter einem Tonnengewölbe die Gefängniskapelle und ein Strafkammersaal untergebracht waren. Die schwere, mit Beschlägen versehene Tür zu diesem Raum wurde, ebenso wie der Schwurgerichtssaal darunter, von einer steinernen Justitia mit Schwert und Gesetzbuch bewacht. Wände und Decken waren, wie auch im übrigen Gebäude, freskenartig bemalt.

Das Gewölbe der Kapelle war mit hellen, verzierten Holzkassetten getäfelt. Wirkten diese beiden Räume im Obergeschoß filigran und beinahe heimelig, so vermittelte der große, zwei Stockwerke hohe Schwurgerichtssaal im Zentrum des Gebäudes eine Präsens allgegenwärtiger Macht; den Eindruck, wie klein doch der Mensch vor den Schranken des Staates sei. Schwer ruhte die holzgeschnitzte Decke auf massigen Konsolen - ein fast schon erdrückendes Bild für jeden armen Sünder, der sich hier verantworten mußte. Wegen der jetzt anstehenden Teilung wird der Saal bald nur noch halb so hoch sein.

Bereits die Wandelgänge und Aufgänge signalisierten, daß für das Walten der preußischen Justiz keine Kosten noch Mühen gescheut wurden. Auch hier Türrahmen, Säulen und Brüstungen, zuweilen gekrönt mit mannshohen Obelisken, aus rotem Main-Sandstein, gebrochen oberhalb von Miltenberg, reichverzierte wuchtige Rundbögen und Pfeiler, ein großzügiges, lichtdurchflutetes Treppenhaus, abgeschlossen wiederum von einer prunkvollen Kassettendecke - ein Konglomerat verschiedenster Bau- und Kunststile. „Jede einzelne Säule in diesem Hause ist ein handwerkliches Meisterstück“, schwärmte der Chronist und ehemalige Landgerichtspräsident Felix Lesser

Die Sandsteinsäulen und -einfassungen sind noch vorhanden. Ansonsten lassen nur noch historische Aufnahmen ahnen, wie sich die Staatsgewalt vor beinahe hundert Jahren manifestierte. An wenigen Stellen haben Studenten vor einiger Zeit im Rahmen eines Forschungsauftrages die alten Ornamente unter dem weißen Putz hervorgekratzt. Sie sollen nach Möglichkeit im Rahmen der laufenden Sanierung für die Nachwelt erhalten bleiben.

Der Architekt muß, so der Baubeauftragte Scheuermann, neben seinem Handwerk auch viel von den Abläufen der Justiz verstanden haben. So wurden eigens schmale Gänge und Treppen eingerichtet, um die Beschuldigten unbehelligt, aber auch ohne die Möglichkeit des Entweichens vom Gefängnis auf die Anklagebank in der ersten, zweiten oder dritten Etage zu leiten, ebenso um Zuhörer auf direktem Weg von der Straße aus in den Publikumsraum gelangen zu lassen, ohne daß sie mit den übrigen Abläufen im Gebäude in Kontakt treten konnten.

Im August 1908 begannen die Arbeiten für das langgestreckte Gerichtsgebäude entlang der Nußallee, Gefängnis für 70 bis 80 Personen, Beamtenwohnhaus und Nebenanlagen. Als Baustoff wurden vor allem rote Backsteine verwendet, die später hinter Putz und Stuck verschwanden.

Ein Jahr benötigten die Handwerker unter Leitung von Oberbaurat Bode für den Rohbau, zwei weitere Jahre für die Innengestaltung der insgesamt fünf Geschosse. Das Souterrain wurde als Wohnung für Hausmeister und Heizer ausgelegt. Hinzu kamen Vorratsräume. Das Erdgeschoß wurde für Amtsgericht, Amtsanwälte und Gerichtskasse vorgesehen. Darüber und in einem Flügel der zweiten Etage residierten das Landgericht mit Straf- und Zivilkammern. Im zweiten Stock hatte die Staatsanwaltschaft, die schon vor vielen Jahren ausgelagert wurde, ihr Domizil. Im Dachgeschoß waren neben den erwähnten Räumen die Schreibstuben der jeweiligen Behörden untergebracht.

Die Gebäude bildeten damals wie heute ein unregelmäßiges Viereck, das einen großen Hof erschließt. Er wird von einer hohen, inzwischen mit Stacheldraht bekränzten Mauer in zwei Hälften geteilt, eine davon dient den Häftlingen als Grünfläche, um sich dort die Beine vertreten zu können.

Während der Bauarbeiten kam es nur einmal zu einem Zwischenfall, als eine Decke einstürzte und mehrere andere mit sich riß. Gleichwohl kam, wie auch während der übrigen Zeit, niemand der Arbeiter zu Schaden. Am 13. Oktober 1911  - übrigens ein Freitag - wurde der Komplex bei einem Festakt im Schwurgerichtsaal von Oberlandesgerichtspräsident von Hassell seiner Bestimmung übergeben. Die Gesamtkosten beliefen sich auf eine Million Mark. Was diese Summ damals tatsächlich bedeutete, läßt sich daran ermessen, daß allein die jetzige Instandsetzung - ohne Prunk und Pomp - mindestens 15 Millionen Euro erfordern wird.

 

Justiz in der Nazizeit:

Im Jahre 1944 wurde das Hanauer Landgericht aus der Oberhoheit Kassels ausgegliedert und dem Oberlandesgericht Frankfurt zugeordnet. Fulda und Hünfeld wurden Kassel zugeschlagen. Damit wurden die Gerichtsgrenzen den sogenannten ,,Gauen“ der Nazis angepaßt. Als gesichert kann aber gelten, daß Behördenteile wie Grundbuchamt, Kammer für Handelssachen, Nachlaßgericht und andere Einrichtungen, die das tägliche Leben regelten, ohne wesentliche Veränderung weiterarbeiteten. Anders dürften sich die neuen Verhältnisse auf die Strafgerichtsbarkeit ausgewirkt haben. So geht aus Erzählungen von Zeitzeugen hervor, daß auch in Hanau eine Reihe von politischen Todesurteilen gefällt wurden, obwohl es hier keine Sondergerichte gab.

Berichtet wird beispielsweise aus dem Jahr 1933, daß die Gefängnisse im Fronhof und das des Landgerichtes nach der Machtübernahme des Hitler-Regimes „hoffnungslos überfüllt“ gewesen seien. Im Jahre 1936 wurden mehrere Hanauer Sozialdemokraten wegen „Hochverrats“ zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Betrieben wurden die Verfahren allerdings von der Kasseler Generalstaatsanwaltschaft. Vor dem dortigen Oberlandesgericht fanden auch die Prozesse statt.

Erwähnung fand des Weiteren, daß ein Frankfurter Sondergericht eine Frau zu eineinhalb Jahren Zuchthaus verurteilte, weil sie eine gefälschte Kleiderkarte benutzte. Im Februar 1942 schreibt die „Kinzig-Wacht“ (Nachfolgeorgan des zum damaligen Zeitpunkt eingestellten Hanauer Anzeigers) über einen Dieb, der Winterkleidung, die für die Ostfront gesammelt worden war, beiseite geschafft hatte. Er wurde demnach hingerichtet. Vier Monate Gefängnis gab es für einen „Panscher“, der Milch vor dem Verkauf verdünnt hatte. Wer Hühner hielt und die Eier verkaufte, mußte aufpassen, daß es nicht zu wenige waren, weil er sonst in Verdacht von Schiebereien geriet.

Gegen Kriegsende beklagten die Behörden den drastischen Anstieg von „Obst- und Felddiebstahl“. Auch wurden immer mehr Fahrräder entwendet. Für Schlagzeilen sorgte außerdem der Diebstahl von 11.000 Zigaretten aus einem Lagerhaus. Inwieweit die Hanauer Justiz mit solchen Fällen befaßt war, darüber gibt es allerdings keine Angaben.

 

 

Wiederaufbau  des Gebäudes:

Der Industriestandort und Verkehrsknotenpunkt Hanau war bereits 1943 mehrfaches Ziel alliierter Luftangriffe. Das Gerichtsgebäude wurde bis dahin kaum beschädigt. Beim großen Bombenangriff am 19. März 1945 wurde es jedoch von Minen und Brandbomben schwer getroffen und brannte weitgehend aus. Nur die massive Bauweise verhinderte, daß die Mauern komplett einstürzten. Gewaltige Druckwellen müssen das Haupthaus erschüttert haben, wie die zahlreichen Risse in den derzeit freigelegten Backsteinwänden bescheinigen. Die Statiker wundern sich noch heute, daß sie Stand gehalten haben.

Nach der Befreiung durch die US-amerikanische Armee übernahmen die Besatzungstruppen zunächst auch das Justizwesen, zumindest, was die Strafrechtspflege angeht. Die bisherigen deutschen Bediensteten wurden zu Aufräumungsarbeiten herangezogen. Aber schon im September 1945 wurde das Land- und Amtsgericht Hanau wieder eröffnet, auch wenn nur einige Kellerräume und wenige Zimmer im Erdgeschoß benutzbar waren. Einen Sitzungssaal gab es vorderhand keinen. Am 8. September wurden die ersten Nachkriegsrichter im Schloß Philippsruhe vom Kommissar der Militärregierung vereidigt.

Der Wiederaufbau begann im Herbst des gleichen Jahres, im darauffolgenden Frühjahr war die Zivilverwaltung wieder soweit hergestellt, daß das hessische Staatsbauamt die Koordination der Arbeiten übernehmen konnte. Zunächst fehlte es nicht an Geld, aber das war im Zuge der galoppierenden Inflation wenig wert. Dafür fehlte es an Arbeitskräften und Baumaterialien. Angesichts der starken Zerstörung in ganz Hanau und der zusätzlichen Belastung durch Flüchtlinge aus dem Osten gab es besseres zu tun, als den Staatsapparat wiederherzustellen. Wichtiger war in diesen Monaten ein Dach über dem Kopf. So wurde zwar am 22. August 1946 Richtfest gefeiert, doch die Arbeiten zogen sich hin.

Immerhin gelang es dem Staatsbauamt, einen auswärtigen Unternehmer aus dem Altkreis Gelnhausen zu finden, der den Wiederaufbau übernahm. Felix Lesser, der am 1. September 1945 zum Landgerichtspräsidenten bestellt worden war, rühmte „die Pflichttreue der Arbeiter, die täglich aus den Dörfern zu uns kamen und als Entgelt nichts anderes erhalten konnten als Papiergeld“. Ein paar Kartoffeln für die Familie zu Hause und ein warmes Essen wären ihnen wahrscheinlich lieber gewesen.

 

Wiederaufbau der Justiz:

Ein Glücksfall für die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg war mit Sicherheit die Ernennung von Dr. Felix Lesser zum ersten Landgerichtspräsidenten durch die Alliierten am 20. August 1945. Lesser war ein ausgewiesener Gegner der Nationalsozialisten gewesen. Der gebürtige Berliner war ein Garant dafür, daß sich die unseligen Traditionen einer kaum gewendeten Nachkriegsjustiz, wie sie andernorts bis in die 70er und 80er Jahre hinein für Negativschlagzeilen sorgte, zumindest im Gerichtsbezirk Hanau nicht fortsetzten.

Felix Lesser, geboren 1887 in Berlin, war im Ersten Weltkrieg Offizier und wurde bei Kämpfen schwer verwundet. Danach arbeitete er zunächst als Staatsanwalt in Berlin, später war er bei der Reichsanwaltschaft in Leipzig tätig. Als „Nicht-Arier“ wurde er 1933 nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nach Hanau strafversetzt. Schlimmeres blieb ihm zunächst aufgrund seiner Kriegsauszeichnungen erspart.  Anfang 1936 wurde Lesser zwangsweise in den Ruhestand versetzt, danach als einfacher Arbeiter dienstverpflichtet. 1943 kam er ins Konzentrationslager Theresienstadt, wo er einen Tag vor Kriegsende von den alliierten Truppen befreit und bereits im August als geeignete Person damit betraut wurde, die materiell wie personell zerschlagene Justiz in Hanau unter demokratischen Vorzeichen wieder aufzubauen.

Schon im September 1945 wurden die Geschäfte auf Betreiben des US-amerikanischen Stadtkommandanten Turner - im Zivilberuf Rechtsanwalt in Los Angeles - wieder aufgenommen, wobei das Amtsgericht mangels geeigneter Räume zunächst in der alten Kesselstädter Schule untergebracht wurde.

Die Alliierten ließen die deutschen Gesetze, abgesehen von den Unrechtsregelungen der Nationalsozialisten, die Verurteilungen auch nach dem „gesunden Volksempfinden“ ermöglichten, weitgehend unangetastet. Allein schon aus praktischen Gründen blieb die Kriegswirtschaftsverordnung bestehen, die beispielsweise Schwarzschlachtungen oder Verstöße gegen das Zuteilungswesen im Lebensmittel- und Textilbereich verhindern sollte.

Für die Handvoll unbelasteter Richter, die aus allen Teilen des zerstörten Deutschland nach Hanau kamen und von den Amerikanern akzeptiert wurden, gab es erheblichen Nachholbedarf, nachdem die Akten im Keller des zerstörten Gerichtsgebäudes aufgefunden und entstaubt wurden, vor allem eine Fülle anstehender Scheidungsfälle, die zwischen 1939 und 1945 als kriegsunwichtig eingestuft und daher nicht weiter bearbeitet worden waren.

Eine der ersten Akten, der sich der spätere Landgerichtspräsident Ernst Weigand als Referendar annahm, betraf einen Reifungsprozeß gegen ein Hutgeschäft Ecke Hammerstraße/ Freiheitsplatz. Das Gebäude war jedoch derart zerstört, daß eine Räumung überhaupt nicht mehr angeordnet werden konnte. Gestritten wurde aber immer noch um die Kosten.

Der einzige Richter, der bis Kriegsende in Hanau geblieben war und danach wieder eingestellt wurde, war Landgerichtsrat Thomas, der den Alliierten den Vorschlag machte, Felix Lesser zum Präsidenten zu berufen. Es dürfte Lesser viel Improvisationstalent und Überredungskunst gekostet haben, die nach der Bombardierung am 19. März 1945 übriggebliebenen Umfassungsmauern des Landgerichts in den kommenden Jahren wieder in ein nutzbares Justizgebäude verwandeln zu lassen. Als der Wiederaufbau in einer Feierstunde am 10. Mai 1954 begangen wurde, war der Chef bereits 67 Jahre alt. Dennoch führte er die Behörde noch sechs Jahre weiter und bekleidete außerdem zeitweise das Amt des Präsidenten des Hessischen Staatsgerichtshofs. Lesser starb im April 1974 im Alter von 86 Jahren.

Auf seinen Wunsch hin wurde Dr. Gerhard Otto am 1. April 1960 zum Nachfolger bestimmt. Jahre 1908 im Herzen Sachsens geboren, promovierte Otto 1933 und wurde zehn Jahre später zum Landgerichtsrat in Liegnitz ernannt. Nach seiner Einberufung und Kriegsgefangenschaft verschlug es ihn nach Hessen, wo er 1946 in den Justizdienst übernommen wurde. In seine Amtszeit fiel die Auflösung der Amtsgerichte Bad Orb, Wächtersbach, Salmünster, Langenselbold und Steinheim, ferner die Erweiterung des Justizkomplexes im Bereich Fischerhüttenweg und die Übernahme des früheren Gemeindehauses der Wallonisch-Niederländischen Kirche. Im Kinzigtal gebe es mehr Amtsgerichte als Gastwirtschaften, hatte Stadtkommandant Turner dazu einmal spöttisch geäußert.

Von 1960 bis 1965 war Gerhard Otto Vorsitzender des Landesverbandes im Deutschen Richterbund. Darüber hinaus beherrschte er fließend mehrere Sprachen und Musikinstrumente, war literarisch bewandert und universell gebildet. Im  Jahre  1973 wurde er pensioniert. Er starb am 22. August 1989.

Wiederum auf Betreiben seines Vorgängers avancierte im Oktober 1973 mit Ernst Weigand, ein echter Hanauer Bub, zum neuen Landgerichtspräsidenten. Schon immer hatte den Sohn eines Lehrers an der Gebeschusschule der imposante Gerichtsbau beeindruckt. Und schon als 15-Jähriger faßte er den Beschluß, hier einmal tätig zu werden.  Nach dem Abitur an der Hohen Landesschule nahm Weigand 1937 sein Jurastudium auf, wurde allerdings bereits mit Kriegsbeginn eingezogen und noch im gleichen Jahr schwer verwundet. Während eines Fronturlaubs legte er 1941 die Erste Staatsprüfung ab. Nach der Befreiung geriet er in amerikanische Gefangenschaft, durfte aber noch im Jahr 1945 nach Hanau zurückkehren. Zwei Jahre später, nach dem Zweiten Staatsexamen, wurde er hier zum Richter ernannt. Zwischenzeitlich ans Oberlandesgericht Frankfurt abgeordnet, kehrte er 1963 in seine Heimat zurück.

Er war in den folgenden Jahren  an einer Reihe spektakulärer Strafprozesse als Mitglied und Vorsitzender der Schwurkammer beteiligt.

Immer aber war es dem heute 83-Jährigen ein Anliegen, Frieden zu stiften und die Justiz als demokratisches Element zu fördern. Wobei er zugesteht, daß gerade in seinem Berufsstand in der Nachkriegszeit aus falsch verstandenem Korpsgeist zahlreiche Fehler in der Aufarbeitung der Vergangenheit gemacht wurden. „Das hätte energischer bereinigt werden müssen“, sagt Weigand.

Gleichwohl, seinen Werdegang hat er nie bereut: Es ist ein erstrebenswerter Beruf, den ich wieder ergreifen würde. Aber es ist auch ein schwerer Beruf. „Es gibt keine schlimmere Belastung als das Gefühl, jemandem Unrecht getan zu haben.“ Vielleicht war es diese Belastung, die Weigand in seinem Privatleben trieb, sich zum Ausgleich in vielfältiger Weise karitativ, ob als Kirchenvorstand oder in der Martin-Luther-Stiftung zu engagieren, wo er bereits seit 1954 dem Vorstand angehört.

Beruflich befand sich der Landgerichtspräsident in einer Zwitterrolle, einerseits als Behördenleiter, andererseits als Vorsitzender der Berufungskammer. In seine Amtszeit fielen beispielsweise die Einführung des Familiengerichts bei den Amtsgerichten und mehrere organisatorische Veränderungen. Am 31. Dezember 1983, einen Tag nach seinem 65. Geburtstag, wurde Ernst Weigand in den Ruhestand versetzt.

 

„Katharina-Belgica-Straße“ (westlich der Nußallee):

Zur Erinnerung an die geistvolle und weitblickende Gemahlin des Grafen Philipp Ludwig II. (Gründer der Neustadt). Katharina Belgica (richtiger: Belgia) war die Tochter Wilhelms von Oranien.

 

Postcarré:                                                                                                    

So heißt das neue Einkaufszentrum zwischen Westbahnhof und ehemaliger Hauptpost am Beginn der Römerstraße. Am ersten Adventswochenende 2010 begrüßte das Postcarré die ersten größeren Besucherströme. In gut einem Jahr ist Hanaus neuer Einkaufsmagnet entstanden. Investor auf dem einstigen Schlachthofgelände am Westbahnhof ist die Hanseatische Betreuungs- und Beteiligungsgesellschaft (HBB). Wo es einst Rindern und Schweinen an die Gurgel ging, bestimmen heute ein nierenförmiger Bau und warme Orangetöne das Bild. Lange Zeit hatte das Gelände ein Schattendasein gefristet. Nachdem im Jahr 2004 auch die Zwischennutzung als Veranstaltungshalle für junge Leute beendet war, stand es gänzlich leer. Viele Jahre boten die Altbauten einen häßlichen Anblick und dies an exponierter Innenstadtlage. Schließlich kristallisierte sich die HBB  als Investor heraus. 40 Millionen Euro nahmen die Lübecker in die Hand,  um hier in verkehrsgünstiger Innenstadt-Randlage auf mehr als 20.000 Quadratmetern „Flächenrecycling“ im besten Sinne umzusetzen.

Nach dem Grundstückserwerb des Schlachthofs und weiteren Zukäufen (unter anderem Haupt­post und Marmor-Zimmermann) dauerte es bis Ende 2008, bis die Schlachthofmauern geschleift wurden. Viel Lärm und Dreck mußten die Anlieger seitdem hinnehmen. Die dichte Bebauung zwischen dem Postgebäude und angrenzenden Wohnhäusern und die unter Denkmalschutz stehende einstige Brackerhalle erwiesen sich als Herausforderung für die Architekten.

Um schließlich das Eintrittsportal am westlichen Rand der City aufzuwerten, entschied sich die Stadt, den Kanaltorplatz neu zu gestalten. Rund 1,1 Millionen Euro flossen in dieses Projekt.

Das Konzept kommt in erster. Linie der Nahversorgung zugute und erwies sich für die Vermieter als gelungen.

Schon beim Richtfest im Juni konnte sich HBB-Chef Harald Ortner darüber freuen, daß von den mehr als 16 500 Quadratmetern Nutzfläche nur noch ein winziger Happen von 125 Quadratmetern zu haben war. Und dafür gab es seinerzeit drei Bewerber. Mittlerweile war auch diese Fläche vermiete.

Beim Richtfest sang man ein Loblied auf den Standort und den Angebotsmix, auch mit Blick auf die nordmainische S-Bahn, die ab dem Jahr 2016 (wie man damals meinte) mit dem Haltepunkt Westbahnhof. Als sogenannte „Ankermieter“, die bald die Regale der Großflächen des Postcarres füllen werden, wurden ein Aldi-Markt auf dem früheren Zimmermann-Gelände und eine zur Lidl-Gruppe gehörende Kaufland-Filiale gewonnen. Weitere Mieter des Ensembles sind der Drogerie­fachmarkt Rossmann, ein Biomarkt, diverse Restaurants und Cafés, eine Metzgerei. eine Bäckerei, ein Sonnenstudio, ein Blumengeschäft und eine Sparkassenfiliale. Die Brackerhalle wird sich als Einkaufspassage darstellen.

Weiter in der Akquise ist man bei der Vermietung des Hauptgebäudes. Die oberen Geschosse werden für Büronutzungen angeboten. Auf den Bau der ursprünglich geplanten Wohnungen im Postcarré sei in Laufe der Planung verzichtet worden. Erschlossen wird Hanaus neues Einkaufszentrum über die Straße „Am Steinheimer Tor“. Wie dieser Punkt die Verkehrsströme verkraftet, wird sich ab dem Eröffnungstag am Donnerstag, 25. November, zeigen. Insgesamt stehen auf dem Postcarré gut 420 Parkplätze zu Verfügung, 240 davon in einem zweigeschossigen Parkdeck, 180 ebenerdig. Hinzu kommen die Abstellplätze der Discounter (25.10.10).

 

 

Kinzdorf:

Am Kanaltorplatz steht ein Modell alter Wasseranlagen. Unter dem Westbahnhof hindurch kommt man in die Philippsruher Allee. Der Stadtteil links heißt „Kinzdorf“ und war eine Keimzelle der Stadt. Das Kinzdorf lag im oberen Winkel zwischen dem Main und einem alten Kinzig­arm, der später zum Mainkanal ausgebaut wurde. Hier stand nämlich die alte Marienkirche, eine Missionskirche für die ganze Gegend. Urkundlich tritt der Name Kinzdorf in den Jahren 1338, 1353 und 1364 auf.

Es wird angenommen, daß das Kinzdorf im Jahre 1504 durch hessische Kriegshorden verwüstet wurde. Der verbleibende Rest ist infolge großer Überschwemmungen in den Jahren 1564 und 1590 vernichtet worden. Von dem Kinzdorf selbst stand um 1600 nur noch die alte Pfarrkirche, die auf der Ansicht der Stadt Hanau von Dilich vor den Wällen der Neustadt noch zu erkennen ist (siehe Abbildung in: Hanau Stadt und Land, Seite 126).

Wie die Entstehungsgeschichte des Kinzdorfes ungewiß und geheimnisvoll ist, so auch das Werden der Kinzdorfkirche. Sie soll schon vor der Wirkungszeit des Bonifatius bestanden haben und so eine der ersten Gründungen christlicher Prägung in unserer Heimat gewesen sein. Die Kirche war der hl. Maria geweiht. Sie barg ein Marienbild, dem man Wunderkraft beimaß. Das Marienbild befindet sich heute in der Kirche von Groß-Steinheim.

Das Kinzdorfer Kirchlein war jahrhundertelang die Hauptkirche für die später entstandene Stadt Hanau, und die Marien-Magdalenenkirche in der Altstadt Hanau galt als eine Tochterkirche der Kinzdorfer Kirche. Jahrhunderte hindurch wurden hier die Kinder der Stadt Hanau getauft.  In unmittelbarer Nähe der Kirche war auch der Friedhof. Er erstreckte sich bis dahin, wo sich heute der Eisenbahndamm hinzieht. Ursprünglich beerdigten die Altstädter und die Neustädter ihre Toten hier. Die nahe Lage der älteren Kinzdorfkirche mit ihrem Kirchhof ersparte den Bürgern bei der Gründung der Stadt die Anlage eines Friedhofes um die Pfarrkirche.

Allmählich sank die Bedeutung der Kinzdorfer Kirche immer mehr. Die Kirche diente nur noch zur Abhaltung von Leichenfeiern. Bei einer Erweiterung der Neu-Hanauer Festungswerke im Jahre 1633 wurde die Kinzdorfer Kirche abgebrochen, da man auf dem Kirchenhügel eine Schanze errichten wollte. So wurde denn auch der Friedhof der Altstädter nach Hanau verlegt. An das Kinzdorf erinnern heute nur noch einige Flurnamen: „Im Kinzdorfer Grund“, „Am Kinzdorfer Grund“ und „Der Kinzdorfer Weg“.

 

Mainkanal

Man hat schon früh versucht, die wichtige natürliche Wasserstraße, den Main, durch den bis in die Stadt hineinführenden Kanal für den Handelsverkehr nutzbar zu machen. Es ist anzunehmen, daß der Mainkanal aus einem toten Kinzigarm gestaltet wurde. Man wollte mit seinem Bau den Güterverkehr der Stadt auf direktem Wasserwege ermöglichen. Außerdem sollte er als Abflußkanal für den Wallgraben dienen. Der Kanal wurde unter dem überwölbten Wall hindurchgeführt. Vor dem „Heumarkt“ sollte er in einem Hafen mit Ladeplatz enden. So war es geplant. Die Ausführung kostete viel Geld, ohne daß der Zweck jemals recht erfüllt wurde. Die Bauzeit dauerte von 1600 bis 1619.

Im Dreißigjährigen Krieg verwandelte sich der mit so vielen Kosten und Mühen angelegte Bin­nen­hafen in ein „wüstes ungesundes Loch“, die „Stincke-Kauth“. Bereits 1666 schüttete man den Hafen zu und bebaute das Gelände mit Wohnhäusern. Das verbleibende Stück des Kanals wurde 1833/34 um ein weiteres Stück gekürzt und diente dann nur als Winterhafen.

Der Zufluß des Hafenbeckens, der Stichkanal, blieb über die Zeiten hinweg erhalten. Als breiter Wasserarm führte der „Mainkanal“ bis in unsere Tage vom Westbahnhof zum Main und diente dabei zugleich als Abfluß des Stadtgrabens, der ja als letzter Rest der alten Stadtbefestigung noch einen geringen Teil der Stadt umfließt.

Vor dem Bau des neuen Mainhafens diente der Mainkanal als Zufluchtsort für Schiffe im Winter und bei Hochwasser. Auch die „Strandbäder“ des Mainufers stellten hier ihr „Mobiliar“, die Schwimmtanks, unter, und die Angler saßen stundenlang am Ufer. Eine herrliche Allee, die einstmals gepflegt und mit Bänken versehen war, begleitete den Kanal. In unseren Tagen ist der letzte Rest des Mainkanals zugeschüttet worden, und nur die Straßenbezeichnung „Am Mainkanal“ wird die Erinnerung wachhalten.

Bei den Aussehachtungsarbeiten zum Wiederaufbau des Gebäudes „Zur schwedischen Krone“, zuletzt „Rheinischer Hof“ genannt, im Jahre 1954 kam man auf die Sohle des alten Hafenbeckens. Einige interessante Fundstücke konnten vom Hanauer Geschichtsverein sichergestellt werden.   

Bilder in: Hanau Stadt und Land, Seite 369 und 370: Mainkanal und Zollamt in Hanau vor 1945 (das Zollamt, 1830 errichtet, 1945 zerstört). Das Hanauer Marktschiff auf der Fahrt nach Frankfurt (Ausschnitt aus einem Aquarell des Schlosses Philippsruhe, um 1810).

 

Das Hanauer Marktschiff:

König Albrechts Stadtrechtsprivileg des Jahres 1303 hatte Hanau für jeden Mittwoch einen geschützten Wochenmarkt genehmigt, und im Jahr 1468 bewilligte Kaiser Friedrich III. dem Hanauer Grafen zwei Jahrmärkte, einen für Sonntag Misericordias Domini nach Ostern und den anderen im Herbst für den Sonntag nach St. Martin. An diesen beiden, wir würden heute sagen „verkaufsoffenen“ Sonntagen und an den wöchentlichen Markttagen gab es in unserer Stadt ein lebhaftes Handeln, Kaufen und Verkaufen, freilich in einem kleinen regionalen Rahmen.

Dies änderte sich Ende des 16. Jahrhunderts mit der Gründung der Neustadt. Graf Philipp Ludwig II. siedelte Glaubensflüchtlinge aus den Spanischen Niederlanden an, emsige, geschäftstüchtige Leute, welche die Grundlagen für ein blühendes produzierendes Gewerbe schaffen sollten. Der Graf setzte auf Wirtschaftswachstum. Dazu gehörte damals wie heute ein leistungsfähiges Bankwesen, deshalb folgte im Dezember 1600 die Privilegierung der Judengemeinde. Aber produzierendes Gewerbe und Bankwesen reichten als Standortfaktoren nicht aus, wenn es an Verkehrsverbindungen zu den Abnehmern der produzierten  Güter fehlte. Damals waren Flüsse und Kanäle die günstigsten Verkehrswege, um Waren in größerer Menge zu transportieren.

Aus diesem Grund hatten sich die Neustädter in § 16 der Gründungsurkunde vom 1. Juni 1597 ausbedungen: „Item das ein oder zwey ordinari Schiff, so täglichs oder zum wenigsten zwey oder dreymhal inn der Wochen auff- und ab naher Franckfurth fahren angestellt und gegen die gebür gehallten werdenn.“ Die Neubürger erhoben den Anspruch, daß Hanau über ein fahrplanmäßig und verläßlich verkehrendes Transportmittel zum benachbarten Handelszentrum Frankfurt verfügen müsse.

Ernst Julius Zimmermann, der auch heute noch als der beste Kenner der älteren Hanauer Geschichte gelten darf, hat vermutet, daß die Fahrten des Marktschiffs im Jahr 1600 begannen. Dabei ging es nicht ohne Streit ab. Der Erzbischof und Kurfürst von Mainz sah die Mainschiffahrt als eigenes Privileg an, und so kam es zu Diskussionen, zu geharnischten Schriftwechseln und schließlich auch zu Überfällen seitens der Mainzer. Es folgten die Wirren des Dreißigjährigen Krieges mit all ihren Negativfolgen für Handel und Wandel, und gerade in dieser Zeit war die Fahrt mit dem Marktschiff von Hanau nach Frankfurt und zurück bisweilen ein wirklich gefährliches Abenteuer.

Im Lauf der Zeit etablierte sich das Marktschiff als eine in der Tat zuverlässige fahrplanmäßige Verkehrsverbindung für Menschen und Güter zwischen Hanau und Frankfurt. Allerdings - eine solche Hin- und Rückfahrt war jeweils eine Tagesreise. Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts ging das wohl an, doch dann änderte sich alles: Dampfschiffe, noch von Pferden gezogene Omnibusse, Eilwagen und schließlich die Eisenbahn waren Konkurrenten, gegen die ich das zwar zuverlässige, aber jetzt zu langsame Marktschiff nicht auf Dauer behaupten konnte.

Im November 1847 machte Georg Christian Bein seine letzte Fahrt als Hanauer Marktschiffer, und ab September 1848 ersetzt die dem Main folgende kurhessische Hanau-Frankfurter Eisenbahn die alte Marktschifflinie. Nach dem Beginn der Dampfschiffahrt Anfang der vierziger Jahre markierte die Eröffnung dieser Eisenbahnlinie für das Verkehrswesen unseres Raums den Anfang des industriellen Zeitalters.

Im Sommer 1897 feierte Hanau das 300. Gründungsjubiläum der Neustadt, und eine Attraktion im Festzug war ein Schiff, das der Kaufmännische Verein hatte bauen lassen. Es war eine Erinnerung an das alte Hanauer Marktschiff. Von Pferden gezogen, die Zugleine oben am Mast befestigt, erinnerte es das zahlreiche Publikum an die Zeit der vorindustriellen Schiffahrt.

 

Philippsruher Allee:

In der Philippsruher Allee stehen der Wasserturm von 1890, das Olof-Palme-Haus und die Friedenskirche, im Ortskern die Reinhardskirche  (siehe Datei „Kesselstadt“). und das Gasthaus „Zum Schwan“ (Bild in: Hanau Stadt und Land, Seite 125). Außerdem gibt es an der Philippsruher Allee die Gasthäuser „Zum Schiff“ und „Zum Anker“.

 

Neues Beratungs-Center der Sparkasse Hanau:

Die Sparkasse Hanau hat in der Philippsruher Allee ihr repräsentatives neues Kommunikations- und Beratungs-Center offiziell eröffnet. Dabei schilderte der Fuldaer Architekt Stefan Wehner, wie „runtergewirtschaftet“ das ehemalige Volkshochschul-Gebäude gewesen sei. Die Gründerzeit-Villa beherbergte bis zum Sommer 1999 die Volkshochschule. Die Stadt wollte das Haus anschließend verkaufen. Aber alle Käufer brachten nach Angaben von Sparkassenvorstandschef Alfred Merz nicht genug Geld auf, woraufhin die Immobilie stets zurück in die Nutzung der Stadt ging.

Ende 2000 kaufte die Sparkasse das historische Gebäude auf dem städtischen Erbbau- Grundstück, weil ihr im Hauptgebäude am Marktplatz der Platz für exklusive Beratung vermögender Kunden fehlte. Für Kauf und Sanierung gab sie rund 2,5 Millionen Euro aus. „den Aufwand kann sich nur ein gesundes Unternehmen leisten“ bilanzierte Merz jetzt im Rückblick.

Trockenbau statt irgendwann einmal herausgerissener Originalmauern, eine nicht brauchbare kleinteilige Raumeinteilung, einen ernerungsbedürftigen Eingang, veraltete Elektroleitungen, teils zugewachsene Abwasserrohre, Wurzeln im Mauerwerk - so beschrieben Merz und Architekt Wehner den Zustand vor dem Umbau. Beim ersten Betreten des Gebäudes, das nach außen so repräsentativ wirke, habe er eine große Enttäuschung erlebt, beschrieb Wehner seine Gefühle über den damaligen relativ schlechten Zustand.

Der Architekt Merz, Vertreter des Architekturbüros Reith & Wehner, war empfohlen durch den Um- und Neubau der Sparkassen-Hauptstelle im historischen Ensemble des Fuldaer Buttermarktes, baute ein neues Treppenhaus, größere Räume und zwei Eingänge. Denn neben der Sparkasse residiert im ersten Stock eine Steuerberater-Gesellschaft.

Die äußerlich markanteste Bauänderung ist von der Philippsruher Allee aus nicht zu sehen: ein angebauter rot-brauner Kubus mit mehreren großen Einzelfenstern zum Hinterhof. Diesen Neubau empfindet Wehner als eigenständig, ohne die Schlüssigkeit des Altbaus zu stören. Das Vordach über dem gläsernen Haupteingang interpretiert er als fast „schwebend“ die Innenansicht des Sparkassen-Centers mit Parkett, weißen Wänden und einigen Kunstwerken beschreibt er mit „zurückhaltender Eleganz“

Die Sparkasse will in ihrem schon seit Mitte April in Betrieb befindlichen Center Kunden auch abends und samstags beraten. Sie plant Vorträge, Workshops und Podiumsdiskussionen zum Thema Geldanlagen. Merz will ein „Forum für den Gedankenaustausch“ bieten.

Das gesamte Gebäude hat rund 1000 Quadratmeter Bürofläche. Die Sparkasse belegt das Erd- und das Dachgeschoß. Ganz oben sind die Räume internen, administrativen Aufgaben der Sparkasse vorbehalten. Die Sparkasse hat zwölf Beschäftigte an der Philippsruher Allee, das Steuerberatungsbüro ebenso viele. Dank der Sparkasse bleibt der „Jazzkeller“ im Haus erhalten. Ihn will die Sparkasse für die eine oder andere kurzweilige Veranstaltung gewinnen.

 

Weitere Straßen im Westen:

  • Durch die 1772 angelegte Kastanienallee sollte ein direkte Fahr- und Blickverbindung vom Schloß Philippsruhe zur Fasanerie geschaffen werden. Sie führte direkt zum Fasaneriemittelpunkt, einem „Stern“. Von ihm gehen elf Alleen aus, von denen einige wie die Kastanienallee die Fasaneriegrenzen überspringen, um Blickkontakte zu markanten Punkten zu schaffen.
  • Bei der Gestaltung des Beethovenplatzes haben die Architekten Deines und Clormann ganz bewußt den historischen Blickkontakt zwischen Schloß Philippsruhe und der Fasanerie im Auge behalten. Doch bis zum Eingang der Fasanerie hat man keine Kastanien nachgepflanzt, sondern Eschen. Der heutige Lärmschutzwall unterbricht natürlich die ursprüngliche Sichtachse. Die Wohngebäude erinnern an die mit dem Namen des damaligen Oberbürgermeisters Kurt Blaum verbundene Baupolitik der zwanziger Jahre Die Wohnanlagen wurden 1927 von Oberbürgermeister Blaum eingeweiht, deshalb hieß der runde Platz im Volksmund auch „Zirkus Blaum“. Der Schwanenbrunnen in der Mitte des Platzes wurde 1976 vom Kanaltorplatz hierher gebracht.
  • Rechts geht es in die Gustav-Hoch-Straße und zum „Musikerviertel“. Dieses wurde so genannt wegen der Straßennamen,  darunter die Hindemith-Straße, genannt nach Paul Hindemith, der in Hanau geboren wurde.
  • Über die Kinzig führte zunächst die hölzerne Kinzigbrücke. Als diese durch ein Hochwasser zerstört worden war, wurde sie in den Jahren 1556 bis1559 neu in Stein erbaut und mit 1615 einem Torturm versehen. Dieser Torturm stand auf dem zweiten Brückenpfeiler und wurde „Margarethenturm“ genannt. Im Jahre 1829 wurde er abgebrochen (Bild in: Hanau Stadt und Land, Seite 99). An der Kinzigbrücke befindet sich auf der südöstlichen Seite ein Gedenkstein für General Wrede, der sich 1813 dem auf dem Rückzug befindlichen Napoleon entgegenstellte und im Kampf fiel.

 

Hohe Tanne (siehe auch Wachenbuchen)

Demnächst wird in Hanau eine Kirche abgerissen, von der wohl die wenigsten Bürger wissen, daß sie jemals gebaut wurde, und wo sie zu finden ist: Ab dem 15. Oktober 2007 rücken in der Hohen Tanne am Wilhelmsbader Ring die Bagger an und dem evangelischen Gemeindezentrum mit der dazugehörigen Kirche zu Leibe. Dort wird ein Investor aus Franken zwei Einfamilienhäuser errichten. Über den Kaufpreis wollte Claudia Brinkmann-Weiß, Dekanin des evangelischen Kirchenkreises Hanau-Stadt, keine Angaben machen.

Nur so viel: Die Einnahmen durch den Verkauf fließen in die Baurücklage des Gesamtverbandes evangelisch-unierter Kirchengemeinden Hanaus, zu dem neben der Marienkirchengemeinde, der Kreuzkirchengemeinde und der Christuskirchengemeinde auch die Johanneskirchengemeinde gehört.  Durch diese Rücklage soll der hohe und zum Teil alte Gebäudebestand der Gemeinden des Gesamtverbandes erhalten werden. Ein Teil der Gelder kommt zum Beispiel der gerade begonnenen Sanierung des Kirchturmes der Johanneskirche, die hauptsächlich von der Landeskirche getragen wird, zugute. Nach einem zweijährigen Diskussionsprozeß schloß sich der Kirchenvorstand deshalb dem Vorschlag der Evangelischen Landeskirche Kurhessen-Waldeck an, das komplette Gemeindezentrum zu verkaufen und abreißen zu lassen.

Die Johanneskirchengemeinde mit dem Einzugsgebiet Hanau-Nord, Hanau-Nordwest, Wilhelmsbad und Hohe Tanne hat das 1968 gebaute Gemeindezentrum mit einer Grundstücksgröße von zirka 1900 Quadratmetern im Jahre 1982 durch eine vertragliche Übernahme von der evangelischen Gemeinde Wachenbuchen erhalten, nachdem das Nobelwohngebiet der Hohen Tanne durch die Gebietsreform bereits 1974 politisch an Hanau angegliedert wurde.

Von den heutigen 3200 Gemeindemitgliedern der Johanneskirchengemeinde leben zirka 190 im Bereich Hohe Tanne. Die Gemeindearbeit mit Jugendgruppen und Kreisen für Erwachsene belebte für einige Zeit das neue Zentrum, ebenso wie die monatlichen Frühgottesdienste. Die beiden anderen Gemeindehäuser der Gemeinde - das Karl-Fuchs-Haus (Richard-Wagner-Straße 3) und das Martin-Luther-Haus (Körnerstraße 19) - haben aber schon zu diesem Zeitpunkt den Bedarf nach Gemeinderäumlichkeiten gut abgedeckt. Um die laufenden Kosten wenigstens zum Teil decken zu können, entschied sich der Kirchenvorstand, das Gemeindezentrum an die Ökumenische Telefonseelsorge zu vermieten, die vor eineinhalb Jahren in neue Räumlichkeiten umzog.

Der monatliche Frühgottesdienst konnte nach der starken Verringerung der Pfarrstellen von zwei­einhalb auf eineinviertel Stellen ab 1999 nicht mehr aufrecht erhalten werden, gemeindliches Leben fand ab diesem Zeitpunkt im Gemeindezentrum nicht mehr statt. Zuvor hatten sich maximal acht Gläubige zum Gottesdienst in dem rund 200 Menschen fassenden Gotteshaus eingefunden,

Der Kirchenvorstand hat sich um neue Nutzungsmöglichkeiten bemüht. Verschiedene Vermietungs- und Verkaufsanfragen standen zur Diskussion, die auch den angelaufenen Neustrukturierungsprozess der Hanauer Innenstadtgemeinden mit einbezog. Es konnte allerdings keine andere christliche Kirche gefunden werden, welche neben den Kaufkosten die hohen Investitionsmittel für Sanierung, Isolierung sowie eine neue Heizung aufbringen konnte.

Nach schwierigen Verhandlungen wurde schließlich ein privater Investor gefunden, der den Abriß - so die Bedingung der Kirchengemeinde - übernimmt und eine Bebauung gemäß dem Bebauungsplan in der Hohen Tanne vornimmt

Die liturgischen Gegenstände wie der Altar, die Kanzel und das Taufbecken werden jetzt im Karl-Fuchs-Haus neu genutzt. Die Glocken und der vergoldete Hahn der Turmspitze wurden der evangelischen Kirche am Limes geschenkt. Diese plant schon seit langem den Bau eines eigenen Turmes für das Gemeindezentrum in Großkrotzenburg (06.10.2007).

 

 

Mittelbuchen

 

Lage:

Mittelbuchen liegt 105‑110 Meter über N.N. Die Gemarkung umfaßt 946 Hektar (davon 225 Hektar Gemeindewald) und grenzt im Norden an Roßdorf, im Osten an Bruchköbel, im Süden an Ha­nau und im Westen an Wachenbuchen. Westlich von Mittel­buchen zieht sich die Hohe Straße (Schäferküppel), nach Nord­osten führend, hin.

 

Bodenfunde:

Jungsteinzeit: Siedlungen der bandkeramischen Kul­tur an der Straße nach Kilianstädten westlich und nordwest­lich des Ortes an der Stelle der ehemaligen Ziegelei und am „Wiesborn“, ein Kilometer nordwestlich des Ortes (Bild: Michelsberger Kultur Seite 46).

Ältere Eisenzeit: Hügelgräber im Tannenwald „Dreispitze“.

 

Bandkeramische Siedlung:

In dem Mittelbuchener Boden finden sich Hinweise und Fundstücke aus zahlreichen Epochen der menschlichen Siedlungsge­schichte. Rund 86. 000 Quadratmeter beträgt die Fläche, auf der im Laufe des Jahres 2006 überwiegend einzelnstehende Einfamilienhäuser entstehen werden. Die Kosten für die archäologische Untersu­chung - mit einem geschätzten Kostenvo­lumen von rund 50. 000 bis 100.000 Euro - werden auf die Grundstückspreise umge­legt.

Der Fundplatz im Bereich zwischen dem Simmichborn, der Kilian­städter Straße und der Planstraße bzw. dem Weg „Hinter dem Hain“ am nordwestlichen Rand des Ortskerns von Mittelbuchen wurde aufgrund von Oberflächenfunden entdeckt, weshalb die Arbeitsgemeinschaft Vor‑ und Frühgeschichte des Hanauer Ge­schichtsvereins eine kleine Testfläche öffnete. Als der gesamte an die Bebauung nach Westen anschließende Bereich als Baugelände ausgewiesen wurde, fand 1992 und 1993 mit Mitteln der Stadt Hanau, der Baugrundbesitzer und der Denk­malpflege eine Ausgra­bung des Seminars für Vor‑ und Frühgeschichte der Universität Frankfurt statt.

Die Bodenerhaltung auf dem Fundplatz ist sehr unterschiedlich. Im oberen Hangbereich befindet sich unter dem Pflughorizont ein 40 ‑ 50 Zentimeter mächtiges Schwemmland (Kollu­vium), unter dem sich ein bis zu 20 Zentimeter mächtiger Rest des B‑Horizonts erhalten hat. An der Hangschulter fehlen das Kolluvium und der B‑Horizont, so daß unter dem Pflughorizont unmittelbar der C‑ Horizont ansteht. Im unteren Hangbereich, wo heute das Gefälle bereits wesentlich abnimmt, ist wieder ein B‑Horizont mit zunehmend kolluvialer Überdeckung ausgeprägt.

Die ältesten menschlichen Hinterlassenschaften liegen aus der Zeit der ältesten Bandkeramik vor. Damals, um etwa 5500 vCh, begann man hierzulande mit Ackerbau und Viehzucht. Aus dieser Zeit stammen in Mittelbuchen drei Häuser, die somit zu den älte­sten in unserem Raum gehören. Sie werden durch die Funde aus zugehörigen Längsgruben und anderen Befunden genauer zu datie­ren sein. Zwei von diesen Häusern konnten in ihrer Gesamtausdeh­nung vollständig erfaßt werden. Sie sind mit den Bauten von Friedberg‑Bruchenbrücken und Frankfurt‑Niedereschbach zu ver­gleichen.

Eine deutlich größere Anzahl von Befunden stammt aus der späte­ren Bandkeramik etwa der Phasen IV‑V nach Meler‑Arendt. Ein frag1icher Hausgrundriß ist wegen einer Überschneidung sicher nicht mit einer Grabenanlage gleichzeitig. Dieser Spitzgraben wur­de in der Grabung auf einer Strecke von etwa 40 Meter erfaßt und ist mit drei Meter Tiefe bei vier Meter Breite gut erhalten. Durch zusätzliche Magnetometermessungen ist sein Verlauf heute auf 160 Meter Länge bis zur Kilianstädter Straße bekannt. Außer einem Durchlaß zeigte sich, daß er aufgrund seiner geringen Krümmung zu den ganz großen Anlagen von sicher über 200 Meter Durchmesser gehört.

Meh­rere vermutlich gleichzeitige Gruben enthielten große Mengen Rotlehm. Bei einer von ihnen handelt es sich am wahrscheinlich­sten um den geringfügig umgelagerten verziegelten oberen Teil einer zylinderförmigen Grube. Vielleicht gelingt es, mit Hilfe der gleichzeitigen, gut erhaltenen Befunde mit zahlreichen Fundstüc­ken die Funktion dieser immer noch rätselhaften Grabenanlagen, die zu den großen Gemeinschaftsarbeiten der Jungsteinzeit gehö­ren, besser zu verstehen. Gleichzeitige Häuser fehlen jedenfalls in der bisher ausgegrabenen Fläche von über 5000 Quadratmeter.

Zu den Funden gehören sehr gut erhaltene, verkohlte Pflanzenre­ste, wie einige bereits geschlämmte Proben zeigen. A. Kreuz von der Kommission für archäologische Landesforschung Hessen (KAL) bestimmte Em­mer, Einkorn, Gerste und Erbsen. Von besonderer Bedeutung könnten Funde von Dinkel in einer der Gruben der späteren Band­keramik sein. Möglicherweise gehören sie zu den ältesten Belegen dieser Kulturpflanze in unserem Raum.

Zwei größere Befunde sind in die Latènezeit zu datieren. Einer von ihnen ist wohl als Grubenhaus zu deuten, weil er einen rechteckigen Grundriß, einen flachen Boden und einen Pfosten an einer Schmal­seite besitzt. Ihre Zeitstellung ist durch vier Fibeln vom Spätlatène­-Schema, darunter eine Nauheimer Fibel, sowie einen blau‑gelben Glasarmring gut zu bestimmen. Große Befunde und besonders die mit viel Rotlehm oder Metallfunden zeichnen sich trotz der mächti­gen kolluvialen Überlagerung gut in den Magnetometermessun­gen ab, die von der KAL vor der Ausgrabung in einem südlichen Teil der später aufgedeckten Fläche durchgeführt wurden.

Pingsdorfer Keramik oder Nachahmungen stammen aus einer Rei­he von hellgrau verfüllten zylinderförmigen Gruben aus der dem Ort nächstgelegenen Grabungsfläche und können vorläufig grob in den Zeitraum zwischen der Mitte des 9. und das frühe 13. Jahrhun­dert eingeordnet werden.

 

Eisenzeitliche Siedlung:

Bei der gleichen Grabung stieß man auch auf Funde aus der Eisenzeit des sechs­ten und siebten Jahrhunderts vor Christus. Diese waren aus wissen­schaftlicher Sicht eine kleine Sensation. . Hier kann end­lich gezeigt werden, wie die normalen Menschen dieser Zeit gelebt haben. Denn bislang sind aus dieser Zeit hauptsächlich Gräber entdeckt worden, darunter prachtvolle Herr­schergräber, beispielsweise die Ruhestätte des Kelten­fürsten vom Glauberg. Aber das waren meist Protzobjek­te, die nichts mit den norma­len Lebensverhältnissen der Menschen zu tun hatten. Entdeckt haben die Archäologen im künfti­gen Neubaugebiet Pfostenstellungen und Vorratsgruben, die den Experten Einbli­cke in die früheren Lebensgewohnheiten der Eisenzeit-Menschen geben können. Derartige Siedlungsstellen liefern eine Fülle von Informationen über den einsti­gen Alltag.

Erstaunt waren die Ausgräber über die üppigen Dimensionen der Vor­ratsgruben, die die einst hier lebenden Menschen anlegten. Bis zu zwei Meter tief mit einer 2,40 Meter messenden Aushöhlung betrugen diese ersten „Vorratskeller“ der Menschheitsgeschichte. Experimentalarchäologen haben sogar herausgefunden, daß sich diese Vorratsgruben auch für Lagerung von Getreide eigneten. Dabei wurden die Gruben bis zum Rand mit Getreide gefüllt. Die äußeren Schichten reagierten mit der Feuchtigkeit und keimten auf. Dabei verbrauchten sie Sauerstoff. Daher wurde ein Teil des eingelagerten und konservierten. Getreides vor schädlichen Umwelteinflüssen geschützt, da dieses Getreide gewissermaßen über ein natürlichen Schutzschild in Form von Keimen verfügten.

Die Ausgräber fanden auch Spindeln zur Herstellung von Garnfäden aus grauer Vorzeit, einen Wetzsteine sowie eine Vielzahl von Gefäßscherben.

Im ausgegrabenen Bereich kamen zwei Wasserleitungen zutage. Eine verlief etwa Nordost‑ Südwest ungefähr in der Richtung des größten Gefälles. Sie bestand wohl aus Holzrohren, die in regelmä­ßigen Abständen von Eisenklammern zusammengehalten wurden. Die andere Wasserleitung aus hellgrauen Keramikrohren verläuft etwa Nordwest‑Südost und somit parallel zum Hang. Sie wird auch beschrieben als bestehend aus ineinander gesteckten Tonröhren, die in regelmäßigen Abständen in aus Sandstein gehauenen Sinkkästen münden.

 

Diese Leitung war den Altertumsforschern schon bekannt (ebenso die Leitung von Wachenbuchen bis nach Hanau). Sie ist im Zeitraum von 1540 bis 1570 entstanden, vielleicht im Zusammenhang mit der Gründung der Neustadt Hanau im Jahr 1597 (bzw. von da an wurde sie besonders gebraucht). Bewunderung ernteten die frühen Bauingenieure für die perfekte Verlegung der Leitung und die paßgenaue Verarbeitung der in ineinander gesteckten Tonröhren.

Zwei parallel laufende Gräben werden bei der Belagerung Hanaus 1635‑1636 im Dreißigjährigen Krieg angelegt worden sein, da aus einem der Gräben eine Münze mit dem Prägedatum von 1633 stammt.

 

Römerzeit: Älterer Limes

Daß es in Mittelbuchen mindestens zwei römische Kleinkastelle gab, sieht man an den Spitzgrä­ben, die man  beim Bau einer neuen Siedlung im Osten Mittelbuchens (im Bereich des früheren Lützel­buchen) fand. Außer den in exakten Linien etwa einen Meter tief nachvollziehbaren Graben­wänden sind keine römerzeitlichen Reste mehr am Fundort zu sehen. Die Spitzgrä­ben könnten drei bis vier Meter tief gewe­sen sein.

Es wurden über 210 Meter eines Spitzgrabens in Nord-Süd-Richtung festgestellt. Das Fundmaterial aus der Verfüllung (unter anderem ein Ziegelstempel der 22. Legion) datiert seine Aufgabe frühestens an den Beginn des 2. Jahrhundert nCh. Allerdings konnten an dem noch über zwei Meter tiefen Graben - der zusätzlich mit einer Grassoden-Mauer versehen war - keine Tore, Türme oder Lagerecken festgestellt werden.

Der etwa 8 Kilometer hinter der eigentlichen Limeslinie gelegene Fundplatz Mittelbuchen fügt sich gut in eine Kette älterer römischer Militärlager im Limeshinterland ein. Die Funde in Hanau‑Kesselstadt auf dem Salisberg (Badehaus) und im Helden­berger Neubaugebiet Allee Mitte Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre (Kas­telldorf) waren weitere Grundlagen für die­se These. Diese römischen Militäranlagen liegen nämlich exakt 5,5 Kilometer in nörd­licher und südlicher Richtung von den nun entdeckten Lagern in Mittelbuchen ent­fernt. Sollte diese ältere Grenzlinie zwischen Main und Wetterau (Oberflorstadt), die wohl um 110 nCh aufgegeben wurde, bereits einen durchgängigen Wall und Graben besessen haben?

Der Hanauer Archäologe Georg Wolff glaubte schon im ausgehenden 19. Jahrhundert, sie hätten zu einer älteren Limeslinie gehört, die von Hanau-Salisberg nach Oberflorstadt verlaufen sei. Auch der in Nidderau-Windecken angeschnittene Spitzgraben liegt auf dieser Linie

Es ist eine späte Genugtuung für Georg Wolff:  die Funde beweisen zweifelsfrei, daß der Experte vor 120 Jahren mit seiner Theorie Recht hatte. Es hatte zu Zeiten der Kaiser Domitian und Vespasian ei­ne weiter westlich liegende Verteidi­gungslinie gegeben und die Römer hat­ten erst später nach einem Kriegszug gegen die Chatten den Limes auf die Li­nie Großkrotzenburg‑ Rückingen‑Mar­köbel verschoben.

Hinter dieser Befestigungslinie, das heißt westlich des Grabens, fanden sich mindestens zwei Kleinkastelle, die jeweils mit einem doppelten Spitzgraben umwehrt waren. Von den beiden etwa 40 Meter mal 40 Meter großen Anlagen waren durch Erosionsschäden nur die Standspuren der hölzernen Torpfosten, eine Latrine sowie die Lagergräben erhalten. Wolff war davon ausgegangen, Reste eines römischen Guts­hofs entdeckt zu haben. Jetzt ist sicher, daß es sich bei den Fun­den um Reste des Lagerdorfs gehandelt ha­ben muß.

Man fand zunächst die Umfriedungsreste und Gräben von zwei Kleinkastel­len, die jeweils mit einem doppelten Spitzgraben umwehrt waren. Dem ältesten und mit einer Grundfläche von 40 auf 40 Meter kleinsten Fort für 80 Mann Be­satzung konnte eine Entstehungszeit zwi­schen 80 bis 90 nCh zugeordnet werden. Auch das zweite Kastell war etwa 40 Meter mal 40 Meter groß. Vielleicht gab es noch ein drittes Kastell, ein kleiner Teil eines Grabens und das Tor konnten lokalisiert werden.

Die in den Kastellen  gefundenen Objekte umfassen verschiedene Militaria wie Pilum- und Speerspitze und zwei Bronzeglocken. Die eiserne Ge­schoßspitze ei­nes Pfeilgeschützes läßt den Schluß zu, daß die Besatzung aus Legionären aus Mainz und nicht aus Hilfstruppen bestanden haben muß. Dazu kam ei­ne 74 nach Christus geprägte Bronzemünze des Vespasian, ein sogenanntes „As“. der  das Bild von Titus trägt. Dieser war zu diesem Zeit­punkt allerdings noch gar nicht Kaiser war: Sein Vater Vespasian, der damals auf dem römischen Thron saß, wollte damit be­reits Propaganda für seinen Sohn machen. Eine Kostbarkeit ist zudem der knöcherne Spielwürfel, mit dem sich die Soldaten die Zeit vertrieben haben. Auch lose Tierknochen haben die Archäologen gefunden; sie belegen das große Geschick der römischen Metzger ‑ im Gegensatz zu dem der Germanen.

Seltene Funde sind auch Teile von Glasgefäßen, in denen Parfüm aufbe­wahrt wurde. Besonders vielfältig sind die Keramik­funde, die Archäolo­gen fanden rund 3.000 Scherben von Gebrauchsgefäßen. Selbst ein so klei­ner und abseits vom Zentrum liegender Posten wurde mit Importware aus entfernten Ge­bieten beliefert. So fand man edles römisches Tafelgeschirr „Terra sigillata“, das in Südfrankreich hergestellt wurde und eine Datierung der Militäranlagen ins späte 1./ frühe 2. Jahrhundert nCh wird nahe­gelegt.  Jedes Stück wurde signiert, und so ist anhand einer Scherbe zu erfahren, daß Mittelbuchen Ware aus der Fertigung eines gewissen „Jucundus“ bezog. Ent­deckt wurden auch etliche Amphoren, in denen aus Spanien stammendes Olivenöl transportiert wurde, und eine antike Rei­be zum Zerkleinern von Käse oder Gewür­zen.

Als der Limes auf die Linie Großkrotzenburg ‑ Rückingen ‑ Marköbel vorverlegt wurde,

wurde ein erheblich größeres Lager erstellt, von dem die Aus­gräber bis­lang einen 210 Meter langen Gra­ben mit einer Mindesttiefe von 1,80 Meter entdeckt haben. Der Grabungsleiter geht davon aus, daß im Zuge der Feldzüge von Kaiser Domitian gegen die Chatten eine grundlegende Umstrukturierung der mili­tärischen Präsenz stattfand, denn das spä­tere Lager faßte mindestens 2.000 Mann Besatzung und besaß eine Badeanstalt, wie ein geprägter Ziegel verriet. Der gab auch preis, wer dort stationiert war: Die XXII. Legion, die 97 nCh vom Niederrhein nach Mainz verlegt worden war. Nach dem aktuel­lem Stand hat es zwischen 80 und 100 nCh mindestens vier verschiedene Truppen­lager auf dem Gelände gegeben. Man stieß nämlich auf ein weite­res römisches Weinkastell.

Mittelbuchen war 30 Jahre lang Grenze eines Reiches, das von Syrien und dem südlichen Spanien bis nach Britannien reichte. Die Römer legten ihre Kastelle nicht planlos an, sondern errichteten ein „wohl­durchdachtes, linear organisiertes Siche­rungssystem, das für einige Jahrzehnte ei­nen Grenzabschnitt des Imperium Roman­um sicherte“. Etwa um 110 nCh wurde das Kastell aufgegeben und die Gräben zuge­schüttet. Beim Verlassen des Lagers warfen die Sol­daten ihre Abfälle einfach in die Gräben.

Nach der Auswertung durch den Hanau­er Geschichtsverein sollen die Funde im Heimatmuseum Mittelbuchen zu sehen sein. Ein Modell des Römerkastells haben acht Ruhestands‑ Handwerker der Senioren-­Werkstatt Bruchköbel in mona­telanger Kleinarbeit für den Mittelbücher Heimat‑ und Ge­schichtsverein gebaut. Die Senioren haben 600 Arbeitsstunden in die mühsame Arbeit ge­steckt. Das Modell wurde mit dem da­maligen Grabungsleiter abgestimmt. Da selbst im Ausland keine maßstabsgetreu­en Figuren aufzutreiben waren, schnitzte einer der Senioren solche aus Lindenholz. Die Dächer der Kastellbauten sind abzu­nehmen, um auf diese Weise auch das In­nenleben nachvollziehen zu können. Das Modell soll künftig in dem Raum des Mittelbucher Heimatmuseums zu be­trachten sein, in dem die römische Zeit ab­gehandelt wird.

 

Römischer Brunnen:

Jenseits der nörd­lichen Gemarkungsgrenze auf Kilianstädter Gebiet liegt eine natürliche Quelle mit einem aus Basaltsteinen übermauertem Kellergewölbe. Aus ihr scheint eine der bei Mittelbuchen gefundenen Wasserleitungen gespeist worden zu sein.

Die Mittelbücher Bezeichnung ist „Alter Keller“ oder „Römerbrunnen“ oder „Heideborn“. Möglich ist, aber auch nicht bewiesen, daß mit Heiden vielleicht die Römer gemeint waren.

Der Name kann aber von ganz woanders her kommen: Der Begriff „Heide“ bezeichnet ein unbebautes, unfruchtbares Land, landwirtschaftlich nicht genutzte, mit Heidekraut und Buschwerk bewachsene Flächen. Ein Hinweis hierauf liefert die Flur „An der Sandkaute“.

In Kilianstädten heißt er der „Borntaler Keller“. So genannt nach dem Tal, welches sich von dort bis nach Mittelbuchen zieht. Im Volksmund nannten die Mittelbücher dieses Tal „Die sieben Gründe“, nach der entsprechenden Zahl der wohl dort ehemals vorhandenen Börnchen, welche im Laufe der Zeit versiegt sind oder überpflügt wurden.

Die Kilianstädter Geschichtsschreibung geht davon aus, daß dies schon in der Römerzeit geschehen sein kann. Wenn von diesem Brunnen eine Wasserleitung ins Tal ging, dann hätte sie der Versorgung des Kastells in Mittelbuchen gedient. Die Bezeichnung „Römerbrunnen“ könnte diese Quelle aber auch dadurch erhalten haben, weil sich in der Nähe eine „villa rustica“, also ein römischer Bauernhof, befunden hat, welcher wohl durch Wasserleitungen mit Quellwasser versorgt wurde.

In der Flur „Steinritsche“ (der Name ist heute nicht mehr gebräuchlich und nur noch bei den Alten in der Mundart bekannt) in der Feldlage „Die Hölle“ wurden bei im Jahr 1901 vorgenommenen Grabungen die Grundmauern einer römischen „villa rustica“ ausgegraben. Auch fand man einen zwei Meter breiten Pfad aus Basaltsteinen, die mit Mörtel verbunden waren und auf römischen Ursprung hinwiesen. Ebenso wurden gefunden zwei Abfallgruben mit Ziegel-, Glas- und Tonscherben, wohl aus der Mitte des zweiten christlichen Jahrhunderts

(nach Gimplinger: Mittelalterliche Flurnamen).

Man findet den Brunnen, wenn man knapp unterhalb der Höhe auf der Straße von Mittelbuchen nach Kilianstädten nach rechts abbiegt zu dem etwas verdeckt liegenden Reiterhof. Man geht rechts herum auf das Tor zu, dann dort links auf dem Weg weiter und nach der Pferdeweide rechts ab. Am Ende dieser Weide stehen rechts drei Ebereschen, dort befindet sich das Gewölbe.

Wann die Quelle mit dem Kellergewölbe überbaut wurde, ist nicht bekannt. Der Brunnen ist etwa zwei Meter lang und ziemlich ein­getieft und nach der Talseite zu mit einem gemauerten Bogen abgeschlossen.

 

Fränkische Zeit: Reihengräberfeld zwischen dem Nordwestende des Dorfes und der „Kilianstädter Hohl“ (vgl. Festschrift bucha marca iubilans 1998, Seite 12-30).

 

Geschichtliches:

Im Jahr 798 ist in einer Schenkungsurkun­de „bucha marca” aufgeführt. Um 850 erscheint Buochon. Im Jahre 1239 wird der Name Mittelbuchen erstmals genannt. Mittelbuchen 1344, Mittilnbuychin 1360. Oberbuchen, wüst, bei Mit­telbuchen angeführt 1544. Sonst Lützelbuchen (im 15. Jahrhundert wüst).

Im Krieg der Städte gegen den Adel (1386-1389), in dem Hanau und Frankfurt miteinander Krieg führten, wird aus Mittelbuchen Schaden gemeldet. Die Besitzungen des Ritters Eberhard von Span wurden niedergebrannt. Um sich zu schützen, gab es für die Bauern, wie in anderen Orten der Wetterau auch, nur die Möglichkeit ihre Dörfer zu befestigen. Dieses durften sie aber nicht ohne Genehmigung der Obrigkeit tun.

Hanau war Mainzer Pfandschaft und stand unter der Vormundschaft von Erzbischof Johann von Nassau, als am 8. Mai 1419 der Befehl des erzbischöflich-mainzischen Kellners zu Hanau ergangen ist, daß der Ort Mittelbuchen von den Ortsbewohnern, den „Landsiedeln“ – (im Land ansässige Pächter oder Zinsbauern) zu befestigen, zu „umbgraben“ sei. Dabei wurde die Hofreite des Frankfurter Bürgers Henne von Spire verbaut und unbenutzbar.

Eine Brandschatzung der Ortschaft ist für 1392 notiert. Die vorbeiführende Hohe Straße wurde nicht nur von Händlern genutzt, sie war auch ein schneller Weg für Kriegsknech­te. So haben die Mittelbucher eine Mauer um das Dorf gezogen und einen Turm errich­tet: das 1535 erstmals erwähnte Obertor.

Mittelbuchen war ein Dorf des ha­nauischen Amtes Bücher­tal (das nach den Buchen­orten genannt ist); gehörte wohl zum Stammbesitz der Herren von Hanau (vorher Herren von Buchen). Die Vogtei war 1370 Lehen von denen von Brauneck.

Während des 30-jährigen Krieges strapazier­ten Söldnerheere die Gemeindekasse. Ein Hauptmann und seine Begleiter erhielten für Löhnung, Kost, Wein und Bier nicht we­niger als 153 „Reichsdaler”. „100 Gulden von der Hanauer Präsenz verwandt, in höchsten Nöten gegen französische Brandschatzun­gen” wurden 1688 bezahlt. Im 16. und 17. Jahrhundert gab es meh­rere große Brände. Der Spanische Erbfolgekrieg brachte im Jahr 1706 österrei­chische Besatzung, gegen die sich die Bevöl­kerung zur Wehr setzte. Es hat es nicht viel gebracht, die Gemeinde mußte 1375 Gulden Kriegskosten aufbringen. Im Jahre 1745 sind österrei­chische Husaren und Dragoner Gäste des Dorfes. Der Viehbestand von 123 Kühen und 187 Schweinen wird sicherlich darunter gelit­ten haben, zumal nachweislich Lieferungen nach Wachenbuchen, Hochstadt, Kilianstäd­ten, Bruchköbel, Roßdorf, Dörnigheim und Rumpenheim erfolgten.

Im Jahre 1757 erscheinen französischen Truppen, die sie erst nach sechs schweren Jahren wieder verlassen. Wie schwer dies auf Mittelbu­chen und dem Gemeindesäckel lastete, be­weist die Tatsache, daß die Einwohner schon 1757 ihr Zugvieh abschafften, „da es doch von den Franzosen geraubt wird”.

Die ersten französischen Truppen, es war die französische Artillerie mit 2 Offizieren, 100 Gemeine und deren Unteroffiziere, bezogen am 13. November 1806 ihr Quartier in Mittelbuchen. Diese Truppen waren aber nicht ständig in Mittelbuchen, sie waren auf dem Durchmarsch. Ist morgens eine Truppe abgezogen, freuten sich die Bewohner die Last los zu sein, waren aber am Abend wieder sehr bestürzt, als neue Truppen ankamen. Und so ging es die nächsten 8 Jahre weiter. Meistens blieben die einzelnen Truppenteile nur einen Tag, blieben aber auch bis zu 63 Tage in Mittelbuchen. Aus einer Aufstellung ist ersichtlich, wieviel Soldaten die einzelnen Truppenteile insgesamt hatten. Es waren insgesamt 9 Stabsoffiziere und 142 Offiziere, sowie 14.078 Unteroffiziere und Gemeine Soldaten.

Und so brauchten nur die Tage der Einquartierungen mit der Summe der Soldaten multipliziert werden, um eine unglaubliche Summe der Einquartierungen zu ermitteln. In einer Aufstellung vom 2. März 1821 durch den Schultheiß Ruppel, wird die Anzahl von Einquartierungen in Mittelbuchen für die Jahre 1806 bis 1814 mit fremden Truppen für diese acht Jahre mit insgesamt 1.470 Offizieren und 61.435 Unteroffiziere und Gemeine angegeben. Sicherlich haben die Offiziere die Häuser der Bauern in Beschlag genommen und als ihre Unterkunft bezogen, während die Soldaten im Biwak rund um Mittelbuchen lebten. Auch wird die Zahl der Pferde genannt, mit denen die französischen Truppen unterwegs waren.

Die Soldaten kamen und gingen, und so mußten durch das damalige Kriegsrecht, Menschen und Pferde durch die Mittelbücher mit Nahrung versorgt werden. Und nicht immer wurde bezahlt, auch über diese Beträge gibt es Aufzeichnungen. In der Napoleonischen Besatzungszeit hatte Mittelbuchen etwas mehr als 300 Einwohner.

Nach der Schlacht bei Hanau am 30. und 31. Oktober 1813 bezogen in Mittelbuchen Österreichische, Russische, Kosakische, Ungarische sowie Preußische und Sächsische Truppen ihr Quartier. Es waren 227 Offiziere und 10.631 Soldaten. Dazu waren noch französische Truppen ohne Waffen vorhanden und seit dem 13. Oktober 1813 ca. 600 blessierte französische Truppen.

Der Erste Weltkrieg kostete 44 Soldaten aus Mittelbuchen das Leben, 90 fielen im Zweiten Weltkrieg. Am 6. Januar 1945 beim ersten Großangriff auf Hanau wurden auch in Mittelbuchen die Kirche und zahlreiche Gebäude durch Brandbomben zerstört. Bei Bombenabwürfen auf Mittelbuchen wurden zirka 80 Häuser und Scheunen vernichtet, weitere elf Men­schen fanden den Tod. Als die Amerikaner aus Richtung Wachenbuchen einrückten, vermuteten sie offenbar im Kirchturm eine Geschützstellung. Vorsichtshalber wurde der Turm beschossen, der Beschuß brach ein großes Teil aus der Mauer.

 

Älteste Karte von Mittelbuchen (in: Sauer: Büchertalgeschichten, Seite 133):

Die alte Karte von 1762 wurde naturgetreu nachgezeichnet, ist aber nicht maßstabgetreu und auch nicht genordet: Norden ist auf der linken Seite. Das Vorbild der Karte ist älter, denn die Kirche ist noch in den Grundris­sen der alten Kirche dargestellt. Obertor und Untertor, Ortsmauer mit Umgang und Plan und das Schießhaus vor dem Untertor sind im Bild. Rechts unten an der heutigen Kreuzung sind noch die Kutschergärten der alten Mittelbuchener Burg eingezeichnet. Weiter links am Kilianstädter Weg ist noch eine Ecke, die zur Burg gehören dürfte. Den Weg, der hier abgeht, gibt es heute nicht mehr. Auffällig ist, daß der Ort ringsherum mit Tannen und zuweilen auch Laubbäumen bestanden ist, damit nicht schon von weitem die Ortschaft als solche erkannt wird. Ursprünglich war der breite, planierte Streifen um die Mauer, der „Plan“, unbewachsen, damit Angreifer keine Deckungsmöglichkeit fanden. Von der Breite her gesehen scheint der Roßdorfer Weg der am meisten begangene gewesen zu sein, während der alte Kinzheimer Weg rechts oben nicht mehr gebraucht wird, denn der Kinzigheimer Hof ist bereits da, und die Ortschaft gibt es nicht mehr. Lützelbuchen gibt es auch nicht mehr, trotzdem ist der Weg wegen der Beziehungen zu Bruchköbel wichtig geworden

 

Mittelbuchen seit 1866:

Als das Dorf 1866 zu Preußen kam, nachdem es vorher zum Großherzogtum Frankfurt und dem Kurfürstentum Hessen gehörte, gab es keine kriegerischen Auseinandersetzungen. Im Jahre 1867 ist der neue Teil des Kirchhofs bereits schon wieder belegt. So eröffnet die Gemeinde außerhalb des Ortes hinter dem Obertor einen neuen Friedhof. Am Deutsch‑Franzö­sischen Krieg 1870/71 nahmen 24 Soldaten aus Mittelbuchen teil und kamen allesamt gesund wieder nach Hause.

Im Ersten Weltkrieg wurden 182 junge Mittelbucher eingezogen, 25 davon mußten bei Kampfhandlungen auf den Schlachtfeldern in Frankreich und Rußland ihr Leben hergeben.

Im Zweiten Weltkrieg bekam das Dorf die ganze Wucht dieses Grauens zu spüren. In einer ruhigen Umgebung gelegen, abseits von Hauptver­kehrsstraßen und Schienenwegen, war die Gemeinde Mittelbuchen am 4. Februar 1944 und am 6. Januar 1945 das Ziel schwerer Luftangriffe. Haben sich die Bomberpiloten geirrt und waren der Ansicht, daß sie sich über Hanau befinden? Jedenfalls haben sie am 4. Februar 1944 in der Gemarkung etwa 500 Sprengbomben abgeworfen. Noch heute werden Bomben gefunden, die damals nicht explodierten.

Innerhalb des Ortes wurden bei diesem Angriff 4 Häuser vollkommen zerstört und 10 Menschenleben wurden beklagt. Elf Monate später, in den ersten Januartagen 1945, suchte das Elend Mittelbuchen erneut heim. Der Am Dreikönigstag, dem 6. Januar 1945 wurden 80 Scheunen und 15 Wohnhäuser total zerstört, 16 Wohnhäuser wurden schwer und über 50 Häuser wurden leicht beschädigt. Menschenleben waren glücklicherweise nicht zu beklagen. Bereits zum Zeitpunkt der Währungsreform im Jahre 1949 zeugten nur noch wenige Trümmer von den vergangenen Ereignissen.

 

Das Kriegsende verschlug 200 Flüchtlinge aus Deutschlands Osten in das Dorf. Fleißige Leute, von denen etliche in Mittelbuchen ein neues Zuhause gefunden und unermüdlich am Wiederaufbau des Dorfes mitgeholfen haben.

 

In Gemeinschaftsarbeit wurde das 1. Hessische Dorfgemein­schaftshaus gebaut und konnte zum Zeichen der Weiterentwicklung im August 1953 den Bürgern übergeben werden. In die Grund­mauern sind die Worte „Einigkeit, Frieden und Wohlstand“ eingemauert. Mit einem drei Tage dauernden Fest wurde vom 15. bis 17. August 1953 die Einweihung gefeiert. Zum Bau dieses Hauses wurden durch Männer und Frauen annähernd 4.000 freiwillige Arbeitsstunden geleistet. Neben verschiedenen Sondereinsätzen sind durch die ortsansässigen Landwirte insgesamt 184 Fahrten mit Gespannfahrzeugen durchgeführt worden. Baumaterial wie Holz, Steine, Sand, Zement usw. mußte angefahren werden. Eine Wasserleitung gab es damals auch noch nicht. Also mußte zur Versorgung ein Brunnen gegraben werden.

Jeder Einwohner sollte einen freiwilligen Arbeitseinsatz bis zu 24 Stunden erbringen. 15 Einwohner leisteten zwischen 24 und 30 Stunden, 8 weitere mehr als 30 Stunden und August Wolf aus der Bruchköbeler Straße (heute Lützelbuchener Straße) erbrachte 70 Arbeitsstunden für die Allgemeinheit. Wohlgemerkt, diese Leistungen wurden zusätzlich zur täglichen Arbeit erbracht. Die Menschen der Nachkriegsjahre legten somit ein Zeugnis von echter Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit ab. Später erhielt das Haus nach seinem Förderer, dem Hessischen Staatsminister für Wirtschaft und früheren Hanauer Oberbürgermeister Heinrich Fischer, den Namen Heinrich‑Fischer‑Haus.

Mittelbuchen besitzt das erste Dorfgemeinschaftshaus, das mit Hilfe des „Hessischen Programms“‑ gebaut wurde. Es ist seit 1953 im Betrieb. Das Ausmaß des Hauses beträgt 19,00 x 11,25 m, das des dazugehörigen Kindergartens 14,00 x 7,00 m. Das „Hein­rich‑Fischer‑ Dorfgemeinschaftshaus“ 1953 in Mittelbuchen hat fol­gende Anlagen: 1 Gemeinschaftsraum, (Dorfbücherei, zwei Näh­maschinen, Zentralhöhensonne, Rundfunk und Fernsehempfang), 1 Gemeinschaftswaschanlage mit Mangel, 1 Gemeinde­bad (Wannen und Duschen), 1 Kochanrichte (Einbauküche), 1 Wohnung der Gemeindeschwester und Behandlungsraum, 1 Mosterei, 1 Heizung und Kohlenkeller, 1 Tiefgefrieranlage, 1 Jugendboden, 1 Wohnung des Hausmeisters.

Der Kindergarten enthält: 1 Tages­raum, 1 kleinen Ruheraum, 1 Kochanrichte, 1 Waschraum und Toilette, 1 Garde­robe, 1 Kinder­spielplatz mit Schaukel, Karus­sell, Wippen und Kletterturm so­wie Nebenräume und W. C. Das Dorfgemeinschaftshaus in Mittelbuchen ist im ersten Jahre seines Bestehens von Tausen­den von Menschen, auch von Ausländern besucht worden (Bild in: Hanau Stadt und Land, Seite 236).

 

Unermüdlich wurde gearbeitet. In den Jahren 1958 ‑ 1959 wurde eine zentrale Wasserversorgungs‑Anlage geschaffen. Mittelbuchen bekam eine Wasserleitung. Eine Kanalisation mit der dazugehörenden Kläranlage wurde 1966 gebaut. Ende der 60er Jahre wurden alle Straßen, die durch die Bauarbeiten beschädigt wurden, mit einer Asphaltdecke versehen. Neue Häuser wuchsen aus dem Boden. Dabei wurde der dörfliche Charakter bewahrt, Hochhäuser findet man in Mittelbuchen nicht.

 

Aus dem Protokoll des Gemeinde‑Schulvorstandes vom 28. März 1961 ist zu entnehmen, daß in Mittelbuchen eine neue dorfeigene Schule gebaut werden sollte. Das geplante Vorhaben wurde von der Landesregierung abgelehnt und dafür der Bau einer Mittelpunktschule zusammen mit der Gemeinde Wachenbuchen empfohlen.

Die archaischen Strukturen der Dorfschulen waren nicht mehr aktuell und mußten geändert werden. Das neue Zauberwort hieß Mittelpunktschule. Eine erste gemeinsame Aussprache mit Vertretern aus Wachenbuchen fand im Februar statt. Viele weitere Gespräche folgten. Der Kosten­voranschlag wurde den Gemeinden von der Regierung zugestellt, die die Kosten für den Schulneubau auf 1, 6 Millionen Mark veranschlagt hatte. Es wurden dann aber doch 2,6 Millionen Mark. Wenn man zu dieser Summe nochmals die Reparatur‑. Erhaltungs‑ und Sanierungskosten mit einbezieht, ebenso wie die Personal‑ und Sachkosten, die Ausstattung der Schule mit Lehr‑ und Lernmitteln, so wurde bis zum 25jäh­rigen Bestehen der Schule im Jahre 1994 der Betrag von 30 Millionen DM ausgegeben.

Am 13. Januar 1969 war es endlich soweit. 317 Schülerinnen und Schüler nahmen ihre neue Mittelpunktschule in Besitz. Rektor wurde Walter Buckard, der die Schule bis zu seiner Pensionierung fast 25 Jahre zum Wohle der Schüler und im Interesse der Eltern geführt hat. Bei der Namensgebung waren sich die Bürger von Wachenbuchen und Mittelbuchen schnell einig: „Büchertalschule“ soll die neue Schule heißen. Hatte sich doch in ihren Köpfen die Hoffnung gehegt, beide Gemeinden werden sich zu einer Doppelgemeinde zusammenschließen. Doch noch im gleichen Jahr erklärte der damalige Landrat Martin Woythal, das bis dato favorisierte Konzept der Mittelpunktschule sei überholt. Die Zukunft gehöre der Gesamtschule. So war das also mit der Bildungsreform, der sich unmittelbar auch die Gebiets‑ und Verwaltungsreform anschloß.

 

Ein junges Menschenkind stand in Mittelbuchen im Rampenlicht. Gabi Heilmann aus der Guldenstraße 11, wurde am 25. April 1963 als 100.000ster Bürger des damals noch bestehenden Landkreises Hanau geboren. Aus den Händen von Landrat Voller erhielt ihre Mutter die Ehrenurkunde überreicht.

 

Im Umland wuchs „auf der grünen Wiese“ das Angebot der Geschäfte und Märkte. Das hat die ortsansässigen Handwerker und Geschäftsleute mehr und mehr getroffen. Ein Betrieb nach dem anderen wurde geschlossen. Die Menschen arbeiteten nicht mehr auf dem Land, sondern in den Fabriken in der Stadt. Man ging nicht mehr zu Fuß. und man fuhr auch nicht mehr mit dem Rad. Der Mensch motorisierte sich. Mit dem Auto. immer schöner und größer wurden diese, wurden die Entfernungen schneller. In unmittelbarer Nähe führt heute eine Autobahn mit direktem Anschluß in die weite Welt.

 

Anfang der siebziger Jahre kam die Zeit der Gebietsreform auch nach Mittelbuchen. Wohin sollte man sich wenden? Sollte man sich anschließen an Bruchköbel? Oder ge­meinsam mit Wachen­buchen einen Ort gründen mit dem Namen Büchertal? Oder wie schon früher, ganz einfach Buchen? Mit einer Stimme Mehrheit wurde entschieden, daß sich Mittel­buchen an Hanau anschließt. Am 3. November 1971 wurde im Rathaus in Mittelbuchen der Auseinandersetzungsvertrag für die Eingliederung von Mittelbuchen in die Stadt Hanau unter­zeichnet. Dieser be­deutende Akt wurde besiegelt auf Hanauer Seite durch Oberbürgermeister Dröse, Bürgermeister Martin und auf Mittelbucher Seite waren es Bürgermeister Fehlinger und der Erste Beigeordnete Philipp Puth. Am 1. Januar 1972 fand mit dem Austausch der alten Ortschilder die Eingemeindung in die Stadt Hanau seinen Vollzug. Viele Hände wurden unter den alten und neuen Schildern von wichtigen Leuten geschüttelt. Mittelbuchen war nun „Stadt“ und die Bürger konnten davon profitieren. Straßen wurden erneuert. Bäume gepflanzt und Blumenkübel aufgestellt. Die alten Fachwerkhäuser wurden restauriert und Mittelbuchen nahm in den folgenden Jahren erfolgreich teil am Wettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden“.

 

Schon bald nachdem Mittelbuchen Stadtteil von Hanau war, wurde der „Schwaberg“ erschlossen. Aus der Hand von Oberbürgermeister Martin erhielten die Eheleute Huth, Am Schwaberg 41, ihre Baugenehmigung mit der Nr.1/72 vom 21. Januar 1972, überreicht. Es folgte der „Kirchberg“ und in jüngster Zeit Richtung Norden das Baugebiet „Am Simmichborn“. Der liebenswerte Charakter von Mittelbuchen hat den Ort zu einem bevorzugten Wohngebiet gemacht. Die Menschen sind freundlich, aufgeschlossen und hilfsbereit.

 

In den siebziger Jahren hat der Bauwahn dann teilweise seinen Höhepunkt erreicht. Alles mußte neu sein, Altes und Historisches zählte nicht mehr. Das alte Rathaus wurde 1973 abgerissen. Zum Leidwesen der Bürgerschaft fiel auch das historische „Gasthaus zur Krone“ der Abrißbirne zum Opfer. Vorausgegangen war allerdings, daß die letzte Besitzerin, die im Alter von 90 Jahren verstarb, das Erbe nicht geregelt hatte. Behördliche Auflagen erforderten Millionen, um das Gebäude zu retten. Dieses Geld hatte keiner. Und in der Erbteilung wurde das Anwesen zum Abbruch verkauft. Am 27. März 1980 rückten die Bagger an, um ihr Werk zu vollbringen. Vorher mußte „Die Krone“ jedoch erst durch die Polizei von sogenannten alternativen Besetzern“ geräumt werden, die in den alten Mauern ein „Kulturzentrum“ einrichten wollten.

 

In festlichem Rahmen wurde am Abend des 16. Januar 1987 die neue Mehrzweckhalle ihrer Bestimmung übergeben. „Für Mittelbuchen ist uns nichts zu teuer“, sagte der damalige Oberbürgermeister Hans Martin im Zusammenhang der entstandenen Mehrkosten. In seiner Rede bezeichnete er den insgesamt 5,2 Millionen DM teuren Bau als „einen Gewinn für Mittelbuchen“. Für die Vereine sprach der Vorsitzende des TV Mittelbuchen, Karl Stroh, der betonte, „daß Mittelbuchens Bürger auf ihre neue Halle stolz sein können.“ Die Mehrzweckhalle ist heute Bürgertreff und Mittelpunkt des „sportlichen und kulturellen Lebens“.

 

Die Tankstelle schloß zum Jahresende 1997. Der Lebensmittelmarkt wurde zunächst einmal geschlossen. Im Jahr 1998 wurde damit begonnen, eine Erdgasleitung zu verlegen um die Häuser in Zukunft umweltfreundlich mit Energie zu versorgen.

 

 

Rundgang durch Mittelbuchen

Den Rundgang beginnt man am besten am ehemaligen Untertor, wo die „Alte Rathausstraße“ in den Ort hinein abbiegt. Im Jahr 1535 ist das Untertor schon als Tatsache erwähnt.

Vor dem Untertor in Mittelbuchen stand ein Schießhaus, das ursprünglich dafür gedacht war, das Tor gegen Feinde zu schützen, die es mit einem Rammbock aufstoßen wollten. Aber scheinbar hatte sich das nicht be­währt, und das Schießhaus wurde zum Armenhaus umfunktioniert. Auch das war nur eine Zwischenlösung. Es wurde an einen Privatmann ver­kauft. Dieser eröffnete darin vermutlich eine Bäckerei. Später kam eine Wirtschaft hinzu, die sich draußen vor dem Tor freilich als Fuhrmanns­kneipe rentabel machte. Das Schießhaus war aber viel zu klein für die großen Anforderungen, die an es gestellt wurden. Der Besitzer stellte deshalb noch ein Haus dazu, ebenfalls draußen vor dem Tor. Als in der Franzosenzeit alle Häuser numeriert werden mußten, erhielt diese Wirt­schaft die Nr. 1, das Schießhaus die Nr. 2, und erst dann wurden die Häuser des Dorfes von Nr. 3 bis 99 durchnumeriert. Von daher wissen wir, daß „Die Krone“ ‑ so sollte das Anwesen künftig heißen ‑ schon im 18. Jahrhundert erbaut worden ist.

 

Die Gastwirtschaft „Zur Krone“ entwickelte sich in den nächsten 200 Jahren zu einer der bekanntesten und beliebtesten Wirtschaften in weitem Umkreis. Sonntags machte man dort von Hanau oder gar von Frankfurt aus seinen Spazier­gang nach Mittelbuchen, um nach langer Wanderung die trockene Kehle mit hausgemachtem Apfelwein, der weithin berühmt war, zu löschen und den hungrigen Magen aus der rustikalen Küche wieder aufzufüllen. Die Krone wurde zur „Goldgrube“ und wurde im Laufe der Zeit immer weiter vergrößert. Im Jahre 1846 wurde eine Kegelbahn eingerichtet, etwas fast einmaliges. Im Jahre 1904 kam ein Saal hinzu (der 1928 abgerissen und durch einen großen Saal ersetzt wurde). Im Jahre 1921 heiratete Katharina Schmidt als „Bäcker‑Dina“ den Besitzer, und mit ihr begann nun eigentlich erst die große Zeit der Krone, denn sie wußte, daß nicht das schnelle Geld den Erfolg bringt, sondern eine reelle und gute Bedienung des Kunden. Sie machte aber einen großen Fehler: Sie regelte das Erbe nicht. Als sie 1978 im Alter von 90 Jahren starb, gab es letztlich zwischen behördlichen Auflagen und Erbteilung nur noch den Verkauf auf Abbruch.

So etwas konnte kein Stammgast akzeptieren. Auch für die Denkmalsschützer und die Ortshistoriker war es unannehmbar. Es wären aber Millionen nötig gewesen, um das Anwesen zu retten. Die hatte niemand. Die Konzession lief am 31.1.1980 aus. Am 4. Februar kam eine Gruppe finsterer Leute und besetzte die Krone. Sie wollten ein „Kulturzentrum“ daraus machen und Musikkapellen und Kabaretts auftreten lassen. Stattdessen wurde aber Rauschgift konsumiert, und die Bevölkerung fühlte sich von den Besetzern stark belästigt. Nach siebenwöchiger Besetzung kam die Polizei, räumte „Die Krone“, und die Bagger standen schon da, um sogleich mit der Arbeit zu beginnen.

Die „Krone“ in Mittelbuchen war wegen ihres naturreinen, hervorragenden Apfelweins im ganzen Kreis berühmt und ein Ausflugsort für Hanauer und Frankfurter. In den 1960er Jahren war „Fritz“ der wegen seiner Späße allseits beliebte Wirt. Auch sich selbst und sogar sein Geschäft bezog er mit in seine Späße ein. Als Gäste ihm im Frühjahr 1965 vorwarfen, er habe seinen Apfelwein mit Wasser „getauft“, antwortete er schelmisch: Ihr hättet Weihnachten zu mir kommen müssen, da gab es bei mir den besten Apfel­wein. Jeder wußte, daß Weihnachten (1964) im ganzen Dorf die Wasserlei­tung ausgefallen war.

 

Man geht ein Stück in das Dorf hinein, dann nach rechts in die Obertorstraße. Das Haus Obertorstraße 9 dürfte das älteste in Mittelbuchen sein. Die „alte Schule“ in der Obertorstraße 15 war im 16. Jahrhundert das erste und damals einzige zweistöckige Fachwerkhaus im Mittelbuchen. Man geht ein Stück durch die neue Straße und dann links hoch in die Straße „Hinter der Kirche“. Auf der Höhe steht links die „neue Schule“ (heute: Druckerei). Im Jahre 1872 wird ein Haus abgerissen und an seiner Stelle die „neue Schule“ errichtet. Der erste Lehrer dort ist Julius Hitzenrod.

 

Rechts gegenüber steht die Kirche. Schon in früher Zeit müssen Mittelbuchen und Lützel­buchen eine gemeinsame Kirche gehabt haben. Das Grundbuch weist nämlich heute noch einen Kirchweg von Westen her aus, der an der Kirchhofsmauer endet. Der Weg war also schon da, ehe die Kirchhofsmauer gebaut wurde. Bis dahin stand oben ein kleines Kirchlein, das spätestens im 13. Jahrhundert im romanischen Stil errichtet wurde, vielleicht aber auch schon im frühen Mittelalter erbaut wurde, vermutlich an der Stelle eines früheren heidnischen Heiligtums erbaut.

Beim Bau des Heizungskellers im Jahr 1966 stieß man dort auf eine Quelle, die den Keller ständig unter Wasser setzte. Der heilige Michael erhielt in der christlichen Mythologie die Aufgaben zugewiesen, die in der germanischen Mythologie der Göttervater Wotan innehatte. So könnte diese alte Quelle eine Wotansquelle gewesen sein. Die Roßdorfer Straße führt nämlich aus dem ältesten Siedlungsgebiet Mittelbuchens in einem heute noch nachzuweisenden Bogen um das Haus Hinter Kirche 34 schnurstracks zur Quelle. Die Obertorstraße macht ebenfalls bei der Scheune des Hauses Nummer 8 einen Knick, dem sich heute noch alle Gebäude dieses Grundstücks anpassen, um dann wieder ebenso gradlinig zur Kirche zu führen Auch das heute recht überflüssig gewordenen Gäßchen am Haus „Alte Rathausstraße 30“ führt als Verlängerung der Guldenstraße direkt dorthin. Ebenso sicher ist die Linienführung einer früheren Straße, die durch das Grundstück „Hinter der Kirche 24“ führte, vielleicht von Lützelbuchen kommend und auch den Weg zur Quelle nehmend. Vielleicht waren das alles nur alte Kirchwege. Aber vielleicht führen sie auch zur Quelle, und zwar auch durchaus von weit her.

Die Kirche läßt sich noch in etwa rekonstruieren: Im Staatsarchiv in Mar­burg gibt es zwei Kar­ten aus den 1750er Jahren, wo der Grundriß des Ge­samtbauwerks noch ablesbar ist. Dann existiert ein Foto des Turmes aus dem Jah­re 1945 (in der ersten Chronik von Sauer abgebildet), als die Kir­che abgebrannt war, das durch Reste von zwei Dächern und anderen Merkmalen zeigt, daß hier einma1 eine niedrigere Kirche angebaut war und dann später die höhere, die soeben abgebrannt war. Nach diesen Vorgaben läßt sich jetzt in Länge, Breite, Höhe und Dachwinkel nachzeichnen, wie die Kirche ausgesehen haben muß. Die Kirche war nicht sehr groß. Aber für die beiden kleinen Gemeinden war sie völlig ausreichend, denn die Messe wur­de sonntags stets mehrmals gelesen. Im Jahr 1344 wurde an die Kirche eine Michaelskapelle angebaut.

Die Friedhofsmauer wurde erst gebaut, als die Soldaten bei ihren Fehden Gräber schändeten und auch den Zufluchtsort in der Kirche nicht mehr respektierten. Die Kirchhofmauer genügte nicht mehr, die Gemeinde zu schützen. Ein Wehr­turm mußte her. Im Jahre 1494 wurde der Grundstein gelegt. Neben den militärischen Zwecken diente der Turm freilich aber auch kirchlichen Zwecken, denn es konnte jetzt eine Glocke aufge­hängt werden. Vor allem aber konnte die Michaelskapelle jetzt in das Turmerdgeschoß verlegt werden. Die alte Kapelle wurde zur Kirche hin durchgebrochen und als Chorraum genutzt (seit der Reformationszeit brauchte man sie sowieso nicht mehr).

Den Turm, dessen Eingang heute noch im ersten Obergeschoß und da­mals nur durch eine Strickleiter erreichbar war, stellte man einige Meter vor die Kirche, um diesen Zugang durch die Kirche geschützt zu wissen. Der (auch noch heutige) Eingang im Parterre führte nur in die Kapelle. Warum man den Turm leicht verkantet zur Kirche baute, weiß man nicht. Die sonst so wichtige Ost‑ West‑Richtung wurde nicht beachtet.

Die Verwitterung des Putzes unter dem Dach, der einen späteren Zwischenbau verrät, zeigt, daß der Turm doch recht lange frei gestanden haben muß, hundert Jahre ist nicht zu hoch gegriffen. Die Kirche wird im 17. Jahrhundert baufällig. Spätestens 1709 wird das Dach an den bis da­hin freistehenden Kirchrturm vorgezogen. Leider hatte die Gemeinde keine ungetrübte Freude daran. Es gab viele Reparaturen, der alte Teil wurde baufällig, aber der Dreißigjährige Krieg und die schlimmen Jahrzehnte danach verhinderten einen Neubau. Schließlich kann man nicht einmal mehr den Dach­boden verpachten. weil der Boden nicht mehr begehbar ist. So geht das bis zur letzten Reparatur von 1741.

In diesem Jahr kam Pfarrer Richter nach Mittelbuchen. Von 1756 bis 1772 wird die Kirche neu und viel größer gebaut. Der Turm wird nun mit einbe­zogen. Die Turmkapelle im Erd­geschoß wird zur Eingangs­halle umgebaut und ein Zu­gang zur Kirche gebrochen. Die Kirche hat an West‑, Nord‑ und Ost­seite eine Empore, auf der Ost­empore kommt nach dem Neubau eine erste Orgel zu stehen. Der Turm er­hält anstelle seiner Platt­form für die Bewachung des Ortes eine hohe schlanke Haube mit vier Ecktürmchen.

Am 6. Januar 1945 brannte die Kirche bei einem Luftangriff bis auf das Mauerwerk total aus, die Kanzel von 1659 verbrannte. Nach der Währungsre­form wurde die Kirche bis 1952 wieder aufgebaut, 1955 war sie ganz fertiggestellt. Der Turm erhielt eine pyramidenförmige Haube. Im Jahre 1954 wurde eine Walckerorgel eingebaut als Ersatz für die Orgel aus den 1890er Jahren, die die Barockorgel ersetzt hatte.

Auf dem ehemaligen Wehrkirchhof stehen be­merkenswerte Grabsteine (besonders Maria Richter, gestorben 1743, Bild in: Hanau Stadt und Land, Seite 270).

Nordöstlich von Mittelbuchen lag Lützelbuchen. Es war ein sehr kleiner Ort, der altdeutsche Begriff „lützel“ (klein) sagt das schon aus. Sie hatten keine Kirche und kein Rat­haus, nicht einmal einen Schultheiß. Es ist auch nicht bekannt, daß dort ein Ritter gewohnt hätte. Es gab nur ein paar Häuser. Aber sie hatten außergewöhnlich tiefen Brunnen und brauchten daher auch im heißesten Sommer mit Wasser keine Not zu leiden. Man kann das daraus schließen, weil das Flurstück, wo Lützelbuchen vermutet wird, heute noch „der tiefe Born“ genannt wird.

Die Historiker waren sich schon im 19. Jahrhundert sicher, daß es zwi­schen Mittelbuchen und Bruchköbel lag, wohl am Köbeler Weg (der heute Lützelbuchener Straße heißt), ein wenig oberhalb dieses Weges. Die Straße führte ja von Frankfurt über Hochstadt unterhalb von Wachenbuchen vorbei, und dort, wo heute die Mittelbuchener Durchfahrtsstraße ist, bei dem Haus Lützelbuchener Straße 10a, ging sie gerade weiter nach Kinz­heim. Aber beim Haus Nr. 9 bog ein kleiner Fußweg ab, der nach Lützel­buchen und dann nach Bruchköbel führte. Lützelbuchen war dort ziem­lich geschützt, denn dort kam selten jemand vorbei, der nicht einheimisch war. Aber den genauen Ort, wo Lützelbuchen nun wirklich lag, den kennen wir nicht. Archäologische Luftaufnahmen haben uns nichts gebracht.

Bekannt ist wenigstens der Name eines Menschen aus diesem Dorf: Werner von Lützelbu­chen, „Wirnchen“ genannt. Es war ein Leib­eigener, wie alle anderen Lützelbuchener auch, aber er war unter die „guten Leute“ aufgenommen, die bei der Abfassung von Urkunden testieren durften. Er war wahrscheinlich so eine Art „Sprecher“ für seinen Ort oder ein Ortsvorsteher. Er ist der eigentliche Garant dafür, daß Lützelbuchen überhaupt existiert hat.

Es werden nämlich in den Urkunden niemals alle drei Buchen zusammen erwähnt. Und man könnte sich vorstellen, daß der Volksmund die jeweils kleinere Ortschaft Lützelbuchen genannt haben könnte. Wirn­chen hätte sich jedoch sicher dagegen gewehrt, aus dem „kleinen Buchen“ zu kommen, wenn es kein Lützelbuchen gegeben hätte.

Urkundlich erwähnt wurde Lützelbuchen zuerst mit diesem Namen lange vor Mittelbuchen im

Jahr 1266. Reimer zufolge soll es dann schon im Jahr 1458 wüst gewesen m. Ob es in einer Fehde niedergebrannt wurde, oder was sonst gesche­hen ist, daß es aufhören mußte zu existieren, ist nicht bekannt. Aber die These ist nicht von der Hand zu weisen, daß die Lützelbuchener nach Mittelbuchen übergesiedelt sind und sich westlich des Baches, der bisher die Westgrenze Mittelbuchens war, niedergelassen haben. Sie würden dann die vordere Erbsen‑ und Guldengasse bebaut haben und wahrschein­lich auch das Ranzeneck. Weil der Bach oft über seine Ufer getreten war, bauten sie in respektablem Abstand vom Bach, weshalb diese Straße heute noch so breit ist.

Die Ländereien bestanden natürlich weiterhin, und, wenn es auch kein Grundbuch gab, so nannte man die Grundstücke doch weiterhin nach Lützelbuchen. Im Jahre 1495 wird nämlich Lützelbuchen noch zweimal genannt und dann sogar noch einmal 1607. Aber es ist absurd, anzunehmen, daß die Ortschaft damals noch existiert haben könnte. Es ist aber der Grund, weshalb immer wieder angenommen wird, das Dorf könne doch auch im Dreißigjährigen Krieg zerstört worden sein. Wenn das so wäre, so würden die Kirchenbücher darüber berichten.

 

Obertor

Erzbischof Johann von Nassau gab am 8. Mai 1419 den Befehl, daß der Ort Mittelbuchen von den Ortsbewohnern zu befestigen sei. So wurde dann Mittelbuchen, entsprechend dem ergangenen Befehl, mit Graben und Wall umgeben und befestigt. Auf dem Wall wurde ein sogenanntes „Gebück“, eine lebende Hecke angelegt, welche durch entsprechende Bearbeitung undurchdringlich war. Immer und immer wieder wurden junge Pflanzen, Hainbuche und Dornensträucher ineinander geflochten und hoch wachsen lassen. Dann wurden die Äste wieder nach unten gebogen und erneut verflochten. Für dieses Geflecht mußte man sich „Bücken“. Daher die Bezeichnung „Gebück“. Auf diese Weise konnte so, in relativ kurzer Zeit, eine undurchdringliche natürliche „Mauer“ geschaffen werden die nicht nur vor wilden Tieren, sondern auch vor Räubern und kleineren Soldatentruppen einen gewissen Schutz bot.

Es ist unwahrscheinlich, daß der Ort Mittelbuchen jemals mit einer Mauer umgeben war. Es sind hierzu auch keine Unterlagen auffindbar.

Trotzdem ist es möglich, daß damals auch einzelne Abschnitte am Wallgraben mit Mauern befestigt worden sind. Dies können auch die Mauern von Scheunen gewesen sein, die dann jedoch keine Öffnungen nach außen hatten. Mittelbuchen hatte keine Stadtrechte. Im Mittelbuchener „Gerichtß Tag. und Insaßbuch“, angefangen den 21ten July Anno 1660, wird Mittelbuchen als „hochgräflicher Hanauischer Flecken“ bezeichnet. Flecken ist eine Bezeichnung für eine kleine, aber lokal bedeutende Ansiedlung. Ein Flecken bildet für die umliegenden Dörfer einen Mittelpunkt und nimmt zentralörtliche Funktionen wahr.

Bis in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges (1618 – 1648) konnten solche dörflichen „Haingrabenbefestigungen“, wie sie in fast allen Dörfern der Wetterau vorhanden waren, eine gewisse Bedeutung als Schutzanlage vor kleineren Soldatenhaufen oder Räuberbanden behaupten. Allerdings wurden diese Schutzeinrichtungen mit der zunehmenden Verwendung von Feuerwaffen immer unzureichender. So wurden dann auch bereits in den Jahrzehnten vor 1600 in verschiedenen Orten die Gräben mit der Erde der einstmals aufgeschütteten Wälle wieder eingeebnet. Hier wurde dann dringend benötigtes Gartenland geschaffen. Im Stadtarchiv Frankfurt am Main wird in einer Urkunde des Bartholomäusstift eine Flur im Jahr 1581 „uff dem Dorfgraben“ genannt. Möglicherweise war bereits - oder wurde - um diese Zeit der Graben hier bei uns verfüllt.

In alten Ortsplänen von Mittelbuchen aus dem Jahr 1873 ist noch ersichtlich, wo und wie der Graben mit Wall um den „Flecken“ Mittelbuchen verlief. Östlich von Mittelbuchen sind die „Herrengärten“ und westlich die „Plangärten“ eingezeichnet.

 

Mittelbuchen hatte zwei Ortseingänge, die auch belegt sind. Einen im Süden, einen im Norden. Im Norden sind noch das Obertor mit den Resten von Schenkelmauern, die zur äußeren Befestigung gedient haben, und der daneben stehende Turm erhalten. In einiger Entfernung vor dem Tor muß sich wohl noch ein „Schlag“ befunden haben, ein Vortor, oder möglicherweise auch eine Brücke. Hier ist in einer Mauer noch die Jahreszahl 1595 (?) erkennbar. Beidseitig der Straße standen sogenannte „Torwegmauern“. Auch wo im Süden das ehemalige Untertor stand, sind noch solche Reste dieser ehemaligen Mauern vorhanden.

In alten Chroniken von Mittelbuchen wird die namentliche Ersterwähnung des Obertores mit der Jahreszahl 1535 genannt. Diese Zahl muß korrigiert werden, denn bei den Forschungen von Ernst Gimplinger im Fürstlichen Archiv Büdingen wurde das Jahr 1485 in den aufgefundenen Akten entdeckt. Es gibt allerdings im Staatsarchiv Marburg auch eine Kirchenakte aus dem Jahr 1482 in der es heißt: „vor der Porten“. Hier ist wohl das „Untertor“ gemeint. Ein Erstellungsdatum von Turm und Tor ist daraus nicht abzuleiten. In den dem Geschichtsverein vorliegenden Abmessungen und Aussteinungen der Jahre 1440 und 1466 werden zwar Felder, Wiesen und Weingärten in der Umgebung genannt, aber keine Hinweise auf das Obertor. Auch konnten für die folgenden Jahrhunderte bislang keine Dokumente gefunden werden. Lediglich in einem Kirchenbuch von 1645 wird erwähnt, daß der Schultheiß „Portenhüter“ ausgewählt hat, die den Wachdienst ausüben mußten.

Es war die Zeit der napoleonischen Besatzung, als man im Jahr 1811 eine Akte anlegt. Danach war das Obertor baufällig und sollte abgerissen werden. Im Text heißt es, „nach dem eingelaufenen Bericht des Ortsmaire Ruppel in Mittelbuchen ist das dasige Oberthor so verfallen, daß dasselbe der Einsturz drohet, auch nicht repariert, sondern abgebrochen und neu hergestellt werden muß.“

Durch den Maurermeister Lorenz Geibel aus Kesselstadt und den Mittelbuchener Zimmermeister Caspar Ruppel wurde ein Überschlag gemacht, nach welchem die Maurerarbeiten mit Zurechnung der alten Abbruchsteine 89 Gulden 30 Kreuzer – und die Zimmerarbeit, mit Zurechnung des noch brauchbaren Holzes 33 Gulden, mithin der ganze Abbruch und die Aufbauung dieses Tores 122 Gulden. 30 Kreuzer kosten würde. Es würde anzutragen sein, dieses dem Einsturz drohenden Oberthor ganz abzubrechen und nicht neu aufzubauen.

Ob es aber notwendig, das ganze Oberthor abzubrechen und neu aufzubauen möchte wohl erst der Ansicht des Herrn Baurath Heerwagen zu übertragen sein. Dieser sei ja auch dafür zuständig, mit den Handwerksleuten, die aus dem District Bücherthal kommen sollen, die Baukosten Verträge abzuschließen.

Am 13. Mai 1811 geht ein Schreiben von Baurath und Landbau-Inspector Heerwagen, „Die Reparation des Oberthors zu Mittelbuchen betreffend“, an den Präfecten des Großherzog­thums Frankfurt, Herrn Präfect Freiherr von der Tann. Heerwagen berichtet hier, nach eingenommenen Augenschein, daß das alte verfaulte Dachwerk, welches nach Angabe des Orts Maire Ruppel „im Begriff war einzustürzen und einen daran befindlichen Viehstall eines Unterthanen zusammen geschlagen hätte, vorsichtshalber gänzlich abgerissen wurde, um ein Unglück zu verhüten“.

War dieser Viehstall etwa ein Schweinestall? Dann könnte darüber spekuliert werden, warum der neben dem Tor stehende Turm von den Mittelbücher Bürgern „Säuturm“ genannt wird. Der Turm, da wo die Säue sind? Oder weil das Haus, welches 1828 zwischen dem Tor und dem Turm gebaut wurde, das Hirtenhaus für den „Schweinehirt“ war? Möglich ist aber auch, daß der Schweinehirt durch dieses Tor die Säue auf die Schweinewiesen oder in die vorhandenen Mastwälder getrieben hat. Dann allerdings hätte das Obertor eigentlich den Namen „Säuport“ verdient, so wie es in vielen anderen Orten der Fall ist. Aber die Porte wird seit Ewigkeiten die „Uber Porte“, also Oberpforte, genannt. Im Dialekt ist das Obertor die „Ewerporte“.

Allerdings, so schreibt Heerwagen auch, sei das Mauerwerk noch in einem sehr guten Zustand und deshalb wünschte der Maire Ruppel, da es im Ort an einem Prison oder Gefängnis fehlt, dies zu berücksichtigen. In den Kriegszeiten des Französischen Kaisers Napoleon, und bei den ständigen Einquartierungen, mußten die Arrestanten des Militärs untergebracht werden, was der Gemeinde an Mietzins viel Geld gekostet haben soll.

Bei der Wiederherstellung des Dachwerks sollte also auf die Arrestanten der französischen Truppen Rücksicht genommen werden und noch ein „kleines und niedriges Stockwerk aus Holz zu diesem „Behuf auf das Tor gesetzt werden“. Das würde keine großen Kosten verursachen und dem Tor zugleich ein gutes Aussehen geben. Laut dem beigefügten „Überschlag“ würden die Kosten unter Berücksichtigung der alten Materialien 203 Gulden 50 Kreuzer betragen. Das Obertor sollte also als Gefängnis genutzt werden.

 

Nach der Beschreibung und der Aussage, daß das alte verfaulte Dach des Obertores gänzlich abgerissen wurde, ergibt sich folgende Überlegung: Über dem Torbogen war nur ein einfaches Dach vorhanden, möglicherweise in Pyramidenform. Das heutige Aussehen erhielt das Obertor erst durch den Neubau. Der Maire Ruppel wurde aufgefordert, die Unterlagen dem Muni­cipal­rath zu Mittelbuchen zu eröffnen und um dessen Erklärung, wie die erforderlichen Gelder am besten beizubringen seien.

Der Municipalrath der Gemeinde Mittelbuchen sieht die Notwendigkeit der Reparatur ein, er billigt den Plan, wie das Tor repariert werden soll und willigt ein, zur Finanzierung ein Darlehen zu Lasten der Gemeinde aufzunehmen. Der Präfect Freiherr von der Tann erteilt der Gemeinde seine Zustimmung zur Aufnahme eines Capitals von Zweihundert Gulden mit dem Hinweis, das die Gemeinde für dessen zweckmäßige Verwendung die Sorge zu tragen hat. Die Reparatur sei ungesäumt vorzunehmen. Dabei soll jedoch die Einregistrierung der abzuschließenden Handwerks Accorde nicht vergessen werden.

Gefängnis wurde das Obertor nicht. Das hat sich mit der Schlacht bei Hanau am 31. Oktober 1813 erledigt, denn die französischen Truppen verschwanden aus unserer Gegend. Bei ihrem Abzug richteten sie auf den Winterfeldern in Mittelbuchen einen Schaden von 14.252 Gulden 29 Kreutzer an. Dennoch lagen noch Jahre danach Truppen der Alliierten im Quartier in Mittelbuchen.

Trotzdem wurde das Haus über dem Obertor gebaut, die Genehmigung war ja erteilt und das Geld vorhanden. Das sagt uns die Jahreszahl 1814, welche leider erst bei der erneuten Renovierung und Instandsetzung der Wetterseite im Jahr 2012 sichtbar gemacht wurde. Ein den­dro­chronologisches Gutachten aus dem Jahr 1993 bestätigen die Bauzeit, die Fällung der Bäume wird auf das Ende des Jahres 1811 Waldkante, festgelegt. Das bedeutet, die Datierung des Endjahres (= äußerster Jahrring der Holzprobe) entspricht dem Fälljahr des Baumes, wenn die Waldkante (= Holzabschluß unter der Rinde) vorhanden ist.

Das Wohnhaus zwischen Tor und Turm wurde wesentlich später, entsprechend der Jahreszahl über der Kellertür, erst im Jahr 1828 erstellt. Auch dies wird durch das genannte Gutachten bestätigt. Aus einer sogenannten Stammrolle aus der Zeit von 1830/32 geht hervor, daß dieses Haus, mit der Nr. 60, nach seiner Fertigstellung als eines von zwei örtlichen Hirtenhäusern genutzt wurde. Wie lange dies so war, ist uns nicht bekannt, doch es wurde später als Wohnhaus, als Wohnhaus für Gemeindearbeiter und evtl. auch für sozial schwache Bürger genutzt. In vielen Orten wurden ähnliche Gebäude als Armenhäuser eingerichtet.

Nachdem die letzten Bewohner ausgezogen sind, setzte der Verfall ein. Das gesamte Gebäude, Tor- und Wohnhaus, stand lange leer und wurde infolge dessen innen feucht und naß. Ende der 1980er Jahre war es dem völligen Verfall preisgegeben. Zu diesem Zeitpunkt haben sich etliche Mittelbucher Bürger zusammen gefunden um dieses historische Gebäude vor dem Verfall zu retten. Es gründete sich der Mittelbuchener Heimat- und Geschichtsverein e. V., dessen Mitglieder mit städtischer Finanzhilfe und einem beispiellosen Einsatz das herunter gekommene Ensemble renoviert und restauriert haben. Mit der Eröffnung des Heimatmuseums im Jahr 1998 wurde diese Arbeit gekrönt.

Seit dem 16. Mai 1998 ist das Obertor als Museum geöffnet. Im Erdgeschoß wird die Vor- und Frühgeschichte exemplarisch dargestellt und versucht, auf behutsame Weise einen Überblick über die ungemein reichhaltige Vorgeschichte des Raumes und des Ortes Mittelbuchen zu geben. Von den ersten Bauern der frühen Linienbandkeramik bis zu den fränkischen Siedlern des Ortes legen Ausgrabungsfunde Zeugnis ab. Man sieht, was für Kelten, Alamannen, Franken und Römer wichtige Dinge des täglichen Lebens waren. Es wird eine Zeitspanne von annähernd 7000 Jahren betrachtet und Funde von herausragender Bedeutung lassen darauf schließen, daß hier schon lange vor dieser Zeit Menschen gesiedelt haben.

In den oberen Räumen wird symbolisch die bäuerliche Kultur gezeigt mit Steinzeug und südhessischen Milchkrügen. Trachten des Büchertales sind auf Aquarellen von Julius Eugen Ruhl aus dem Jahr 1829 zu sehen. Alte Wasserleitungen, wichtige Archivalien aus dem Bereich der Kirche, lückenlose Aufzeichnungen der Mittelbuchener Rechtsfälle seit Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts geben Aufschluß darüber, wie das Leben zur damaligen Zeit aussah.

Hinter den verwinkelten Räumen des Dachstuhles gelangt man über eine kleine Treppe in die beiden Torzimmer. Hier ist die Geschichte des Wilhelmsbades, die bis heute wichtige Rolle des Obstanbaus und dessen Verarbeitung in dieser Region dargestellt. Als Symbol der Industrialisierung ist der Arbeitsplatz eines Diamantschleifers ausgestellt. Texte und Fotos thematisieren die Geschichte Mittelbuchens bis zur Gebietsreform im Jahre 1972 (nach: Ernst Gimp­linger: Die bauliche Geschichte des Obertores in Mittelbuchen, Sonderdruck 2014. Mittelbuchener Heimat- und Geschichtsverein e.V. ).

 

Neben dem Obertor steht das Hirtenhaus. Im Jahre 1798 genehmigte das Amt Büchertal, daß für den Schulmeister ein neuer Schweinestall gebaut wird, wahr­scheinlich das goldigste Häus­chen, das je in Mittelbuchen stand. Zunächst stand es noch frei da, aber 1818 wurde dann der Friedhof erweitert und die Mauer wurde hinter dem Häuschen heruntergeführt (Bild in: Sauer, Büchertalgeschichten, Seite 130). Es war bekannt unter dem Namen „Hirdehäusi“. Daneben stand nämlich das Hirtenhaus, dem dieses Häuschen ebenfalls als Wirtschaftsgebäude diente. Aber es hatte noch einen Zweck: Wenn der Gemeindevorstand oder das Presbyterium einen Gulden ins Säckchen als Strafe für eine Übertretung verhängte und der Betroffene das nicht bezahlen konnte, wurde er zum Arrest in diesem Häuschen ein paar Stunden ins „Gefängnis“ gesteckt. Das Schicksal dieses Schmuckstücks von Mittelbuchen ereignete sich kurz vor Inkrafttreten des Gesetzes über den Denkmalschutz: der Landeskon­servator geneh­migte gegen Protest seinen Abbruch in den 1960er Jahren.

 

An der Stelle, wo vermutlich früher das Backhaus stand (?), wird das Rathaus errichtet, mit einem hohen Mast zum Hochziehen und Trocknen der Feuerwehrschläuche.

 

Im Dorf stehen gute Fachwerkbauten, teils mit großen Toreinfahrten. Das beste Beispiel ist das „Steinerne Haus“, heute geteilt in Alte Rathausstraße 25 und Guldenstraße 1. Es gehörte dem Erbprinzen Wilhelm, der mit 23 Jahren regierender Graf in Hanau wurde und in Philipps­ruhe wohnte. Seine Liebe galt dem Wilhelmsbad, das auch nach seinem Namen benannt wurde. Er hatte im Park eine Pyramide errichten lassen, und unter ihr ruht seit dieser Zeit sein ältester Sohn, der kleine Erbprinz, der im Alter von 12 Jahren starb.

Wilhelm hatte aber noch andere Kinder. Man sagt ihm nach, daß er bis zu 113 Kinder gehabt haben soll. Drei von ihnen sind in einer Nacht in Wilhelmsbad erfroren. So mußte er natürlich auch die entsprechende Zahl von Müttern haben. Als reformierter Fürst (die Kasseler waren nämlich wieder reformiert) konnte er sich keinen Harem leisten, weder in Philippsruhe noch in Wilhelmsbad. Aber er wußte sich zu helfen. Deshalb hatte er sein Frauenhaus im „Steinernen Haus“ in Mittelbuchen. So erzählen die früheren Besitzer, und das ist auch umso mehr glaubhaft, als das Haus wesentlich komfortabler ausgestattet ist als die Bauernhäuser im Ort.

 

Im Dreißigjährigen Krieg wurde der Ort fast vollständig zerstört. Beim Neuaufbau aber will gleich die verfügbare Fläche erweitern und schafft das Neubaugebiet „Plan“: Bei den Häusern Planstraße 8 und 25 läßt man die Mauer abbiegen, um sie etwa 40 Meter weiter im Westen neu zu errichten. Mitte der 60iger Jahre des 17. Jahrhunderts wird die alte Mauer abgebrochen und der bisherige „Plan“ wird neu bebaut („Plan“ deshalb, weil man hier eine ebene Fläche geschaffen hatte, um Angreifer gut erkennen zu können). Die älteste erhaltene Jahreszahl ist 1668 an der Scheune Erbsenstraße 14. An den Häusern Planstraße 17 und 19 steht die Jahreszahl 1676. Etwa zwölf Neubauten können auf dem Gebiet errichtet werden. Die Karte von 1762 weist aber aus, daß aber nach 50 Jahren erst die Hälfte bebaut war. Die Verteidigungsanlage erhielt nach Westen zu eine Landwehr.

 

Nördlich der Planstraße wurde auch eine Wasserleitung angeschnitten. Aus allen möglichen Jahrhunderten liegen allenthalben Ton‑ oder Holz­rohre noch heute in der Erde, und im Zweifelsfall sonnt sich der Finder in der Freude, eine „römische“ Wasserleitung entdeckt zu haben. Doch leider bleiben solche Behauptungen ohne wissenschaftliche Untersuchung leer. Zwar kann niemand sagen, die Römer hätten nicht auch hier Was­serleitungen hinterlassen, aber gefunden wurde bisher nachweislich noch keine.

Die alte Wasserleitung, die in ihrem Verlauf nachgewiesen ist, stammt frühestens aus der Zeit des ausgehenden Mittelalters. Sie beginnt oberhalb der Büchertalschule, unterquert dann den Mittelbuchener Schulweg und setzt sich unter der Bebauung oberhalb der Wachenbuchener Straße bis zum Haus Nr. 16 fort und unterquert dann die Straße bis zur Kreuzung.

Von Norden kommt eine zweite Leitung aus dem Feld. Daß der „alte Keller“ die gefaßte Quelle gewesen sei, dürfte wohl eher eine Legende sein, aber die Richtung stimmt jedenfalls. Diese Leitung geht durch den Simmichborn unter der Kilianstädter Straße hindurch und vereinigt sich mit der Leitung von der Büchertalschule.

Gemeinsam fließt das Wasser nun weiter durch die Wassergärten und macht etwa 500 Meter hinter der Bebauungsgrenze eine scharfe Rechts­kurve nach Süden. Die Wasserleitung führt durch die „Große Wiese“ weiter durch den Wald, 600 Meter östlich der Altenburg und anderthalb Kilometer östlich des Kinzigheimer Hofes vorbei und dann unter dem Autobahnkleeblatt hindurch nach Hanau, entlang der Bruchköbeler Landstraße bis zu den Dekalin‑ Werken, wo sie dann nach Osten schwenkt und an der Kinzig endet.

Naheliegend wäre, daß sie Wasser in das gräfliche Schloß führen sollte. Zwar liegt der Schluß nahe, aber der Beweis fehlt, denn bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts fand sich weder bei der Residenz noch in der Stadt eine Wasserleitung. Rund vierhundert private und dreiundvierzig öffentliche Brunnen sind nachgewiesen, und wenn es überhaupt Leitungen gab, so waren dies hölzerne Leitungen, wie sie in Mittelbuchen in der Alten Rathausstraße gefunden wurden.

Diese Keramikleitung ist aber 430 Jahre alt. Eine Untersuchung aus dem Jahr 1981 (Thermolumineszenz‑Analyse) brachte dieses Ergebnis zutage. Das bedeutet also, daß die Leitung um 1570 gebaut worden sein dürfte. Mit Unterstellung von Fehlerquoten kann man noch 50 Jahre ‑ maximal 100 Jahre ‑ hinzu‑ oder abrechnen. So könnte man als Höchstalter das Jahr 1470 annehmen. Man hat auch schon angenommen, daß die Mittelbuchener Burg, die 1389 erwähnt wurde, und deren Reste um 1860 noch zu sehen waren, davon profitierte, denn sie lag direkt daneben, aber das kann man auch nicht beweisen. Sicher ist aber, daß nach der Mittelbucher Keramikleitung noch eine von Wachenbuchen nach Hanau gebaut wurde, wenn auch erst im 18. Jahrhundert.

Zu der Zeit, als die Hanauer diese Wasserleitung aus Wachenbuchen bekamen, war in Mittel­buchen mit dem Wasser große Not. Es gab in jener Zeit viele Wolkenbrüche, und vom Kilianstädter Berg stürzte das Wasser in den Ort, und die Häuser und Hofreiten wurden unter Wasser gesetzt. Im Jahr 1762 wurde deshalb ein Plan erstellt, nach welchem entsprechende Gräben und Dämme gebaut werden sollten, die das Wasser am Kilianstädter Weg Richtung Wiesbörn­chen ableiten und dort in den Bach, der dann ohnehin nach dem Wald hin abläuft, kana­lisieren sollten. Dieser Plan ist bis heute erhalten, und ihm verdanken wir die einzige Karte von Mittelbuchen. Die Mittelbucher mußten bis 1959 warten, bis sie ihre „Börnchen“ auf der Straße abbauen konnten.

Wenn man die Planstraße in Richtung Süden weitergeht kommt man wieder zur Alten Rathaus Straße und zur Kreuzung, an der - nach Sauer - eine Mittelbucher Burg gestanden haben soll. Die Kutschergärten dieser Burg wären an der Südostecke der Kreuzung gewesen.

 

Geschichte der Kirchengemeinde:

Die Pfarrkirche war dem H. Bonifatius geweiht und stand unter dem Dekanat Roßdorf im Archi­diakonat S. Maria ad Gradus in Mainz. Patron waren die Herren von Hanau. Um 1340 kam der Pfarrer Werner von Lichtenberg nach Mittelbuchen. Er stammte wohl von der gleichnamigen Burg im Odenwald wurde aber Pfarrer. Sein Ziel war es, für Mittelbuchen vom Papst einen Ablaßbrief zu erreichen. Aber es gab eine Schwierigkeit: Wenn eine Gemeinde einen Ablaßbrief wollte, so mußte sie dem Heili­gen Erzengel Michael eine Kapelle errich­ten. Die meisten Ge­meinden zogen sich so aus der Schlinge, daß sie einfach in einer Etage des Kirch­turms, die ohnehin nicht gebraucht wurde, einen Altar für den Erzengel aufstellten ‑ und schon bekamen sie ihren ersehnten Ablaßbrief.

Aber so ging das in Mittelbuchen nicht, denn die Kirche hatte keinen Turm und auch im Inneren keine Nische, die man als Kapelle hätte deklarieren können. So wurde im Jahr 1344 an die Kirche eine Michaelskapelle angebaut. Eine Kaplanstelle wurde geschaffen und bald darauf wurde Emercho zum Kaplan der Micha­elskapelle ernannt. Im Grundriß kann man diese Kapelle noch 1750 erkennen. Im Jahr 1393 wurde Johann Cremer mit dem Altardienst betraut und war bis 1415 Altarist. Sein Nachfolger war Johann von Buchen, der 1438 starb, und ihm folgte Martin Bruner, der sechs Jahre später auch noch den Altardienst am Kreuzaltar in Windecken versah. Als er 31 Jahre danach starb, folgte 1469 Hartmann von Marköbel.

Er hatte einen harten Schlag der „Konkurrenz“ hinzunehmen: 15 Kardinäle erteilten für Hanau einen Ablaßbrief von hundert Tagen Ablaß je Bußleistung. Das waren pro Kirchenbesuch jeweils 1500 Tage Ablaß aus dem Fegefeuer. Dieses konnte die Michaelskapelle nicht einmal zur Hälfte bieten, und noch nicht einmal jeden Tag. Die Michaelskapelle war ‑ zumindest für die Hanauer ‑ uninteressant geworden.

Im Jahr 1363 trat Wernher von Lichtenberg die Reise nach dem Hof des Papstes Urban V. in Avignon in Frankreich an. Am 6. September 1363 erklärten sich 18 Bischöfe (darunter drei Erzbischöfe) bereit, den Ablaßbrief unter ihrem Namen und Siegel aus­stellen zu lassen. Pfarrer Werner bekam einen Ablaßbrief, der alles, was man sonst kannte, in den Schatten stellte.

Der große Ablaßbrief wurde bewilligt. Aber er gewährte nicht - wie für andere Kirchen – je 40 Tage Ablaß zu Weih­nachten, Ostern und Pfingsten (also 120 Tage pro Jahr), sondern wer in Mittelbuchen Buße tun wollte, hatte an 187 Tagen im Jahr Gelegenheit dazu, sich jedesmal für ganze 800 Tage (zwei Jahre und 2 ½ Monate) freizukaufen. Der Jubel in Mittelbuchen muß groß gewesen sein und in Wachenbuchen und Lützelbuchen ebenfalls, denn so leicht wie in der Bonifatiuskirche konnte man von nun an nirgendwo Sünden loswerden. Und das galt nicht nur für die Buchener. Mittelbuchen mußte geradezu zum Wallfahrtsort geworden sein. Im späten Mittelalter war die Angst vor Hölle und Fege­feuer panisch geworden, so daß das immer häufiger werdende Angebot von Ablaß wie eine Droge wirken mußte.

Man mußte nur in die Bonifatiuskirche oder in die Michaelskapelle gehen und entweder andächtig sein oder beten. Pilger waren ausdrücklich eingeschlossen. Aber auch die, die ohnehin turnus­mäßig die gottesdienstlichen Veranstaltungen oder Begräbnisse u.a. be­suchten. Es genügte schon, über den Kirchhof zu gehen und Weihwasser zu nehmen oder am Grabe der Angehörigen zu beten. Nein, selbst zu Hause hatte es Zweck, wenn man beim Abendläuten die Knie beugte und Ave Maria und Vater Unser betete.

Auch das Spenden von Gaben in Gold, Silber, Kerzen, Spenden für die Unterhaltung der Kirche sowie die Abfassung von Testamenten zugunsten der Kirche brachten den Ablaßerfolg. Glücklicherweise wurde auch nicht vergessen, die zu bedenken, die mit Rat und Tat anderen Menschen bei­standen und diejenigen, die für andere Menschen beteten, genau gesagt, für den Erzbischof in Mainz, den Herrn Ulrich in Hanau und die Familie von Lichtenberg.

Die Urkunde ist so unfaßbar schlampig abgefaßt, daß man nicht mehr davon ausgehen kann, daß wirklicher Ernst und tiefer Glaube dahinter­stand. Daß der Anfangsbuchstabe, für den auch reichlich Platz gelassen wurde, ein „U“, nicht eingefügt und ausgemalt wurde, wie in mittelalterli­chen Urkunden üblich, und daß die Akkuratesse, mit der andere Urkun­den künstlerisch geschrieben wurden, völlig fehlt, mag man noch der Verwaltung ankreiden. Daß der Bischof Sergius von Ravello zweimal als Absender auftritt, mithin also statt 40 Tage Ablaß 80 Tage gegeben hat, das durfte in einer ernstzunehmenden Urkunde doch nicht vorkommen.

Leider hat Werner von Lichtenberg die endgültige Bestäti­gung des Ablaßbriefs nicht mehr erlebt: Der Erzbi­schof Gerlach von Nassau in Mainz nahm sich zu lange Zeit mit der Bestäti­gung des Briefes. Im Jahre 1364 kam schon, Gerlach Gufer als Nachfolger nach Mittelbuchen.

In der Michaelskapelle folgte 1489 Johann Lug auf Hartmann, und auch er war zugleich auch in Windecken. Bis 1525 war er im Dienst. Es war das Buchener Reforma­tionsjahr. Der letzte Kaplan war dann noch Johann Volpmann. Aber die Reformation war da, Heiligenverehrung gab es nicht mehr, eine Michaels­kapelle braucht man nicht mehr, so wurde sie zum Chorraum der an­grenzenden Kirche ausgebaut.

 

Zu Beginn des 15. Jahrhunderts war in Mittelbuchen immer noch der Pfarrer Ulrich, während aus Wachenbuchen keine Nachrichten mehr sind, wer nach dem Weggang von Gerlach nach Mainz Nachfolger wurde. Es scheint aber ein Pfarrer namens Heiso gewesen zu sein, der 1407 erwähnt wird. Ihm folgte spätestens 1411 Ludwig Antreff (auch Antreche ge­schrieben) nach. Aber Antreff wechselte spätestens 1430 nach Mittel­buchen über.

Ludwig Antreff erlebte eine große Überraschung. Der neugebackene Graf Reinhard war mit seiner Marienkirche in Hanau nicht mehr zufrieden. Was für einen Herren gut war, ist für einen Grafen noch lange nicht gut genug. Der Gottesdienst sollte nicht nur herrlich, sondern gräflich sein. Und dazu brauchte Reinhard Leute. Neue Altäre waren schnell gebaut, aber Pfarrstellen ließen sich nicht einfach aus dem Boden stampfen. Deshalb dachte er an Ludwig Antreff. Antreff sollte künftig in der Marienkirche Altardienste leisten. Auch die Altaristen der St. Georgskapelle wurden dazu geholt. Mit Sicherheit auch der Wachenbuchener Pfarrer ‑ aber darüber liegen, wie gesagt, aus dieser Zeit keine Nachrichten vor. Zur Bezahlung dieser aufwendigen Besetzung schuf der Graf ein heute noch bestehendes Stiftungsvermögen um alle vergüten zu können ‑ die für seine Gottesdienste „präsent“ sein mußten, die sogenannte „Präsenz“.

Geplant war wohl, daß beide Gemeinden nun Filialen der Marienkirche sein sollten. Aber Pfarrer Antreff muß sich wohl mit seinem Wachenbucher Kollegen den Plänen widersetzt haben. Als er 1454 starb, war seine Gemeinde noch selbständig.

Erst Pfarrer Schlosser, offenbar der „starke Mann“ in Hanau, schaffte es dann schließlich, zumindest die Gemeinde Mittelbuchen 1486 der Ma­rienkirche „einzuverleiben“. Mittlerweile waren es nun schon neun Altari­sten geworden. Diese Fusion war allerdings nur von kurzer Dauer. Schon nach 39 Jahren, als die Reformation schon voll im Gange war, trat 1525 ein Wechsel im Mittelbucher Pfarrhaus ein, von dem noch die Rede sein wird. Ein evangelischer Pfarrer kam und machte natürlich keine katholischen Altardienste mehr. Der katholische Pfarrer von Mittelbuchen ging nach Altenhaßlau und machte den Altardienst in Hanau weiter. Dadurch haben heute noch die Gemeinden Wachenbuchen, Mittelbuchen und Altenhaß­lau Anteil am Präsenzvermögen, und die beiden Buchener Gemeinden haben abwechselnd den zweiten Vorsitz inne. Die Präsenz als solche aber erlosch, als Hanau auch evangelisch wurde. Die Patrone behielten aber weiter das Besetzungs­recht. Die Präsenz hat für Bau und Unter­haltung der Pfarreigebäude zu sorgen; der Pfarrer war Mitglied des Stiftskollegiums (Kanonikus) der Marien‑Magdalenenkirche in Hanau.

 

Der Patron der Wachenbuchener Kirche, Diether von Isenburg war ein Ekel. Wo er nur konnte, spielte er seine Macht aus. Offenbar hatte er sogar im ganzen Ruralkapitel Roßdorf Einfluß, und er machte Eingaben beim Erzbischof und beim Papst, die dann ihrerseits wieder entsprechende Erlasse heraus­gaben. Im Jahre 1462 trat das Ruralkapitel zusammen und stellte fest, daß man wegen Diether „keine Versammlungen mehr abhalten könne“. Kämmerer des Kapitels war zu dieser Zeit der Mittelbuchener Pfarrer Wenzlaus. Er bekam den Auftrag, in dieser Angelegenheit tätig zu werden.

Er machte sich auf zum Notar Johann von Usingen und appellierte dort gegen die Befehle von Papst Pius II. (1458‑64), gegen den „Erwählten von Mainz“ (den Erzbischof Adolf von Nassau) und Diether von Isenburg. Als Zeugen zog er den Pastor Johann Keller von Bergen und den Priester Syfried von Malsberg hinzu. Somit wurde er eindeutig der Buchener Vorreformator.

Aber die Geistlichen des Kapitels machten nicht nur Worte, sie handelten auch. Ab sofort wurde keine Kirchensteuer mehr bezahlt. Zwei Jahre lang. Dann kam eine Drohung des Propstes an den Archipresbyter in Roßdorf, daß alle Säumigen mit Exkommunikation belegt werden, wenn sie nicht innerhalb von 15 Tagen bezahlt haben. Man nahm den Bann nicht mehr so ernst wie früher. Was wollte denn die Kirche mit lauter exkommuni­zierten Pfarren? Nach fünf Monaten waren erst 168 Gulden eingegangen. Alsdann der Erzbischof anordnete, daß nun 10 Jahre lang je 20 Pfennig zusätzliches Kirchgeld bezahlt werden solle ‑ jährlich 114 Gulden ‑, so scherte man sich kaum darum. In zwei Jahren waren nur 64 Gulden eingegangen. Die Bereitschaft zur Subordination ging

dem Ende zu.

 

Antonius Wilner hieß der Mittelbuchener Pfarrer (von Wachenbuchen hören wir aus dieser Zeit immer noch nichts), und er hielt an seinem alten Glauben fest. Aber je länger, desto mehr konnte er sich nicht mehr halten. Mit Sicherheit hatte er noch viele Gläubige hinter sich, aber sie waren nicht mehr die Mehrheit. Man sagte ihm, er solle gehen. Er sah es auch ein. Es waren wieder vier Jahre seit dem Reichstag vergan­gen. In Windecken wohnte ein aus Hanau stammender Pfarrer namens Johann Emmel. Er war begeistert für die Reformation und vielleicht bei so manchem in Windecken deshalb nicht beliebt. Man holte ihn nach Mittelbuchen, und Antonius Wilner ging nach Altenhaßlau. Bereits am 21. Mai 1525 trat Emmel seine Stelle hier an, obwohl Wilner erst am 27. Mai ging. Pfarrer Johann Emmel bekannte sich zu der Bekenntnisschrift, die die Evangelischen vor dem Reichstag (1530, ebenfalls in Augsburg) vorgelegt hatten. Der Reichstags­beschluß von 1555 sicherte dann sieben Jahre später ab, daß das auch alles so in Ordnung war.

Wer katholisch bleiben wollte, hatte es nun gut, daß da noch die Micha­elskapelle war. Im Juni kam ein neuer Kaplan, und die Kapelle wurde wieder aktuell. An eine Spaltung der Kirche hatte man damals noch gar nicht gedacht.

 

Friedrich Wilhelm Richter, der Mittelbuchener Pfarrer der Aufklärung hatte persönlich ein schweres Schicksal: Er kam 1742 nach Mittelbuchen. Er war verheiratet, und seine Frau war in Erwartung eines Kindes. Im Jahr darauf starb die junge Frau von 22 Jah­ren und wenige Monate später das Kind. Richter heiratete nach Jahresfrist wieder: die Tochter des französischen Pfarrers in Hanau. Wieder hatte dieses Ehepaar ein Kind, und auch dieses starb nach eineinhalb Jahren. Die damals ebenfalls 22jährige Mutter folgte ihrem Kind einen Monat später im Tod nach. Richter war wieder allein. Nach zwei Jahren entschloß er sich, es noch einmal zu versuchen. Vier Kinder gingen aus der dritten Ehe hervor, doch nach 18 Ehejahren starb er dann, auch gerade erst 52 Jahre alt.

 

Im Jahre 2002 wurde die Kirche renoviert. Die Walker-­Orgel aus den 50iger Jahren war schwer überholungsbedürftig. Bei Schachtungsarbeiten für die Heizungsablage in der Kirche stieß man auf vermu­tete und unerwartete Funde. Bei den Erdarbeiten für die neuen Warm­luftschächte stieß man auf die Grundmau­er des Vorgängerbaus, die in Urkunden er­wähnte Michaeliskapelle aus der Mitte des 14. Jahrhunderts. Möglicherweise stand an gleicher Stelle bereits 1340 eine kleinere Kapelle aus Holz. Mit den Mauerresten bestätigte sich lang Vermutetes. Unerwartet war indes der Fund eines Mainzer Hohlpfennigs ‑ so genannt, weil er bei der einseitigen Prägung eine leicht schalenförmige Form er­hielt. Die Münze war vermutlich irgend­wann in der Zeit von 1480 bis 1560 statt in den Klingelbeutel in eine Ritze des Holz­fußbodens gefallen.

Beim Ausheben des Luftschachtes in der Nähe des Altars kam das vollständige Skelett eines ver­mutlich vier bis sechs Jahre alten Kindes zutage, das nur 30 Zentimeter unter dem heutigen Kirchenboden begraben lag. Unter dem Kinderskelett fanden sich Knochenreste von Erwachsenen und ein Schädel. Offensichtlich baute man das heutige Gotteshaus zum Teil über einem ehemali­gen Friedhof. Zum Alter der Knochenfunde lassen sich derzeit noch keine Aussagen machen. Ein bißchen zum Kirchenbau verrät je­doch die Lage des Kinderleichnams: Kin­der, die vor der Taufe starben, beerdigte man dicht an der Kirchenaußenmauer, da­mit der Regen vom Dach auf die Grabstät­te lief, um so im nachhinein das Sakrament zu erteilen.

 

Die katholische Kirchengemeinde: Bis 1946 blieb die Gemeinde rein evange­lisch. Kesselstadt hatte bereits 1909 wieder eine katholische Gemeinde, allerdings ohne Kirche. Doch die Wende kam mit der Ausweisung der Heimatvertriebenen aus den ehemals deutschen Ostgebieten. Die Zahl der Katholiken wurde auch durch Zuzug von Außerhalb und durch die Neubaugebiete vergrößert.

Nach und nach wurde nun die katholische Gemeinde die katholische Pfarrkuratie Kesselstadt integriert. Die evangelischen Kirchen­gemeinden stellten ihre Kirchen zur Verfügung, auch die Barackenkirche in der Hohen Tanne. Im Jahre 1962 wurde der 1921 in Kesselstadt geborene Karl Schönhals Pfarrkurat der Kuratie Kesselstadt und betrieb den lange geplanten Bau der St. Elisabethkirche voran. Im Jahr 1964 war sie fertig und wurde vom Fuldaer Bischof Bolte konsekriert. Gleichzeitig wurde die Gemeinde zur Pfarrei erhoben und Karl Schönhals zu ihrem ersten Pfar­rer.

 

Baudenkmäler:

Bilder in: Hanau Stadt und Land

Straßenbild mit Blick auf die Kirche in Mittelbuchen, Seite 234

Obertor mit Mauerturm,        Seite 235

Grabstein Richter,                     Seite 270

Lauf­brunnen mit Viehtränke, Seite 295

Verzierte Torpfosten,               Seite 297

 

Über das Obertor gibt es die hervorragende Broschüre:

Ernst Gimplinger: Die bauliche Geschichte des Obertores in Mittelbuchen,

Sonderdruck 2014, Mittelbuchener Heimat- und Geschichtsverein e.V.

 

 

Statistisches:

Einwohnerzahl 1820 = 464; 1855 = 684; 1885 827; 1905 = 1003; 1919 = 1100; 1925 = 1205; 1939 = 1310; 1946 = 1541; 1953 ‑ 1625, davon Heimatvertriebene = 198, Evakuierte = 41 (aus Hanau = 39).

Bekenntnis: 1905 ev. = 987, kath. = 15, sonst. = 1, heute ev. = 1445, kath. = 152, sonst. = 15.

 

Wirtschaft 1953:

Starke Landwirtschaft (100 Familien); heute auch Arbeiterwohnsitzgemeinde.

Von einem Neubürger wurde ein neuer Beruf eingeführt: Musikinstrumentenbauer.

 

 

 

Neubaugebiet: Mittelbuchen Nordwest:

Das umstrittene Neubauprojekt im Stadtteil Mittelbuchen mit insgesamt 122 Wohneinheiten ist fertiggestellt. Darüber informiert der zuständige Bauträger Buwog in einer Mitteilung. Am nordwestlichen Ortsrand würden in diesen Tagen die letzten Grünbereiche und Außenanlagen fertiggestellt. Seit 2017 wurde an dem Quartier, das mittlerweile den Namen „Landgut" trägt, gebaut. Alles in allem entstanden 122 Wohneinheiten, aufgeteilt in 89 Einfamilienhäuser, Doppelhäuser und Reihenhäuser sowie 33 Eigentumswohnungen in Mehrfamilienhäusern.

Das Ensemble grenzt an einen durch den Bauträger Buwog geplanten großen Spielplatz im Quartier an.

„Die weißen Wohngebäude fügen sich harmonisch in die Feld- und Wiesenlandschaft ein“, heißt es in der Pressemitteilung. Das sah und sieht eine Vielzahl von Mittelbuchern anders. Für viele ist das Neubaugebiet, das sich optisch von der vorhandenen Bebauung stark unterscheidet, ein Fremdkörper in einem gesund gewachsenen, abwechslungsreich und individuell gestalteten Ortsbild.

Eine Bürgerinitiative, die IG Bauvorhaben Mittelbuchen Nordwest, machte gegen das Neubaugebiet mobil, es gab Bürgerversammlungen in der Mehrzweckhalle und immer wieder Treffen von Stadt und betroffenen Anwohnern, deren Grundstücke direkt an das Baugebiet grenzen beziehungsweise die sich vom Bauverkehr oder generell vom vermehrten Verkehrsaufkommen in den Zubringerstraßen (laut IG zusätzliche 1000 Fahrten pro Tag) beeinträchtigt fühlten.

Vor allem die enge, in die Höhe ragende Wohnbebauung stieß den direkten Nachbarn sauer auf. Teilweise dreigeschossig, mit wenig Abstand zu den Bestandsgebäuden, die teils aus Flachdachbungalows bestehen. Die Interessengemeinschaft führte zudem die klein-klimatisch negativen Einflüsse zum Beispiel durch die Veränderung des Luftaustausches und die verminderte Sonneneinstrahlung durch Beschattung als Argument gegen das Baugebiet auf. Sie würden die Wohnqualität beträchtlich verschlechtern. Auch die hochverdichtete Bebauung, die sich massiv auf die Infrastruktur Mittelbuchens auswirken und jeden Mittelbuchener Bürger betreffen würde, führte die IG als Argument an, genauso wie die schon immer knappen oder nicht ausreichend vorhandenen Kindergarten- und Hortplätze.

Die Auswirkungen auf die natürlichen Lebensräume wie des Feldhamsters oder des Rotmilans mit nachhaltigen Schäden beziehungsweise Vernichtung der Populationen war ein weiteres Argument der IG gegen das Neubaugebiet. Letztlich half alles nichts, „Mittelbuchen Nordwest - Vor dem Lützelberg“ wurde realisiert. Wobei der Bauträger auf einige Anliegen der BI einging. So verbessern begrünte Dächer auf den Häusern im Quartier das Klima, sorgen für einen natürlichen Kühlungseffekt im Sommer und wirken dämmend. Zugleich sind Gründächer Lebensraum für Vögel und Insekten.

Mit dem finalen Bauabschnitt von 16 Wohneinheiten schließt die Buwog nun eine Quartiersentwicklung ab. Es galt dabei, so heißt es in der Mitteilung des Bauträgers, die Bedürfnisse an neuen Wohnraum in Einklang zu bringen mit Artenschutz und Archäologie.

Im Jahre 2018 wurden bei archäologischen Untersuchungen des Grundstückes historische Gräber der späten Jungsteinzeit des dritten Jahrtausends vor Christus entdeckt. Diese wurden

geborgen und dem Denkmalschutz übereignet. Zu den spektakulärsten Funden gehörte ein Grab mit sechs Personen, darunter ein junges Paar, das eng umschlungen und scheinbar küssend bestattet wurde.

Beim Artenschutz wiederum galt es, mit besagten Feldhamstern umzugehen. Vor dem Start des finalen Bauabschnitts 2021 ließ die Buwog auf der Brachfläche - wie bereits vor Beginn der vorangegangenen Bauabschnitte - ein potenzielles Feldhamstervorkommen überprüfen. Die Beobachtung durch unabhängige Gutachter nahm mehrere Monate in Anspruch, in denen die Bauarbeiten Abstand halten mussten zu den vermuteten Hamsterbauten. Nach eingehender Untersuchung der Feldhamsterverdachtsfläche wurde im Sommer 2021 schließlich eine Freimeldung durch die untere Naturschutzbehörde erteilt. Mit vorliegender Freimeldung und in behördlicher Abstimmung konnten die Arbeiten weitergehen. Für die Feldhamster-Vorkom­men in der Region wurden gemeinsam mit der Stadt erfolgreich Ausgleichsflächen geschaffen und damit auch Belange des Umwelt- und Artenschutzes einbezogen.

Insgesamt wurden in das Projekt laut Mitteilung der Buwog rund 50 Millionen Euro investiert, ein Großteil sei in Form von Aufträgen an regionale Unternehmen und örtliche Handwerksbetriebe in der Region geblieben. Im letzten Schritt gilt es laut Buwog nun, die Erschließungsstraße und den Quartiersplatz abschließend fertigzustellen (Rhein-Main EXTRA TIPP, 25. Juni 2022).

Die Wachenbucher hatten Recht, als sie die Eingemeindung nach Hanau ablehnten mit dem Argument: „Die wollen doch nur unser Bauland!“ Zunächst wurde in Mittelbuchen am westlichen Ortsrand gebaut, dann am östlichen. Dann kam das Gebiet entlang der Landstraße nach Wachenbuchen. Und schließlich noch weiter nach Nordwesten. Jetzt ist mindestens die doppelte Fläche wie 1972 bebaut,

 

 

Wolfgang

                                                                       

 

Lage:

109 Meter ü. N. N. Die Ge­markung liegt südöstlich von Hanau (3 Kilometer entfernt) an der Eisenbahnlinie Hanau­-Bebra, umfaßt 1798 Hektar, da­von 1640 Hektar Staatswald, und wird von den Gemarkungen Hanau und Großauheim ein­geschlossen.

 

Bodenfunde:

 Römische Zeit: Der Limes verläuft in der Bulau, streckenweise ist er gut erhalten, in Richtung Süd‑Nord. Dicht nördlich vom Neuwirtshaus ist ein kleines Zwischenkastell dicht hinter dem Limes an der Birkenhainer Straße.

 

Älteste Namensformen:

Ehemals Pulverfabrik; Gutsbezirk seit 1874/75. Bildung der Gemeinde Wolfgang 1928. ‑ Kloster St. Wolfgang 1468; Oberförsterei/Jagdhaus 1715.

 

Geschichtliches:

Im Bulauwald gründete 1468 Erasmus Hasefuß, Trompeter des Grafen Philipp d. J. von Hanau, eine Kapelle zu Ehren des S. Wolfgang, die mit Serviten‑Mönchen besetzt wurde. Im Jahre 1502 wurde das kleine Kloster wegen eingerissener Mißstände mit dem Hospital in Hanau vereinigt und 1525 im Bauernkrieg zerstört. Im Jahre 1715 ließ Graf Johann Reinhard von Hanau in der Nähe der Ruine ein Jagdhaus bauen, die heutige Oberförsterei.

Im Jahre 1875 wurde die Pulverfabrik eröffnet. Wolfgang und Pulver­fabrik bildeten bis 1928 zwei Gutsbezirke, aus denen am 1. April 1928 die neue Gemeinde Wolfgang gebildet wurde.

 

Kloster Wolfgang siehe unter „Rodenbach

Bild Seite 264: Ehemaliges Forst­haus an der alten Straße nach Niederrodenbach, einst ein beliebtes Ausflugsziel der Hanauer (es lag im Gelände der heutigen großen Kasernen).

Klosterruine St. Wolfgang Seite 262

 

Pionierkaserne Hanau:

Die annähernd halbkreisförmige Kasernenanlage wurde, zwischen 1936 und 1938 nach Plänen des Kommandeurs des Eisenbahnregiments Nr. 3, Hans von Donat, am Rande des Bulauer Waldes errichtet. Der städtebaulich markante Komplex besteht aus zwei jeweils fünf parallele Einzelbauten umfassenden Baugruppen zu beiden Seiten des Haupteinganges sowie sechszehn eingeschossigen, halbkreisförmig angeordneten funktionalen Nebengebäuden in der zeittypischen Form der sogenannten Normbaracken. Die sich unmittelbar an der Aschaffenburger Straße erhebenden Bauten entstanden hingegen ganz offensichtlich im Sinne der für den sozialen Wohnungsbau entwickelten Landschaftsnorm, mit der man durch Reglementierungen der Dachneigungen oder Fassadengestaltungen an regionale Eigenheiten anzuknüpfen und „heimatliche Verbundenheit“ zu thematisieren hoffte: Durch Aufschieblinge verlängerte, hohe Satteldächer mit über die gesamte Baulänge durchlaufenden Schleppgauben überfangen die langgestreckten Baukörper, deren Fassaden die zeittypischen ein- bis mehrgeschossigen, von Konsolen abgefangenen Hängeerker beleben. Tragender Gedanke wird auch hier die scheinbare Kontinuität des Heimatschutzgedankens des frühen 20. Jahrhunderts gewesen sein, dessen Stilformen man - gering variiert - für die neuen Inhalte des Nationalsozialismus adaptierte (Dachform, Erker etc.). Als aussagekräftiges Zeugnis nationalsozialistischer Architektur ist die Kaserne ein Kulturdenkmal aus geschichtlichen, aber auch städtebaulichen Gründen.

 

Nach intensiven Verhandlungen hat Anfang August 2016 die Stadt Hanau von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben das Areal der ehemaligen Pioneer-Kaserne erworben. Über den Kaufpreis wurde Stillschweigen vereinbart. Rund 47,5 Hektar groß, sollen nach den Vorstellungen der Stadt auf dem Gelände im Stadtteil Wolfgang rund 700 neue Wohneinheiten für unterschiedliche Bedürfnisse und Ansprüche  entstehen. Individuell geplante Einfamilien- und Reihenhäuser sowie Stadtvillen, Geschoßwohnungsbau und die Sanierung bereits bestehender Wohnblöcke werden in den verschiedenen Bereichen des weitläufigen und von viel Grün umgebenen Gebiet nebeneinander verwirklicht.

„Im Vordergrund steht für uns hier die Vielfalt: eine breite soziale Mischung, mehrschichtige Wohnprojekte für jedes Einkommen, jedes Alter, jede Herkunft und jede gesundheitliche Verfassung“, unterstreicht Oberbürgermeister Kaminsky den hohen Anspruch an die künftige Planung für Pioneer. Denn diese Vielfalt sei der Garant für modernes urbanes Leben, für eine lebendige Stadt im Rhein-Main-Gebiet, das eine der herausragenden Wachstumsregionen in Europa sei. „Für dieses neue Wohngebiet sehen wir Vielfalt nicht als Problem, sondern als Marke - als unverwechselbares Kennzeichen des expandierenden Stadtteils.“

Ein erstes Nutzungskonzept, das im Büro des Architekten Klaus Heim als Grundlage erarbeitet wurde, sieht im Detail vor, daß die bisherige fächerartige Bebauung des Areals auch künftig im Luftbild erhalten bleibt. Der äußere Bereich, der an einen Grüngürtel angrenzt, soll in rund 140 Grundstücke aufgeteilt werden, um Platz für 180 Wohneinheiten in Einzel-, Doppel- und Reihenhäusern zu schaffen. Der innere Halbkreis ist sogenannten Stadtvillen vorbehalten. Hier sollen rund 190 Wohneinheiten im Geschoßwohnungsbau mit ausreichend Parkraum in Tiefgaragen entstehen.

Die unter dem Namen „Zehn Brüder“ bekannten und von der Straße deutlich sichtbaren Blöcke sollen für eine Mischnutzung zur Verfügung stehen. Wohnen und Gewerbe können hier hervorragend nebeneinander angesiedelt werden. Der in sich abgeschlossene Bereich des früheren Triangel Housing, der etwa 25 Prozent der Gesamtfläche ausmacht, verfügt bereits über bestehende Wohnblöcke, die zum Teil saniert oder abgerissen werden und durch Neubauten ergänzt werden sollen. Nach den aktuellen Planungen könnten auf diese Weise 220 Wohneinheiten entstehen, die den Bedarf nach günstigerem Wohnraum decken.

Schließlich könnte aus dem Pioneer-Gelände auch ein Vorzeige-Projekt in Sachen Klimaschutz werden, hofft die Stadt. Unter dem Motto „Klima-Pionier-Quartier Hanau“ hat sich die Stadt um die Aufnahme in das Bundesprogramm Stadtumbau beworben, das in diesem Jahr neu aufgelegt wurde. Gelingt es, sich mit dem von der NH Projektstadt erarbeiteten Entwurf durchzusetzen, werden in diesem zukünftigen Wohnquartier innovative energetische Konzepte eine Rolle spielen, die Hanau einmal mehr zu einem Vorbild für andere Kommunen machen kann.

 

Statistisches:

Einwohnerzahlen: 1905 (Gutsbezirke Pulverfabrik und Wolfgang) = 356; 1919 = 316; 1925 = 341; 1939 = 1185 (mit Militärpersonen); 1946 = 585; 1953 = 966, davon Heimat­vertriebene = 130, Evakuierte = 49 (aus Hanau = 40).

Bekenntnis: ev. = 600; kath. = 320; sonst. = 5 Prozent.

 

 Wirtschaft 1953:

Die Einwohner sind hauptsächlich in Industrie‑ und Handwerksbetrieben sowie im öffentlichen Dienst in Hanau und Frankfurt beschäftigt. Deutsche Kunstlederwerke (Degussa); Condux‑Werke. ‑ Samendarre; Großkamp (Großbaumschule) des Forstamtes Wolfgang an der Niederrodenbacher Straße.

 

 

 

Steinheim

 

Steinheim besitzt eine Reihe stattlicher Wohnhäuser des 16. bis 18. Jahrhunderts: das Anwesen des Amtsmannes Frowin von Hutten mit seinem Renaissance-Hauptbau, das Leonrod’sche Haus (Hauszeichen von 1590), das sogenannte Schönbornhaus aus dem 18. Jahrhundert, der Bickenhof. Die ältesten, dendrochronologisch datierten Bauten in Steinheim sind das Haus Volk in der Harmoniestraße (1395) und das Zunfthaus der Fischer und Schiffer (1414). Ebenfalls gotisch sind der Wenk’sche Hof und wohl die Zehntscheuer an der mainseitigen Stadtmauer sowie der Fronhof.

Bedeutend für Steinheim ist auch seine fast vollständig erhalten Stadtbefestigung, mit deren Bau wohl bald nach der Stadterhebung (1320) begonnen wurde. Sie besaß zwei Türme, Pestilenzturm und Dilgesturm sowie drei Tore: Maintor, Mühltor (zum Teil zugemauert) und Obertor. All diese Sehenswürdigkeiten sind beschrieben in dem Buch von Dr. Leopold Imgram: Die Bau- und Kunstdenkmäler von Groß-Steinheim am Main, 1931.

Wer Steinheim besucht, wandelt auf den Spuren illustrer Gäste. Der Humanist Ulrich von Hutten, der Maler Albrecht Dürer, General Tilly und sein Feind, der Schwedenkönig Gustav Adolf, und Graf Ferdinand von Zeppelin stehen auf der Gästeliste. Zu den fast ebenso berühmten Männern, die Steinheimer Familien entstammten, gehörten der Erbauer der Liberty-Schiffe Henry J. Kaiser und der Kardinal Hermann Volk.

 

Geschichte:

Die Besiedelung der Gemarkung Steinheim (Ober- und Niedersteinheim) läßt sich archäologisch von der jüngeren Altsteinzeit bis in das frühe Mittelalter nachweisen. Römische Siedlungsreste fanden sich an der Mainspitze, einem weitgehend hochwasserfrei gelegenen Siedlungsplatz, der bereits in vorgeschichtlicher Zeit aufgesucht wurde. Hier wurden die ersten Römerspuren 1845 entdeckt.

Eine 1886 etwas oberhalb der Kinzigmündung bei Baggerarbeiten entdeckte römische Mainbrücke verband beide Seiten des Flußufers, also die beiden römischen Ansiedlungen in Steinheim und Kesselstadt. Ihre Ausbaggerung führte zur Auffindung zahlreicher Gebrauchsgüter ans dem 1.-3. Jahrhundert nCh Haupterwerbsquelle der Bewohner dieser Ansiedlung, die offenbar bis zum endgültigen Fall des Limes bestand, dürfte die Verarbeitung des Steinheimer Basaltes zu Werksteinen und Gebrauchsgerät gewesen sein. Auch auf der Steinheimer Seite konnte ein kleines Badegebäude ausgegraben werden, das sich etwa 50 Meter östlich eines großen Hallenbaus von 45,5 x 18,6 Meter Ausdehnung befand.

 Im Jahre 1875 grub der Hanauer Geschichtsverein zwei in Ost-West-Richtung verlaufende Mauerstücke aus. Schließlich grub E. Anthes im Auftrag der Reichslimeskommission. Im Jahre 1894 wurde ein rechteckiges Gebäude festgestellt, das als Teil einer militärischen Anlage gedeutet wurde.

Zwischen 1961 und 1965 grub der Steinheimer Heimatforscher Karl Kirstein erneut in dieser Siedlung. Dabei wurde der Gesamtgrundriß des langrechteckigen Gebäudes (45,50 x 18,60 Meter) aufgenommen. Eine Innenraumeinteilung war nicht mehr zu ermitteln. Aufgrund der Breitenmaße kann aber mit Dachträgern gerechnet werden, die die Anlage vielleicht zwei- oder gar dreischiffig gestalteten. In dem aus Basaltmauerwerk errichteten Gebäude ist vermutlich ein Nebengebäude eines römischen Gutshofes (villa rustica) zu sehen, vielleicht aber auch das Hauptgebäude, das dann dem sogenannten „Hallenhaustyp“ zuzuordnen wäre.

Etwa 50 Meter östlich dieses Gebäudegrundrisses wurde das zugehörige Badegebäude aufgedeckt, das sich über einen holzverschalten Keller erstreckte, der vermutlich zu einem früheren Holzgebäude gehörte. Unter verbranntem Lehmfachwerk, das in den Keller gestürzt war, lagen acht Amphoren, mehrere Fibeln sowie ein Denar des Kaisers Severus Alexander. Danach ist die Kellerfüllung in die Zeit der Alamanneneinfälle der 1. Hälfte des 3. Jahrhunderts nCh zu datieren. Nach dieser Brandkatastrophe wurde über dem Keller ein Badegebäude aus Stein errichtet. Es zeigt einen einfachen Grundriß. Der Eingang hat im Süden gelegen. Dort befand sich das Kaltbad (frigidarium) F mit der Kaltwasserwanne (piscina) P. Es schloß sich das Heißbad (caldarium) C an. Von der Hypokaustheizung war lediglich der Unterboden erhalten. Es fanden sich auch noch andere Gebäude auf der Mainspitze.

 

Klein-Steinheim ist die ältere geschlossene Siedlung. Man hat dort in den letzten Jahren in der Nähe des Bahnhofes frühgermanische und römische Gräber in großer Anzahl gefunden. Groß- Steinheim ist eine fränkische Siedlung. Während die anderen benachbarten Orte schon im 9. Jahr­hundert erwähnt werden, tritt Groß-Steinheim erst im 13. Jahrhundert in mehreren Urkunden auf.

Die historische Überlieferung setzt mit einer Urkunde vom 19. Dezember 1222 ein, in der die auf einer Basaltkuppe am Südufer des Mains gelegene Burg Steinheim erstmals erwähnt wird, um den Ort Hausen (heute Kreis Offenbach) zu lokalisieren. Dieser Ort gehörte zum Herrschaftsbereich der Herren von Hainhausen, die wohl in der Mitte des 12. Jahrhunderts die Burg Steinheim gründeten. Nachdem die Herren von Hainhausen zwischen 1180 und 1190 in den Besitz der Burg Eppstein samt Herrschaftsgebieten im Taunus gelangt waren, nannten sie sich Herren von Eppstein, und diese wurden in einer Urkunde von 1254 dann ausdrücklich als Eigentümer der Burg Steinheim genannt. Die Burg war für sie Mittelpunkt des Amtes Steinheim, das sich von Alzenau bis nach Mühlheim und südlich nach Jügesheim erstreckte.

Unter den Herren von Eppstein wurde zwar die Burg 1301 im Zuge kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen den rheinischen Kurfürsten und dem deutschen König Albrecht von Habsburg durch den königstreuen Ulrich I. von Hanau zerstört (und sogleich wieder aufgebaut) und im 13. und 14. Jahrhundert mehrfach verpfändet, aber die bei der Burg gelegene Siedlung erlebte einen Aufschwung.

Im Jahre 1320 belohnte Ludwig der Bayer die Dienste, die ihm Gottfried V. von Eppstein geleistet hatte, durch die Verleihung der Stadtrechte an Obersteinheim. Es erhielt damals durch die Mauer den Umfang. den es bis nach dem Dreißigjährigen Krieg behielt. Niedersteinheim, am Fuße der Basaltkuppe gelegen und Sitz der Pfarrei (bis 1449), behielt weiterhin den Status eines Dorfes.

Das Original der Stadtrechtsurkunde von 1320 aus dem Würzburger Staatsarchiv wurde leihweise im Museum Steinheim gezeigt. „Wir Ludwig, von Gottes Gnaden König der Römer und allzeit Augustus wünschen, daß das folgende zur Kenntnis aller gelänge“, ist dort in lateinischen Lettern auf dauerhafter Tierhaut zu lesen. „Indem wir mit Dankbarkeit unsere Aufmerksamkeit auch auf die treuen Dienste, die unser treuer Edelmann Gottfried von Eppstein uns und dem Reich erwiesen hat und in Zukunft erweisen soll, richten, setzen wir dessen Dörfer Steinheim. und Delken­heim durch den Wortlaut des vorliegenden Schreibens mit königlicher Genehmigung in Freiheit und wir wünschen und erlauben, daß sie im vollen Umfang die gleichen Rechte genießt, deren unsere königliche Stadt Frankfurt bislang genossen hat.“

Schon dieser Passus zeigt, was die Ernennung zur Stadt bedeutete: neue Rechte, aber auch Pflichten. Die Urkunde hob die Leibeigenschaft für Steinheimer auf. Sie gestattete dem Herrscher Gottfried von Eppstein Stadtmauern zu bauen - als Schutz aber auch zur Trennung von Bürgern und Bauern.

Was das Recht betrifft, wurde Ludwig der Bayer erst im Jahr 1332 präzisiert. Von diesem Zeitpunkt an durften regelmäßig Wochenmärkte abgehalten werden, eine niedere Gerichtsbarkeit in der Burg tagen. Diese Privilegien verteilte der politisch in Bedrängnis geratene Bayer nicht selbstlos. „Das Städtewesen bot sich als bewährtes Instrument zur inneren Festigung der eigenen Herrschaft an“, heißt es in der vom Heimat- und Geschichtsverein und der Stadt erstellten Begleitbroschüre zur Sonderausstellung.

Mit Friedrich dem Schönen von Habsburg besaß Ludwig nach der Doppelwahl im Jahr 1314 einen mächtigen Kontrahenten. Beide kämpften um die Herrschaft über dem Rhein und versuchten, die Anhängerschaft des anderen für sich zu gewinnen. In dieser Situation traf den Bayern ein schwerer Schlag: Der Tod seines wichtigen Bündnispartners, des Mainzer Erzbischofs und Kurfürsten Petrus von Aspel im Juni 1320. Die Habsburger nutzten die dadurch entstandene Schwäche Ludwigs.

Nach einem kampflosen Rückzug erreichten dessen Truppen im September 1320 Frankfurt am Main. Als „König Ludwigs Schlappe von Straßburg“ ging dieses Ereignis in die neuere Geschichtsschreibung ein. Angesichts dieser schwierigen politischen Lage zeigte sich der Bayer zu relativ hohen Zugeständnissen bereit, um seine noch verbliebenen Anhänger an sich zu binden. Dazu gehörte auch Gottfried von Eppstein, dessen beide Dörfer sich vom 4. Dezember 1320 an Städte nennen durften.

Im Jahre 1320 war „Hochzeit“ für Stadt- und StadtrechtspriviIegien. Außer Steinheim kamen in diesen Genuß Windecken (1288), Steinau (1290), Hanau (1303), Soden (1296) und Salmünster (1320). Die damit verbundenen Privilegien bezogen sich zunächst nur auf das Recht, eine Stadtmauer zu bauen. Bis zum Verkauf Steinheims an das Erzstift befand sich die Urkunde 105 Jahre lang auf Gottfrieds Burg im Taunus. Anschließend bewahrte das Mainzer Archiv über vier Jahrhunderte das Dokument auf. Nach dessen Auflösung landete das Schriftstück im Münchener Hauptstaatsarchiv, nach der Flurbereinigung bayerischer Archive liegt es nunmehr seit zwei Jahren in Würzburg. Die Erlaubnis zur Ansiedlung von handelstüchtigen Juden folgte 1335. Im Jahre 1336 empfingen die Herren von Eppstein den Main als Lehen, 1355 das Münzprägerecht und 1358 das Recht, am Main Zölle zu erheben.

Die Ausgaben der Eppsteiner standen aber nicht im richtigen Verhältnis zu ihren Einnahmen. Das ritterliche Aufgebot und ihre großspurige Politik, verschlangen gewaltige Mittel. Sie mußten Geld aufnehmen und verschuldeten immer mehr. Sie verpfändeten ihren Besitz - auch einmal an den König von England - und verkauften im Jahre 1425 Burg, Stadt und Amt Steinheim um 38.000 rheinische Gulden an Konrad III. von Daun, Kurfürst und Erzbischof von Mainz.

Der Erwerb Steinheinis bedeutete als Bindeglied zwischen Mainz und Aschaffenburg und dem Spessart einen deutlichen Machtausbau am Main. Da Mainz gleichzeitig auch Höchst gehörte, konnte er gegebenenfalls die Reichsstadt Frankfurt in die Zange nehmen.

Fast vierhundert Jahre war Steinheim Residenz der Mainzer Kurfürsten und geographischer Mittelpunkt des Kurstaates, der von Mainz bis Würzburg reichte. Daß Steinheim früher an einer viel benutzten - später beseitigten - Mainfurt lag, ist noch heute trotz Schiffbarmachung und Kanalisation des Flusses zu erkennen. Das Ufer läuft dort flach aus, an dieser Stelle bildet sich bei Frost zuerst Eis. Die Furt lag im beherrschenden Blickfeld der auf einem Basaltblock stehenden Burg Steinheim.

Dieser Kauf war auch für die Bürgerschaft kein schlechter Tausch. Ihre Interessen wurden nun von dem mächtigsten deutschen Reichsfürsten gewahrt. Steinheim wurde ein gewaltiger Stützpunkt im oberen Erzstift Mainz. Wohl geborgen saßen Steinheims Einwohner hinter Mauern und Türmen. Ihr Kurfürst schirmte sie vor Kriegsnot und Verwüstung. Die Bürger gaben mit ihrer Hände Arbeit der Mainfestung das wehrhafte und stolze Gepräge, das wir auf dem Merian-Stich von 1646 bewundern.

Kurmainz machte sich auch sofort daran, Steinheim seiner neu gewonnenen Bedeutung gemäß baulich aufzuwerten. Die Eppsteiner Burg wurde schrittweise zu einer Schloßresidenz ausgebaut. Es entstand der Prachtbau mit vier Stockwerken, mit Türmen, Türmchen und Erkern Der heute noch stehende Bergfried mit seinen vier Ecktürmchen wurde damals errichtet, ebenso die Stadtmauer. In diese war auch der zinnenbewehrte Westturm der Pfarrkirche St. Johann Baptist einbezogen. Erzbischof Dietrich von Erbach (1434-59) sorgte auch für das seelische Bedürfnis seiner Untertanen, indem er mit ihrer Hilfe aus der kleinen Kapelle am starken Westturm eine Pfarrkirche errichten ließ. Die seitherige Pfarrkirche in Klein-Steinheim war in dieser Zeit des Faustrechts und des Landfriedensbruchs zu sehr den kriegerischen Wechselfällen ausgesetzt.

Die Hauptkirche wurde deshalb im Jahre 1449 hinter den Schutz der Steinheimer Mauern verlegt. Hierher flüchteten in Kriegszeit die Einwohner von Nieder-Steinheim, Klein-Auheim, Großauheim und Hainstadt und konnten zugleich ungestört ihrem Herrgott dienen. Im Schutze dieses festungsartigen Orts prosperierten Handel und Handwerk, entstanden schmucke Bürgerhäuser, die fast lückenlos erhalten sind.

In Steinheim wurden die Abgaben der Untertanen verwaltet. Um die riesigen Vorräte lagern zu können, mußten Scheunen und Keller gebaut werden und der Kurfürst brauchte ein Heer von Beamten, die die einkommenden Lieferungen wogen, zählten und inventarisierten. Den Charakter eines Verwaltungssitzes konnte die Steinheimer Altstadt bis heute bewahren, Keller und Scheuern blieben unzerstört und die prächtigen Häuser und Höfe der kurmainzischen Verwalter erstrahlen nach aufwendiger Renovierung im alten Glanz. Zur Entspannung gingen die Mainzer Erzbischöfe in der nahe gelegenen Fasanerie ihrer Jagdleidenschaft nach.

Kaum hatten um 1450 die Steinheimer Bürger ihrem Kirchturm die Zinnenkrönung aufgesetzt und an dem stolzen Bergfried und Mauergürtel die letzten Steine eingemauert, als sie Hammer und Kelle, Pflug und Sense mit Sturmhaube und Harnisch vertauschen mußten. Ein erbitterter Kampf war zwischen den beiden Thronkandidaten um den Mainzer Erzbischofsstuhl, zwischen Dieter von Isenburg und Adolf von Nassau, ausgebrochen, die sogenannte „Mainzer Stiftsfehde“.

Steinheim hielt treu zu dem vom Papste gebannten Dieter von Isenburg. Adolf von Nassau rückte mit seinen Landsknechten vor die Mauern Steinheims, aber er belagerte es vergebens. Die Landsknechte Dieters und Steinheims Schützenwehr hatten den Ansturm abgeschlagen. Dieter belohnte die Steinheimer durch teilweise Befreiung von der Grund- und Gebäudesteuer. Auch stiftete er seinen wackeren Schützen einen Sebastianus-Altar in der Pfarrkirche. Solange Adolf von Nassau Erzbischof von Mainz war, hatte Dieter seinen Wohnsitz im Steinheimer Schloß.

 

Doch 50 Jahre später schlugen die Wellen der Reformation auch in das Mainstädtchen. Der damalige Pfarrer Johannes Rosenbach, nach Humanistenbrauch auch mit dem lateinischen Namen „de Indagine“ (= von Hain = Dreieichenhain) genannt, der Erbauer des Chores, wandte sich mit Luther gegen offenbare Mißstände in der Kirche, aber er sagte sich nicht von dem alten Glauben los. Eine Straße in der Nähe der Kirche ist nach ihm benannt. Als Hofastrologe des Kurfürsten von Brandenburg war er gegen den Termin der Krönung Kaiser Karl V., so daß diese um eine Woche verschoben wurde.

Auch in den Bauernunruhen von 1525 gärte es in Steinheim. Man suchte sich vom kirchlichen Zehnten freizumachen und wandte sich gegen den Pfarrer. Aber wie der Bauernkrieg im allgemeinen keinen Erfolg aufwies und der Kurfürst Albrecht von Brandenburg und sein Marschall Frowin von Hutten Herr über die aufständischen Bauern im Erzstift Mainz geblieben waren, so mußten auch die Steinheimer ihren Zehnten in der alten Form weiterbezahlen.

Im Jahre 1530 wütete die Pest in Steinheim. In kurzer Zeit waren mehr als 100 Personen dieser tückischen Krankheit zum Opfer gefallen.

Auch der Schmalkaldische Krieg (1546-1547) brachten Not über die Stadt. Mit französischem Geld war Markgraf Albrecht Alcibiades von Brandenburg in das Gebiet der katholischen Fürsten, insbesondere in das der geistlichen Fürsten von Bamberg, Würzburg und Mainz eingerückt und hatte es gebrandschatzt. Im Juni 1592 belagerten die Truppen des Markgrafen, unter Führung des Grafen von Oldenburg, die kurmainzischen Mainorte. Auch Steinheim wurde genommen. Die in der kurfürstlichen Kellerei vorgefundenen Früchte und Weine wurden geplündert und die Untertanen zur Ableistung des Eides an den König von Frankreich und an Albrecht von Brandenburg gezwungen.

Unsägliches haben Stadt und Amt Steinheim im Dreißigjährigen Krieg gelitten. Bis 1630 drückten Einquartierungslasten und Kontributionsgelder Bürger und Bauern in Steinheim und in der Umgebung. Im November 1631 belagerte Gustav Adolf Steinheim und beschoß es mit großkalibrigen Geschützen von der Hanauer Seite aus, so daß es sich ergeben mußte. Der König ließ in Steinheim eine schwedische Besatzung zurück. Matthäus Merian thematisierte die Belagerung in seinem Stich für die Topographia Hassiae von 1646.

Im März 1632 wurden die Brüder Heinrich Ludwig und Jakob Johann von Hanau mit dem Amt Steinheim beliehen. General Ramsay, der schwedische Kommandant von Hanau, und Jakob Johann von Hanau, sogen das Land aus durch Magazinlieferungen, doppelten Zehnten, Kontributionslasten und ungemessene Frondienste. Die dauernde Einquartierungslast drückte besonders hart Stadt und Amt Steinheim. Lämmerspiel, Oberroden, Obertshausen und Hainstadt gingen im Jahre 1633 zum Teil in Flammen auf.

 

Steinheim hatte besonders in den letzten 18 Kriegsjahren furchtbar gelitten. Die einst so stolze Burg und die Mauern waren stark zerschossen. Manches Haus war ein Raub der Flammen geworden, Not, Hunger, Plünderung, Schändung, Pest hatten die Häuser und Gassen durchzogen. Die Bewohner der unbefestigten Landorte hatten Schutz hinter Mauern und Gräben gesucht, das Elend vergrößert und die Pestgefahr erhöht. Was an Vorräten und Wertgegenständen in den Häusern war, hatten die Kaiserlichen und Franzosen mitgehen heißen. Bis 1635 war das flache Land ausgeplündert und kaum noch Vieh vorhanden. Da gesellte sich zur Kriegsfurie auch noch die Pest. Besonders in den heißen Monaten starben die Leute haufenweise. In Steinheim lebte nur noch die Hälfte der Einwohner. In Lämmerspiel waren von 100 Einwohnern vor dem ersten schwedischen Einfall nur noch acht Menschen übriggeblieben. In Oberroden waren noch im Jahre 1681 von 80 Häusern nur 31 bewohnt.

 

Hungersnot und Pest wüteten im Jahre 1635. Nach diesem Würgengel erschien der kaiserliche General Lamboy vor Steinheim und belagerte es. Die schwedische Besatzung kapitulierte. Der kurmainzische Oberst Graf von Dohna wurde Stadtkommandant in Steinheim. Vom Steinheimer Schloß aus leitete Lamboy die Belagerung von Hanau, das von vielen kaiserlichen Schanzen umschlossen war. Eine Schiffsbrücke an der Leie (=Fels) stellte die Verbindung zwischen dem Hauptquartier und der Operationsbasis Steinheim und den um Hanau befindlichen Truppen in den Feldbefestigungen her. Am 13. Juni 1636 (dem Tage des noch heute gefeierten Lamboy-Festes) erschien Landgraf Wilhelm V. von Hessen vor Hanau, um Ramsay und die Stadt zu entsetzen. Lamboy zog einen Teil seiner Truppen (1500 Mann) nach Steinheim zurück. Am 14. Juni wurde die Festung ohne Erfolg von 1.000 hessischen Reitern berannt. Am nächsten Tage hatte Landgraf Wilhelm sie ebenso erfolglos von Schiffen aus beschießen lassen.

Als der Landgraf Wilhelm sich wieder in seine hessischen Lande zurückgezogen hatte, verließ Lamboy Steinheim. Dreihundert Mann blieben unter dem Befehl des Grafen Dohna in der Festung zurück. Im Oktober 1636 erhielt die Besatzung Verstärkung, um von neuem gegen Ramsay vorzugehen. Dieser ließ im nächsten Jahre durch Kapitän Fischer Seligenstadt besetzen. Letzterer wurde von Steinheim aus durch Truppen unter dem Befehl des Grafen Dohna angegriffen. Nach einem Wortbruch wurde beim Abzug fast die ganze Besatzung niedergemetzelt.

Graf Dohna zog wieder nach Steinheim und suchte vergeblich bei Steinheim den Main zu überschreiten, um Ramsay in Hanau anzugreifen. Er wurde durch dessen Artillerie wieder nach Steinheim abgedrängt. Infolge des Mißwachses, der Flucht aus den benachbarten Orten und der starken Besatzung war in Steinheim eine Hungersnot ausgebrochen.

Im Februar 1638 wurde der „Ramsay-Schreck“ beseitigt. Graf Philipp Moritz von Hanau stürmte die Stadt Hanau. Ramsay, der schwer verwundet wurde, starb an den Folgen dieser Verwundung. Danach ging Steinheim noch einmal kurzzeitig in schwedischen Besitz. Bis zum Ende des Krieges erlebte Steinheim abermals die Einquartierung von Truppen, mal französischen, mal kaiserlichen. Von 1639 bis 1643 hatte Steinheim etwas Ruhe vor kriegerischen Ereignissen. Der Krieg wütete mehr in Norddeutschland, wo der schwedische General Baner, und in Süddeutschland, wo Herzog Bernhard von Sachsen-Weimar zusammen mit den Franzosen die militärische Lage beherrschten.

Infolge des Leutemangels und einer dumpfen Gleichgültigkeit, die sich der Menschen bemächtigt hatte, wurden die Felder nur in geringem .Maße bestellt. Das, was an Früchten und Getreide vorhanden war, wurde von der Soldateska geplündert, so daß durch Plünderung und Mißwachs, besonders in den Jahren 1635-38, große Teuerung und Hungersnot eingetreten waren. Brot sahen die Leute oft wochenlang nicht. Man schuf sich Ersatz aus gemahlenen Eicheln. Not und Hunger trieben oft die Menschen auf die Schindkaute, wo sie noch mit den Kadavern verendeter Tiere vorliebnahmen. Auch von dem moralischen Tiefstand der Bevölkerung können wir uns eine ungefähre Vorstellung machen, wenn wir bedenken, daß im ganzen Amt Steinheim nur noch ein Pfarrer, der zu Steinheim, Seelsorge ausübte, während es früher acht Pfarreien gewesen waren. Die Bewohner lebten in dumpfer Gleichgültigkeit dahin. Ohne Kirche und Sakramentenempfang war das Volk immer mehr verwildert. Die materiellen Schäden des Dreißigjährigen Krieges wirkten sich in Steinheim noch im 18. Jahrhundert aus.

Aber nach dieser Zeit hatten das Amt und die Stadt Steinheim bald unter den Franzosen, bald unter den Kaiserlichen furchtbar zu leiden. Im Jahre 1644 ging der bayrische General Johann von Werth bei Mühlheim über den Main und ließ seine zuchtlosen Scharen bei und in Steinheim furchtbar hausen. Zwei Jahre darauf wurde die Festung von den Weimaranern unter dem französischen Feldherrn Turenne belagert, beschossen und erstürmt. Das Magazin, das der kaiserliche General Hatzfeld hatte ergänzen lassen, wurde geplündert. Es fielen den Franzosen 300 Fuder Wein und 6.000 Zentner Korn als willkommene Beute zu. Turenne ernannte de l’Espine zum Kommandanten von Steinheim.

Im nächsten Jahre wurde die Stadt wieder von den Kaiserlichen unter Erzherzog Wilhelm Leopold belagert und erobert. Aber der Mainzer Kurfürst Anselm Kasimir von Wambolt war durch den Sonderfrieden des Kurfürsten von Bayern mit den Franzosen und Schweden gezwungen, unter schweren finanziellen Lasten einen Waffenstillstand mit den Franzosen zu schließen. Dadurch mußte der Kurfürst den Franzosen die Festung Steinheim überlassen. Im April 1647 zogen die Franzosen unter Turenne wieder in Steinheim ein. Endlich läutete im Jahre 1648 die Marienglocke der erschöpften Stadt und dem ausgeplünderten Land den lang ersehnten Frieden ein.

 

Steinheim hatte aber selbst in Blütezeiten selten mehr als 1.000 Einwohner, deshalb blieb es von manchem Bauboom verschont und konnte viel von seiner alten Gebäudesubstanz bewahren. Unter dem Kurfürsten Johann Philipp von Schönborn (regierte von 1647 bis 1673) könnten sich Burg und Stadt erholen, bis die Not sie durch die Schlesischen Kriege wieder einholte. In den Schlesischen Kriegen zwischen Maria Theresia und Friedrich dem Großen, der sich mit den Franzosen verbündet hatte, wurde Steinheim besonders in den Jahren 1742 bis 1745 von Franzosen, Österreichern und Ungarn heimgesucht, nicht durch Belagerung. Beschießung und Erstürmung, - die kleineren Festungen hatten infolge der artilleristischen Entwicklung ihre Bedeutung verloren - aber durch hart drückende Einquartierung, durch Lieferung von Hafer und Korn, von Heu und Stroh, durch Schatzung, durch Vorspann, durch Schiffsladungen mit Bagage und Fourage. Mit Böllerschüssen empfing man im letzten Kriegsjahre 1745 Maria Theresia und den Kurfürsten Johann Friedrich Karl von Ostein (1743-63) in Steinheim.

Es ist eigenartig und doch verständlich, daß nach der Kriegsnot der religiöse Sinn erstarkte. Auch in Steinheim äußerte er sich durch stärkere Beteiligung, auch der Gemeindeverwaltung, an den Wallfahrten nach Klein-Steinheim, Lämmerspiel, nach Dieburg und nach Walldürn. Im Jahre 1752 erbaute man an Stelle der alten Pestkapelle das neue Heiligenhaus (Helgehaus) am heutigen Friedhof. Die Gemeinde stiftete im Jahre 1754 eine dritte Glocke, und im Jahre 1756 wurde das ausdrucksvolle Barockkreuz am Hainberg errichtet.

Im Siebenjährigen Krieg (1756 bis 1763) sah Steinheim im Durchmarsch und im Quartier Teile der Reichsarmee, kurmainzische, kurtrierische, sächsische, württembergische und besonders aber französische Truppen, die jetzt mit Maria Theresia verbündet waren. Von französischen Truppen waren auf kürzere oder längere Zeit in Steinheim die Regimenter: de Bigore, Royal, Comte, de la Dauphiné, Waston, Légion royale, Colonell, du Roy, Dapchon, Royal allemand, Conti, Bour­bon­nais. Im alten Rathaus auf dem Marktplatz befand sich das Lazarett. Wahrscheinlich durch Leicht­sinn der Soldaten ging das Rathaus im Jahre 1761 in Flammen auf.

Neben starker Einquartierung wurde Steinheim im Jahre 1762 durch eine Viehseuche heimgesucht. In ganz kurzer Zeit waren 30 Stück Vieh eingegangen. Im letzten Kriegsjahre 1763 waren Hannöversche Truppen bei Klein-Steinheim geschlagen worden. Durch ein Dankfest, bei dem der Kurfürst zugegen war, schloß man in Steinheim den Krieg ab.

Im Jahre 1758 übernachtete Leopold I., der sich zur Kaiserwahl nach Frankfurt begab, in der Nacht vom 18. zum 19. März im Schloß zu Steinheim. Am 19. März feierte der König mit seinem Gefolge das St. Josefsfest durch Besuch des Gottesdienstes. Nach dem Mittagsmahl wurde die Reise nach Frankfurt fortgesetzt.

Nach dem Siebenjährigen Krieg trat Steinheim noch einmal aus seiner stillen Beschaulichkeit in das große politische Leben. Im Jahre 1782 wurde Steinheim kurmainzisches Oberamt. Als solchem waren ihm die Stadt- und Amtsvogtei Steinheim, ferner die Stadt- und Amtsvogteien Seligenstadt und Dieburg und die Amtsvogtei Alzenau untergeordnet.

Eine Reihe neuer Beamter kamen nach Steinheim. An der Spitze stand ein Oberamtmann, der meist von einem Amtsverweser vertreten wurde und zugleich die Amtsrichterstelle einnahm. Ferner gehörten die Keller von Steinheim, von Dieburg, von Alzenau und Seligenstadt zum Ober­amt. Sie waren Oberamtsbeisitzer. Daneben waren noch Oberamtsschreiber, Registratoren, Amtsboten, Zent- und Polizeidiener am Oberamt beschäftigt. Diese Neuorganisation brachte neuen Verkehr und frisches Leben in das alte Städtchen. Bürger, Wirte. Krämer und Handwerker hatten manchen Vorteil davon.

Doch diese neue Amtseinrichtung, die sich über den ganzen Kurstaat erstreckte, war ein letztes Aufleben des kurmainzischen Staatskörpers. Die Französische Revolution warf nicht nur in Frankreich alles Bestehende um. Auch Deutschland wurde in den Freiheitsstrudel gerissen und erlebte politisch, sozial und wirtschaftlich einen völligen Umschwung.

Auch Steinheim wurde nach der Revolution von 1789 wieder kräftig an den Schultern gerüttelt. Als im Jahre 1795 die deutsche Koalition durch die Eigensucht Preußens zerfallen war, drangen die Franzosen wieder in das rechtsrheinische Gebiet vor. Im Jahre 1795 karrten auch in das Amt und die Stadt Steinheim die ersten Franzosen. Gelderpressung und Plünderung von Seiten der französischen Offiziere und Soldaten waren alltäglich. Die Einwohner mußten Kriegsfuhren für die durchmarschierenden Truppen leisten, oft wurden ihnen Wagen und Gespann weggenommen.

Das Oberamt Steinheim sollte 25.000 Gulden Kriegskontribution leisten. Da es in dieser Kriegszeit unmöglich war, eine solche Summe aufzutreiben, wurden französische Kommandos nach Seligenstadt, Dieburg und Steinheim geschickt, die das Geld eintreiben oder als Geiseln die Amtsvorsteher mitnehmen sollten. In Dieburg waren die Bürger mit Sensen und Mistgabeln gegen dieses Franzosenkommando vorgegangen.

Gegen „Douceurs“ gelang es den führenden Männern, sich bei den Offizieren loszukaufen. Der Oberamtsverweser Schiele ging flüchtig. Zwei Steinheimer, Gottron und Wenzel, wurden als Geiseln nach Frankreich, nach Givet, gebracht. Die Kriegskontribution brauchte nicht bezahlt zu werden, da Erzherzog Karl von Osterreich den französischen General Jourdan über den Rhein zurückgetrieben hatte.

Seit 1799 war der Mainzer Landsturm gegen die Franzosen organisiert worden. Auch Steinheim hatte eine Landsturm-Kompagnie mit drei Korporalschaften und einer Musikabteilung aufgestellt. An Sonn- und Feiertagen fanden Schießübungen im Schießhag und die Exerzierübungen am Main und auf dem Kreuzberg statt. Im Jahre 1799 konnten 70 Landsturmkompagnien mit den kurfürstlichen Linientruppen am unteren Main den Franzosen Einhalt gebieten, und Steinheims Landsturm hatte auch seinen Teil daran.

Doch Napoleon, der Degen der Revolution, war nach seiner Rückkehr aus Ägypten erster Konsul geworden und hatte auf zwei Kriegsschauplätzen die Osterreicher und ihre Verbündeten angegriffen. Er selbst hatte in Italien bei Marengo die französischen Fahnen zum Siege geführt, während Moreau in Bayern einfiel, und den Erzherzog Johann bei Hohenlinden entscheidend schlug.

Diese französischen Truppen waren auch durch Steinheim marschiert. Am 30. Juli 1800 waren die ersten Franzosen in Steinheim eingerückt. Das Obertor und das Maintor waren mit einer Wache belegt worden. Alle Ausgaben dieser durchmarschierenden Truppen, wie Frühstück für die Offiziere, zum Beispiel Milchsuppe mit Zucker, gekochte Eier, gebratene Hahnen oder Mittagessen, bestehend in Rindfleisch., Gemüse, gebratenen Tauben, Mirabellen und Birnen, in Käse und Butter; ferner der vielbegehrte Branntwein, Bier, Fleisch, ja sogar der Tabak, der Haarpuder und das Frisieren mußten von der hartbedrängten Gemeinde bezahlt werden. Die Steinheimer Wirte konnten kaum den Wein aufbringen, der von den Franzosen auf Kosten der Stadt getrunken wurde.

Beim Rückmarsch der Moreau’schen Armee im April und Mai 1801 wurde auch das Pfarrhaus wieder wie im Jahre 1800 geradezu in ein Wirtshaus verwandelt. Täglich sah das sonst so stille Haus nette Offiziere, darunter viele Generale. Vom 23. bis 30. April 1801 kamen sechs französische Brigaden durch Steinheim und die umliegenden Orte. Die Brigadeführer wurden im Pfarrhaus, beim Oberamtsverweser oder beim Amtsvogt Kämmerer einquartiert.

Mag Pfarrer Kuhn sich als Hotelwirt schon nicht sonderlich wohl gefühlt und die Herren ins Pfefferland gewünscht haben, so war seine Entrüstung berechtigt, als die Herren Besuch von Damen erhielten (Pfarrer Kuhn bezeichnet sie etwas anders), und der Pfarrer auch diese im Hause bewirten mußte. Es kam auch manchmal vor, daß an Stelle des angesagten Brigadekommandeurs dessen Frau, Sohn, Tochter Quartier und Verköstigung verlangten. Der arme Pfarrer war machtlos. Sogar die französischen Bedienten fingen an, ihm seinen Meßwein auszutrinken.

Der Rückzug bewegte sich zu beiden Seiten des Mains und auch auf dem Flusse wurden zu Schiff Truppen, besonders Verwundete und Kranke, gegen Mainz hin abtransportiert. An der Nähfahr hatten die Franzosen eine Schiffbrücke geschlagen. Es war eine bunt gewürfelte Schar aus aller Herren Länder, die in der französischen Armee Dienste tat. Steinheims Bürger und besonders der Stadtwirt Ferg am Marktplatz lernten Holländer, Franzosen, Mainzer, Würzburger und noch andere Truppen gerade nicht von ihrer angenehmsten Seite kennen. Über 20.000 Gulden waren bis jetzt von der Gemeinde als Kriegsanleihe aufgenommen worden.

Die Siege Napoleons führten im Jahre 1801 zum Frieden von Lunéville, der dem deutschen Reich das linke Rheinufer kostete und zur Säkularisation, d. h. der Wegnahme aller geistlichen Gebiete durch weltliche Machthaber, führte. Das alte heilige römische Reich Deutscher Nation wurde dadurch zerschlagen. Kurmainz mußte als Folge dieses Friedens in der Provinz Starkenburg die meist katholischen Ämter Bensheim, Heppenheim, Dieburg und Steinheim und das Kloster Seligenstadt an Hessen-Darmstadt abtreten. In den Jahren 1800 - 1801 lagen seine Truppen in Steinheim. Im Jahre 1802 fiel der kurmainzische Besitz an das Großherzogtum Hessen- Darmstadt, das bald schon mit dem Abbau der Amtsstadt begann. Steinheim verlor das Oberamt.

Am 20. Oktober 1802 war der Darmstädtische Regierungskommissar von Günderode in Steinheim eingezogen, hatte die Beamten neu verpflichtet, die kurmainzischen Wappen entfernen und das hessische Wappen anschlagen lassen. Groß-Steinheim wurde als Amtsstadt abgebaut. Es verlor das Oberamt, es verlor die Amtsvogtei, 1830 das Justizamt und um 1870 auch das Steuerkommissariat. Es hatte seine jahrhundertalte Rolle ausgespielt. Offenbach trat als Verwaltungsmittelpunkt an seine Stelle. Das Schloß war das Sinnbild dieses Abbaues. Kurmainz wollte den vom Krieg und Alter hart mitgenommenen Bau dem modernen Geist angleichen. Es gelang ihm nicht, Kelle und Herrschaft wurden ihm, aus der Hand gerissen.

Einen Scheinglanz erlebte das Schloß noch einmal in den Jahren 1808 bis 1813 durch die Anwesenheit des Prinzen Georg, des Sohnes des Großherzogs Ludwig I. Auf Anordnung des Oberhofmarschalls von Perglas wurde für den Prinzen der untere Stock und für seine Gemahlin, einer ungarischen Gräfin, mit ihrer Tochter und deren Erzieherin der obere Stock eingerichtet. Im Jahre 1812 wurden noch 5.000 Gulden für den Ausbau des nordsüdlichen Flügels von Darmstadt zur Verfügung gestellt. Nach der Ausmöblierung war der Prinz im Jahre 1813 nach Ungarn auf das Gut seiner Gemahlin verreist. Er sah das Schloß nicht mehr.

Die Schlacht bei Hanau am 31. Oktober 1813 hatte auch das Schloß und die Stadt in Mitleidenschaft gezogen. Bayrische, österreichische, russische und preußische Truppen zogen durch Steinheim. „Seit 6 Tagen“, berichtete am 2. November Hofkammerrat Kleinert nach Darmstadt, „ist Stadt und Amt von kriegerischen Vorfällen heimgesucht, wo kaum mehr ein Stück Brot oder ein Schluck Wein oder Branntwein für den gemeinen Mann zu haben ist.“ Das Schloß wurde mit Einquartierung belegt.

Schloß Steinheim diente dabei österreichischen Truppen als Lazarett. Der Oberstwachtmeister von Zech, seine zwei Adjutanten und die Administrationsabteilung der Bayern waren hier untergebracht. Bis zum 6. November riß die Einquartierung nicht ab. Der Schloßkeller mit seinem guten Wein mußte herhalten. Auch jeder Bürger in Steinheim hatte in diesen Tagen durchschnittlich 15 - 17 Soldaten im Quartier. Am 9. November 1813 kamen die drei alliierten Monarchen, der Kaiser von Rußland, der Kaiser von Österreich und der König von Preußen, durch Steinheim.

Im November 1813 war das Schloß in ein Lazarett verwandelt worden. Die Schloßmöbel waren bei dem Hofkammerrat Kleinert und bei Privatleuten untergestellt worden. Viele verwundete Soldaten, auch Franzosen, wurden in das Schloßlazarett und in das Stokkumsche Gut am Hainberg, das auch zum Lazarett eingerichtet worden war, gebracht. Pietätloser Witz hatte am Eingang des Stokkumschen Gutes zwei steifgefrorene Soldatenleichen gleichsam als Schildwache aufgestellt. Bis April 1814 befand sich im Schloß ein K. und K. österreichisches Militärlazarett. 800 Kranke waren hier untergebracht.

Da brach der Typhus aus. Die Toten wurden morgens wie das Holz auf Wagen geladen und im Galgenfeld begraben, wo man heute noch Gebeine findet. Wäscherinnen, Wärter und Totengräber starben an Typhus. Man entfernte das Lazarett, die Tapeten wurden heruntergerissen, die Zimmer nach damaliger Kenntnis desinfiziert, neu geweißt, tapeziert und gestrichen. Aber Prinz Georg kehrte nicht mehr ins Steinheimer Schloß zurück. Das Steinheimer Mobiliar wurde im Jahre 1825 zum größten Teil auf Befehl des Prinzen nach Darmstadt gebracht.

Die Napoleonischen Kriege haben politisch dem deutschen Einheitsgedanken und Einheitsstaat vorgearbeitet. Viele politische Gebilde waren aus der buntscheckigen Karte Deutschlands verschwunden. Damit war auch das Eigenleben von vielen hundert kleinen Städten verschwunden und erloschen. Sie wurden mit den benachbarten Landorten politisch und wirtschaftlich nivelliert. So erging es auch Steinheim.

Im Jahre 1830 verlor Steinheim das Justizamt und 1870 das Steuerkommissariat. Wirtschaftlich getragen wurde Steinheim ab Mitte des 19. Jahrhunderts durch Zigarrenfabrikation und in deren Zuge angesiedelte lithographische Kunstanstalten. Einheit, Freiheit und Gleichheit waren die treibenden Ideen des 19. Jahrhunderts. Um Freiheit und Gleichheit wurde in den Jahren 1830, 18,48 und 1918 gerungen. Die Kriege von 1864, 1866 und 1870 brachten die größere Einheit Deutschlands. Im Weltkrieg von 1914-1918 haben 95 Steinheimer ihr Leben eingesetzt.

Das Rheinland war bis zum 30. Juni 1930 besetzt. Im Jahre 1920 war eine französische Patrouille bis nach Steinheim vorgedrungen.

Nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich und sozial hat sich Steinheim geändert. Im Jahre 1937 zählte Groß-Steinheim 3.000 Einwohner (1681 hatte es 327 und 1880 ungefähr 1800 Einwohner). Den Steinheimer Boden bebauten etwa 25 - 30 Bauernfamilien. Dagegen war der Obstbau (besonders Äpfel) sehr verbreitet. In der Gemarkung standen ungefähr 15.000 Obstbäume. Der Steinheimer Apfelwein ist in der Umgegend sehr bekannt. Der heimische Basalt gab seither manchem Steinheimer im Steinbruch Beschäftigung, aber die billigere Arbeit der Großbetriebe hat auch diese Männer dem großen Arbeitslosenheer zugeführt.

Der Lett, der in der Nähe Steinheims gefunden wird, hatte schon in sehr früher Zeit das Tongewerbe begründet. Seit den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts hat die Zigarrenfabrikation in Groß-Steinheim eine Heimstätte gefunden. In diesem Wirtschaftszweig waren ungefähr 400 - 500 Arbeiterinnen und Arbeiter tätig. Besondere Bedeutung hatte die Lithographische Kunstanstalt Illert & Ewald.

Der übrige Teil der Bevölkerung findet seine Arbeit in Hanau, Offenbach und Frankfurt am Main. Groß-Steinheim hat gegenüber den benachbarten Gemeinden den Nachteil, daß die Eisenbahn, durch Versäumnis der Generation nach 1870, nicht direkt an Groß-Steinheim vorbeiführt. Mag sein konservativer Charakter auch dadurch gewahrt worden sein, für seine wirtschaftliche Entwicklung aber war es von Nachteil.

Im Jahre 1938 wurden Ober- und Niedersteinheim zur Stadt Steinheim verbunden, und 1974 wurde diese nach Hanau eingemeindet. Im Gegensatz zu Hanau haben die historischen Bauten Obersteinheims den Zweiten Weltkrieg unbeschadet überstanden und vermitteln heute noch einen Eindruck von der mittelalterlichen/frühneuzeitlichen Stadt.

 

Klein-Steinheim

Wenn man über die Mainbrücke kommt, biegt man links in die Ludwigstraße ein. Zunächst kommt man durch Klein-Steinheim. Auf der linken Seite steht das Rathaus. Dahinter befindet sich die katholische Nikolauskirche. Die Gründung der Pfarrei erfolgte schon im 9. Jahrhundert durch das Kloster Seligenstadt. Bis 1449 war sie Mittelpunkt eines größeren Gebietes auf beiden Mainufern. Danach war die Kirche Filialkirche. In den Jahren 1892/93 erfolgte der Neubau. An einem Pfeiler an der Mainseite steht die Inschrift „A.D. 1892“. Seit 1900 ist die Die ältesten Teil sind im Turm und Chor (heute: Sakristei) noch erhalten. Gemeinde wieder ein selbständige Pfarrei.

Nach der Überlieferung des Klosters Seligenstadt wurde die Kirche im. 9. Jahrhundert noch zu Lebzeiten Einhards (770 bis 840), also vor 840, auf dem dem Kloster gehörenden Grund und Boden gegründet. Sie war die Pfarrkirche eines größeren Sprengels. Im Jahre 1294 wurde das Gotteshaus durch den Mainzer Erzbischof Gerhard II. dem Kloster Seligenstadt inkorporiert. Nachdem 1320 Obersteinheim Stadt geworden war und 1425 die Herren von Eppstein das ganze Amt Steinheim mit Stadt und Burg an das Erzstift verkauft hatten, verlegte Erzbischof Theoderich von Erbach am 21. Oktober 1449 die Pfarrkirche von dem Dorf Niedersteinheim in die Stadt Steinheim in die seitherige Stadtkapelle.

Da die Bevölkerung in Niedersteinheim (später Kleinsteinheim) am Ende des 19. Jahrhunderts sehr schnell wuchs, wurde eine Vergrößerung der St. Nikolaus-Kirche erforderlich. Der Neubau der Kirche erfolgte 1892 bis 1893. Das Langhaus der alten Kirche zwischen Turm und Chor wurde vorher abgebrochen. Dazwischen wurde das Schiff der neuen Kirche gestellt, die am 23. Juli 1893 geweiht wurde. Im Jahre 1930 wurde der Kirchturm erhöht.

Schäden erlitt das Gotteshaus durch Brandbomben bei einem Angriff am 19. März.1945, die zunächst provisorisch ausgebessert wurden. Im Jahre 1950 fand eine Ausbesserung des Turmdaches statt und 1951 wurden neue Kirchenfenster nach Entwürfen von August Peukert (Großauheim) angeschafft.

Das Gotteshaus enthält eine Barockkanzel von 1651. Der rechte Seitenaltar (vom Eingang her gesehen) besteht aus gewundenen Säulen des alten Kreuzaltars, der aus der Schloßkapelle stammen soll. Zu dem linken Seitenaltar gehört eine Pietà. Über dem Turmeingang befindet sich ein großes Gemälde des Heiligen Nikolaus aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, wohl von dem Hanauer Maler Louis Schleissner. In den Längsseiten der Kirche die Gemälde der vierzehn Kreuzstationen von dem Maler Joseph Schäfermeier, gestorben 1899 in Kleinsteinheim.

Das kleine Wallfahrtskreuz, das bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts in der Kreuzkapelle neben der Kirche verwahrt wurde, soll nach der Überlieferung 1309 an der Stelle der heutigen Kreuzkapelle gefunden worden sein. Der Sockel des Kreuzes enthält zwei Reliquienpartikel des Heiligen Kreuzes und eine Reliquie des Antonius von Padua, die 1746 der Aschaffenburger Jakob Geibig aus Rom mitbrachte. In der Kirche befindet sich eine Orgel der Firma Schlimbach, die 1890 hergestellt wurde.

Hinter Kirche steht die Kreuzkapelle. Sie wurde erbaut an der Stelle, wo am 3. Mai 1309 das „heilige Kreuz von Klein-Steinheim“ gefunden wurde. Seitdem gibt es die Wallfahrt zum Heiligen Kreuz. Auf dem Kirchhof stehen mehrere Heiligenfiguren und alte Gräber.

 

Kreuzweg:

Was für den modernen Menschen das Wandern ist, das waren zum Teil für den mittelalterlichen Menschen die Wallfahrten. Sie waren auch eine Entspannung, vor allem aber tiefes religiöses Erleben. Noch heute gehen an den beiden Festen „Kreuz-Auffindung“ im Mai und „Kreuz- Erhöhung“ im September Prozessionen von Groß- nach Klein-Steinheim auf dem sogenannten „Kreuzweg“. Auf diesem Kreuzweg wurden 1699/1700 Bildstöcke errichtet mit den sieben Fußfällen aus der Leidensgeschichte Christi. Diese waren von zwei Pilastern eingefaßt, die eine geschweifte Bedachung trugen. Pilaster und Bedachung sind mit Barockspiralen und Engelsköpfen geziert. Unter dem Reliefbild befand sich eine Schrifttafel. Die Inschriften stehen in Beziehung zum Bildinhalt.

Zur Kreuzkapelle führt der sogenannte „Kreuzweg“ vom Groß-Steinheim mit sieben Bildstöcken aus Sandstein. Er beginnt in Höhe der Straße „Vorstadt“ und führt durch die Kreuzstraße. Wilhelmstraße und Molitorstraße nach Klein-Steinheim. An der Kreuzung der Ludwigstraße mit der Molitorstraße steht außerdem ein Bildstock von 1992.

Dargestellt sind auf den Kreuzwegstationen (von Groß-Steinheim nach Klein-Steinheim):

Erster Fall: Auf dem ersten Bildstock wird Christus gebunden zu Annas und Kaiphas geführt.

Auf dem Sockel dieser ersten Station befindet sich das Wappen des Stifters, des Kurfürsten Lothar Franz von Schönborn (1695-179-9) mit der Kurfürstenkrone.

Zweiter Fall: Christus vor Annas und Kaiphas. Das Wappen auf diesem Bildstock ist das Bassenheimsche. Der kurmainzische Geheime Rat und Oberamtmann von Steinheim Johann Erwein von Schönborn war vermählt mit einer Waldpott von Bassenheim. Auf dem Wappen ist die Grafenkrone.

Dritter Fall: Christus ist vor Ermattung an den Stufen des Pilatus-Hauses auf den Boden hingesunken. Auf dem Sockel die Anfangsbuchstaben P.AE.N.-P.S., zwischen ihnen das Wappen. Die Abkürzung bedeutet: Pater Aemilianus Nolpe, Parochus Steinheimensis (Pfarrer von Steinheim 1696-1727).

Vierter Fall: Christus ist unter den Geißelhieben der Häscher zusammengebrochen. Die beiden Wappen deuten auf die Stifter: Johann Michael Jakob Tautphaeus und seine Gemahlin Ana Catharina Tautphaeus. 1699.

Fünfter Fall: Simon von Cyrene sucht dem Herrn die Last zu erleichtern. Die Stifter dieses Bildstocks sind: Der Amtsvogt Johann Remigius Kämmerer und seine Gemahlin Anna Maria Kämmerer. Anno 1700. (Die folgenden Bildstöcke stehen auf Klein-Steinheimer Gebiet).

Sechster Fall: Christus wird aufs Kreuz geworfen. seiner Kleider beraubt und ans Kreuz genagelt. Als Stifter werden angegeben: „Sämbtliche Amts Schultheisen haben diesen Bildt-Stock zu Ehren des gecrußig Heylands Christi aufrichten lassen. Im Jahre 1700“.

Siebenter Fall: Das Kreuz wird mit Händen und Stricken aufgerichtet. Auf dem Sockel: „Dieses Bild haben lassen auffrichten zu Ehren ihres Erlösers Christi Jesu sämtliche wohlehrsame Pfarrkinder als Ober- und Niedersteinheim. Klein-Auheim, Heinstat und andere gute freindt. Anno 1700.“

 

Evangelische Kirche:

Wenn man an den Kreuzwegstationen entlangfährt, kommt man allerdings nicht zur evangelischen Kirche. Diese steht nach einer Steigung der Hauptdurchgangsstraße auf der linken Seite.

Die aus hellen gelben Klinkern gebaute Kirche wurde in der Zeit vom 19. Mai 1901 bis 12. Oktober.1902 unter Dekan Sturmfels für 72.000 Mark erbaut und 1968 renoviert. Der Turm ist unmittelbar mit dem Gotteshaus verbunden. In der Kirche befinden sich zwei Bilder, die den Reformator Dr. Martin Luther und den Mitarbeiter Luthers, Dr. Philipp Melanchthon, darstellen. Neun Buntglasfenster zeigen symbolische Darstellungen:

a.) im Hauptschiff: Kreuz und Fische - die Taufe, Kreuz mit Kelch u. Brot - das Abendmahl,

die Taube als Zeichen des Heiligen Geistes

b.) im Chorraum hinter dem Altar: links die Geburt Christi, in der Mitte die Kreuzigung, rechts die Auferstehung, vorne rechts im Hauptschiff die aufgeschlagene Bibel mit den Buchstaben A und O, Kreuz und Grabkreuze mit Öllampe, Schwert und Schild.

 

 

Rundgang durch Groß-Steinheim

Wenn man auf der B 43 a mit dem Auto anreist, fährt man zunächst an Steinheim vorbei und biegt dann rechts ab und dann wieder links in Richtung Altstadt. Dann geht es rechts weiter in die Straße „Steinheimer Vorstadt“.

Dabei umrundet man den Hainberg. Er hat seinen Namen von „Heidenberg“, weil hier vielleicht bei der Einführung des Christentums noch Spuren römischer oder heidnischer Tätigkeit vorhanden waren. Der Basalt des Hainbergs und des Albanusbergs hatte schon den Römern als Baumaterial gedient und findet sich auch in vielen herrschaftlichen und privaten Häusern Steinheims.

Auf der Höhe steht links ein altes Barockkreuz vom Jahre 1756. Auf dem mit Barockornamenten verzierten Sockel des Kreuzes befinden sich die Worte: „Sculptile nec lapidem, sed quid designat adora, en tibi decalegon quid jubet et prohibet“. Darunter steht: „Nicht den Stein, noch die Gestalt, sondern den sie dir vorhalt, sollst tu dahin verehren, das eine dir die zehen Gebot gebiet, das andere thut verwehren“. Sodann folgt der Anfang des 113. Psalmes: „in exitu Israel de Ayto (Aegypto) Domus (Jakob) de populo barbaro, Psalm 113. 1756“. Zu deutsch: „Als Israel aus Ägypten zog, wurde Jakobs Geschlecht von fremdem Volke befreit.“

Das Kreuz war im Jahre 1756 errichtet worden, also nach den beiden schlesischen Kriegen, die zwischen Friedrich dem Großen von Preußen und Maria Theresia von Österreich getobt und auch manche fremde Kriegsvölker nach Steinheim gebracht hatten. Davon glaubten die Steinheimer jetzt befreit zu sein und ahnten nicht, daß noch in demselben Jahre der siebenjährige Krieg ausbrach, der an unserem Städtchen auch nicht spurlos vorübergegangen ist. Das Kreuz ist mit drei Wappen versehen.

Auf dem Hainberg steht die Villa Stokkum, das frühere Stokkumsche Gut. Diese hat einen Gewölbekeller aus dem 17. Jahrhundert. Das Hauptgebäude ist vor 1800 in klassizistischem Stil erbaut. Hier entstand schließlich 1860 die Zigarrenfabrik Hosse, eine der wirtschaftlichen Stützpfeiler Steinheims des späteren 19. Jahrhunderts. Heute ist hier ein Hotel untergebracht.

 

Man fährt bis zum Parkplatz unter der Hellentalbrücke. Von dort ist es nur ein kurzer Weg bis in die Altstadt. Wo jetzt vier große Wohnhäuser stehen, war früher  die lithographische Kunstanstalt von Illert & Ewald. Die Fabrik wurde im Jahre 1856 durch Heinrich Illert (gestorben 1898) gegründet. Das erste Geschäftslokal befand sich in Mühlheim (Main), später wurde der Betrieb wegen notwendiger Vergrößerung nach Groß-Steinheim verlegt. Vom Jahre 1865 -  1867 war der Kaufmann Wilhelm Ewald Teilhaber. Durch dessen Tod erlosch diese Teilhaberschaft.

In den ersten fünfzig Jahren des Betriebes wurden ausschließlich Zigarrenpackungen hergestellt, später noch andere Artikel, wie Etiketten für Schokolade-, Bonbons-, Frucht-, Fisch- und Fleischkonserven-Packungen. Die Fabrik in Groß-Steinheim wurde mit jedem Jahr des Bestehens vergrößert, bis die jetzigen Inhaber, die Herren Kommerzienrat Fritz Illert und Heinrich Illert, gezwungen waren, im Jahre 1920 einen neuen Betrieb, die Firma Gebrüder Illert GmbH., in der Klein-Auheimer Gemarkung zu errichten.

Im Jahre 1937 beschäftigten die beiden Unternehmungen etwa 600 Arbeiter und Angestellte. Es sind in Betrieb 30 Schnellpressen, vier Offsetmaschinen, darunter zwei Zweifarbenmaschinen, und eine große Anzahl Hilfsmaschinen für Prägerei und Druckerei, Buchbinderei und Steinschleiferei. Die ausgedehnte Buchdruckerei arbeitet mit 23 Automaten und Halbautomaten, 15 Tiegeldruckmaschinen mit Kraft- und 24 Tiegeldruckmaschinen mit Fußbetrieb. Infolge der erstklassigen, neuzeitlichen Einrichtung stehen die Betriebe mit an der Spitze der deutschen Druckereien. Ein erlesener Stab tüchtiger Vertreter in vielen Inlands- und allen größeren Auslandsplätzen sorgt für ständige Ausbreitung des Unternehmens. Heute sind beide Unternehmen aufgelöst, das Gebäude in Steinheim abgerissen, so daß die Zehntscheune vom Main aus gut zu sehen ist.

 

Gerichtslinde und Centgericht:

Der Lindenstamm, der heute noch steht, ist der Rest einer Jahrhunderte alten Linde, die durch einen Blitz in sieben Teile gespalten worden sein soll, welche dann als selbständige Stämme weiter wuchsen. Bis in die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts dienten diese zum Teil hohen Stämme der Steinheimer Jugend als Spielunterschlupf. Um 1900 sind die Stämme bis auf einen dem Wetter zum Opfer gefallen. Auf dem Kupferstich von Merian ist zwar der Stamm, aber ohne Äste zu sehen. Wahrscheinlich waren aus militärischen Gründen, um Schuß- und Blickfeld zu haben, während der Kriegszeit die Äste bis zum Stamm abgehauen worden. Die Mauer, die diese Linde umzog und vor einigen Jahren erneuert wurde, ist schon im 16. Jahrhundert genannt.

In diesem umfriedeten Bezirk unter der Linde fand bis zum 15. Jahrhundert das „Ding“ oder das Gericht des alten Siedlungsbezirkes statt. Diesen Bezirk nannte man in früherer Zeit die „Cent“. Der Name kommt aus der fränkischen Zeit, weil sich meist hundert („centum“) wehrfähige, verwandte Franken längs der Flüsse und Bäche an verschiedenen Stellen niedergelassen und die neuen Dörfer gegründet hatten. Sicherlich bildeten Groß-Steinheim, Klein-Auheim, Hainstadt, Weißkirchen, Heusenstamm, Obertshausen, Hausen, Bieber, Lämmerspiel, Mühlheim, Dietesheim und Klein-Steinheim einen Siedlungs- und Gerichtsbezirk aus fränkischer Zeit. Diese Orte blieben als Amt Steinheim Gerichts- und militärischer Verband bis 1830.

Bis zum 15. Jahrhundert fanden die gebotenen und ungebotenen Dinge unter der Linde am Main statt. Das „ungebotene Ding“ (Versammlung) fand an drei bestimmten Tagen des Jahres statt. Das gebotene Ding war eine außerordentliche Verhandlung, die bei besonders wichtigen und dringenden Anlässen, zum Beispiel Totschlag und Mord stattfand. Das ungebotene Ding konnte auch beantragt werden. In diesem Falle hatte der Antragsteller jedem Schöffen zehn Pfennig zu erstatten.

Der Centgraf führte bei dem Ding den Vorsitz. Zur Rechten und zur Linken saßen die 14 Schöffen. Die meisten Centorte stellten einen, Steinheim drei, Mühlheim zwei und Weißkirchen zwei Schöffen. Der Centgraf fragte den ältesten Schöffen, ob es Zeit, Ort und Recht das Gericht zu hegen. War die Frage von dem Schöffen bejaht worden, so begann der Centgraf das Gericht mit der Hegung.

Der Zentgraf sagte: „Also heege und halte ich das Gericht im Namen und von wegen des hochwürdigsten Fürsten und Herren des heiligen Stuhles zu Mainz, Erzbischofes des heiligen römischen Reiches durch Germanien Erzkanzler und Kurfürsten, sodann im Namen und von wegen des Herrn Amtmannes zu Steinheim, wie in gleichen auch im Namen des Herrn Centgrafen und der sämtlichen Schöffen, auch aller derwegen, die solches von Nöten haben. Darüber tue ich Fried und Bann, daß keiner den anderen an diesem löblichen Landgericht Zwang antue, er tue es denn mit Erlaubnis. Ich erlaube das recht und verbiete das unrecht. Ich verbiete auch, daß keiner sein Wort tue, er tue es denn mit Erlaubnis. Ich verbiete, daß kein Schöffe den Stuhl räume, er tue es denn mit Erlaubnis.“

Bei schweren Fällen erhob der Kläger oder Bereder die Klage, der Angeklagte oder der Wehrer verantwortete sich. Die Schöffen fällten das Urteil. Bei leichteren Civil- und Kriminalfällen brachten die Schöffen der Reihe nach die Rügen ihrer Orte vor. Der Bürgermeister von Steinheim begann, der Schultheiß von Klein-Steinheim kam zuletzt an die Reihe. Der Zentgraf und die Schöffen zogen sich darauf zurück, setzten die Strafen fest und ließen sie durch den Amtsschreiber ablesen.

Der Brunnen bei der Linde diente dazu, daß die Schöffen ihre Hände „in Unschuld“ waschen konnten. Die Strafen mußten bis zum nächsten Landgericht bezahlt und die Frevel vertreten d. h. abgebüßt sein. Die Bußen oder Strafen wurden vom Amtmann, dem Centgrafen und sämtlichen Schöffen je nach dem Verbrechen angesetzt. Von der Strafe hatten der Kurfürst und die Schöffen je die Hälfte, der Centgraf ein Viertel. Hatte jemand ein schweres Verbrechen begangen, so wurde es gebüßt durch Radbrechen, Köpfen, Ertränken oder durch Aufhängen an den Galgen. Sollte der Verbrecher zur Aussage gezwungen werden, so kam er in die Folterkammer beim Schloß. Nach der Verhandlung fragte der Centgraf den dritten Steinheimer Schöffen, „ob das Gericht genugsam geheegt sei.“

Alljährlich feiert Groß-Steinheims Bürgerschaft, und besonders die Jugend, einem alten Brauch entsprechend, am Vorabend des 23. Juni das Johannisfest mit einem Johannisfeuer am Main vor der alten Linde. Durch das Feuer, das ein Abbild der Sonne ist, glaubte man auch die Dämonen des Mißwachses, des Unglücks, der Krankheiten von Mensch und Vieh bannen zu können. Deshalb sprangen junge Menschenpaare Arm in Arm durch die Flammen, um sich des Glücks zu versichern, wenn ihnen der Sprung ohne Schaden gelungen war. Deshalb trieb man das Vieh durch das erlöschende Feuer, um es von Krankheitsdämonen zu befreien. Eine besondere Rolle spielte bei diesen altgermanischen Sonnenwendfeiern Thor oder Donar, der Gott des Blitzes, des Donners und des Hagels, der gerade in der Sommerzeit Segen, aber auch Verwüstung über die Fluren ergießen konnte.

An alle diese Gedanken knüpfte das Christentum an, als es die Sonnenwendfeiern im Winter und Sommer im christlichen Sinne umgestaltete, zumal ja der Sieg des Lichtes in hervorragender Weise auf Jesus Christus bezogen werden konnte. Anstelle des winterlichen Julfestes trat der christliche Weihnachtsgedanke. Das Licht, d. h. Jesus Christus trat in die Welt ein. Es wuchs und wuchs, bis es gleichsam zur allbelebenden Sonne ward. Diesem Lichte ging Johannes der Täufer voraus: „Er war nicht das Licht, sondern er sollte Zeugnis geben von dem Lichte.“ Er war und ist vergleichbar dem Feuer, das die Dunkelheit der Nacht erleuchtet und hinweist auf das Urfeuer, das Hochfeuer, das alles erwärmt und belebt, auf die Sonne, mit der oft Christus verglichen wird. Johannes trat an die Stelle Thors. In christlicher Zeit betete man deshalb bei Blitz und Donner das Johannes- Evangelium. Wenn das Johannisfeuer abgebrannt war, nahm man noch vor vierzig Jahren Kohlenstücke davon mit nach Hause und steckte sie zwischen die Dachsparren, zum Schutz gegen Blitzgefahr.

Seit vielen Jahrhunderten hatte dieses Johannisfeuer eine Pflegestätte in Steinheim. Es wird wie folgt beschrieben: Schon Tage vorher laufen die noch schulpflichtigen Jungen durch die Straßen des Städtchens und erbitten mit dem Ruf „Welle, Welle Hannsfeuer“ Holz und Gerümpel, das zum Feuerstoß am Main hoch aufgeschichtet wird.

Bei Beginn der Dunkelheit trifft die Jugend mit Pechbehältern an langen Stangen und mit Hobelspänen versehenen Reiserbesen ein. Der Holzstoß wird entzündet, und an diesem die Fackeln und Besen angesteckt. Mit den brennenden Besen werden Feuerkreise geschwungen, gleichsam ein Abbild der Sonne.

Hunderte von Menschen umsäumen dieses Schauspiel. Die Flammen züngeln in wunderlichen Formen zum Himmel, graue Wolkenschwaden steigen empor. In grüngelbem Schein steht die alte Zentlinde. Lampions und Lämpchen glühen an den Fenstern des Mainturms, des ehemaligen Zollhauses und auf der altersgrauen Festungsmauer. Mädchen tanzen Reigen um den lodernden Brand, in hohem Bogen werfen die Knaben ihre abgebrannten Besenstummel in den Main, wo sie zischend erlöschen. Auf dem Flusse schaukeln illuminierte Boote und Nachen. Lichtstreifen in allen Farben zaubern ein Märchenbild in den Fluten des Maines.

 

Das Maintor:

Man geht weiter bis zur Straße „Am Maintor“. Ursprünglich befand sich an dieser Stelle nur eine Mauerpforte, die im Jahre 1564 erweitert wurde (an Mauerresten und Torbogen kann man das noch feststellen). In diesem Jahre wurde von dem Erzbischof Daniel Brendel von Homburg, der in Steinheim eine große Bautätigkeit entfaltete, auch die Befestigungsanlage, insbesondere das Ober- und Maintor gewaltig verstärkt. Die Jahreszahl 1564 finden wir am Torbogen nach der Stadtseite. Der Unterbau des Mainturms ist noch gut erhalten. Er baut sich im Viereck auf. Das Material ist Basalt und Sandstein.

Das Innere der rundbogigen Torfahrt ist von einem Tonnengewölbe überspannt mit einer Aufzugsöffnung in der Mitte. Türangeln nach der Main- und Stadtseite weisen auf zwei Tore des Turmes hin. Ein Torverriegelungsbalken ist noch gekennzeichnet. Heute hat der Mainturm zwei bewohnte Stockwerke, die durch ein einfaches, mäßig ansteigendes Dach abgeschlossen werden. Bis zum 17. Jahrhundert sah der Turm etwas stolzer aus. Er paßte zu dem turmreichen Schloß. Auf dem alten Stich von Merian aus dem Jahre 1646 sieht man noch ein Obergeschoß mit hohem, vierseitigem Dach, das mit spitzen Türmchen und einem stolzen Dachreiter geziert war. In der Bleistiftskizze des holländischen Malers Meyeringh vom Jahre 1675 sieht man den Mainturm des Dachreiters und des Türmchens nach der Mainseite beraubt. Der Turm hat also in der zweiten Hälfte des Dreißigjährigen Krieges, besonders von 1640 - 1648 und danach, durch Zerfall stark gelitten.

Um 1730 muß der Mainturm im Großen und Ganzen seine heutige Gestalt erhalten haben. Nun erblicken wir auf der Bleistiftskizze von Meyeringh vor dem Maintor noch eine stark zerfallene Vorbefestigung. Merian zeigt nicht diese Vorbefestigung, sondern nur einen kleinen Fachwerkbau an der Mauerecke nach dem Maintor hinauf. Dieser Bau war ein Zöllnerhaus, das jedenfalls in der zweiten Hälfte des Dreißigjährigen Krieges abgerissen worden war. An dessen Stelle wurde die Vorbefestigung gelegt, die man auf dem Bild von Meyeringh von 1675 sieht, und deren Form man auch auf dem Grundriß von 1687 erkennen kann. Hier hat man es also nicht mit einer Phantasiezeichnung des holländischen Malers zu tun, sondern mit einem traurigen Wirklichkeitsbild Steinheims nach dem trostlosen Dreißigjährigen Krieg. Ein Mauerrest von dieser Vorbefestigung befindet sich an der Ecke der Mainmauer nach dem weißen Türmchen zu. Der Main­turm wurde nach 1900 mit den Bildern des heiligen Christophorus nach der Mainseite hin, und mit dem Bilde des Drachentöters, des heiligen Georg, nach der Stadtseite hin bemalt, aber heute ist davon nichts mehr zu sehen.

Wenn man die Mainstraße hoch geht, sieht man die Leinreiter-Rast und die Fährmannshäuser. Links steht der Bickenhof.

 

Der Bickenhof:

Der Bickenhof umfaßt die Liegenschaft von der Zehntscheuer bis zur Maingasse. Ferner gehörten zu diesem Hof die ehemalige Gaststätte „Gambrinus“ und das daneben liegende Meyer’sche Haus. In dieser Hofreite findet man noch einen Keller mit zwei übereinander liegenden Stockwerken, der von den Einkünften dieser Familie erzählt. Im Jahre 1684 war der Bicken’sche Bau eingefallen, wobei die Scheune des Stadtwirtshauses zum größten Teil zerstört worden war. Um 1700 wurde der Bau in seiner heutigen Form wieder aufgeführt.

Der bedeutendste aus dem Geschlecht der Herren von Bicken war Philipp von Bicken, ein Schwager des schon erwähnten baulustigen Kurfürsten Daniel Brendel von Homburg (1555- 1582). Dieser Philipp von Bicken war ebenso bedeutend wie Frowin von Hutten. Er wurde gar manchesmal vom Kurfürsten mit wichtigen Staatsgeschäften betraut. Er war ebenso tüchtig in der Verwaltung des alten Amtes Steinheim. Er drang darauf, daß die damals bestehende Verfassung und Verwaltung in Stadt und Amt Steinheim aufgezeichnet wurden. Er ist 1590 gestorben. Mit seiner Gemahlin Anna fand er seine letzte Ruhestätte in der Kirche von Steinheim, aber das Denkmal ist leider nicht mehr erhalten. Von seinen drei Söhnen wurde der eine, Johann Adam, Kurfürst und Erzbischof von Mainz (1601-04). Dieser Johann Adam von Bicken hat einen großen Teil seiner Jugend in Steinheim verlebt. Auch dieser Kurfürst ernannte seinen Bruder Jost Philipp zum Amtmann von Steinheim.

 

Dürerhaus (Am Maintor 1)

Am Zugang zum Marktplatz steht links das schön erhaltene Dürerhaus mit seinen Ständern, Streben und Riegeln. Über der Kellertüre befindet sich die Jahreszahl 1541, es ist aber wohl schon um 1420 erbaut. In diesem Jahre fand aber nur eine Veränderung des Hauses statt. In diesem Hause soll der große deutsche Maler Albrecht Dürer im Jahre 1520 auf seiner Reise nach den Niederlanden mit Frau und Magd übernachtet haben. Von Bamberg aus benutzten die drei Reisenden ein Schiff. Eine große Anzahl seiner Kupferstiche, Holzschnitte, sowie einige kleinere Malereien führte der Maler mit sich. Von dem Verkauf dieser Arbeiten wollte er seine Reise bezahlen und zugleich einflußreichen Persönlichkeiten Geschenke machen.

Er beschreibt seine Reise in einem Tagebuch und erwähnt auch Steinheim mit folgenden Worten: „Von dannen kamen wir gen Oschenpurg (Aschaffenburg), da wiss ich meinen Zollbrief, da ließ man mich fahren und ich verzehrte do 52 pfennig. Von dannen fuhren wir gen der Selgenstatt, von dannen gen Steinheim, do wiß ich meinen Zollbrief, do liß man mich fahren. Und wir lagen bei Johannsen über nacht, der sperret uns die Statt auf und war uns gar freundlich, da gieb ich aus 16 pfennig. Also fuhren wir am freitag frühe gen Kesseltatt.“ Der erwähnte Johannsen war der eine von den beiden damaligen Bürgermeistern: Johannes Pförtner. Seit 2010 ist es Schau- undausstellungshaus und Atelier.

 

Marktplatz (Platz des Friedens):

Der Marktplatz wird geprägt von dem Friedensdenkmal. Es wurde am 15. Oktober 1911 feierlich enthüllt zur Erinnerung an den Frieden von Frankfurt 1871 und an die von Ludwig I., Großherzog von Hessen, eingeführten Neuerungen nach den Freiheitskriegen vor rund hundert Jahren (Leibeigenschaft, Zehnten und Frondienste wurden abgeschafft oder wenigstens stark gemildert. Die Zünfte mit ihrem starren Zwang wurden aufgehoben, und an ihre Stelle trat Gewerbefreiheit und Freizügigkeit). Das Denkmal wurde gestiftet von Großkaufmann Meyer-Gerngroß, ein geborener Steinheimer, nach dem heute die Seitenstraße von der Hans-Sachs-Straße nach dem Main zu benannt ist. Den künstlerischen Entwurf fertigte der bekannte Münchener Künstler Professor Georg Busch, ebenfalls ein Steinheimer. Das Denkmal wurde 1938 bei den antijüdischen Ausschreitungen beschädigt (der Stifter war wohl ein Jude) und 1940 entfernt. Im Jahre 1965 wurde es wieder errichtet. Am Haus dahinter befindet sich eine Friedensgedenktafel von 1985.

 

Altes Rathaus:

An der Stelle, wo heute das Friedensdenkmal steht, stand bis 1771 das alte Rathaus. Dieses war aus dem alten Steinheimer Spielhaus entstanden, das im Jahre 1376 erwähnt wird. Gewöhnlich war das untere Stockwerk offen, unter dem ein Teil des Marktes sich abspielte. Als dann im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert die Gerichtshegung nicht mehr unter der Linde stattfand, wurde das Spielhaus als Rathaus benutzt. Jetzt wurden das Land- und Haingericht sowie die sonstigen Beratungen über Angelegenheiten der Gemeinde und der Zent in dem vergrößerten Rathaus abgehalten.

Auf dem Merian’schen Stich von 1646 erblicken wir noch diesen stattlichen Rathausbau. Ein hochgezogener, gemauerter Giebel mit gewaltigem Dach ragt über die Nachbarhäuser und schaut hinunter nach der Maingasse. Der ganzen Bauart entsprechend ist dieses alte Rathaus wahrscheinlich um 1450 entstanden. Die zum Zent Steinheim gehörigen Zentorte mußten bei diesem Neubau fronen. Im unteren Stockwerk befand sich die städtische Ware, zu der man durch ein spitzbo­gi­sches Tor gelangte.

Außen am Rathaus war das Ellenmaß in Eisen eingelassen, so daß jeder sich von dem richtigen Maße überzeugen konnte. An dem Rathaus befand sich auch der Prangerstein mit Halseisen und Handfesseln, die durch eiserne Ketten an zwei Steinkugeln befestigt waren. Über das weitere Schicksal dieses alten Rathauses weiß man bis jetzt nur so viel urkundlich, daß im Jahre 1771 aus den Steinen des abgebrochenen Rathauses 220 Gulden gelöst wurden. Es ist wahrscheinlich, daß auch dieses alte Rathaus abgebrannt war.

Man wollte ein neues Rathaus im modernen klassizistischen Stil bauen und hat vielleicht die vom Brand stehen gebliebene Umfassungsmauer für den obigen Preis auf Abbruch verkauft. Erhalten geblieben war nur der geräumige Rathauskeller, der bei der Fundamentierung des Friedensdenkmals gefunden und von einigen Handwerkern begangen wurde. Die Unterkellerung ist außerordentlich geräumig. Hier wurden von den beiden städtischen Weinmeistern die Weine für das Stadtwirtshaus gelagert. Nach Aussage der Nachbarschaft schmilzt da, wo der Keller liegt, der Schnee viel rascher als an anderen Stellen. Im Jahre 1773 wurde das Rathaus durch einen Neubau in der Hans-Sachs-Straße ersetzt.

 

Schönborn’sches Haus:

Das stattliche Haus mit dem Erker links hinter dem Friedensdenkmal gehörte der Familie von Schönborn. Der Schönborn’sche Löwe ist noch an der Stuckdecke des Hausflurs zu sehen. Das Gebäude ging sodann an den Amts-Registrator Langgut über. Als dieser 1814 gestorben war, kaufte die Gemeinde diesen Bau um 1300 Gulden und richtete ihn 1815 als Schule ein. Das seitherige Schulhaus bei der Kirche wurde verkauft. Hier blieb ein Teil der Schule, bis im Jahre 1893 das neue Schulhaus an der Offenbacher Landstraße bezogen wurde.

 

Stadtwirtshaus (Platz des Friedens 6)

Gegenüber dem Friedensdenkmal befindet sich das alte Stadtwirtshaus. Es wurde um 1508 als Wirtshaus geründet. Bis in das 17. Jahrhundert war dieses das einzige Wirtshaus in Steinheim. Der jetzige Bau wurde nach einem Brand im Jahre 1731 erbaut. Es war in städtischem Betrieb. Die Stadt hatte zu Anfang des 16. Jahrhunderts vom Kurfürsten von Mainz das Recht zum Weinausschank erhalten. Sie mußte den 21. Pfennig von dem verzapften Wein an den Kurfürsten bzw. an dessen Keller in Steinheim entrichten. Das machte von 100 Gulden Einnahme fünf Gulden Abgaben. Dafür mußte die Gemeinde mit einem bestimmten Anteil die öffentlichen Bauten erhalten helfen.

Auf Sankt Michaels-Tag wurden von der Bürgerschaft zwei Weinmeister erwählt, die dem Weinschank vorzustehen, den Wein einzukaufen und an den Stadtwirt abzugeben hatten. Der städtische Wein lagerte im sehr geräumigen Rathauskeller. Bis ins 18. Jahrhundert hinein wuchs auch in Steinheim ein leichter Wein. Der auswärtige Wein kam besonders von Miltenberg, Wertheim, Würzburg, manchmal auch vom Rhein. Der Weinausschank war viel stärker als der Bierausschank. Der Zins, den der Stadtwirt jährlich zu zahlen hatte, betrug 120 bis 130 Gulden. Dazu kam noch das sogenannte „Ohmgeld“ für Wein und Bier.

Das Stadtwirtshaus spielte im Mittelalter und bis zum Ende des 18. Jahrhunderts im Leben des Städtchens eine wichtige Rolle. Es fehlte nie an Gästen, da ja Steinheim Amtsstadt und Pfarrei mit drei Filialen war, aus denen die Pfarreiangehörigen an jedem Sonntag herauf nach Steinheim kamen. Das Städtchen hatte auch sehr viel Durchgangsverkehr, da es an der großen Straße von Nürnberg nach Frankfurt lag. Aber auch die Einwohner sorgten für Betrieb im Stadtwirtshaus. In dieser trinklustigen Zeit verzichtete man oft auf Entschädigung mit Geld von Seiten der Gemeinde. Man ließ sich dafür meist einen Trunk im Stadtwirtshaus geben. Hier wurden die Strafen des Haingerichts (Ortsgerichts) gemeinsam vertrunken.

Hier erhielten die beiden Bürgermeister, die mit dem Stadtwirt nach jedem Quartal abrechneten, ein Maß Wein und Brot. Auch die beiden Geschworenen, die am Kirchweih-Montag das Gewicht und das Maß prüften, bekamen dafür ihren Wein und ihre Wecken. Ebenso erhielten die Stadtgeschworenen zwei Maß Wein und zwei Brote, wenn sie den Kühen die Hörner schnitten und den Ebern die Zähne brachen. An Christi Himmelfahrt wurde das Junggesind von der Gemeinde mit einem Freitrunk bewirtet. Auch den Schützen gab man an ihrem Patronatsfest, dem Sankt Sebastianstag (20. Januar) und am Fronleichnamstag für die Teilnahme an der Prozession jedem eine halbe Maß Wein. Sogar bei Verpachtung der Gemeindewiesen erhielt jeder Bürger einen Freitrunk.

Das alte Stadtwirtshaus war anscheinend vom Dreißigjährigen Krieg auch stark mitgenommen worden. Die Reparaturen wollten kein Ende nehmen. Da entschloß man sich, im Jahre 1731 ein neues Stadtwirtshaus zu bauen. In dieser Form ist es bis heute geblieben. Der städtische Betrieb hat sich aber im 18. Jahrhundert nicht mehr gelohnt, zumal jetzt auch noch mehr Wirtschaften entstanden waren. So wurde im Jahre 1784 das Stadtwirtshaus zur Versteigerung ausgeschellt und 1786 wurde es für 2.900 Gulden verkauft. Während der Franzosenzeit von 1790 bis 1814 hat der Stadtwirt Johannes Ferg Kriegsvölker aus aller Herren Länder hier bewirtet und beherbergt. Im 18. Jahrhundert wurde das Wirtshaus genannt „Zum Lamm“. Seit 1786 ist es in Privatbesitz. In den dreißiger Jahren hieß es „Zur Germania“.

 

Das neue Rathaus

Das neue Rathaus wurde im Jahre 1773 errichtet. Die Baukosten betrugen 2.700 Gulden. Da hier auch die Zentsachen verhandelt wurden und sich zu ebener Erde die Zent-Arreste befanden, hatten die Zentorte, die zur Zent (Gerichts- und Verwaltungsbezirk) Steinheim gehörten, zum Rat­hausbau mit Geld und Frondienst beizusteuern. Als im Jahre 1782 Steinheim Sitz eines Oberamts und Vogteiamts geworden war, wurde das neue Rathaus das Lokal für alle Vogteiamtssitzungen. Hier wurden jetzt alle Amtsakten aufbewahrt.

Für die Ratssitzungen der Stadt benutzte man ein kleines Zimmer, das sogenannte „Wartstübchen“, in dem sich die Parteien während der Amtstage aufhielten. Auf ebener Erde war ein Raum für die städtische Waage frei gehalten. Die Kanzlei mit sämtlichen alten und neuen Akten war oben im großen Sommersaal untergebracht. Während der zwanzigjährigen Kriegszeit von 1794 bis 1814 wurde das Rathaus sehr häufig als Lazarett und Lebensmittelmagazin benutzt, wodurch es sehr gelitten hat.

Im Jahre 1816 fiel der größte Teil des Rathauses einer Feuersbrunst zum Opfer. Es war in der Sonntagnacht vom 28. zum 29. Juli zwischen 10 und 11 Uhr abends, als plötzlich die Flammen aus dem Rathaus schlugen. Der Brand war anscheinend im Dachstuhle ausgebrochen, wo zum Unglück auch noch 600 Kieferwellen lagen.

Als die im ersten Schlaf liegende Einwohnerschaft zu Hilfe eilte, loderten die Flammen bereits himmelan, und das Feuer hatte die Stiegen schon ergriffen, so daß man auf diesem Wege nicht mehr in das erste Stockwerk gelangen konnte. Dort lagen in verschiedenen Zimmern die sämtlichen Akten der alten kurmainzischen Amtsstellen, da man aus ihnen die Akten von Großauheim, Großkrotzenburg und Oberrodenbach, die damals zu Kurhessen kamen, herausgesucht und einen Tag vor dem Brand nach Kassel abgegeben hatte.

Als der Großherzogliche Justizamtmann Groß an die Brandstelle kam und die Akten retten wollte, konnte er die Stiege nicht mehr hinauf. Ohnmächtig stand die Menge vor dem wütenden Element. Da belebte der Justizamtmann den Mut zum Rettungswerk dadurch, daß er sich selbst an die Spitze stellte und mit Hilfe von Feuerleitern zu holen suchte, was noch zu retten war. Mit seltener Kühnheit und Aufopferung waren sechs bis acht Männer in die zum Teil schon brennenden Räume eingedrungen und warfen einer großen Teil der Akten durch die Fenster auf die Straße. Die ältesten Steinheimer Urkunden konnten nicht mehr gerettet werden und sind so für immer vernichtet. Von dem Rathaus waren nur noch die Wände stehen geblieben. Auch das Rokokoornament über der Türe und der Altan stammen noch vom Rathaus von 1773. Den Feuerwehren aus sämtlichen Nachbarorten, auch aus Hanau, war es geglückt, das Feuer auf das Rathaus zu beschränken. So wurde das alte Reubersche Haus und das dahinter stehende noch ältere Gebäude des kurfürstlichen Kellers gerettet.

Da das Rathaus nicht bewohnt war, vermutete man eine boshafte Brandstiftung. Der Verdacht fiel sofort auf den Amtsschreiber Hebel, der ein Trunkenbold war und sein Amt sehr schlecht verwaltete. Er hielt die Akten nicht in Ordnung, so daß eine geregelte Geschäftsführung in der Registratur nicht möglich war. Da Hebel nun eine Revision der Großherzoglichen Regierung fürchtete, glaubte er in seinem Trunkwahn durch einen Brand seine unordentliche Amtsführung verbergen zu können. Trotz vieler Verdachtsmomente von Seiten einer ganzen Reihe von Zeugen konnte er der Brandstiftung direkt nicht überführt werden. Er mußte aber die Untersuchungskosten bezahlen und wurde seines Amtes entsetzt.

Im August 1816 hatte Landbaumeister Spieß bereits den Plan für ein neues Rathaus - wie wir es heute sehen - entworfen und die Bauarbeiten vergeben. Das Baumaterial, wie Sand, Lehm, Kalk, Steine und Holz, mußte durch Frondienste herbeigeschafft werden. Die Kosten für das jetzige Rathaus betrugen 3.500 Gulden. Die Orte des Amts Steinheim hatten neben der Stadt Steinheim auch zu den Kosten beizusteuern.

 

Kellereihof und Zehntscheuer (Hans-Sachs-Straße):

Rechts neben dem Rathaus in der Hans-Sachs-Straße steht noch ein altes gotisches Haus, das jedenfalls 1535 von dem damaligen kurfürstlichen Keller Ulrich Reuber errichtet worden war (Der Keller war ein kurfürstlicher Verwaltungsbeamter, der insbesondere die Steuern, die damals meistens in Naturalien bestanden, einzutreiben und den Wein einzukellern hatte). Das alte Kellereigebäude steht noch hinter dem Reuber’schen Haus. Seiner ganzen Anlage nach ist dieses eins der ältesten Häuser Steinheims. Im achtzehnten Jahrhundert genügte dem Keller das Reuber’sche Haus auch nicht mehr, und man baute im neuen Zeitstil an dem Eingang zum Kellereihof eine neue Kellerwohnung.

Am Torpfosten neben dem Haus steht ein Schild „Der Herrenhof“. In dem Kellereihof befindet sich die langgezogene Zehntscheuer, mit drei Stockwerken übereinander und vier alten, zum Teil übereinander liegenden Weinkellern. Zwanzig Dörfer hatten Bede und Dienstgeld als Steuer und den großen und zum Teil auch kleinen Zehnten an die Kellerei Steinheim zu entrichten. Es gab um 1570 im Amt Steinheim ungefähr 500 Steuerzahler, von denen jeder durchschnittlich 1 - 21 Simmern Korn oder Hafer, ein Fastnachtshuhn, ein Sommerhuhn, zwei Hämmel, drei Gänse und Flachs, Rüben sowie Kraut, Stroh und Heu zu liefern hatte. Dazu kam der Weinzehnte der damals viel mehr einbrachte, als wir uns heute vorstellen. So war zum Beispiel allein in Steinheim der Albanusberg, vom Albanusbrünnchen bis zum Hellenwald größtenteils mit Weinreben angelegt. Ebenso wuchs Wein am Main, hinter dem Schloß, im Pfortenfeld und am Kreuzberg,

 

Huttenhof (Hans-Sachs-Straße):

Gegenüber dem Kellereihof liegt der Huttenhof, ein Renaissancebau aus der Zeit um 1600. Die alte gotische Scheune dieses Hofes läßt vermuten, daß hier vor dem sechzehnten Jahrhundert ein anderes herrschaftliches Haus in gotischem Zeitgeschmack gestanden hat. Von besonderem Reiz ist das Erkertürmchen an der Ecke zur Wenckstraße. Aus einem rechteckigen, reich profilierten Sandsteinsockel steigt eine Dreiviertelrundsäule hoch, auf der eine Deckplatte ruht, die wieder als Basis für ein muschelförmig geziertes Kapitell dient. Darauf ruht das fünfseitige Erkertürmchen, das in der Horizontalen am Fuße mit Zahnschnitt, Eierstab und Perlstab in den Profilierungen verziert ist, während vertikal das gekröpfte Gesims und das fünfseitige ehemalige schön geschwungene Barockdach von Pilastern getragen wurde. Das Dach und der obere Teil des Türmchens wurden in den 70er Jahren zu ihrem Nachteil geändert. Im Innern des Hauses ist nur die alte Schneckentreppe noch erhalten. Der Treppenturm ist von Hof aus zu sehen. Alle anderen Räume sind verändert.

An der Hausfront steht eine Madonna mit dem Jesusknaben, die früher über dem Portal des Huttenhofes stand (die Aussparung ist noch vorhanden). Ein demütiges Madonnenantlitz schaut voller Güte herunter auf den Beschauer. Das Christkind in erhabener Würde mit lehrender Handhaltung wird von seiner Mutter der Menschheit dargeboten. In barocker Form schwingt ein blauer, faltenreicher Mantel in vielen Brechungen und Bauschungen über ein lang herabfallendes rotes Untergewand. Im Hof ist heute eine Gaststätte untergebracht. Links im Hof ist die Gaststätte „Treppchen“.

 

Zunfthaus der Fischer und Schiffer

Die Hans-Sachs-Straße endet als Sackgasse. Man biegt aber schon vorher rechts ab und trifft auf das Zunfthaus der Fischer mit seinem gut erhaltenen Fachwerk, das im unteren Stockwerk die gotische Dreipaßform in Fachwerk aufweist. Die alte Doppeltüre des Hauses ist beseitigt worden. An der rechten Hauswand ist ein Spruch, der vermutet, daß der letzte Fischer von Steinheim im Main ertrunken sei.

 

Der Fronhof

Nach links kommt man zum Fronhofgelände, auf dem zunächst das alte kurfürstliche Brauhaus auffällt, jetzt Hofbrauhaus Jung. Das Brauhaus war eine ergiebige Einnahmequelle für die Kurfürsten. Diese besaßen das Wein- und Biermonopol, denn die Wirte der 14 Ortschaften des Amtes Steinheim durften Bier nur aus dem Steinheimer Brauhaus beziehen. Mit der wachsenden Einwohnerzahl im 16. und 17. Jahrhundert vergrößerte sich auch der Bierabsatz. So hatte bereits der Kurfürst Albrecht von Brandenburg (1514-1544) den Fronhof und das Brauhaus erweitert.

Das Brauhaus ist in seiner jetzigen Form wurde von dem Kurfürsten Anselm Franz von Ingelheim (1679-1695) errichtet. Sein Wappen ist auf der Vorderseite des Brauhauses angebracht (dazu ein modernes, stark vergoldetes Hessenwappen). Im Hof sind auch noch über dem Eingang zur eigentlichen Brauerei (hinter dem Wohngebäude) die Anfangsbuchstaben der Pächter des 18. Jahrhunderts zu lesen. So z. B. „H. F. 1746“. Am rückwärtigen Giebel befindet sich ein Stein mit der Jahreszahl 1609 und den Buchstaben „A. C.“ (Albrecht, Cardinal).

Das Haus ist seit 1829 im Besitze der Familie Jung. Die heutige Wirtschaft wurde um 1860 erbaut. Von der im Jahre 1911 von dem jetzigen Besitzer Gustav Jung erweiterten Terrasse in der südöstlichen Ecke des Hofes hat man einen hübschen Blick auf das Mühltor nach den benachbarten Maindörfern mit ihren Kirchtürmen und Häusern, mit ihren Fabriken und Schornsteinen. Die Familie hat es verstanden, dem Hause einen guten Ruf zu erwerben und zu erhalten. Besonders in der Sommerzeit ist es mit seinem großen schattigen Garten und seiner Terrasse mit prachtvoller Aussicht über das Maintal und den Vorspessart ein idealer Aufenthaltsort.

Durch einen Torbogen kommt man in den alten Fronhof. Dort steht heute noch die große Fronhofscheuer (mit einer anschließenden Wohnung?). Zum Fronhof gehörten 136 Morgen Äcker im Steinheimer Feld, die im Pfortenfeld, im Schachen, im neuen Feld (beim Heiligenhaus), am Spechtskreuz (bei der Schindkaute), im Kraisfeld (gegen die Auheimer Gemarkung hin) und im Niedersteinheimer Gebiet (Mainfeld, Lachenfeld, Brückenfeld) lagen. Auch gehörten 7 Morgen Wiesen und Gärten dazu. Er wird in ältester Zeit von den Eppensteinern eingerichtet worden sein. Er wurde von einem Hofmann verwaltet, der jährlich als Pachtsumme 25 Malter Korn an den Kurfürsten abzugeben hatte. Er war frei von jeder herrschaftlichen Steuer: dafür mußte er einen Faselochsen und einen Zuchteber halten (Diese Last ruhte noch bis 1902 auf dem Brauhaus).

Er durfte ferner kein Stroh aus dem Fronhof verkaufen, und hatte dem Kurfürsten, wenn dieser im Schlosse weilte, frisches Brunnenwasser zuzuführen. Für den kurfürstlichen Keller mußte er den Pfortenacker und den zur Kellerei gehörigen Krautacker zackern. Ebenso hatte er zusammen mit den Auheimer Hofleuten den Wein aus dem neuen Feld ins Schloß oder - wenn er nach Mainz verschickt werden sollte - an das Fahr zu bringen (Das „neue Feld“ im Gegensatz zum „alten Feld“, ist eine Gewannbezeichnung. Sie umfaßte das Feld vom Albanusbrünnchen bis zum Hellenwald und hinüber bis zum Häuser Weg).

Er war berechtigt, das Holz, das er zur Einfriedigung seiner Äcker und sonstigen Güter benötigte, aus der Biebermark zu holen (Bieberermark oder Biegermark ist ein Gebiet, dessen Wald, Wasser und Weide von den Gemeinden Bieber, Heusenstamm, Hausen, Obertshausen, Bürgel, Rumpenheim, Mühlheim und Dietesheim gemeinsam verwaltet und genutzt wurde).

 

Brauhausgasse:

Wenn man weiter in die Brauhausgasse geht, kommt man nach einer Baulücke zu zwei Häusern, die früher Schafställe waren und zur Schäferei des Fronhofes gehörten. Die Schafzucht war bis zum 18. Jahrhundert ganz außerordentlich verbreitet, solange Europa gar nicht oder nur mangelhaft mit Baumwolle aus überseeischen Ländern versehen wurde. Am Giebel befindet sich das Wappen des Kurfürsten Albrecht von Brandenburg. In den vier Wappenfeldern befinden sich oben Adler und Greif, unten der Löwe und das Hohenzollernwappen.

Auf einem Kreuz über dem Wappenschild liegt der Kardinalshut mit den herabhängenden Quasten. Hinter dem Wappen sind Schwert und Bischofsstab gekreuzt, als Zeichen der weltlichen und geistlichen Hoheit. Das Wappen ist in einfacher Renaissanceform ausgeführt. Das gleiche Wappen befand sich an der Fronhofscheuer befand (vielleicht rechts von dem großen Tor?), ist aber heute nicht mehr vorhanden.

Von der Brauhausstraße gelangt man durch ein Tor in der Mauer zu dem südwestlichen Eckturm der Festungsmauer, dem Dilgesturm, der mit seinem Storchnest von jeher ein Liebling der Steinheimer Jugend war. Die Treppe führt hinunter in den Hof der Villa Stokkum.

 

Man geht aber wieder die Brauhausstraße zurück und geht in Richtung Kirche. Links geht es in die Häfnergasse (Sackgasse). Die Häfner waren die Töpfer. Dieses Gewerbe hatte sich hier früh entwickelt, da ja Lehm und Lett nicht allzuweit von Steinheim gegraben wurden. Um 1900 sind die letzten Drehscheiben aus der Häfnergasse verschwunden. Rechts ist wieder der Huttenhof zu sehen.

 

Kreuzkapelle:

Am Huttenhof kann man ein Modell der Steinheimer Altstadt betrachten. Das Gebäude, in dem das Modell zu sehen ist, steht an der Stelle der ehemaligen Kreuzkappelle. Der kleine, rechteckige und flachgedeckte Bau stand auf dem alten Friedhof neben der Kirche. Der Eingang der Kapelle war mit Spitzbogen versehen. An der Mainseite, wo die alte Friedhofsmauer als Kapellenwand benutzt wurde, saß ein kleines Steinrahmenfenster mit einfachem Maßwerk. Neben dem Eingang war ein steinerner Weihwasserkessel in die Wand eingelassen. Die vier großen Fenster an der der Pfarrkirche zugekehrten Seite waren aus der Barockzeit. Die Kapelle diente bis ins 19. Jahrhundert als Aufbewahrungsort des Wallfahrtskreuzes.

 

Der Wenk'sche Hof oder das Altaristenhaus:

Links von der Kirche steht ein hochgiebeliges Steinhaus, der alte Wenck’sche Hof oder das Altaristenhaus. Dieses Gebäude war von dem kurfürstlichen Keller Konrad Wenck gebaut worden. Dieser war zugleich Geistlicher. Seit 1487 besaß er die Einkünfte des St. Georgenaltars in der Schloßkapelle. Zwischen 1487 und 1490 ist dieser Hof entstanden. Im Jahre 1492 stiftete der Keller von Steinheim und Pfarrer von Hörstein Konrad Wenck in seinem Hause „an der Pforten zu Steinheim zu der rechten Hand“ eine Kapelle „zu Ehren des Herren Christi, Mariae und Annae“, und bestimmte das Haus mit seiner Einrichtung zur Wohnung des jeweiligen Altaristen, der aus dem Wenck'schen Stamm oder - wenn hier ein geeigneter Bewerber fehle - aus Stadt oder Amt Steinheim genommen werden sollte. Das Patronat übertrug der Stifter seinem Bruder, dem Kammer- und Zollschreiber Johann Wenck (gestorben 1514) und dessen Erben.

Diese beiden Brüder Konrad und Johann übergaben im Jahre 1502 mit bestimmten Gülden und Gütern, darunter einen großen Garten vor der Pforte im Hainberg dem Erzstift Mainz zu Erblehen, und Erzbischof Berthold verlieh dieses Haus und die Güter wieder erblich dem Johann Wenck und seinen Nachkommen. Zu diesem Erblehen gehörten außer dem Haus und Garten zu Steinheim. 34 Morgen Äcker und 20 Morgen Wiesen in Bieber, und 53 Morgen Äcker und 11 Morgen Wiesen in Heusenstamm.

Die Familie Wenck, behielt in der weiblichen Linie diesen Wenck’schen Hof bis zum Jahre 1808. Im Jahre 1806 erlaubte die Darmstädter Regierung, daß das Lehen aufgehoben wurde gegen eine Abtretungsgebühr von 500 Reichstalern durch Philipp Anton Kämmerer, ein Sproß der Wenck‘ schen Familie. Der Antragsteller erhielt das Haus und Gut als Eigentum und konnte darüber frei verfügen. Allerdings wurde jetzt die seitherige Steuerfreiheit aufgehoben. Das Gut wurde im Jahre 1808 nach dem Tode des Amtsvogts Kämmerer für einen Spottpreis verkauft.

In dem Hause lebten also die Familien Wenck und die Altaristen. In dem Haus gab es eine Kapelle. Die Kapelle und die hier wohnenden Geistlichen haben jedenfalls zu dem Gerücht Veranlassung gegeben, daß früher hier ein Tempelherrenkloster gewesen sei. In einer Nische über der Tür steht eine sogenannte „Anna-Selbdritt“, d. h. die Mutter Anna selbst wird dargestellt zusammen mit der gekrönten Maria, die sie auf dem linken Arm, und dem Jesusknaben, den sie auf dem rechten Arm trägt. Neben dem Wenck’schen Hof steht noch ein sehr schönes Fachwerkhaus mit einer zugemauerten Torfahrt.

 

Das Obertor (Kardinal-Volk-Platz):

Auf dem Platz Kardinal-Volk-Platz vor der Kirche befand sich das alte Obertor Es wurde um 1550 errichtet und bestand aus zwei Teilen: dem äußeren und dem inneren Tor. An dem überdachten äußeren Torbogen stand ein dicker, runder Turm, der aus zwei Stockwerken bestand und mit einem eckigen Dach versehen war. In dem unteren Stockwerk befand sich die Wachtstube für den Torpförtner, der hier das Weg- und Geleitgeld erhob. An den Turm schloß sich die gewölbte Durchfahrt an. Vor diesem Tor befand sich ein Schlagbaum.

War man durch den Torbogen hindurchgeschritten, so gelangte man zwischen zwei Mauern zu dem inneren Tor. Dieses war geschützt durch zwei Türme, die mit spitzen Dächern abgeschlossen waren und aus der Zwingermauerflucht vorsprangen. Die beiden Türme waren verbunden durch einen Gang, der mit einem Ziegeldach überdeckt war. Von hier aus lief nach beiden Seiten ein Wehrgang nach den Türmen und auf der Mauer hin. Dieses innere Tor war nochmals geschützt durch einen südlichen Turm (heute im Garten von Lambe).

Dieses außerordentlich starke Vorwerk, das nach Schließung des Mühltors um 1550 auf diese Weise befestigt worden war, wurde im Jahre 1817 abgebrochen. Im Pflaster vor der Kirche ist der Verlauf der Mauer noch markiert. Die Abbruchsteine des Obertores wurden nach Offenbach, Bieber und Froschhausen verkauft. Auch die Mauersteine der Brücke über die Rodau bei Hausen und ein Teil Steine des Werner’schen Hauses gegenüber der Post stammen vom alten Steinheimer Obertor. Auch die Zwingermauer, die vor der Hauptmauer herlief, wurde damals abgebrochen, und die Steine wurden zum Teil zur Chaussierung der Offenbacher Landstraße verwandt.

 

Vorstadt:

Vom Kardinal-Volk-Platz sieht man rechts in die Vorstadt. Bis zum Jahre 1687 stand in der heutigen sogenannten großen und kleinen Vorstadt kaum ein Haus. Vor der Festungsmauer und der davor stehenden Zwingermauer liefen zwei Gräben mit Wällen, die nur unterbrochen wurden durch die vorspringende Obertorbefestigung und durch den Pestilenzturm. Die Vorstadt wurde begonnen, als im Jahre 1687 die Steinheimer Altstadt den Menschen zu eng wurde. Damals baten 14 Bürger von Steinheim den Erzbischof Anselm Franz von Ingelheim (auch: Anselm Kasimir von Wambolt) vor die Befestigung der Stadt ziehen zu dürfen, denn die Stadtmauer hatte ihren Festungscharakter verloren. Die Bürger Steinheims wollten geräumigere Häuser bauen - und auch einen Garten haben. Ihre Bitte wurde genehmigt, und umgehend erging der Befehl an den Keller Johann Jakob Tautphaeus, die Hecken und das Gesträuch in und auf den Gräben vor der Stadtmauer abhauen und das Gehölz hinwegschaffen zu lassen. Ein Bebauungsplan wurde erstellt. Im Jahre 1690 erfolgte dann die erste Bebauung der ersten Häuserzeile im Abstand von 40 Meter zur Stadtmauer. Im Abstand von weiteren zehn Metern wurde die zweite Häuserzeile zur „doppelten Vorstadt“ hochgezogen. Die Bebauung der östlich gelegenen „kleinen Vorstadt“ erfolgte allerdings erst ab 1750.

Die Stadt verlor um 1700 ihren festungsartigen Charakter, was in dem neuen Steinheimer Stadtviertel, der sogenannten Vorstadt, zum Ausdruck kommt. Das Stadtbild ist hier nicht mehr so kraus, sondern einfach, gradlinig, nüchtern und bequem. Man sieht den Häusern mit den großen Höfen das Behagen an, glücklich der Festungsmauer entgangen zu sein, um sich hier vor der Stadtmauer recht breit ausspreizen zu können.

Die Hofreiten der Vorstadt wurden größtenteils von 1690 bis 1750 erbaut. Die Häuser dieser Straße unterscheiden sich dadurch von denen in der Altstadt hinter den Mauern, daß sie mit der Langseite und nicht mit der hochgezogenen Giebelseite nach der Straße stehen. Es sind typische Beispiele für die Bauweise des 17. und 18. Jahrhunderts.

Die Gründer der Vorstadt erhielten im Gegensatz zu den Altstädtern nicht nur geräumige, breitgelagerte Häuser, sondern auch große Höfe hinter dem Haus nach der Stadtmauer zugeteilt. Die Wälle und Gräben wurden eingeebnet und zu Gärten angelegt. Die neue Straße wurde 1707 gepflastert. Nur die Hauptmauer, der Pestilenzturm und das Obertor waren stehen geblieben.

Wirte und Handwerker waren die ersten Bewohner der Vorstadt, die durch ihre geschlossene Bebauung wie ein zweiter Riegel vor der Stadtmauer wirkte. Im Jahre 1820 erfolgte der Abriß des Obertors, 1837 der des Neutors, und die Stadterweiterung konnte voranschreiten. Die zunehmende Industrialisierung und der Eisenbahnanschluß sorgten für weitere Gewerbeansiedlung. Vor allem Handwerksbetriebe und Gastwirtschaften waren zu Frühzeiten in der Vorstadt beheimatet. Die 1810 eröffnete Burgapotheke und das seit 1840 im Reuß‘schen Familienbesitz Gasthaus „Zur Linde“ sind mit die ältesten Geschäftsansiedlungen in der Vorstadt (allerdings ist dieses Gebäude mittlerweile einem Neubau gewichen).

 

Das älteste Pfarrhaus:

Links vor der Kirche steht der schönste Fachwerkbau Steinheims, das alte Pfarrhaus. Es hat herrliches Fachwerk mit reicher Linienzier in Ständern, Streben und Riegeln in gerader und gebogener Form. Dieses Haus wurde im Jahre 1468 von dem Pfarrer Konrad Willungen gebaut. Jedenfalls hat der damals in Steinheim residierende Erzbischof Diether von Isenburg auch sein Scherflein dazu beigetragen. Die großen Keller unter dem Pfarrhaus erinnern uns daran, daß der Pfarrer seinen Gehalt in Naturalien empfing, so den Zehnten an Korn und Hafer, an Hämmeln, Gänsen, Hühnern, Flachs und Wein.

Es gibt wenige Häuser in Steinheim, die im Innern den mittelalterlichen Geist so atmen wie dieses Gebäude. Wenn man durch die Haustüre eingetreten ist, steht man in einem geräumigen Hausflur vor der Küche. Man steigt die Treppe hinan, die hier mit einem Podest versehen ist, gelangt rechts in die Küche und geradeaus in die untere Stube mit Kammer. Auf einer Wendeltreppe kommt man in das zweite Stockwerk mit drei Zimmern und Küche. Hier hat Pfarrer Indagine seine damals so berühmten Bücher über Astrologie geschrieben und von hier aus haben von 1468 bis 1670 die Steinheimer Pfarrer für ihre Pfarrkinder gesorgt und gearbeitet. Auch dieses Haus hatte durch den Dreißigjährigen Krieg und die furchtbare Armut nach diesem Krieg stark gelitten.

 

Das zweite Pfarrhaus:

Man baute ein neues Pfarrhaus nördlich vom alten. Wenn man um das Fachwerkpfarrhaus herum geht, kommt man durch einen Torbogen. Auf einem von barockalem Blattwerk umrahmten Schlußstein über dem Torbogen sieht ein Lamm mit der Kreuzesfahne und der Inschrift: „Amore et candore“ (In Liebe und Reinheit) und die Anfangsbuchstaben P. S. (Pater Sebastian Kray 1739).

Im Jahre 1739 hat Pfarrer Kray dieses zweite Pfarrhaus erweitern lassen. Es blieb Pfarrhaus bis 1780. Um diese Zeit wurde als drittes das jetzige Pfarrhaus am Main gebaut. In das verlassene Pfarrhaus wurde 1787 die Schule verlegt. Im oberen Stock befanden sich zwei Schulstuben für 140 bis 150 Kinder. Den unteren Stock bewohnte der Rektor, der ein jährliches Gehalt von 54 Gulden bezog. Die Schule blieb hier bis 1814.

Da die Kinderzahl größer geworden, war seit 1760 noch ein zweiter Lehrer eingestellt worden. Ein Teil der Kinder mußte morgens, der andere mittags die Schule besuchen. Da starb im Jahre 1814 der Amtsregistrator Langguth, und die Gemeinde kaufte dessen geräumiges Haus mit Erker am Marktplatz, das er von den Schönborn erstanden hatte, um 1300 Gulden als Schulhaus. Das alte Schulhaus an der Kirche wurde 1814 um 516 Gulden an Samuel Herz verkauft. Heute ist es leider mit Eternit-Platten verschandelt.

 

Die katholische Kirche „St. Johann Baptist“ (Gedächtniskirche)

Der ehemalige Wehrturm mit Zinnen und Erkern wurde zum Kirchturm. An den Charakter des Turmes erinnern noch eine langgestreckte Schießscharte (sogenannte „ Schlüsselscharte“) im unteren Stockwerk und der bekrönende vorspringende Zinnenkranz mit Brustwehren, breiten Schießscharten und vier Ecktürmchen, die wie kleine Erker kühn an den Ecken herausragen. Er hat als Stützpunkt der Westmauer und der Obertorbefestigung gedient.

Im Turminnern lassen sich an dem verschiedenartigen Aussehen der Mauer deutlich zwei Bauzeiten feststellen. Ursprünglich war der Turm keine 29 Meter hoch, sondern reichte nur bis zu den gotischen Fenstern im ersten Stock. Die Bauzeit dieses ältesten Turmteiles muß man zwischen 1320 und 1335 ansetzen, als nach Verleihung der Stadtrechte Steinheim mit Mauern und Türmen versehen wurde. Die flachen Kreuzgewölbe im unteren Glockenturm sind später eingebaut und die beiden Eingangstüren in späterer Zeit eingebrochen worden.

Der Turm hatte ursprünglich nur einen Eingang, und zwar die Stelle in der jetzigen Kirche über dem Glockenturm. Die gotische Türfassung dient heute als Aufbewahrungsort für eine alte Madonna. Eine Leiter diente zum Aufstieg, die im Falle der Gefahr hochgezogen werden konnte. Wo heute das Langhaus der Kirche steht, war damals freier Platz, und es ist nicht ausgeschlossen, daß an der Stelle des heutigen Chors die alte Kapelle stand, die 1329 mit einem Altare zum heiligen Geiste erwähnt wird.

Es steht fest, daß das heutige Chor um das Jahr 1450 noch nicht stand, und daß um 1450 der Turm auf seine heutige Zinnenkrönung erhöht und durch eine Türe mit dem Langhaus der Kirche verbunden wurde. Das Schiff in seinem jetzigen Umfang entstand etwa 1453. Die Säulen in der Gedächtniskirche sind nicht mehr wie in der Früh- und Hochgotik mit Kapitellen versehen, sondern sie senden strahlenförmig ihre Rippen in das Gewölbe hinauf, das netzartig von diesen unterfangen wird.

Der Druck der Rippen wird durch Schlußsteine aufgefangen, die die Wappen des Erzbischofs Berthold von Henneberg (gest. 1504.), des Uriel von Gemmingen (gest. 1508) und des Mainzer Domkapitels tragen. Auf einem Schlußstein befindet sich das Mainzer Rad. Der Chor wurde 1504 - 1509 unter Pfarrer Johannes Rosenbach, genannt „de Indagine“, erbaut. Eine Grabplatte der Kirche, die beim Abbruch des Hauptaltars im Jahre 1949 freigelegt und in den rechten Seitenaltar eingemauert wurde, trägt die Jahreszahl 1453.

 

Die Glocken:

Die älteste Glocke stammt aus dem Jahre 1466. An dem oberen Rande trägt sie über einem gotischen Dreipaßfries die Inschrift in gotischen Buchstaben: „Maria gotts Celle halt in hut was ich ubberhalle. anno dni MCCCCLXI (1466). Diese Marienglocke dient beim Zweit- und beim Zusammenläuten.

Die größte Glocke in der Mitte wurde nach dem Dreißigjährigen Krieg gegossen und an ihre jetzige Stelle gebracht. Sie hängt an sechs Henkeln, die mit bärtigen Männergesichtern geschmückt sind. Vielleicht haben wir es hier mit dem Kopf des Glockengießers zu tun.

Am Kopf zieht sich über einem Akanthus oder Bärenklaublattfries die Umschrift: „In honorem sacrosanctae et individuae Trinitatis, beatae Mariae Virginis et Sancti Joannis Baptistae“ („Zu Ehren der allerheiligsten und ungeteilten Dreifaltigkeit, der seligen Jungfrau Maria und des heiliger, Johannes des Täufers“). Auf der Vorderseite hält ein Barockengel mit ausgespannten Flügeln ein Tuch. mit der Inschrift: „Johann Wagner in Frankfurt Gos Mich Anno MDCLLVI“ (1656).

Daneben bemerken wir das Stadtsiegel, ein S mit T verschlungen, darüber ein Rundrelief mit der Heiligen Dreifaltigkeit. Gott Vater hält dem Sohn die Weltkugel hin. Darüber schwebt der Heilige Geist in Gestalt einer Taube.

Rechts davon sehen wir ein hochgerichtes Kreuz, das in die Erde gekeilt ist. Mit fliegendem Lendenschurz hängt die Barockfigur des Heilandes am Kreuz. Die körperliche Gestaltung in Muskeln und Sehnen ist stark betont. Der Kopf ist sehr ausdrucksvoll. Am Fuße des Kreuzes kniet Maria Magdalena. Mit der rechten Hand hat sie das Kreuz umklammert, in der linken hält sie ein Tuch, mit dem sie ihre Tränen getrocknet hat. Voll Hoffnung schaut die Sünderin nach dem Erlöser. In mächtiger Formensprache, in Falten und Brüchen umhüllt der Mantel das mit geschlitzten Puffärmeln versehene Kleid. Auf der Rückseite der Glocke steht der Patron der Kirche, der heilige Johannes. Ein härenes Gewand umhüllt seine Gestalt. In der Rechten hält er schräg ein ihn überragendes Kreuz. Mit der Linken hat er die Bibel umfaßt, auf der ein Lamm liegt.

Weiter rechts finden wir das Wappen des Kurfürsten Johann Philipp von Schönhorn, der jedenfalls die Glocke gestiftet oder einen ansehnlichen Betrag dazu beigesteuert hat. Das Wappen ist von Barockspiralen umrahmt und mit der Kurkrone geziert. Schwert und Bischofstab sind die Zeichen der weltlichen und geistlichen Macht.

Im Wappenschild selbst sind die Wappenzeichen von Kurmainz, von Würzburg und in der Mitte von Schönborn. Über der Wappenverzierung lesen wir die Buchstaben: I. P. D. G. X. M. P. G. A. P. E. H. D. F. Abkürzung für: „Johannes Philippus Dei Gratia Archiepiscopus Moguntinus Per Germaniam Archicancellarius. Princeps Episcopus Herbipolensis. Dux Franciae“. Zu deutsch: „Johann Philipp von Gottes Gnaden Erzbischof von Mainz, Erzkanzler von Deutschland, Fürstbischof von Würzburg. Herzog von Franken“.

Das nächste Bild der großen, künstlerisch wertvollen Glocke zeigt Maria auf der Mondsichel mit dem Kinde auf dem linken Arm. Dieses trägt in der linken Hand die Weltkugel. Maria hält in der Hand des herunterhängenden rechten Armes ein Zepter. Mutter und Kind schauen schützend und gnädig auf das Städtchen hernieder. Den unteren Rand schmückt die Inschrift: „MARIA GOTTES CELLE HALT IN HUT WAS ICH UBERSCHELLE“.

Die Johannisglocke ist die vornehmste Glocke nach Wesen und Ausstattung. Sie läutet Wandlung, sie läutet Tag, Mittag und Abend. Sie führt und beherrscht die anderen Glocken beim Zusammenläuten zum Gottesdienst, zur Freude und zur Trauer. Auf ihr sind die tiefsten Wahrheiten des Glaubens dargestellt. Der Lichtverkünder Johannes, die demütige und reuevolle Maria Magdalena am Fuße des Kreuzes, und der Christusknabe als Beherrscher der Welt im Arme seiner Mutter. Noch stärker wird dieser Christ-König-Gedanke auf dem Dreifaltigkeitsbilde betont, auf dem Gott Vater dem Sohne die Königsherrschaft der Welt überträgt.

Die dritte, die kleinste Glocke, von der wir noch eine Aufnahme machen konnten, war 1924 gesprungen und mußte deshalb umgegossen werden. Sie trug die Inschrift: „Johann Peter Bach gos mich. In Gottes Nahmen flos ich vor die Stat Grosssteinheim. 1750.“ Die neue Glocke, die Sebastiansglocke, die der alten nachgebildet ist, trägt außerdem die Inschrift: „1924 zersprang ich. Von Humpert von Brilon neu gegossen schlag ich. Anno Domini 1926.“ - Das Armesünderglöckchen im Türmchen auf dem Chor hat keine Inschrift und keine Verzierung.

 

Der Chor der Kirche:

Der Chor, der künstlerisch wertvollste Teil unserer kirchlichen Architektur, gehört der Spätgotik an. Der gotische Charakter äußert sich schon in der Grundrißanlage. Sie ist nicht rund, sondern weist eine fünffache Brechung auf.

Der spätgotische Charakter spricht sich in den Säulen, den Gewölben und Fenstern aus. Die Säulen sind nicht mehr wie in der Frühgotik mit Kapitälen versehen, sondern sie senden strahlenförmig ohne jeglichen Absatz unmittelbar ihre Rippen in das Gewölbe hinauf, das netzartig von diesem unterfangen wird. In der Frühgotik laufen die Rippen kreuzförmig übereinander. Hier an unserem Gebäude ist von dem einfachen Kreuzgewölbe nichts zu merken. Anscheinend regellos zieht sich dieses rote Rippengewirr über die grau-weiße Decke hin. Doch wenn man genauer hinsieht, so staunt man, trotz des Reichtums, über den konstruktiven Zweck einer jeden Rippe. Diese tragen das Gewölbe und erfreuen durch ihren reichen Wechsel und durch die Harmonie ihres Formenspiels das Auge.

An den Langwänden des Chors entwickelt sich das Rippenwerk nicht aus Halbsäulen, sondern aus gegliederten Konsolen, die bis zur Hälfte der Wand heruntergehen. An der Nordseite ist die Konsole durch die Orgel verdeckt. Der Druck der Rippen nach oben hin wird aufgefangen durch Schlußsteine, von denen drei durch Wappen von Erzbischöfen geschmückt sind. Es sind dies die Geschlechterwappen der Erzbischöfe Berthold von Henneberg, des Jakob von Liebenstein und des Erzbischofs Uriel von Gemmingen. Auf einem Schlußstein befindet sich das Mainzer Rad in Silber auf rotem Felde.

Die angeführten Wappen deuten auf die drei Erzbischöfe hin, unter denen der Chor aufgeführt wurde. Berthold von Henneberg ist 1504 gestorben (in diesem Jahre wurde mit dem Bau des Chors begonnen). Auf ihn folgte Uriel von Gemmingen, der bereits 1508 starb und Jakob von Liebenstein als Nachfolger hatte.

Wahrscheinlich wurde der Chor 1509 zu Ende gebracht. Auf einem äußeren Strebepfeiler finden wir in gotischen Ziffern die Zahl 1504. Daneben steht mit zwei Steinmetzzeichen an einem Rundbogen die Zahl 1509.

Ob es ein guter Griff war, den alten Barockaltar durch den modernen gotischen zu ersetzen, läßt sich heute nicht mehr beurteilen. Die heutige Gesamtwirkung wird durch den plumpen Orgelkasten, der den Chor verschandelt, sehr beeinträchtigt. Sehr bedauerlich ist es, daß der Orgel zuliebe das kunstvolle Chorgestühl um seine Bekrönung geköpft wurde.

 

Die Chorstühle.

Die Chorstühle waren früher mit einer Bekrönung versehen, die wenig über die Hinterwand des Chorgestühls herausragte, und mit Türmchen, sogenannten Fialen, und Wimpergen geziert war. Prachtvolle Laub-Ornamente, wie wir sie noch an den Seitenwänden der Stühle sehen können. waren noch reichlicher vorhanden. Welch wunderbarer Einklang muß damals zwischen Chordecke und Herrnstuhlbekrönung bestanden haben. Nüchtern und kahl sieht heute der obere Teil des Werkes aus. Mit umso größerer Freude versenken wir uns in den Reichtum der Formen der noch erhaltenen Teile.

Beide Chorstühle bestehen aus Kniebänken und Sitzreihen. Das Gestühl an der Südwand, also auf der Epistelseite (rechts), ist reicher in seiner Ausführung als das auf der Evangelienseite. Während hier nur einfache Säulchen und eine in eine Spirale auslaufende Blattform die einzelnen Sitze voneinander trennen und die wuchtigen Armlehnen stützen, sieht man auf der Epistelseite an Stelle dieser Säulchen Menschen- und Tiergestalten, die als Stütze der Armlehnen dienen.

Wir beobachten zuerst einen kauernden Jüngling mit einer Trommel, auf der sein linker Arm mit dem Klöppel ruht, während die Rechte lässig auf dem rechten Knie liegt. Die nächste Stütze wird von einer Säule getragen, an der ein Tanzbär mit einem dicken Lederstrick festgebunden ist. Dieser tritt aus der Fluchtlinie hervor. Dann folgt ein schnauzbärtiger Landsknecht mit den damals üblichen Puffärmeln und Puffhosen und der Landsknechtskappe auf dem Kopf. Die Last des Kriegslebens drückt auf ihn, so daß er fast zusammenbricht.

Doch der nächste, der Hofnarr (an der Zipfelmütze erkennbar) wendet sich mit pfiffigem Gesicht zu dem Landsknecht. Er hat mit dem rechten Arm die Säule gepackt und zeigt dem Landsknecht, wie man sich von seiner Last befreien kann, indem man die Säule zusammenreißt. Am schwersten wird der folgende von dem Druck, der auf ihm ruht, auf die Erde gepreßt. Es ist der Bauer, auf dessen Schultern damals die ganze Last der Abgaben, Frondienste und der Leibeigenschaft ruhte. Geistlos stiert das abgearbeitete, ausgemergelte, bärtige Gesicht auf den Boden. Er hat nur ein Wams und eine kurze Hose an. Seine Füße sind nackt. Auf dem Haupte trägt er eine Pelzmütze, die mit einem breiten Band unter dem Kinn festgehalten wird. Er hat seine Hand zwischen die drückende Last und sein Haupt geschoben, um sich etwas Erleichterung zu verschaffen, bevor er ganz zusammenbricht und ins Uferlose hinuntergleitet. Fürwahr ein ergreifendes zeitgeschichtliches Bild der damaligen Bauernsklaverei.

Alle fünf, der Bauer, der Hofnarr, der Landsknecht. der Tanzbär und der Trommelknabe müssen dem Herrn, dem Ritter, dem Fürsten dienen und deren Lasten tragen. So läßt der Künstler in diesen Figuren ein Stück Kulturgeschichte vor unseren Augen wieder erstehen.

Auch die Ruhekonsolen an den Klappsitzen sind an diesem Herrenstuhl viel reicher als an dem gegenüberliegenden. Wir sehen reichen Wechsel von halbierten sechsseitigen Vielecken mit Spruchbändern, Blatt- und Stengelverzierungen, sowie einem fratzenhaften Menschenantlitz.

An der Rückwand enthält ein mit einer reichen gotischen Helmzier gekröntes Wappenschild zwei durch einen Bach geteilte sternförmige Rosen mit je fünf Strahlen. Das ist ein sogenanntes redendes Wappen des damaligen Pfarrers Johannes Rosenbach genannt „de Indagine“, unter dem der Chor erbaut und von dem wahrscheinlich dieser Chorstuhl gestiftet wurde.

An der inneren Querwand sehen wir neben dem Wappen ein Spruchband, dessen Schrift durch die obere Verkürzung nur noch halb erhalten ist. An der äußeren Querwand, nach dem Altare hin, stellen wir einen Mann im Mönchsgewand fest, im faltenreichen, gotisch zerknitterten, weitärmeligen Obergewande, und in lang herabhängender Kapuze, die am Hals eingeknickt ist. In den Händen hält er ein Spruchband mit der Jahreszahl 1514. Am Saum des Gewandes über den Füßen steht „Elias“, und am Saum der Kapuze über der Stirne lesen wir „Profet“. Über dem Elias zieht sich reichverschlungenes Blatt- und Rankenwerk in naturgetreuer Ausführung. Diesen Realismus der Gotik, können wir auch in dem aufgedunsenen Gesicht des Propheten wahrnehmen.

An der entgegengesetzten Querwand streben Weinranken und Trauben in die Höhe als Sinnbild des heiligen Abendmahls. Das Betpult ist an der Stirnwand geziert mit einem zweiten Propheten, der aus seinem gefältelten Umhang mit breitem Umschlag seine Arme herausstreckt. Seine Hände halten ein Spruchband. Die Gesichtszüge sind edel. Kopf- und Barthaar sind gelockt. Auf dem Kopfe trägt er eine barettartige Mütze. Auch hier haben wir wieder in der Gestalt eines Propheten das Bildnis eines Mannes der damaligen Zeit. Das Relief ist eingerahmt von Stengeln, die in verschlungenen Langblättern auslaufen.

An der äußeren Querwand des Betpultes sehen wir den heiligen Christophorus. Die Legende vom heiligen Christophorus ist Sinnbild unseres Lebens. Man weiß: Der Fährmann am Ufer ward nachts geweckt von einem Kind, daß er es über den Fluß trage. Lächelnd nimmt der gute Riese die leichte Last. Aber da er den Strom durchschreitet, wird sie seinen Schultern schwer und schwerer, schon meint er, umsinken zu müssen unter dem immer mächtigeren Gewicht, aber noch einmal rafft er seine ganze Kraft zusammen. Und am Ufer im Morgenlicht zu Boden keuchend, erkennt Christophorus, der Träger des Christ, daß er den Sinn der Welt auf seinen Schultern getragen.

Ihm scheint es eine besondere Freude zu sein, den Christophorus fühlen zu lassen, welche Last er über den Fluß zu tragen habe. Selbst der gewaltige Baum, den der Riese als Stütze in der Hand hält, hat sich stark gebogen, so sehr mußte sich Christophorus an diesem Riesenstabe halten. Das knorrige Gerank über den beiden Gestalten ist zu einer Einheit zusammengebunden. Kulturhistorisch bemerkenswert sind bei Christophorus der Brotsack mit Holzlöffel und Brot. Diese Betpultwand ist abgeschlossen durch ein kauerndes Tier, das Sehnsucht nach seinem Herrn empfindet und winselnd an ihm emporspringen möchte.

Die Stirn- und Wangenseiten der Chor- und Herrnstühle tragen zeitgenössische Darstellungen der Propheten. Das Gestühl auf der Evangelienseite (links) ist einfacher gehalten. An der Stirn wand haben wir wieder einen Propheten. Das lang herabwallende Gewand, das sich knittert und faltet, wird durch einen Gürtel zusammengehalten. Das Gesicht ist scharf, spitz und eckig charakterisiert. Wir haben es hier mit einem streitbaren, unruhigen Charakter zu tun. Den Kopf schmückt eine Ballonmütze.

Das schönste Relief ist der Prophet an der Querwand des Evangeliengestühls bei der Sakriste­i­türe. In fester, selbstbewußter Haltung steht der Mann da. In langen, ruhigen Falten fällt der Talar mit den aufgerafften, breiten Ärmeln nach den Füßen herunter. Ein energisches, zielbewußtes Gesicht mit kühner Nase und gestutztem Bart tritt aus den ruhig gewellten Locken heraus. Der Kopf ist mit einer eigenartigen Spiralmütze versehen. Die Hand und besonders die Finger bezeichnen den unbeugsamen Willen des Mannes. Die Figur ist wieder umrahmt von dicken Stengeln, um die sich langgezogenes Blattwerk rankt. In strengem Realismus hat uns der Künstler unter dem Deckmantel der Propheten vier bestimmte Männer dargestellt.

An der Querwand des Betpultes ist ein von zwei Rüden gehaltenes gevierteltes Wappen angebracht mit dem Mainzer Wappen und dem des Hauses Gemmingen. Aus dem Wappenschilde wächst ein Kerzenhalter, und es ist allerliebst, wie die zwei Rüden bellend und springend mit der Kerze spielen. Unter diesem Wappen finden wir ein Spruchband mit der Inschrift: „Nach Christi gepurt MCCCCCX (1510) jar. Maria bitt für uns“.

Jedenfalls hat Uriel von Gemmingen diesen Herrnstuhl gestiftet. An diesem Chorgestühl findet sich ein beachtenswertes Relief an der Rückwand beim Hochaltar. In Dürers Art erblicken wir die Madonna mit dem Jesusknaben, der von der Mutter Gottes unter ihren Mantel genommen und von ihren Händen gestützt wird. Das Jesuskind hat eine Birne in der Rechten, die es von seiner Mutter erhalten hat. Zum Danke dafür streichelt es mit der Linken ihre Wange. Die Behandlung des Knaben ist nicht sehr geschickt, während die Madonna eine beachtenswerte Leistung ist. Sehr fein ist die einfache Komposition von Mutter und Kind, umschlossen von dem schön behandelten langen Haar und den eleganten Linien des Mantels. Als Basis des Ganzen dient die Sichelform des Mondes.

 

Die Altäre.

Der Hauptaltar und die beiden Seitenaltäre stammen aus der Zeit der Wiederherstellung der Kirche in den Jahren 1876 bis 1879. Im Jahre 1876 wurde unter Pfarrer Helwig Raum für die größere Anzahl der Kirchenbesucher durch Einbau der beiden Emporen zu beiden Seiten des Langschiffes geschaffen. Das Gewölbe der alten Kirche wurde eingeschlagen und das heutige Gerüst mit den Emporen eingezogen. Die alte Kirche hatte vordem zwei niedere dunkle Emporbühnen auf der Seite des Kirchturms. Der Aufgang zur unteren Empore war durch eine steinerne Treppe auf der äußeren Südseite der Kirche ermöglicht. Auf die obere Empore, die sogenannte Orgelbühne, gelangte man über eine hölzerne Stiege von der unteren Emporbühne aus. Für die neue Orgel wurde durch einen Aufbau über der Sakristei Raum geschaffen. Die Orgelbühne wurde leider in den Chor eingebaut.

Der alte Triumphbogen, der ziemlich niedrig und rundbogig war, wurde erhöht: die alten Holzfenster im Schiff wurden entfernt und durch neue Fenster mit gotischer Steinbekleidung ersetzt. Das Mittelfenster im Chor, das vermauert war, wurde wieder aufgebrochen, und ein neues Fenster mit Christus und Maria in Roermund für 600 Mark angefertigt.

Auch die alte Kanzel wurde durch die heutige ersetzt: Die entfernte Kanzel stand dort, wo heute das Missionskreuz hängt. Sie stammte aus der Barockzeit, war mit einem Deckel versehen und mit sechs Statuen Christi, Mariens und der vier Evangelisten geschmückt, die in Nischen um die Kanzel herum angeordnet waren. Diese Statuen befinden sich im heutigen Heiligenhaus beim Friedhof.

Der neue Hochaltar wurde 1879 von dem Steinheimer Bildhauer Georg Busch aufgestellt. Er erhielt für die Bildhauerarbeit 1500 Mark und der Maler Johann Kreis 700 Mark. Der Hochaltar zeigt geöffnet vier Reliefs: Die Hochzeit zu Kana, die Anbetung der Hirten, das heilige Abendmahl und die Kreuztragung. Wenn der Altar geschlossen ist, sind auf der Außenseite der heilige Johannes der Täufer als Kirchenpatron und der heilige Martinus als Diözesanpatron zu sehen.

Die beiden Nebenaltäre sind der Mutter Gottes und dem heiligen Joseph bzw. heute der heiligen Familie geweiht. Der Marienaltar, in dem die Strahlenmadonna aufgestellt ist, wurde, wie die anderen Altäre, von dem Steinheimer Maler Johann Kreis gemalt. Auf der Innenseite der Flügel befinden sich: die Verkündigung Mariä, die Geburt Christi, die Anbetung der Weisen und die Darstellung im Tempel. Auf der Außenseite sehen wir den heiligen Bernhard und die heilige Margareta Alacoque dargestellt.

Auf dem St. Josephs-Altar sind auf der Innenseite die Vermählung des heiligen Joseph, St. Josephs Stab, St. Josephs Tod und Begräbnis und auf der Außenseite St. Rochus und St. Sebastia­nus gemalt.

In der gotischen Zeit waren in der Kirche vier Altäre aufgestellt: Der Hauptaltar, der Liebfrauenaltar, der an der Stelle des heutigen Josephs-Altars stand, der Katharinen-Altar, und in der Mitte zwischen den beiden Nebenaltären der Sebastianus-Altar. Dieser war im Jahre 1468 von dem Erzbischof Diether von Isenburg zum Danke für die treue Anhänglichkeit der Steinheimer Schützen während der Mainzer Stiftsfehde gestiftet worden.

Diese Schützen waren die damalige Stadtwehr, die in einer Gilde oder Zunft zusammengeschlossen waren. Ihr Patron war der hl. Sebastian. Im siebzehnten Jahrhundert kam der Katharinen-Altar an die Stelle, wo heute die Kanzel steht, und der Sebastianus-Altar an die Stelle des heutigen Marienaltars. Um 1700 wurden beide Altäre beseitigt. Die St. Sebastianusfigur ist heute noch erhalten und steht an der Nordwand des Schiffes

Die ältere Sebastianusfigur ist im Heiligenhaus aufgestellt. Andere Heilige waren jetzt mehr in den Vordergrund getreten und modern geworden. Der neue seitliche Barockaltar war der Mutter Anna geweiht. Das große Ölgemälde dieses linken Seitenaltars aus der Barockzeit ist noch erhalten. Es zeigt die heilige Anna mit ihrem Kinde, der heiligen Maria im Sternenkranz. Im Hintergrund erscheint der Kopf des heiligen Joachim. Der Altar war durch ein Rundbild der heiligen Barbara gekrönt, der Patronin der Artillerie und der Steinbrecher, von denen es ja damals viele in Steinheim gab.

Auf der Südseite stand der barocke Marienaltar mit der Strahlenmadonna. Diesen Altar krönte das Rundbild des heiligen Joseph. Der Hochaltar der Barockzeit, der 1879 beseitigt wurde, war vor 1700 von der Familie Tautphaeus gestiftet worden. Es war ein Monumentalaltar, der von hohen Säulen flankiert war. Über dem ebenfalls von Säulchen eingefaßten Tabernakel befand sich ein großes Altarbild, das auswechselbar war.

Im Laufe des Kirchenjahres wurden zwei Bilder eingesetzt: Von Aschermittwoch bis zum 14. August wurde das Bild der schmerzhaften Mutter Gottes mit Jesus auf dem Schoße gezeigt. Seit 1925 befindet sich dieses Bild - allerdings beschnitten - wieder in der Pfarrkirche. Von Mariä Himmelfahrt bis Aschermittwoch sah man die Himmelfahrt Mariä auf dem Hochaltar. Links und rechts von dem Bilde standen der heilige Jakobus mit den Pilgermuscheln auf dem Gewande und einem Buch in der Rechten, und der heilige Johannes der Evangelist mit einem Kelch in der linken Hand. Über einem gekröpften Gesims stand Christus als Schmerzensmann mit einem Rohr in den gefesselten Händen, den Spottmantel um den Körper und die Dornenkrone auf dem Haupte. Links und rechts von ihm knieten anbetende Engel. Die Figuren sind sehr ausdrucksvoll in den Mienen, fein in der Gewandbehandlung und sehr lebendig in der körperlichen Gestaltung

 

Die übrigen Holzbildwerke:.

Unter den Bildwerken aus Holz ist die Strahlenmadonna das bekannteste. Sie ist um 1450 entstanden und soll aus der alten Liebfrauenkirche des ehemaligen Kinzdorfes bei Hanau stammen. Seit Anfang des 14. Jahrhunderts war diese Kirche unweit der Mündung der Kinzig in den Main Pfarrkirche der Stadt Hanau. Als die Stadt im Jahre 1434 eine eigene Pfarrkirche erhalten hatte, blieb die Kirche in Kinzdorf Wallfahrtskapelle. In dieser Zeit ist die Madonna entstanden. Nach der Reformation wurde nach der Überlieferung die Madonna auf den Kirchenspeicher verbannt. Ein Steinheimer Pfarrer soll um das ehrwürdige Bild gebeten und es auch für eine bestimmte Summe erhalten haben. In Prozession wurde es von den Steinheimern nach ihrer Pfarrkirche geleitet, wo es auf dem Liebfrauenaltar aufgestellt wurde.

Die Madonna trägt auf ihrem linken Arm das Christkind, das gnadenvoll lächelnd mit der Rechten an dem Schleier seiner Mutter spielt. Mit ernstem, gnädigem Antlitz weist Maria die Legion der Bittenden hin auf ihr göttliches Kind. Die rechte Hand ist ungeschickt erneuert. Der Schleier ist zurückgeschlagen und läßt das edle Antlitz aus der Umrahmung des gewellten Goldhaars scharf hervortreten.

Über ein rotes, goldgesäumtes Kleid, das in breiten Schnörkeln über den angeblichen Türkenkopf fällt, fließt in faltenreichem Wechsel und in weichen Linien der grün gefütterte Goldmantel, der über den linken Arm der Gottesmutter hinaufgezogen und von da wieder in rhythmischen Schnörkeln nach unten strebt.

Die Überlieferung bezeichnet diese anmutige Figur als „Türkenmadonna“, weil sie zum Dank für die glückliche Abwendung der Türkengefahr im 15. Jahrhundert auf einem mit einem Turban versehenen Türkenkopf dar- und aufgestellt worden sei.

Diese Annahme wurde noch gestützt durch die Aufschrift auf dem alten Barockaltar: „auxilium christianorum“ (Du Hilfe der Christen). Der Türkenkopf ist aber weiter nichts als der Mond, auf dem Maria auf den meisten mittelalterlichen Bildwerken dargestellt wurde. Nach den Worten der Offenbarung des Johannes im 12. Kapitel, 1. Vers: „Und es erschien ein großes Zeichen am Himmel: ein Weib mit der Sonne bekleidet, den Mond unter ihren Füßen, und auf ihrem Haupte eine Krone mit zwölf Sternen“.

Die Steinheimer Madonna ist auch mit der Sonne bekleidet, d. h. vom hellen Sonnenglanze der göttlichen Gnadenstrahlen umleuchtet. Sie hat den Mond unter ihren Füßen als ein Sinnbild, daß sie über alles Wandelbare erhaben ist. Sie trägt auf dem edelgeformten Haupte eine Krone mit zwölf funkelnden Steinen, als Sinnbild der zwölf Stämme Israels, aus denen Jesus und sein neues Reich, das Christentum, hervorgegangen sind, an dessen Spitze die zwölf Apostel standen.

Im 17. Jahrhundert hatte der Mainzer Weihbischof Dr. Volusius, der vorher evangelischer Prediger in Hanau und zum Katholizismus übergetreten war, eine silberne, fein ziselierte Krone für die Madonna geschenkt, die heute nicht mehr vorhanden ist. In den Reif waren folgende Worte graviert: Imago miraculosa Hanoviensis beatae Mariae virginis“ („Das wundertätige Hanauer Bild der seligen Jungfrau Maria“). Bis zum Jahre 1843 war diese Madonna wie die anderen Heiligenfiguren an den Wänden, einem Brauch des 18. Jahrhunderts entsprechend, mit Kleidern geziert.

Künstlerisch wertvoll ist auch die Madonna über der Türe nach dem Glockenturm. Diese

Mutter Gottes ist in Über-Lebensgröße dargestellt. In der edelgeformten linken Hand trägt sie das Jesusknäblein, das mit seiner Linken die Weltkugel hält und mit der Rechten winkt, zu ihm zu kommen. Mit der rechten Hand zieht die Gottesmutter ihren mit Edelsteinen gezierten Mantel nach der rechten Schulter herauf, dessen Falten sich wie gotische Säulen und Rippen formen und brechen. Ein enganliegendes Kleid fällt in regelmäßigen Falten über die hochgezogene schmale Hüfte und fließt über den Füßen und der Mondsichel in wunderlichen Schnörkeln auseinander.

Von besonderer Schönheit ist der lebenswahr gestaltete Kopf dieser Madonna, die wahrscheinlich um 1450 entstanden ist. Sie wurde vielleicht der Steinheimer Kirche gestiftet, als die Pfarrei 1449 von Klein- nach Groß-Steinheim verlegt worden war. Sie stand schon vor der Strahlenmadonna in der Kirche. Im 17. und 18. Jahrhundert war sie an der Südwand angebracht, wo jetzt das Standbild Johannes des Täufers steht.

Außer diesen Madonnenfiguren befanden sich an der Nordwand noch die Barockfiguren des heiligen Nepomuk und des heiligen Franziskus Xaverius (heute im Pfarrhaus: ebenso das Ölgemälde der Hl. Anna mit Maria im Sternenkranze) sowie die gotische Sebastiansfigur, die heute noch an ihrer alten Stelle steht.

 

Die Grabdenkmäler:

Nach einer Mitteilung des ehemaligen Vikars Hellwig von St. Martin in Mainz befanden sich im Jahre 1611 in der Pfarrkirche von Groß-Steinheim 18 Gräber, die mit Platten oder Denkmälern versehen waren. Von diesen sind heute nur noch fünf erhalten. Verschwunden sind die Grabmäler der Familie von Bicken, die in Steinheim stark begütert war und um 1600 in der Kurmainzer Geschichte eine bedeutende Rolle gespielt hat.

Im Chor hatten ihre letzte Ruhestätte gefunden: der kurmainzische Marschall und Amtmann von Steinheim Philipp von Bicken und dessen Gemahlin Anna, eine Schwester des Erzbischofs und Kurfürsten Daniel Brendel von Homburg. Sie waren die Eltern des Mainzer Kurfürsten Johann Adam von Bicken (1601- 1604). Außer ihren Kindern Margarete, gestorben 1561, und Daniel, gestorben 1562, ruht auch der kurmainzische Rat und Oberamtmann von Steinheim Jost Philipp von Bicken in der Kirche. Er hatte eine Renaissanceorgel gestiftet, unter der er begraben wurde.

Die Grabplatten wurden häufig zu Bachbrücken verwandt und waren bei den Erneuerungen der Kirche in den Jahren 1738, 1843 und 1867 entfernt worden.

Mehrere der oben Genannten waren im Chor beigesetzt. Außerdem fand hier auch seine letzte Ruhestätte der Steinheimer Pfarrer Johannes Machern, der von dem Hanauer Stadtkommandanten Ramsay listig nach Hanau gelockt worden war und dort im Gefängnis infolge Hunger und Mißhandlung im Jahre 1637 seinen Tod gefunden hat. Die Steinheimer erhielten den Leichnam ihres verehrten Pfarrers und setzten ihn im Chore bei.

Am 3. November 1796 wurde hier auch Coelestinus de Thys, der letzte Abt der ehemaligen Benediktiner-Abtei Malmédy-Stablo, beigesetzt, der nach der Aufhebung seines Klosters bei der Familie Walz in Hanau Aufnahme gefunden hatte und dort auch gestorben war.

 

1. Das Grabmal des Amtmanns Georg Johann von Ingelheim: Er ist 1639 gestorben und hat mit der Steinheimer Bevölkerung die Leiden des Dreißigjährigen Krieges getragen und sie gelindert. Er hat dafür gesorgt, daß nach den furchtbaren Zeiten der Pest und des Krieges die einzelnen Orte des Rodgaues wieder mit Pfarrern besetzt wurden.

Er wird auch von Pfarrer Wolbert (1638-1640) als ein besonderer Wohltäter der Klein- Steinheimer Kirche genannt, die von dem Kaiserlichen General Lamboy zerstört und mit Unterstützung des Amtmanns wieder aufgebaut wurde.

Diese Tafel ist aus weißgeädertern schwarzem Marmor. Barockspiralen umzieren den Stein. über der Schrifttafel befindet sich eine zweite einfache schwarze Marmorplatte, die das Ingelheimer Wappen in weißem Marmor und eine geschweifte Bedachung in schwarzem Marmor trägt. Zwei weiße Marmorflammen, deren eine ebenso wie das krönende Kreuz abhanden gekommen ist, zierten diesen Abschluß. Im Jahre 1691 stiftete Erzbischof Anselm Franz 400 Gulden zur Kaplanei Steinheim als Seelstiftung für seinen verstorbenen Vater Georg Hans von Ingelheim.

 

2. Das Grabmal des Amtmanns Diether von Erlenbach: Im Schiff der Kirche sind noch vier Grabdenkmäler vorhanden: Das älteste ist das des Amtmanns Diether von Erlenbach und seiner Gemahlin Anna von Reiffenberg. Ein kraftvolles energisches Gesicht schaut aus einem Schalenhelm mit Barthaube. Der Körper ist in einen Schuppenpanzer gehüllt. Die Linke stützt sich auf das Schwert, die Rechte trägt einen Streitkolben.

Die Gemahlin Diethers ist in ein feingefälteltes Gewand gehüllt, das in gotischer Art unten geknittert ist. Ihre gefalteten Hände sind von einem Rosenkranz umschlungen. In den Ecken des Grabsteins befinden sich die Wappen der Herren Erlenbach, Reiffenberg, Greiffenklau und Allendorf.

 

3. Das Huttendenkmal: Eine ganz andere Zeit und ein bedeutenderer Künstler sprechen aus dem daneben stehenden Huttendenkmal. Um 1520 war eine neue Kunstform von Italien nach Deutschland vorgedrungen, weiche die gotische, spitzbogische, hochstrebende, eckige, reichgegliederte Kunstform verdrängte. Es war die Renaissance mit ihrem edlen Maß, mit ihrer Ruhe, mit ihrer Individualität und mit ihrer ins Breite und nicht mehr in die Höhe strebenden Form. So zeigt sich uns auch dieses Denkmal als ein edles Renaissance-Kunstwerk in Auffassung und Ausführung.

Während in dem noch gotischen Denkmal des Diether von Erlenbach die beiden Personen in eine Platte hineingezwängt wurden, sehen wir, wie der Künstler in dem Huttendenkmal, gemäß dem künstlerischen Renaissance-Ideal, den Steinheimer Amtmann und späteren kurmainzischen Marschall Frowin von Hutten mit seiner Gemahlin frei und ungezwungen, fast in voller körperlicher Form hingestellt hat.

Den buschgezierten Visierhelm hat der Ritter nicht mehr auf dem Kopf. Ungezwungen und ganz natürlich faltet er die Hände, während der Erlenbacher wie in steifer Photographiestellung seine Streitaxt in der Hand halten muß, und die linke Hand, als ob sie gar nicht zum Körper gehörte, plötzlich unorganisch aus dem Hintergrund herauswächst.

Das kluge, vornehme, zurückhaltende, vollbärtige Gesicht des kurmainzischen Staatsrats von Hutten kommt ohne Helm vortrefflich zum Ausdruck. Er ist nicht nur der Krieger, der im Jahre 1507 unter dem Kurfürsten Jakob von Liebenstein und unter dem Kaiser Maximilian die Mainzer Truppen nach Italien geführt, der dann im Jahre 1525 die Bauern wieder zur Vernunft gebracht hat, sondern er ist auch der kluge Diplomat, Der 1516 als Rat an den Hof des Kaisers Maximilian berufen wird, und überall den Vorteil seines Herrn, des Mainzer Kurfürsten, wohl zu hüten weiß.

Echt renaissancehaft ist nicht nur die scharfe Individualisierung des Gesichts, sondern auch die treue Wiedergabe aller Einzelheiten der Rüstung. Die Plattenrüstung, mit vorstehenden Stoßkragen an den Schulterstücken, ist bis zur kleinsten Niete durchgeführt. Am Lendner hängen das Wehrgehänge und der Dolch in verzierter Scheide.

Dem Amtmann zur Seite steht in der anderen Nische, auch in fast freier körperlicher Behandlung, Frau Kunigunde von Hutten, geborene von Hattstein. Die Frau faltet die Hände. Von ihrem Gesicht schauen nur noch Nase und Augen aus Haube, Schleier und Kinnbinde. Ein Untergewand liegt eng am Körper und wird von einem Gürtel zusammengehalten, an dem nach damaliger Mode eine Tasche hängt. In feinen Fältchen fällt der Umhang bis zu den Füßen, wo er in schönen Brüchen und Schnörkeln auf dem Felsgrund ausläuft. Um den Daumen der linken Hand hat sie den Rosenkranz gewickelt. Frömmigkeit, Demut und Sanftmut scheinen die hervorstechendsten Züge der Gemahlin Frowins gewesen zu sein.

Darüber steht jede Figur auf felsigem Boden in einem Bogen. der von je zwei Pilastern getragen wird, die von einem Komposit-Kapitäl mit Akanthusblatt, Eierstab und Volute (Kapitäl) gekrönt sind. Über den beiden Bogen ist in Stein gleichsam ein Pergament ausgerollt, das über dem Ritter eine Inschrift in lateinischen Buchstaben trägt, die über die Person des hier Begrabene Auskunft gibt.

Die vier Pilaster sind jedesmal mit zwei Wappen der Huttenschen Familien geziert, jedes von den beiden Feldern ist noch einmal von Pilastern auf hoch aufsteigendem Sockel eingerahmt und mit gekröpftem Gesims oben abgeschlossen. Jedes Feld ist bekrönt mit der typischen Renaissanceform der Muschel, die mit der Zahnschnittverzierung eingefaßt ist. Der Mittelpilaster trägt an Stelle eines Kapitäls den dornengekrönten Christuskopf mit dem Schweißtuch. Anscheinend schwebte dem Künstler der Dürer'sche Stich vor Augen. Zu Füßen Kunigundes von Hutten finden wir die Jahreszahl 1548 und zu Füßen des Frowin von Hutten die Zahl 1553 mit den Anfangsbuchstaben C. F.- des immer noch unbekannten Meisters.

 

4. Das Denkmal des Georg Truchsess von Henneberg: An der Südwand des Langschiffes befindet sich das Grabmal des Georg Truchseß von Henneberg. Frei und selbstbewußt steht der Ritter in seiner Renaissance-Rüstung. Hochragende, feingeschwungene Schulterstücke und Eilbogenkapseln mit sogenannten „Meuseln“ treten aus der Plattenrüstung hervor. Der untere Rand des beweglichen Oberschenkelschutzes ist mit symmetrisch angeordneten Rankenstengeln und Blättern geziert. Die rechte behandschuhte Hand stützt er auf die Hüfte, die Linke umfaßt das verzierte Schwert. Am rechten Oberschenkel-Schutz lugt der Dolch aus dem Hintergrund heraus.

Den vom Halsberg geschützten Hals ziert eine Doppelkette, die einen Orden trägt. Ein runder Kopf mit scharfen Augen, hervorstehenden Backenknochen, ausdrucksvollem Kinn, einer Senknase und borstigem Haar zeigt uns den Truchseß als echten Sohn seiner rauhen Zeit. Der Ritter steht mit seiner stark abgestumpften Fußrüstung, den sogenannten „Kuhmäulern“, auf einem Löwen. Der Steinmetz versuchte die Figur in einen perspektivisch erfaßten Raum hineinzustellen, dessen Hintergrund mit Arabesken gemustert ist. Um die von 10 Wappen gezierte Grabplatte zieht sich eine gotische Inschrift:

 

5. Das Grabmal der Elisabeth von Wolfskehl: An derselben Wand befindet sich noch das Grabmal der Elisabeth von Wolfskehl, einer Schwester der Frau Kunigunde von Hutten. Ein faltenreicher Mantel mit bauschigen Ärmeln läßt nur die übereinandergelegten Hände und das mit Palmetten gezierte Mieder frei.

Das Gesicht ist seelenlos. die ganze Behandlung lieblos und handwerksmäßig. In dem Kostüm erkennen wir die neue Mode, die um die Mitte des 16. Jahrhunderts aufkam. Das weitbauschige, reichgefaltete Obergewand, in dem die Ärmel gefesselt sind, gibt schon eine Ahnung von dem einsetzenden aufgeblasenen, schwülstigen Barock. In den Ecken befinden sich die Wappen der Geschlechter von Hattstein, Wolfskehl und Erlenbach.

 

Außer diesen fünf Grabdenkmälern in der Kirche sind noch zwei weitere vorhanden, die man aber aus der Kirche entfernt hat. Das eine ist das Grabdenkmal des Hans Christoph von Mors­heim (gestorben 1553). Dieses wurde 1926 bei dem Neubau des Lämmerspieler Wegs als Brückenstein aufgefunden. Es ist in drei Teile gespalten und zum Teil stark abgetreten. In den Ecken waren und sind zum Teil noch die Ahnenwappen der Familien von Morsheim, Heusenstamm und Erlenbach angebracht.

Ein anderes wertvolles Denkmal, das des Heinrich von Spar, der unter dem Kurfürsten Albrecht (1514 - 1544) als Kämmerer gewirkt hatte und 1526 gestorben war, wurde 1876 bei der Erneuerung aus der Kirche entfernt, um Platz für die jetzige Orgel im Chor zu machen, und wurde 1899 um den Spottpreis von 25 Mark an das Landesmuseum in Darmstadt verkauft, wo es im Barocksaal aufgestellt ist. Der Ritter im Harnisch kniet auf Steinplatten. Der Helm steht vor ihm auf dem Boden. Die Hände waren zum Gebet gefaltet. Der Blick ist emporgerichtet zu einem Kruzifix, das wie die Hände und das Wehrgehänge bei der Abnahme beschädigt wurden und seitdem verschwunden sind. Das Kruzifix wurde von Gott Vater gehalten. Über beiden schwebte die Taube, das Sinnbild des hl. Geistes. Alan nennt diese Darstellung den „Gnadenstuhl“ und findet sie oft bei Denkmälern der damaligen Zeit. Die Mittelplatte mit der Figur ist eingefaßt von Pilastern, die mit Blumenarabesken verziert sind. Vor den Pilastern stehen links und rechts halbierte und verzierte Renaissancesäulen. Diese stehen auf gekehlten und verzierten Konsolen, die eine Inschrift einrahmen. Auf den Kapitälen stehen zwei Engel, die eine Widmungstafel halten (einer der Engel ist allerdings heute verschwunden). Wie sehr Kurfürst Albrecht von Mainz seinen verstorbenen Kämmerer geschätzt hatte, beweist außer diesem Denkmal auch die Stiftung eines „De profundis“. Der Pfarrer mußte alle Tage nach der hl. Messe vor dem Grab des Kämmerers - es befand sich an der Stelle, wo heute die Treppe zur Kanzel hinaufführt - und über der Sakristeitüre den Psalm singen: „Aus der Tiefe rufe ich zu dir, o Herr“ und Weihrauch und Weihwasser spenden. Die Kirche hatte dafür dreißig Gulden erhalten. Von den Zinsen erhielt der Pfarrer jährlich acht Schilling, jeder Altarist (Kaplan) sechs und der Schulmeister fünf Schilling. Ferner sollte an jedem Sonntag nach der Predigt auf der Kanzel im Gebete des Ritters gedacht werden. Alljährlich am Montag nach Steinheimer Kirchweih wurde das Jahrgedächtnis gehalten. Der Kurfürst hatte für diese Trauerfeierlichkeiten ein schwarzes Taftornat mit Alben, Stolen und Manipeln für die zelebrierenden Priester und einen Taftvorhang zum Altar gestiftet.

 

Sonstige kirchliche Sehenswürdigkeiten.

Aus dem Jahre 1509 stammt ein Kreuzreliquiar. Es enthält einen Holzsplitter des hl. Kreuzes. Das Werk ist 26 Zentimeter hoch und aus vergoldetem Silber. Auf einem gotisch stilisierten Fuß und Knauf setzt sich das Kreuz auf. Die Enden der Kreuzbalken laufen in ein dreiblättriges Kleeblattmuster aus. Auf der Vorderseite dieser Kleeblattformen sind die Sinnbilder der vier Evangelisten in Hochrelief herausgetrieben: Der Engel, das Sinnbild für den hl. Matthäus, der Adler, das Sinnbild des hl. Johannes, der Stier, das des hl. Markus und der Löwe, das Sinnbild des hl. Lukas. In der Mitte des Kreuzes befindet sich unter einer Scheibe die Inschrift: „Reliquie de ligno sancte crucis domini nostri Jhesu X PI”. Unter dem Streifen liegt die Stiftungsurkunde. Auf der Rückseite sind eingraviert: die hl. Bilhildis, die Stifterin und erste Äbtissin des Mainzer Klosters Altmünster mit dem Stab der Äbtissin in der Rechten und einem Buch in der Linken: die hl. Margaretha mit dem Teufel in Gestalt eines Drachen, die hl. Katharina mit dem Rad, die hl. Barbara mit dem Turm und die hl. Gertrud mit dem Spinnrocken.

Von den beiden Monstranzen ist die eine in gotischer Form, die andere in Barock gehalten. Die gotische Monstranz setzt sich aus alten und neuen Teilen zusammen. Aus einem sechsteiligen Fuß steigt der sechseckige Stiel mit einem Knauf in die Höhe. Aus dem Stiel wächst ein Unterbau, der die Lunula mit der Hostie trägt. Um dieses Rundglas erhebt sich auf beiden Seiten ein gotischer Aufbau mit Nischen, in denen vier Heilige stehen. Wimperge mit Krabben und Kreuzblumen überdachen und bekrönen diese Nischen. Seitlich davon sind Strebebogen mit Strebepfeilern angebracht, aus denen Türmchen, sogenannte Fialen, mit Kreuzblumen emporwachsen. Über dem mit einer verzierten Metallkuppe abgeschlossenen Rundglas steigt wieder ein gotischer Aufbau in zwei Stockwerken in die Höhe.

In einer mit Strebepfeilern und -bogen eingefaßten und mit Wimpergen und Fialen gekrönten Nische steht Maria mit dem Jesuskinde im Strahlenkranze. Darüber befindet sich in einer kleineren, ähnlich verzierten Nische ein Bischof. In der Rechten hält er seinen Bischofsstab und in der Linken ein Buch. Es könnte der hl. Bonifatius sein. Der heilige Bischof steht unter einem hochgezogenen Turmdach. Dieses wird durch einen Knopf abgeschlossen, auf dem sich ein Kreuz erhebt.

Neu an der Monstranz sind zweifellos der Fuß, der Stiel, außer dem Knauf, sowie die obere und untere Fassung des Glaszylinders, ebenso der Knopf und das Kreuz an der Spitze. Alt ist zum größten Teil der Um- und Aufbau mit Ausnahme der unteren verzierten Knöpfe und der unmittelbar links und rechts aufsteigenden Strebepfeilerchen mit den üblichen Verzierungen. Die älteren Teile stammen wahrscheinlich aus dem Ende des 15. Jahrhunderts. Die neueren Teile wurden mit den älteren wahrscheinlich um 1840 verbunden. Die Monstranz ist aus Kupfer und vergoldet.

Die zweite Monstranz stammt aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Sie besteht aus Kupfer mit Silberverzierung. Aus einem gewölbten Fuß mit gebrochener Grundrißanlage sind links und rechts zwei pausbäckige Engelsköpfe herausgetrieben, die von Flügeln umrahmt sind. Vorne und hinten ist je ein Fruchtkörbchen mit Früchten herausziseliert. Neben Stengel- und Blumenverzierungen finden wir auf dem gewölbten Fuß noch die Marterwerkzeuge, wie Zange, Hammer, Geiselsäule und Reisigrute. Rosa, blaue und rote Steine schmücken den Fuß. Aus dem reichverzierten Fuß erhebt sich der Schaft mit Knauf.

Auf diesem sitzt die Monstranz. Die Lunula, der halbmondförmige Hostienhalter, sitzt in einem mit farbigen Steinen besetzten Sonnenkreis, der seine gekürzten Strahlen nach außen und innen schickt. Ungleiche Strahlen, die nach oben länger, nach unten kürzer werden, gehen von diesem Sonnenkreis aus. Aus diesen Strahlen wächst ein Kreuz, dessen Balken in der Mitte durch einen roten Stein geschmückt sind.

Vor dem Strahlenkranz ist eine durchbrochene barockale Ornamentschicht in Silber angebracht. Auf dieser Schicht befindet sich unter der Lunula aus vergoldetem Silber ein Pelikan, der sich die Brust aufreißt, um seine Jungen zu ernähren. Am linken Rand trägt ein schwebender Engel das Kreuz zur Höhe, rechts hält ein auf Wolken schwebender Engel die Geißelsäule. Andere Engel tragen Hammer und Zange zu dem auf Wolken thronenden Gottvater, dessen Haupt von einem Dreieck gekrönt wird.

Vor Gottvater schwebt der Heilige Geist in Gestalt einer Taube, die von Silberstrahlen umleuchtet ist. Zwei Engelköpfe schauen aus dem Himmel auf dieses Pelikanopfer, dessen erbarmende Opferliebe in der Monstranz gezeigt wird.

 

Neben der Monstranz wurde von jeher in der katholischen Kirche besonderer Wert auf die künstlerische Gestaltung des Kelches gelegt. Neben neueren Arbeiten besitzt die Kirche noch einen Kelch aus dem 17. Jahrhundert. Der Fuß ist rund. Zierformen verschiedener Art, unter denen die Ranke und Spirale vorherrschen, sind herausgetrieben.

Aus diesem Ornamentspiel erheben sich drei ovale Emailbilder aus etwas blassen, aber fein abgetönten Barockfarben: der heilige Joseph mit dem Jesusknaben in der einen und der Lilie in der anderen Hand. Das zweite Medaillon ist mit dem heiligen Antonius geschmückt, der auf seinen Armen das Jesuskind wiegt. Das dritte Email zeigt den heiligen Franziskus mit den Wundmalen an den Händen. Er drückt das Kreuz mit dem Gekreuzigten innig an seine Wange.

Aus dem Fuß wächst der Stiel, dessen Knauf sich nach oben verstärkt. Die Dreiteilung des Fußes ist durch blinde Ovals hier wiederholt.

Aus dem Knauf erhebt sich die Cuppa. Sie ist von einem Barocknetz überspannt, das zwei Finger breit vom Rand der Cuppa aufhört. Das Ornamentnetz trägt wie der Fuß drei weniger ovale Emails: Im ersten Oval sehen wir die Madonna, auf deren Schoß das Christkind steht. Maria drückt das Kindlein an sich, das seinerseits seine Mutter liebkost und sie am Kinn streichelt. Als Vorbild zu dieser Ausfertigung diente ein bekanntes Madonnenbild des im 16. Jahrhundert lebenden Malers Lukas Cranach. Eine Nachbildung in großem Format aus dem 17. Jahrhundert hängt im Treppenhaus des Pfarrhauses.

Im zweiten Medaillon betet der hl. Petrus für seine Kirche, die als Schifflein auf dem Meere treibt. Im dritten Bild ist der hl. Paulus dargestellt. der das Schwert kampfbereit nach oben hält. Farbig bilden die oberen und unteren Emails jedesmal eine geschlossene Wirkung. Oben sind besonders rot und blau der Madonna in wundervoller Weise bei Petrus und Paulus abgetönt.

Ein anderes wertvolles Stück, in unserer Pfarrei ist eine Casula, ein Meßgewand, das auf der Rückseite mit einem Bild des Gekreuzigten versehen ist. Diese Darstellung ist gegen den neuen Casula-Stoff durch breite Goldleisten abgeschlossen. Die Kreuzigung ist eine kostbare Nadelmalerei aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Aus mattgoldnen, geometrisch verziertem Hintergrund hebt sich das aus brauner Seide gestickte Kreuz, dessen Kanten mit einer anderen braunen Farbtönung malerisch herausgehoben 'werden. Der Gekreuzigte ist edel behandelt. Vier Engel in fliegenden langen Gewändern mit grün-blauen Flügeln fangen in Kelchen das heilige Blut aus den Wundmalen auf. Über dem Kreuz schwebt Gott Vater in den Wolken. Eine goldene Krone bedeckt sein Haupt. Ein grünes Gewand in feiner, farbiger Tönung kleidet ihn. Eine goldene Stola kreuzt seine Brust.

Auf der Vorderseite sehen wir die im Schmerz zusammenbrechende Mutter Maria, die vom heiligen Johannes gestützt wird. Unter dieser Darstellung steht eine Heilige mit einem geöffneten Buch in der linken und einem Palmzweig in der rechten Hand. Jedenfalls ist es die heilige Katharina, die im Mittelalter sehr verehrt wurde und auch einen Altar in der Kirche hatte,

Über dem Marienbild war noch eine Heiligenfigur eingestickt. Der Oberkörper ist bei der Neuherrichtung der Casula der Schere zum Opfer gefallen. Die Farben in blau. rot und grün sind bei den Vorderbildern erneuert, während auf dem Rückenbild die alten Farben fast völlig erhalten sind.

An dem Südtürchen beim Herrnstuhl steht noch ein steinerner, gotischer Weihwasserbehälter aus dem 15. Jahrhundert. Daneben wuchtet ein bauchiges, gekehltes Barocktaufbecken aus dem Jahre 1605 mit patiniertem Messingdeckel aus der Ecke. Dieses stand früher in der nördlichen Ecke, wo heute der Kanzelaufgang ist. Aus dem 17. Jahrhundert stammt der Gekreuzigte auf dem Missionskreuz. Die Kommunionbank und die Beichtstühle sind im 18. Jahrhundert entstanden. Bevor wir die Pfarrkirche durch die Nordtüre verlassen, wird hier unser Auge noch von einem barocken eigenartig verzierten Weihwasserkessel gefesselt.

 

Das Innere des Gotteshauses wurde im Jahre 1950 aus Anlaß des 500jährigen Jubiläums der Pfarrei erneuert. Seitdem trägt die Kirche auch den Namen „Gedächtniskirche“, weil ja in den Jahren 1933 - 40 eine neue katholische Kirche erbaut worden war. Die Kirche wird auch heute noch in unregelmäßigen Abständen zu gottesdienstlichen Zwecken genutzt.

 

Außen betrachtet man noch einmal den Chor der Kirche. Fünfseitig steigt das überworfene Basaltmauerwerk in die Höhe, während die Eckquadern, die Fenster und die Quadern des Strebepfeilers aus rotem Sandstein sind. Die spitzbogigen Fenster sind oben mit Fischblasenmustern verziert. Auf den Sandsteinquadern des Chors findet man noch versteckt Steinmetzzeichen, die meist mit einem Kreuz geziert, im übrigen aber von einander ganz verschieden sind. Da die meisten Steinmetze zur Zeit der Erbauung des Chors (1505 - 1509) nicht schreiben konnten, hatte jeder sein Zeichen, die einen runenhaften Charakter haben.

 

Harmoniestraße:

Die Straße wurde genannt nach der Wirtschaft, in der der Gesangverein „Harmonie“ tagte (wahrscheinlich das Gasthaus „Zur Sonne“ am Eingang der Straße). Aber ursprünglich war sie die Judengasse von Steinheim und hieß auch so. Die Judengasse ist wahrscheinlich kurz nach der neuen Ummauerung der Stadt (1320 - 1329) entstanden. Es handelt sich wohl um eine der ältesten Gassen Steinheims, hier durften die Juden inenrhalb der Stadtmauern wohnen. Hier steht auch das älteste Haus Steinheims.

Im Jahre 1335 hatte Kaiser Ludwig der Bayer dem Gottfried von Eppstein erlaubt, zu Steinheim und zu Homburg v.d.H. je zehn Juden halten zu dürfen. Diese erhielten einen Schutzbrief von Seiten des betreffenden Herrn, der sie gegen Übergriffe schützte. Für diesen Schutz mußten sie ein Schutzgeld von ungefähr 20 - 30 Gulden zahlen. Da im Mittelalter den Christen das Zinsnehmen von der Kirche streng verboten war, kam der ganze Geldhandel in die Hände der Juden. Auch die Eppsteiner brauchten viel Geld.

So siedelten sie die Juden in einer eigenen Gasse an, die im Anfang wahrscheinlich durch zwei einfache Tore abgeschlossen war. Die Juden trugen eine eigene Tracht. Sie hatten in ihrer Gasse eine eigene Schule und jedenfalls auch ein Bad. Die Einrichtung eines solchen Bades war nicht allzu schwierig, da bis heute noch mehrere Keller dieser Gasse frisches Quellwasser haben. Die Judenverfolgungen von 1348 und später mögen wohl auch hier ihre Opfer gefordert haben. Erst im 17. Jahrhundert hört man wieder etwas von Steinheimer Juden. Damals gab es hier drei Judenfamilien: Herz, Benjamin und Faist. Zu dieser Zeit wohnten aber auch schon Christen in der Judengasse.

Im Jahre 1682 sind noch zwei weitere Juden in Schutz genommen worden. Als in diesem Jahre in Steinheim eine Viehseuche ausgebrochen war, sind die Juden Benjamin und Faist mit zu den Bauern gegangen, haben das kranke Vieh besichtigt und so gleichsam den Tierarzt vertreten. Seit dem 15. Jahrhundert waren die Steinheimer Juden keine Geldverleiher mehr, sondern jetzt trat der Vieh- und Pferdehandel in den Vordergrund. Im Jahre 1709 wird berichtet von einem Affron, der einen kleinen Kramladen hatte.

Die späteren israelitischen Familien lassen sich zum Teil bis zum Dreißigjährigen Krieg zurückverfolgen. So war im Jahre 1633 ein M. Herz von schwedischen Reitern nach Jügesheim geschleppt worden, war aber dort aus dem Gasthaus heimlich entflohen, weshalb sich die Soldaten an dem Wirt schadlos hielten.

Im Jahre 1798 wurde ein Michael Meyer aus Wenings, der eine Tochter des Samuel Herz zur Frau hatte, in den Schutz aufgenommen. Seine eigenen Glaubensgenossen haben ihm dabei große Schwierigkeiten bereitet.

Bis zum Jahre 1812 war es den Juden sehr erschwert und früher unmöglich, ein Haus außerhalb der Judengasse und sogar ein Christenhaus in dieser Gasse zu kaufen. Die Christen hatten ein Vorkaufs- oder Abtriebsrecht für ein ganzes Jahr. Für die landesherrliche Erlaubnis zu einem Hauskauf mußten die Juden 40 Gulden bezahlen. Seit 1812 fielen alle diese einengenden Bestimmungen, und seit dieser Zeit hat sich der größte Teil unserer israelitischen Mitbürger außerhalb der Judengasse niedergelassen. Bereits im Mittelalter lebten Juden in Groß-Steinheim, möglicherweise kam es damals schon zur Gründung einer jüdischen Gemeinde. Vermutlich gab es insgesamt mindestens vier jüdische Bet­häuser oder Synagogen.

Als Synagoge diente um 1816 das Haus Neutorstraße Nr. 6 Dann erhielt die jüdische Gemeinde die alte Registratur beim Schloß. Im Jahre 1860 baute sie darin ihre Synagoge hinter dem Altaristenhaus, bis sie im Jahre 1900 ihre neue geräumige Synagoge bei der heutigen Schule bezog. Ein knappes Jahr nach der Grundsteinlegung konnte 1900 feierlich die Einweihung der Synagoge vorgenommen werden. Im Jahre 1939 wurde das Gebäude an einen Privatmann zwangsverkauft und noch vor 1945 zu einem Wohnhaus umgebaut.

 

In der Harmoniestraße steht rechts am Eingang der Bickenstraße ein schönes Fachwerkhaus, das eine wunderbare alte Tür hat und dessen Fachwerk am Giebel noch in Höhe der Fensterreihe zusätzlich freigelegt worden ist. Das Haus Nummer 7, das „Volk’sche Haus“ mit dem wet überstehenden Obergeschoß ist von 1395. Am Ende der Harmoniestraße ist links ein Durchgang durch die Stadtmauer. An dem Haus, wo die Straße nach rechts abbiegt, ist ein alter Torbogen mit einem Stein von 1649 und darüber eine Madonna.

 

Neutor/Neutorstraße:

Am Ende der Harmoniestraße stand als Abschluß der Preßmauer der „Pestilenzturm“. Heute ist er nur noch wie ein Brunnenrand angedeutet. In der Nähe des Turms, außerhalb der Stadt wurden die Pesttoten beerdigt. Zwischen Turm und Preßwand ist das sogenannte „Neutor“. Bis ins 19. Jahrhundert hinein hatte Steinheim nur das Obertor und das Maintor, nachdem das Mühltor ja schon um 1550 vermauert war. Die Bedürfnisse der neuen Zeit forderten aber einen Durchbruch nach Norden, und so entstand um 1850 das Neutor, das um und nach 1900 so verbreitert wurde, wie wir es heute vorfinden.

Der Verlauf der Neutorstraße entspricht ungefähr dem Verlauf der ältesten Mauer, die vor 1320 den Burgbezirk umzogen hat. In einzelnen Hofreiten in der Neutorstraße sind heute noch Teile dieser ältesten Mauer zu sehen. Diese war zum Teil 1301 von Ulrich von Hanau zerstört worden, weil die Mauer gerade von der Westseite und Nordseite am leichtesten zu erstürmen war.

Die meisten Häuser stehen, der gotischen Bauart (1300 - 1500) entsprechend, mit der Giebelseite nach der Straße, und die Dächer sind sehr hochgezogen und steil. Diese hochgiebeligen, zweistöckigen Fachwerk- und Steinhäuser haben sich dann immer näher an die Stadtmauer herangedrängt, sie haben sich ineinandergeschmiegt und sich gehorsam der vor- und rückspringenden Fluchtlinie der Straßen gebeugt (siehe besonders Neutorstraße und Judengasse), deren Richtung wieder durch den Lauf der Ringmauer bestimmt wurde.

In der Neutorstraße stehen noch einige alte Häuser. Über dem Hoftorbogen des Hauses Neutorstraße Nummer 8 befindet sich ein bürgerliches Hauswappen (vielleicht das eines Metzgers) mit der Jahreszahl 1574. Der Keller dieses Hauses war früher verbunden mit dem Keller des Hauses Nummer 6. Es ist sehr leicht möglich. daß der Keller Nummer 8 zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges als Zufluchtsort für Menschen und Tiere und zur Bergung von Vorräten benutzt wurde.

Über dem Eingang zu dem stattlichen Haus Nummer 4 befindet sich auch ein bürgerliches Hauswappen, anscheinend das eines Küfers oder Weinschröters. Es ist mit „P. S.“ und der Jahreszahl 1596 versehen. Im achtzehnten Jahrhundert gehörte dieser Hof den Herren von Reuß als Erbbestandsgut.

Der Nutzer mußte außer der Pachtsumme 19 Malter Korn, 29 Malter Hafer, 2 Hühner und 4 Schilling geben, das Faselvieh der Gemeinde stellen, einen Dukaten Besthaupt geben und die ewige Lampe in der Kirche unterhalten.

Durch Heirat verwandt mit der Familie von Reuß war die Familie von Leonrod. Freiherr Karl von Leonrod, kurfürstlich Mainzer Diplomat, hatte sich 1770 mit dem Freifräulein Therese von Reuß vermählt und in diesem Hause gewohnt. Sein Sohn Ludwig trat später in den bayrischen Staatsdienst und wurde geheimer Staatsrat. Ein Sohn dieses Ludwig wurde Bischof von Eichstätt, besuchte im Jahre 1879 Steinheim und spendete hier das Sakrament der Firmung. Deshalb steht an dem Haus auch eine Tafel „von Leonhard“.

 

Hinterbäcker (Schloßgasse)::

Über den Markplatz geht man links herum in die Schloßgasse. Links am Eingang der Schloßstraße (Haus Nummer 2) steht das Hinterbackhaus (heute Bäcker König). Dieses war ursprünglich in städtischem Besitz. Der Bäcker mußte sechs Gulden Abgabe zahlen. Über der Haustüre sieht man noch das Abzeichen der Bäcker.

 

Vorburg:

Wenn man in der Schloßgasse weiter geht, so bemerkt man an einem Schuppen der rechten Seite vier Angelsteine, die von einem alten Torbogen mit Doppeltor herrühren. Durch diesen Torbogen gelangte man in den äußeren Burgbezirk oder in die Vorburg.

Rechts liegt das ehemalige katholische Pfarrgehöft. Als 1771 die Pfarrei Steinheim von dem Kloster Seligenstadt unabhängig gemacht und zu einer selbständigen Pfarrei erhoben war, wurde bald darauf auch ein neues Pfarrhaus an der heutigen Stelle gebaut und bezogen.

Links sieht man noch Reste des ehemaligen Amtshauses von 1556. Daß schon vor dieser Zeit beim Schloß ein Amtshaus war, in dem die Amtsgeschäfte des Amts Steinheim geführt wurden, ist selbstverständlich. Dieses älteste Amtshaus befand sich in südlicher Richtung vom Schloß. Auf den Stichen von Meißner, Merian und auf dem Gemälde von Schütz ist es noch zu sehen. Es bestand aus zwei Zwerch- oder Querhäusern. Dieses alte Amtshaus auch wahrscheinlich auch das „Fulterhaus“ (Folterhaus), das in alten Rechnungen erwähnt wird.

Bald erwies es sich als zu klein, und so wurde um 1556 das neue geräumige Amtshaus gebaut. Das alte Gebäude, das nach dieser Zeit das „Haus vor dem Schloßgraben“ genannt wurde, war nun vom Schloßgesinde und herrschaftlichen Beamten bewohnt.

Das neue Amtshaus hatte im unteren Stockwerk eine große Amtsstube mit drei Nebenkammern. Eine Schneckentreppe führte in den oberen Stock, den die Amtleute bewohnten. Hier hat der Amtmann Hans von Ingelheim gewohnt, und sein Sohn Anselm Franz, der spätere Kurfürst und Erzbischof von Mainz, hat hier seine Jugendjahre verbracht. Als Nachfolger des Amtmanns von Ingelheim begegnet dann in diesem Amtshaus Philipp Erwein von Schönborn, der 1639 dem Hans von Ingelheim als Oberamtmann folgte.

Während des Dreißigjährigen Krieges war nur selten am Amtshaus etwas gebessert worden. Um 1652 wurden umfangreiche Reparaturen vorgenommen, da Wohnung und Stallung ziemlich baufällig geworden waren. Aber trotzdem scheint sich das Amtshaus, wie auch das Rathaus nie wieder völlig von den Schäden des Dreißigjährigen Krieges erholt zu haben. Wegen Baufälligkeit wurde das Amtshaus 1834 abgebrochen. Nur die Keller sind noch erhalten: Über dem Kellerfenster sieht man die Jahreszahl 1555 und über der halbrunden Nische die Jahreszahl 1556.

 

Äußerer Burghof

Der äußere Burgbezirk ist für sich durch Mauer, Tor und Graben nach außen abgeschlossen und von der eigentlichen Burg getrennt. Hier lag der Marstall mit geräumigem Speicher, hier grünte der Gemüse- und Obstgarten. Hier veranstaltete die ritterliche Jungmannschaft das Kampfspiel, den Tjost: Hier übten sich die Dienstmannen der Eppsteiner im Schlendern und Ger-Werfen.

 

Der Renaissancebrunnen:

In dem äußeren Schloßbezirk befindet sich noch ein Brunnen von einfachen, edlen Formen aus dem Jahre 1564. In Renaissanceform steigen aus einem runden Unterbau, der den Brunnen einfriedigt, zwei eckige Säulen aus Sandstein auf, die ein Gebälk tragen. Das Ganze wird gekrönt durch einen halbkreisförmigen Abschluß mit zwei Wappen und der Jahreszahl 1564. Es sind dies die Wappenschilder des Philipp von Bicken und des Kurfürsten Daniel Brendel von Homburg, mit dessen Schwester Anna Philipp von Bicken verheiratet war. Der Brunnen ist demnach wahrscheinlich von dem Amtmann Philipp von Bicken und seiner Gemahlin Anna oder dem Kurfürsten Daniel errichtet worden.

 

Kanzlei

Von den Amtsgebäuden steht heute nur noch die Amtsregistratur, die Kanzlei (die Bezeichnung „Amtshaus Schloß Steinheim“ ist also nicht ganz korrekt). Dieser Bau diente von 1830 bis 1860 als Synagoge, dann wurde er als Geräte- und Vorratsraum benutzt, bis er um 1905 als Wohnung des Wasserbauaufsehers eingerichtet wurde (daher „Dammwärterhaus“).

 

Marstall

Der Marstall wurde um das Jahr 1431 gebaut. Das Gelände war von Henne Weber um hundert rheinische Gulden durch den Kurfürsten Konrad gekauft worden. Im Jahre 1709 meldete der Keller Tautphäus: „Das Dach auf dem Marstall geht ganz auseinander und ist völliger Einfall des Daches zu befürchten.“ Als im Jahre 1808 Prinz Georg von Hessen das frisch hergerichtete Schloß bezog, wurde auch der Marstall zur Unterstellung der Pferde wieder eingerichtet. Im Jahre 1808 wurde für den Prinzen Georg ein Raum für 16 Pferde abgeteilt, ferner Kammern für Sattelzeug, eine Wohnung für zwei bis drei Knechte, eine Wagenremise und Heu- und Haferräume. Der Stall faßte damals 40 Pferde. Darüber befanden sich die Futterböden. Das blau-rot gestrichene Gebälk der einzelnen Pferdestände, das 1926 entfernt wurde, weist mit den brabantisch-hessi­schen Farben auf die Erneuerung des Marstalls unter Prinz Georg hin. Das Wappen des Erzbischofs Daniel Brendel von Homburg, der in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts den Marstall erneuert und erweitert hatte, ist an der Ostseite des umgebauten Marstalls nicht mehr vorhanden.

Innerer Schloßbrunnen:

Im Schloßhof befand sich ein uralter tiefer Brunnen, der nur noch an einer Betonplatte erkennbar ist. Er ist merkwürdig, weil in ihn ein unterirdischer Gang mündet. In einer Tiefe von sechs bis acht Metern findet man in der westlichen Brunnenwand eine 1,50 Meter hohe gewölbte Öffnung, die in einen unterirdischen Gang führt, der nach Nordwesten, vielleicht nach dem Turm. führte. Dort mag er später zugeworfen worden sein. Ein hölzerner Pumpenstock liegt am Eingang des Ganges. Nach zehn Meter Entfernung kann man vorerst nicht mehr weiter, da das Gewölbe eingebrochen ist.

 

Die alte Burg:.

Die Herren von Hainhausen (später „von Eppstein“ genannt) gründeten in der Mitte des 12. Jahrhunderts die Burg Steinheim. In einer Urkunde von 1254 wurden die Herren von Eppstein dann ausdrücklich als Eigentümer der Burg Steinheim genannt. Von der alten Burg ist der Teil, der parallel mit dem Main verläuft und als „steinernes hus“ bezeichnet wird, wohl der älteste Baubestand. Es ist denkbar, daß im Erdgeschoß sich schon in Eppstein‘scher Zeit Küche und Rittersaal befanden, deren Spuren wir noch heute feststellen können. Ein Bergfried gehörte natürlich mit dazu.

Durch den Vorhof gelangte man nach ungefähr 20 Meter über eine Brücke, die von drei Bogen getragen wurde, zu einem kleinen Torhaus. Hier befand sich eine Zugbrücke, die von dem Torhaus aus hochgezogen werden konnte. Dieses war gekrönt von einem Türmchen, von dem wir aus Rechnungen wissen, daß es um 1650 eine Uhr trug.

Von hier aus gelangte man in den inneren Burghof, der mit Hauptmauer, Ziegelmauer und einem tiefen Graben nach außen hin abgeschlossen war. Einen Rest des alten Burggrabens kann man noch in dem tiefer gelegenen Garten nördlich des Renaissancebrunnens feststellen. Im inneren Burghof befanden sich der Stall mit Speicher, die Rüstkammer und das Schnitz­haus, in denen Lanzen, Schilde, Speere, Balken für die Hurden (Mauer- und Turmdächer) und Geräte für den häuslichen Bedarf angefertigt wurden.

Als die Katzenelnbogener im Jahre 1275 zu einem Viertel und im Jahre 1284 zur Hälfte neben den Eppsteinern Mitbesitzer von Steinheim wurden, kann der Nordbau nach dem Schießhag hin entstanden sein.

Im Jahre 1301 wurde die Burg im Zuge kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen den rheinischen Kurfürsten und dem deutschen König Albrecht von Habsburg durch den königstreuen Ulrich I. von Hanau zerstört (und sogleich wieder aufgebaut). Konrad III. von Mainz ließ die beiden Gebäudeflügel der Burg erhöhen und erweitern. Die kurmainzische Burg mit ihren vielen Türmchen präsentierte sich als typisch gotisches Bauwerk.

 

Schloßbau:

Die alte Eppstein'sche Burg wurde baulich stark verändert, als der Kurfürst und Erzbischof Konrad III. von Mainz (auch „Konrad von Daun“, 1419-1434) im Jahre 1425 Burg, Stadt und Amt Steinheim (das zwanzig Orte umfaßte) für 38.000 rheinische Gulden von Gottfried von Eppstein gekauft hatte. Jetzt begann der Ausbau der Burg zu einer kleinen Residenz, zum „Schloß Steinheim“.

Die beiden Gebäudeflügel der Burg wurden erhöht und erweitert. Auf die drei gemauerten Stockwerke wurde ein vierter Stock in Holzfachwerk aufgesetzt. Nach Osten, gegen den Main hinunter, war ein neuer Flügel vorgesetzt worden, in dessen drittem Stockwerk die Schloßkapelle untergebracht war, die 1431 geweiht wurde. Erzbischof Konrad erwähnt im Jahre 1431 in einem Brief diesen neuen Ostbau. Die Höhe der Stockwerke und die Bedachung des neuen Ostflügels entsprachen dem anstoßenden Burgflügel. Der Nordbau nach dem Schießhag hin wurde außerdem mit drei Querhäusern versehen, die nach Westen durch einen Treppengiebel abgeschlossen waren. Auf den Überresten des alten Bergfrieds ließ vermutlich Konrad III. den heute noch stehenden Turm von Frankfurter Baumeistern errichten.

Um 1450 ließ dann Kurfürst Dieter I. Schenk von Erbach den Nordflügel anbauen, den Nord-Süd-Flügel auf die heutige Hoftiefe verdoppeln und im „Rittersaal“ ein Kreuzgratgewölbe einziehen.

Erneut wurde am Schloß gebaut zur Zeit Daniel Brendels von Homburg, der von 1552 bis 1582 regierte: 1555 wurde das Amtshaus, 1562 der Marstall, 1564 der Brunnen vor der Amtsregistratur errichtet. Es entstanden zwei neue Treppentürme im Renaissancegeschmack, die im Hofe ihren Aufgang hatten. Der eine wurde von dem baulustigen Kurfürsten Daniel Brendel von Homburg (1552-1582) angelegt. Diese Treppenanlage besteht heute noch. Sie bildet den Aufgang zum Museum. Im Innern entzückt eine schöne Treppenspirale das Auge, während außen das Portal zu den schönsten Renaissancedenkmälern in Steinheim gehört. Zwei kannelierte Pilaster auf blattgeschmücktem Sockel ruhen auf eckigen Doppelbasen. Reichgegliederte Doppelkapitäle tragen ein gekröpftes Gesims.

Darauf lagert das reichverzierte Wappen des Erzbischofs Daniel Brendel von Homburg, das von Pilastern mit einfachen geometrischen Figuren eingefaßt ist. Die Pilaster werden auf beiden Seiten durch verzierte Löwenbeine gestützt. Im Spätrenaissanceempfinden ist dieses Wappen sehr reich mit kleineren Ahnenwappen verziert. Das Ganze wird von einem gekröpften Gesims überdacht und durch eine zierliche Palmettenmuschel mit Zahnschnitteinfassung gekrönt. Dieses Wappen befand sich ursprünglich über dem Portal eines zweiten, heute verschwundenen Treppen- oder Schneckenturms an der Westseite des Nordflügels, dem Eingang des Bergfrieds gegenüber. In der Giebelwand des Nordflügels kann man die herausstehenden Steine dieses Treppenturmes noch sehen.

Als Matthäus Merian seine Ansicht von Schloß Steinheim anfertigte, stand die Anlage auf dem Höhepunkt ihrer baugeschichtlichen Entwicklung. Steinheim war eine der Perlen erzbischöflicher Residenzen, die Main und Rhein säumten, hochgeschätzt wie Eltville oder Höchst. Es gibt mehrere alte Zeichnungen und Stiche mit unterschiedlichen Darstellungen des Schlosses - Beweis für die häufigen Umbauten.

Steinheim ist so verschieden vom nahen Hanau, weil sich Ende des 16. Jahrhunderts der bilderstürmerische Graf Philipp Ludwig II. rühmte, eigenhändig aus einer Kirche der Hanauer Obergrafschaft ein Kruzifix „und andere Götzen und Bildwerk“ entfernt zu haben, der Mainzer Erzbischof aber das Schloß und die Kirche von Steinheim mit Kunstwerken schmückte. Am Main glänzten nicht nur die Bischofssitze Aschaffenburg und Würzburg durch reiche Architektur, der ganze Landstrich war geprägt vom Kunstsinn seiner geistlichen und weltlichen Herrscher, den Fähigkeiten seiner Bauhandwerker und dem Wohlstand seiner Kaufleute.

 

Dem Schloß erging es wie sämtlichen Amtsbauten von Steinheim. Sie befanden sich alle in und nach dem Dreißigjährigen Kriege in mehr oder minder baufälligem Zustande. Schon während dieses Krieges, und besonders vom Jahre 1650 bis 1720, richteten die Keller und die Amtleute dauernd Hilferufe nach Mainz, die Schäden des Krieges und der Zeit wieder ausbessern zu lassen. An den Dächern wurde oft zwanzig bis dreißig Jahre keine Reparatur vorgenommen. Die Füllungen des Fachwerks waren an vielen Stellen durchschossen oder durch Vernachlässigung so her­unter­gekommen, daß man in das Innere des Schlosses und mancher anderer Gebäude hineinschauen konnte.

Bereits 1660 war z. B. von dem Steinheimer Beamten nach Mainz gemeldet worden, daß die Schloßbrücke so verfallen war, daß man mit geladenem Wagen nicht mehr aus dem inneren Schloßhof heraus und hinein konnte. Erst im Jahre 1701 wurden die Bogen der Brücke durch den Maurer Christian Frankhausen ausgebessert. Dabei wurde die alte baufällige Zugbrücke entfernt. Es war aber nur das Notdürftigste an der Schloßbrücke ausgebessert worden. Auch sie wurde am Ende des 18. Jahrhunderts beseitigt, weil man die Reparaturen vermeiden wollte.

Wie die öffentlichen Bauten Steinheims um 1675 ausgesehen haben, erkennen wir aus der Bleistiftskizze des holländischen Malers Albert Meyeringh vom Maintor. Klaffende Dächer, zum großen Teil nicht mehr mit Ziegeln bedeckt, durchlöchertes Fachwerk, zerstörte und zerfallene Mauern, das war der Anblick Steinheims am Ende des siebzehnten Jahrhunderts.

Dem Erzbischof Lothar Franz von Schönborn (1774 - 1802) kann dabei der Vorwurf nicht erspart werden, daß er trotz des baufälligen Zustandes des Schlosses und der meisten herrschaftlichen Gebäude seiner Jagdleidenschaft nachgab und von 1701 - 1710 die Fasanerie einfriedigen und das dort noch heute stehende Jagdhaus erbauen ließ.

Der Niedergang des Schlosses vollzog sich unter dem letzten Mainzer Kurfürsten Karl Joseph von Erthal, der 1786 das Inventar des Schlosses versteigerte und noch vor 1800 weite Teile der Anlage für einen geplanten Umbau abtragen ließ. Die oberen Fachstockwerke und der Ostflügel wurden abgetragen und in neuem klassizistischem Geschmack in einfacher, etwas nüchterner Ausführung wieder aufgeführt und bedacht.

Die Federskizze des Ludwig Daniel von der Heyd vom Jahre 1788 ergibt ein klares Bild von dem Abbruch des Schlosses. Durch Vergleich mit der Abbildung auf dem Zunftbrief von J.J. Müller aus dem Jahre 1784 muß folgendes geschlossen werden: Von 1784 - 88 ist auf dem Hauptbau das Stockwerk mit dem Holzfachwerk verschwunden. Am Hauptbau und Nordbau ist ein Notdach aufgesetzt worden. Der vorspringende Ostflügel, in dem die Kapelle untergebracht war, steht noch mit dem alten spitzen Dach. Verschwunden ist aber die Kapellen-Apsis, und die Ecke zwischen Hauptbau und Ostflügel ist abgebrochen.

Die französischen Revolutionskriege leerten wieder den Kurmainzer Staatssäckel für andere Zwecke. Es konnte nicht weitergebaut werden, nachdem der Ostflügel mit der Kapelle im Jahre 1795 abgetragen war. Der aus zwei Flügeln bestehende Wohnbau konnte erst 1804 in klassizistischem Stil wieder erneuert werden. In diesem Zustand blieb das Schloß, bis es 1808 Großherzog Ludwig I. von Hessen für seinen Sohn, Prinz Georg, als Wohnsitz einrichtete.

In diesem Notzustand blieb das Schloß, bis es um 1808 von dem Großherzog Ludwig I. von Hessen- dem das Amt Steinheim nach der Säkularisation von 1802 zugefallen war - für seinen Sohn Georg, wohnlich eingerichtet wurde. Zwischen 1808 und 1813 lebte Prinz Georg von Hessen im Schloß und ließ im Hauptgebäude Umbauten im klassischen Stil durchführen. Ein Ziegelstein im Speicher des Schlosses zeigt, daß im Jahre 1812 das Schloß seine heutige Vollendung erhielt: Aus diesem Ziegel leitet Dr. Leopold Ingram ab, daß das Schloß im Jahre 1812 sein heutiges Aussehen erhalten haben muß,

Nach 1813 wurde das Schloß von Hessen-Darmstadt nie mehr bewohnt und das Mobiliar 1825 abgezogen. Der Abriß des Amtshauses erfolgte 1839. Im weiteren Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts bot das Schloß einem Betsaal, einer Schule, Wohnungen und Museum Platz.

 

Schloßturm:

Die Grundmauern des Schloßturmes sind wahrscheinlich in romanischer Zeit entstanden. Der Turm ist 36 Meter hoch, der innere Durchmesser beträgt 3,60 Meter, die Mauerstärke 3,00 Meter.

In zylindrischer Form, voll massiger Wucht, steigt er hoch bis zu einem Bogenfries mit Spitzbogen, die auf gekehlten Basaltkonsolen lagern. Gußerker und das dreiteilige Fenster der Türmer­wohnung gliedern das zweite Stockwerk. Gekrönt wird der Turm durch vier äußere und ein inneres Türmchen mit eckiger Bedachung.

Georg Schäfer sagt mit Recht in seinem Werk „Die Kunstdenkmäler des Kreises Offenbach“: „Dieser gewaltige Rundturm sucht seinesgleichen in Anbetracht der ungewöhnlichen Abmessungen wie der kraftvollen Formen. Unter den erhaltenen Wehrtürmen auf weit und breit, wenigstens im ganzen Umfang der mittelrheinischen Lande, kann sich ihm nur der Eschenheimer Turm zu Frankfurt am Main als ebenbürtiger Genosse an die Seite stellen. Was zudem trotzige Wucht betrifft, macht selbst der Eschenheimer Turm einen zahmen Eindruck, verglichen mit dem Stein­heimer Hünen.“

Wenn man den Bergfried mit seinem unteren Stockwerk genauer ins Auge faßt, so fällt nach Nordwesten hin eine starke Mauerverpanzerung auf, die den Turm nach der gefährlichsten Angriffsseite schützte. Dieser Teil kann der Rest eines älteren Mauerwerks sein. Einige Meter über dieser Verpanzerung macht der Turm plötzlich einen Knick, den man nur auf dieser Nordseite feststellen kann. Wahrscheinlich ist der Turm an dieser Stelle neu aufgemauert worden. Man muß mehrere Bauzeiten annehmen. Es ist möglich, daß die Herren von Hagenhausen und Hausen, die ersten bekannten Besitzer der Burg Steinheim, einen eckigen Turm schon vorgefunden oder erbaut haben.

Sehr beachtenswert sind die Spitzbogen an diesem Turm- bzw. Mauerteil, die wir nach dem Gemälde von Radel noch feststellen können. Danach scheint es, als ob man hier den Rest eines alten spitzbogigen Mauer- oder Turmfrieses aus dem vierzehnten Jahrhundert vor sich hätte. Dieser deutlich sichtbare Treffpunkt zweier Mauern kann als einfacher Mauerpanzer vor dem Turm gedient haben, er könnte aber auch der Rest eines eckigen Turmes sein, der an Stelle des heutigen runden gestanden hat.

Nach der Zerstörung von 1301 hätte dann Gottfried von Eppstein an Stelle des eckigen Turmes den Rundturm gebaut. Es ist kein Zweifel, daß die innere Krönung des Verlieses aus gotischer Zeit, also frühestens aus dem vierzehnten Jahrhundert stammt. Bei der Neubefestigung anläßlich der Stadtrechtsverleihung wurde durch Gottfried von Eppstein wahrscheinlich dieser Turm erhöht, wenn nicht neu aufgebaut. Die reiche und stolze Zinnenkrönung mit den charakteristischen fünf Türmchen scheint dann von Dietrich von Mainz um 1450 neu aufgesetzt zu sein.

Vor dem Turm lagen im fünfzehnten Jahrhundert die Landsknechte Adolfs von Nassau, um dessen Gegner, Dieter von Isenburg, daraus zu vertreiben. Erfolglos mußten sie wieder abziehen. Dagegen bemächtigten sich seiner im Schmalkaldischen Krieg im Jahre 1552 die Truppen des Markgrafen Albrecht von Brandenburg-Kulmbach unter Führung des Grafen von Oldenburg. Im Dreißigjährigen Kriege legten schwedische, kaiserliche und französische Söldner ihre Redouten vor ihm an, um ihn und die Mauern sturmreif zu machen.

Auf einer Holztreppe, die in früheren Zeiten nicht vorhanden war, gelangt man zum Haupteingang des Schloßturms auf der Ostseite. Früher führte eine Brücke mit einem Geländer an der Mauer entlang vom nordwestlichen Schloßflügel zum Turm, vor dessen Eingangstüre sich jedenfalls eine Zugbrücke befand.

In dem Raum über dem Verlies hat eine Licht- und Geschützöffnung ihre Richtung auf das ehemalige innere Burgtor in der Nähe des inneren Burgbrunnens. In dem Raume, der in Zeiten der Gefahr als Vorrats- und Pulverraum diente, ist eine enge Versenköffnung des Verlieses, das sogenannte „Angstloch“: An einem Seile wurden die Gefangenen in die Tiefe hinunter gelassen.

Im Jahre 1921 und im August 1925 wurden mehrere Steinheimer Männer am Seil hinunter gelassen. Ein unterirdischer Gang, den man vermutete, war nicht festzustellen. Man fand Reste von irdenem Geschirr und von irdenen Öllämpchen aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Auch Tierknochen, anscheinend vom Hammel, wiesen darauf hin, daß die Gefangenen nicht nur von Wasser und Brot lebten. Das Verlies hat eine Tiefe von 10,20 Meter bis zum Schutt, der 40 Zentimeter hoch auf der Turmsohle liegt. Der Durchmesser des Verlieses beträgt 3,60 Meter. Es läuft oben nach der Versenköffnung spitzbogig zu, so daß man seine Entstehung, wenigstens die des oberen Teils, nicht vor 1320 ansetzen kann.

Der Raum über dem Verlies, der im gotischen Achtort gewölbt ist, steht mit dem nächsten Stock­werk, der Türmerwohnung, durch eine schmale Wendeltreppe in Verbindung. Diese Treppe - ein architektonisches Meisterwerk - führt innerhalb der östlichen Mauerseite empor. Die Wandstärke des Turmes beträgt hier nur 70 Zentimeter. Der Baumeister konnte die östliche Turmmauer an dieser Stelle so verhältnismäßig dünn gestalten, weil die Ostseite des Turmes durch den mächtigen Burgbau und durch den Main gegen Geschoßwirkung geschützt war. Auch dieser Schneckenbau läuft im Achteck aus.

Das durch eine Auskragung erweiterte zweite Geschoß enthält die Türmerwoh­nung. Auch sie ist mit einem achteckigen Gewölbe überspannt. Eine breite, tiefe Nische führt zu einem dreigeteilten Fenster mit Basaltrahmen. Von hier aus streifte der Türmer mit seinen falkenscharfen Augen die Geleitstraße bis nach Hainstadt und Seligenstadt ab. Von hier aus gelangt man zum Gußerker. Mit Hilfe des Kamins konnte sich der Türmer gegen die Kälte schützen. Der eine Achtort des Türmerraumes ist durchbrochen. Eine Holztreppe führt zur Turmgalerie.

Über der Türmerwohnung sitzt der mittlere und größere von den fünf Spitztürmchen. Die Bekrönung der fünf Spitzen ist aus gekehltem Basalt. In dem Ost- und Südtürmchen sind nur zwei Geschoßöffnungen, während nach der Landseite in jedem der zwei Türmchen je drei Geschützöffnungen zur Bestreichung der Landstraße Klein-Steinheim-Klein-Auheim angebracht sind. Schieß­scharten und Brustwehren zwischen den Türmchen gaben den Schützen Schieß- und Schutzmöglichkeit. Im Dreißigjährigen Krieg haben die Türmchen durch feindliche Beschießung schwer gelitten. Nur allmählich wurde dieser Kriegsschaden am Turm wieder hergestellt. In den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts erhielt der Bergfried den heutigen dauerhaften Kleinsteinbewurf.

 

Archäologen finden Gewölbe bei Grabungen am Steinheimer Schloss:

Bei Grabungen am Schloss Steinheim haben Archäologen im Zwinger zwischen Bergfried und Schlossmauer ein Gewölbe von etwa 25 Quadratmetern Größe aufgedeckt. Hintergrund der Grabungen war eine Anregung des Steinheimer Ortsbeirats vom Februar 2021, zum 800. Geburtstag des Schlosses „bisher noch verschlossene Außenbereiche für Besucher zugänglich zu machen, damit der ursprüngliche Burgcharakter besser erlebbar wird“. Das Jubiläum wird bekanntlich in diesem Jahr gefeiert. Das 800-jährige Bestehen sollte Anlass sein, so der Ortsbeirat, Bereiche wie den Zwinger und die Grundmauern der Türme wieder zu öffnen.

Hierfür soll der Bewuchs von den Mauern genommen und der Boden gepflastert werden. Da die gesamte Schlossanlage ein Einzelkulturdenkmal ist, sei das Feld zuerst der Bodendenkmalpflege überlassen worden. Die Archäologen haben gegraben und dabei auch das erwähnte Gewölbe entdeckt. Es ist nur von oben über eine Öffnung von der Größe einer Tür zugängig.

Laut Angaben der Stadt deutet vieles darauf hin, dass der 2,5 Meter tiefe Hohlraum erst vor einigen Jahrzehnten geschlossen wurde, denn neben der Abdeckung mit Betonschwellen war er mit modernem Bauschutt verfüllt.

Bei weiteren Untersuchungen des Areals konnte zudem die Außenkante eines ehemaligen polygonalen Turmes direkt am heutigen Bergfried freigelegt werden. Ein solcher Turmgrundriss wurde bereits bei Grabungen 1989/1990 im Schlosshof dokumentiert. So konnten nicht nur neue Erkenntnisse über das Areal gewonnen, sondern auch neue Fragestellungen zur Baugeschichte von Schloss Steinheim gestellt werden. Noch zu klären bleiben die genaue Entstehungszeit und die ehemalige Funktion des Hohlraums

Nach Absprache mit der Landesdenkmalpflege sollen die Grabungen im Herbst fortgesetzt werden. Die Erkenntnisse und Fragestellungen sollen in einer die Grabung begleitenden Ausstellung vorgestellt werden. Die Ausstellung werde die Jubiläumsausstellung zu 700 Jahre Stadtgeschichte Steinheim ergänzen und den Anstoß geben, die Abteilung Burggeschichte neu zu präsentieren. Der städtische Eigenbetrieb Immobilien und Baumanagement erarbeitet derzeit zusammen mit dem Fachbereich Kultur einen Plan für die zukünftige Gestaltung des Zwingers. Die aufgedeckten Mauern sollen in einem „Archäologischen Fenster“ dauerhaft zu sehen sein.

Einen ersten Blick auf die Grabung können interessierte Besucher am Tag des offenen Denkmals am Sonntag, 11. September, werfen. Um 15 Uhr beginnt im Schlosshof Steinheim eine Führung entlang der Stadtbefestigung mit dem Heimat- und Geschichtsverein. Die Teilnahme ist kostenlos, um Spenden wird gebeten. Interessierte können sich einen weiteren Termin vormerken: Die Leiterin der Grabung, Pia Rudolf, berichtet am 22. Oktober um 15 Uhr im Marstall von Schloss Steinheim in einem Vortrag über die archäologischen Ergebnisse
(Rhein-Main „Extra Tipp“, 10. September 2022).

 

 

Ehemalige Schloßkapelle:

Am 20. Mai 1431 hatte der Erzbischof Konrad von Mainz die Pfarrei Lämmerspiel zur Schloßkapelle in Steinheim einverleibt. In dieser Kapelle befand sich ein Altar zu Ehren der Heiligen Bartholomäus, Georg, Barbara, Katharina und Dorothea. Der Schloßkaplan oder Beneficiat war verpflichtet, in jeder Woche hier drei heilige Messen zu lesen: „Eine zu Ehren der Allerheiligsten, Ungetheilten Dreifaltigkeit, die zweite zu Ehren der unbefleckten Jungfrau Maria und die dritte zum Lobe Gottes und zu unserem und unserer Vorgänger und Nachfolger Heil.“

Der Schloßkaplan mußte ständig und persönlich im Schlosse wohnen. Falls er für einen Monat Urlaub nahm, mußte er auf die Einkünfte des Schloßbeneficiums verzichten und sie einem Stellvertreter für diese Zeit zukommen lassen. Da der Schloßkaplan zugleich Pfarrer von Lämmerspiel war, erhielt er den größten Teil seiner Einkünfte aus Lämmerspiel. So bekam er aus dem Tabakzehnten zu Lämmerspiel jährlich 41 Gulden, an Korn aus dem Zehnten von Lämmerspiel 45 Malter und aus dem halben Zehnten von Obertshausen 25 Malter Korn. Außerdem bezog er aus dem Dietesheimer Zehnten jährlich 11 Malter Korn und aus dem Erbbestandsgut in Weißkirchen jährlich acht Malter Korn. Davon hatte er seinen Stellvertreter in Lämmerspiel zu besolden und auch dem Pfarrer von Steinheim 17 Gulden zu gewähren. Der Amtskeller von Steinheim hatte dem Beneficiaten einen der Jahreszeit entsprechenden freien Tisch zu verabreichen, seit 1760 erhielt er aus den Kellerei-Einkünften jährlich 100 Gulden an Kostgeld.

Bis zum sechzehnten Jahrhundert hat sich das kurfürstliche Hoflager alljährlich eine geraume Zeit in Steinheim befunden, wobei die Kapelle für den Hofgottesdienst diente. Als am Ende des 17. und am Anfang des 18. Jahrhunderts die Kurfürsten seltener nach Steinheim kamen, war auch bald die Stiftung des Erzbischofs Konrad vergessen worden, und man hatte die Einkünfte, des Schloßkaplans dem Stadtkaplan von Steinheim gegeben. Da erneuerte im Jahre 1731 der Kurfürst Franz Ludwig ( Pfalzgraf von Neuburg) die Stiftung vorn Jahre 1431 und befahl, „daß fürohin zu ewigen Zeithen ein zeithlicher Pfarrer zu Lämmerspiel gehalten sein sollte, wöchentlich drei heilige Messen in unserer Schloßkapelle allda zu lesen.“

Der Keller von Steinheim, Johann Friedrich Edel, erhielt deshalb den Befehl, dem Pfarrer von Lämmerspiel und nicht mehr dem Stadtkaplan von Steinheim die Besoldung zu verabfolgen.

Als man im Jahre 1784 sich mit dem Gedanken trug, das Schloß umzubauen, sollte die Schloßkapelle der Steinheimer Pfarrkirche einverleibt werden. Im Jahre 1794 wurde die Kapelle aufgehoben und mit preußischen kranken Soldaten belegt. Die Paramente und Gerätschaften wurden dem damaligen Pfarrer Kuhn von Steinheim übergeben. Ein rotgeblümtes Meßgewand mit Zubehör aus der Schloßkapelle befindet sich heute noch bei den Paramenten.

In dem für den Prinzen Georg hergestellten Schlosse wurde für dessen Gemahlin, die katholisch war, ein Kapellenzimmer im oberen Stock eingerichtet. Hinter einer großen Flügeltür befand sich ein Altar zu Ehren des heiligen Bonifatius und der Märtyrer mit Reliquien des heiligen Viktor und des heiligen Benedikt.

Ein Teil der Einkünfte der alten Schloßkapelle im Betrage von 828 Gulden wurden 1806 dem Weihbischof Heimes von Mainz übertragen. Bereits 1803 beim Übergang von Steinheim an Hessen-Darmstadt hatte der damalige Landgraf Ludwig X. beabsichtigt, dem Stadtpfarrer von Darmstadt diesen Betrag als Grundstock zur Pfarrbesoldung zu übertragen. Im Jahre 1831 nahm der Bischof Josef Vitus Burg von Mainz endgültig diese Neuverleihung vor. Der Pfarrer von Lämmerspiel erhielt aus dem alten Steinheimer Schloßbeneficium pro Jahr 306 Gulden. Noch lange lasen der Stadtpfarrer von Darmstadt wöchentlich zwei und der Pfarrer von Lämmerspiel wöchentlich eine heilige Messe für die Stifter dieses Schloßbeneficiums, besonders für den Kurfürsten und Erzbischof von Daun, der im Jahre 1431 die Schloßkapelle und ihre Einkünfte gestiftet hatte.

 

Schützenhaus:

Am Marstall vorbei geht man durch die Preßmauer und rechts um das Schloß herum. Im Winkel der Mauer steht noch ein alter Gedenkstein (Grabstein). Man kommt in den „Schießhaag“.

Dieser war früher viel tiefer als heute und wurde auch Halsgraben oder „Haugk“ genannt. Hier hielt die Steinheimer Schützengilde seit altersher ihre Schießübungen ab. Sie hatte um 1680 ein Schützenhaus daselbst gebaut. Der religiöse Charakter der Schützengilde zeigte sich in der Beteiligung bei der Fronleichnamsprozession, bei der die Schützen in Uniform und mit Gewehren teilnahmen. Dafür wurden in jedem Jahr in Hanau bei einem Hutmacher 24 Schützenhüte um 32 Gulden geliehen. Von den Schützen erhielt an diesem Tage jeder ein halbes Maß Wein. Bei einem Preisschießen in Großauheim im Jahre 1776 gewann die Steinheimer Schützengilde als ersten Preis einen Ochsen. Vom Schießhaag aus ist auch deutlich zu sehen, daß der untere Teil des Schloßturms viereckig ist.

 

Das Schloß ist auch heute im Grunde noch eine Ruine. Ein ruinenhafter Rest dicht an dem Brendel'schen Treppenturm mahnt an den Abbruch des alten prächtigen Schlosses. Der Nordbau schaut mit seinem altersgrauen Basalt hinab in den tiefen Graben, den späteren Schießhag. Neben diesem altersschwachen, leichtvernarbten Bau reckt sich der erneuerte Mittelbau mit einem gewissen Stolz in die Höhe. Ein trauriger, mit Efeu umrankter Schutthaufen östlich und südlich des Schlosses erinnert uns an den Abbruch des Ostflügels, der oberen Stockwerke und des Amtshauses nach dem Jahre 1788.

 

Museum

Seit 1938 wird das Schloß als Museum für Vor- und Frühgeschichte und Heimatmuseum genutzt.

Nach derSanierung Anfang der achtziger Jahre wurde 1986 das Museum Schloß Steinheim er­öffnet. Der Rundgang durch das Museum mit seinen Abteilungen „Regionale Vor- und Frühgeschichte“ und „Ortsgeschichte Steinheim“ vermittelt auch einen Eindruck von der Baugeschichte des Schlosses.

 

 

Die vor- und frühgeschichtliche Abteilung zeigt Fund aus der Region zwischen Frankfurt und Gelnhausen, Nidderau und Hanau-Steinheim und umfaßt den Zeitraum Altsteinzeit - Frühmittelalter (etwa 300.000 vCh.- 800 nCh.). Die landschaftliche Vielfalt von Wetterau, Mainebene und Kinzigtal spiegelt sich auch im Reichtum der Funde. Besonders hervor treten die Urnenfelderzeit (1200 - 800 vCh) und die Römische Kaiserzeit (60 - 260 nCh)

Die Präsentation versucht über die Vorstellung der Funde und Fundorte hinaus, Einblicke zu gewähren in die Lebens- und Arbeitswelten der vergangenen Epochen und konzentriert sich für die Zeit vor Christi Geburt auf die technologische und wirtschaftliche Entwicklung. Inszenierungen, Dioramen und die Filme „Woher stammen Adam und Eva?“ sowie „Unter römischer Herrschaft“ runden die Ausstellung zu einem informativen, kritischen und lebendigen Ganzen ab.

Glanzstück der Schausammlung ist das zweiseitige, einstmals drehbar angebrachte Mithras-Kult­relief aus Rückingen (Erlensee). Die Vorderseite des Reliefs zeigt die übliche Tötung des Stiers durch Mithras. Bemerkenswert ist die Rückseite. Sie bildet unten den Sonnengott (Sol) und Mithras ab. Beide ruhen wie zu einem Gastmahl auf einem Speisesofa (kline); der Tisch vor ihnen ist mit der abgezogenen Haut des Stieres bedeckt. Rechts und links stehen Diener, die kleiner dargestellt sind. Der obere Teil des Reliefs vermittelt den Eindruck einer felsigen Landschaft, in der Mithras als reitender Jäger dahersprengt. Das „Mithräum“ befindet sich neuerdings in einem Keller des Schlosses (von außen zugänglich).

Die Darstellung des fränkischen Siedlungswesens stellt den Übergang von der vor- und frühgeschichtlichen zur ortsgeschichtlichen Abteilung dar. Die Endung „-heim“ selbst deutet auf eine fränkische Gründung Steinheims hin. Hier wird die Geschichte der Burg Steinheim anhand historischer und archäologischer Zeugnisse, die Entwicklung der Stadt seit der Stadtrechtsverleihung 1320, ihre Kirchengeschichte mit Beispielen sakraler Kunst und die Industrialisierung des Ortes im 19. Jh. am Beispiel der Tabakverarbeitung und des Druckgewerbes erläutert. Ein Kernstück der Präsentation ist das Stadtmodell, das Steinheim um 1560 zeigt.

Geschichte muß nicht langweilig sein. „Echt cool“, so ein jugendlicher Besucher, wird sie, wenn neben einem theoretischen erschlossen wird.

 

Im Steinheimer Schloß findet man Zeugnisse der Vergangenheit der einstigen kleinen Residenz, von einer Säule mit schönem Kapitell, wahrscheinlich aus dem 13. Jahrhundert, über eine bemerkenswerte Figur der Anna Selbdritt (datiert 1512) und den Arbeiten der Zünfte bis hin zu dem Wirtschaftszweig, der im. 19. Jahrhundert das Leben der Steinheimer bestimmte: der Zigarrenherstellung.

Das Museum Schloß Steinheim versucht auch ein praktischer Zugang zur Vergangenheit zu erschließen, indem es für Besucher aller Altersstufen Veranstaltungen anbietet, wie Kochen ohne Kochtopf, Brotbacken im Lehmofen, Kochen nach römischen Rezepten, Leben und Arbeiten in der Steinzeit und Textiltechniken. Einblicke in die Vor- und Frühgeschichte - zum Zuschauen und Mitmachen - gewährt außerdem der Aktionstag, der jeweils unter einem Motto steht, z.B. „Kleider machen Leute - Leute machen Kleider“.

Schloß Steinheim bildet die Kulisse für das Bundesäppelwoifest, Bauern- und Weihnachtsmärkte, Schloßhofkonzerte und das Altstadtfest zum Johannisfeuer, Feste und Veranstaltungen, die jährlich Tausende von Gästen nach Steinheim locken. Im Marstall Schloß Steinheim finden regelmäßig historische und archäologische Ausstellungen sowie Ausstellungen von Künstlern aus der Region statt.

Auf Bildschirmen kann der Besucher nun die Fundstelle ehemaliger römischer Sied­lungen am Limes entlang antippen, der die römischen Legionäre auf dem heutigen Kreisgebiet von Nidderau, an Hanau vorbei bis Großkrotzenburg vor Widersachern schützen sollte. Auf dem Monitor erschei­nen Texte und Bilder. Der Fundort wird zudem auf einer monochromen Karte ange­zeigt. Das jeweilige Gebiet ist in einem Ausschnitt zu sehen und läßt sich vergrößern. Darüber hinaus kann per Zeitreise die Entwicklung des Areals über mehr als 2000 Jahre verfolgt werden.

Der Chef­archäologe des Hanauer Geschichtsver­eins, Peter Jüngling, fordert allerdings eine Ausstellungsfläche von 1000 Quadratmeter e für römi­sche Geschichte in und um Hanau sowie 200 Quadratmeter für die Numismatik der Mün­zen aus jener Zeit.

Museum Schloß Steinheim, 63456 Hanau-Steinheim, Schloßstraße

Öffnungszeiten: Donnerstag - Sonntag 10 - 12 und 14 - 17 Uhr

Tel./Fax: (06181) 20 20 9/25 79 39 (Verwaltung der Museen der Stadt Hanau) oder 65 97 01 (Museum Schloß Steinheim). . Informationen und Anmeldungen zu Veranstaltungen des Museums erteilt die städtische Museenverwaltung. Turmbesteigung: 1. März - 30. November

 

Mainseite:

Wenn man um das Schloß herumgeht, kommt man unten zur sogenannten „roten Mauer“. Diese ist eine Schutzwehr gegen Wasser und Eis. An dieser Mauer befindet sich heute die Hochwassermarke. In frühester Zeit war an dieser Stelle eine Schutzwehr aus aufeinandergeschichteten Baumstämmen, die aus der Bieberer Mark geliefert werden mußten. Die Bieber-Märker hatten auch das Holz für den Hag oder Zaun zu liefern, der außerhalb des Grabens lief und auf der Nordseite bis zum Main herunterreichte. Neben der Einfriedigung durch den Palisadenzaun, dessen Reste bei einem Geschützstand auf dem Merianstich noch zu sehen sind, war an dieser Stelle auch noch Kleingebüsch als Hindernis für den Feind angepflanzt. Erzbischof Daniel ließ an Stelle der Schutzwehr aus Baumstämmen eine Steinmauer aus rotem Sandstein, die „rote Mauer“ errichten.

Diese und der Schloßgraben wurden geschützt von einem überdachten Turm an der unteren Mainmauer und durch einen zweiten überdachten Turm an der Nordostecke der Zwingermauer. Der Weg führt weiter am Main entlang. Die Mauer war früher bedeutend höher. Im Jahre 1661 war ein Teil von ihr durch Hochwasser umgeworfen worden. Die Maurer Paulus Petz zu Niedersteinheim und Rolf Reydelweidt aus Steinheim führten sie wieder auf.

Die Höhe ausschließlich des Fundaments betrug 21 Schuh. Das Fundament war vier Schuh hoch und über der Erde des Gartens ragte die Mauer 17 Schuh (also 5,40 Meter) in die Höhe. Die Dicke der Mauer betrug 1,20 Meter.

Am Ende der Mainmauer biegt man noch einmal rechts herum in die Mainstraße und wirft einen Blick durch ein kleines Türchen in den Schloßpark. Rechts steht der sogenannte „weiße Turm“, der zum Mauerschutz an der Mainseite gehörte. Ein gotischer Taufstein und ein fein aufgeführtes romanisches Kapitell aus der ehemaligen romanischen Burg Steinheim sind allerdings nicht mehr zu betrachten. Noch zu sehen ist die alte Zwingermauer, von der 1670 nach Mainz gemeldet wurde, „daß die bei gewesener Kriegszeit durch starkes großes Schießen ruinirte Schloßzwingermauer ganz baufällig und daselbsten wieder zu reparieren“. Im Garten befinden sich ein kleiner Kräutergarten und ein Brunnen. Man geht dann noch ein Stück die Mainstraße hoch in Richtung Maintor, aber vor dem Tor dann links die Treppen hoch. Man geht entlang der Stadtmauer bis zum ehemaligen Mühltor.

 

Die Mühltorbefestigung:

An der Hofbrauhaus-Terrasse stehen südlich zwei Türme heraus, die noch übriggeblieben sind von der alten Süd- oder Mühltorbefestigung. Das Mühltor hat den Namen von zwei Mühlen an dem Mühlbach, heute Hellenbach. Diese Mühlen waren im 16. Jahrhundert eingegangen. An deren Stelle war 1550 eine Bannmühle getreten, in der die Bewohner von Ober- und Niedersteinheim. Klein-Auheim und Hainstadt frei mahlen konnten. Die vier Gemeinden hatten dafür an den kürfürstlichen Keller neun Malter Korn zu liefern. Vor 1550 führte die Hauptverkehrs- oder Geleitstraße, die von Nürnberg nach Frankfurt ging, nicht wie heute den Hainberg hinauf, sondern zwischen den beiden Türmen durch das Mühltor hindurch, auf dem sich heute der Brauhausschild befindet.

Die Doppeltoranlage des Mühltores ist in seiner heutigen Form um 1500 entstanden: Die Türme wurden errichtet und mit dem Mühltor durch parallele Mauern verbunden, zwischen denen sich der Verkehr abspielte. Wegen der Unsicherheit der Straßen durch die Raubritter stellte ein Teil der mittelalterlichen Fürsten den Wagen der Kaufleute und allen sonstigen Reisenden ein Geleit von mehreren Reisigen zur Verfügung. In unserer Gegend übernahmen den Schutz die Kurfürsten von Mainz. Aschaffenburger Reisige geleiteten die Wagenzüge der Kaufleute bis an die Stein­heimer Brücke vor dem Hainberg. Dann übernahmen Steinheimer Reisige das Geleite bis an die Oberräder Schlagbäume, wo sie von Reisigen der freien Stadt Frankfurt abgelöst wurden. Doch schon 1550 war diese Straße durch das Mühltor gesperrt, und eine neue Straße wurde den Hain­berg hinaufgeführt.

Die beiden Tore am Mühltor wurden vermauert, und nun vollzog sich der Verkehr außerhalb der Stadtmauer durch die heutige Vorstadt. Das Gelände vor der Südmauer ist heute völlig ausgebrochen, und die Zwingermauer vor der heute noch erhaltenen Hauptmauer um 1830 abgebrochen worden. Durch eine Öffnung für Fußgänger ist das Mühltor heute wieder begehbar. Durch das Tor kommt man in den Hof der Villa Stokkum. Von dort geht man nach links und kommt wieder zurück zum Parkplatz.

 

Hanauer Hof (Ludwigstraße, die Durchgangsstraße):

Einstiger „Hanauer Hof“ in Steinheim, Ludwigstraße 92, heute genutzt als Stadtteilladen. Das Gebäude wurde 1881 von Paul Stahl als „Hanauer Hof“ erbaut. Stahl war Zigarrenfabrikant und Gastwirt und in den Jahren 1868 bis 1885 sowie 1886 bis 1892 Bürgermeister von Steinheim. Im Jahre 1921 erwarb Pfarrer Dory das Haus für die Pfarrgemeinde Sankt Nikolaus. In der Nacht vom 6. zum 7. Januar 1945 wurde das Gebäude von Brandbomben getroffen und brannte aus. Die Pfarrgemeinde St. Nikolaus tauschte daraufhin das Haus mit der Stadt Steinheim gegen das Schwesternhaus.

 

Katholische Kirche „ Maria Hilfe der Christen“ (Albanusstraße 10):

Die neue Kirche liegt westlich der Darmstädter Straße. Sie hat verschiedene Namen. An sich heißt sie „Marienkirche“ oder „Maria Hilfe der Christen“, aber auch der Name der alten Kirche „St. Johann“ hängt noch an ihr. Der Grundstein der Marienkirche wurde 1933 am Rande eines ehemaligen Basaltsteinbruchs gelegt. Die herrschenden Nationalsozialisten taten vieles, um den Bau zu verhindern. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges sorgte für große Schwierigkeiten bei der Materialbeschaffung. So ist denn auch der Name „Maria Hilfe der Christen“, der 1940 geweihten Kirche wie ein Aufschrei der Gemeinde zu verstehen.

Das Gotteshaus wurde 1933 - 1935 im Rohbau erstellt. Da die finanziellen Mittel aufgebraucht waren, wurde der Weiterbau unterbrochen und im Jahre 1939 - 1940 dank der Opferfreudigkeit der Gläubigen fertiggestellt, so daß am 20. Oktober 1940, mitten im Kriege, die Weihe der Kirche stattfand. Das Gotteshaus gliedert sich in den Chor, in das hochgezogene Mittelschiff und zwei niedrige Seitenschiffe mit Pultdächern. Am nördlichen Seiteneingang steht der Turm.

Am Haupteingang, der aus drei in Quadersteinen aufgebauten Bögen und einer Vorhalle besteht, tritt man durch eine Mitteltür und zwei Seitentüren in den Innenraum. Das Licht flutet durch die hohen rundbogigen Fenster des Mittelschiffs in den Innenraum. Die gewölbte kassettenartige Rüsternholzdecke weitet den Raum. Über mehrere Stufen gelangt man zum Hochaltar. Links steht der Seitenaltar mit der ältesten, ursprünglich Steinheimer Marienfigur von etwa 1460, der der Gottesmutter geweiht ist, rechts der St. Josefsaltar mit einer modernen Figur des hl. Josef als Zimmermann. An der Westwand befinden sich zwei Nischen. Die eine ist den Gefallenen der zwei Weltkriege geweiht, in der anderen hat der Erbauer der Kirche, Pfarrer Kost, seine letzte Ruhestätte gefunden.

Um die südliche Nische gruppieren sich die Standbilder des hl. Antonius mit dem Jesuskinde, des Bruder Konrad und des hl. Sebastian, um die nördliche Nische der hl. Johannes der Täufer, der Schutzpatron der Pfarrei, die hl. Theresia und die hl. Hildegard. Innerhalb der nördlichen Nische befindet sich die figürliche Darstellung „Johannes am Herzen Jesu“. Alle Figuren sowie die im seitlichen Vorraum stehenden „Mutter Anna“ und „St. Elisabeth“ und der im Turm befindliche „St. Martin“ stammen von den bekannten Steinheimer Bildhauern Heinrich Wohlfahrt und Peter Busch. Innerhalb der südlichen Nische steht eines der ältesten Steinheimer Kulturdenkmäler. Es ist eine Pietà aus dem 15. Jahrhundert, die früher in der Pestkapelle stand und die die Schmerzensmutter mit dem toten Sohn auf dem Schoß darstellt. Neben dem St. Josefsaltar unterhalb des Chores der Kirche steht ein Taufbecken mit der Jahreszahl 1605, das sich früher in der Gedächtniskirche befand.

Eine Madonna mit Kind aus dem 15. Jahrhundert und weitere acht überlebensgroße Heiligenfiguren nehmen in der Kirche ganz unorthodoxe Plätze ein. Auch in den Fenstern und insbesondere am Sakramentsaltar werden biblische Szenen dargestellt. Die Orgel mit ihren 46 Registern ist ein Werk der Firma Oberlinger. Wegen der guten Akustik im Kirchenraum wird sie von den Organisten der näheren Umgebung gerne gespielt.

Durch den Turmbau und die Anschaffung von sieben Glocken wurde die Kirche 1959/60 vollendet. Im Jahre 2000 mußte eine Gesamtrenovierung durchgeführt werden. Die polnische Künstlerin Wanda Stokwisz hat mit 114 Quadratmetern wohl das größte lkonenbild der westlichen Kirche geschaffen. Im Triumphbogen, der den Chorraum öffnet, hat sie auf weiteren 169 Quadratmetern zahlreiche symbolische Darstellungen aus dem Alten und Neuen Testament gemalt.

Sehenswert sind auch die mächtigen Basalt-Elemente (Zelebrationsaltar, Sedilien, Verkündigungsambo), die der italienische Bildhauer Gabriele Renzullo schuf, denn sie verleihen dem Chorraum eine große Ruhe.

Am 17. März 2002 berichtete Pfarrer Thomas Catta in der Marienkirche St. Johann Baptist in Hanau-Steinheim über die wahrlich lange Grundsanierung und Neugestaltung des großen Gotteshauses. Dann weihte Bischof Karl Kardinal Lehmann bei einem Pontifikalamt den neuen Altar, in den er zuvor eine Reliquie des Seligen Adolph Kolping versenkt hatte. Rund achteinhalb Jahre hat es gedauert von der ersten Sitzung eines eigens gegründeten Ausschusses bis zur Vollendung und Weihe. Die Wände sind saniert und Heizung, Fenster Lampen und Fußboden erneuert worden.

Was aber die ganz andere und höchst eigene Aura ergibt, ist das mehrteilige und eigentlich nur in der Frontalschau komplett wirkende Monumentalgemälde, an dem die polnische Künstlerin Wan­da Stokwisz aus Darmstadt gut ein Jahr lang gearbeitet hat. Und erst auf den zweiten Blick erschließt sich der große Reiz des Gesamtensembles mit den schlicht - ja geradezu bescheiden - erscheinenden Werken des italienischen Steinbildhauers Gabriele Renzullo: Altar, Ambo, Sidelien (Priestersitz mit vier Nebensitzen) und Osterkerzenständer, alles aus Basalt im einheitlichen Stil. Wie ein Hauch aus ganz fernen Jahrhunderten ist die erste optische Wirkung, die von dem im Jahre 2001 neugeschaffenen gewaltigen Wandbild ausgeht. Es füllt die ganze Apsis des Chores mit rahmender Fortsetzung im Triumphbogen mit flammenden Farben in byzantinisch anmutendem Stil. Die Zentralfigur - der thronende Christus (Pantokrator) - beherrscht den gesamten Raum, ihm zur Linken steht Maria (nach der die Kirche benannt ist), zur Rechten Johannes der Täufer (der Pfarrpatron).

Die neue künstlerische Gestaltung der Marienkirche macht deutlich, daß eine Pfarrkirche nicht nüchtern und funktional auf den liturgischen Gebrauch reduziert werden darf, sondern ein Ort der Festlichkeit, der Feier der Liturgie, ein Ort des Gebetes und der Andacht, ein Ort der Sammlung und Versammlung, ein Ort des Dankes und Lobpreises ist und durch eine festliche Gestaltung eine geistige Dimension erreichen soll, die über die Alltäglichkeit und Vordergründigkeit des privaten Tuns hinausweist. Durch ihre neue Farbigkeit läßt die Marienkirche den Kirchenbesucher das Evangelium mit seinen Sinnen erfahren, ihre religiösen Aussagen sind eine Art Katechese (Unterweisung) aus Stein und Farben.

Das Herz der Kirche, die zentrale Mitte der Pfarrgemeinde, ist der Altar. Um dies zu verdeutlichen, sei der bisher bewegliche Übergangsaltar durch einen massiven aus Basaltstein ersetzt worden wie ein häuslicher Tisch und der Ort, an dem sich die Gemeinde im übertragenen Sinne festhalten kann und verweilen darf. Er stehe im Mittelpunkt der Eucharistiefeier, aber auch außerhalb der Messe sei der Altar ein Symbol für Christus, die erhabene Stätte in der Kirche schlechthin, weil sich dort das Geschehen von Gründonnerstag Karfreitag und Ostern immer wieder vergegenwärtige. Deshalb sei in der Konzeption der neuen Altarinsel in unmittelbarer Nähe zum Altar von Gabriele Renzulk ein Basaltsockel für die Osterkerze geschaffen worden.

Gegenüber steht der Ambo, sozusagen der Tisch des Wortes, der aufs engste mit dem Altar als dem Tisch des Brotes zusammengehöre und deshalb auch aus dem gleichen Material sei.

Die Darstellungen auf Apsis und Triumphbogen sind der aus dem Orient stammenden Ikonenmalerei verwandt. Der Orient liebe die Imagination, das Geheimnis sei wichtig, nicht dessen Enthüllung. Aus dieser Geisteshaltung entstehe die Ikone, wie ein Fenster zur Ewigkeit: Diesem Auftrag und Erbe weiß sich die Künstlerin Wanda Stokwisz verpflichtet, die ihre Arbeit, ihre Malerei stets aus der Meditation und dem Gebet heraus gemacht hat und ihre Bilder als Ikonen versteht.

Im Triumphbogen schweben zwei Seraphim (brennende Flügelwesen). Die Außenseite trägt zentral eine Art Gottesauge, die Seitenflächen korrespondieren über Bibeltexte mit den Darstellungen von Maria und Johannes dem Täufer in der Apsis, wobei die Textlettern mit unglaublicher Raffinesse zwischen Schwarz, Weiß, Rot und Gold wechseln - wie Bruchstücke aus verschiedenen Räumen, Fragmente sich scheinbar regellos abwechselnder Dimensionen. Und alles - Figuren, Symbole, Texte - schwebend auf einem Urgrund aus rotem Gewölke und Gewoge.

Ein Jahr hat die Polin an diesem monumentalen Werk gearbeitet. In hartem Kontrast dazu steht das Ensemble des Steinbildhauers Gabriele Renzullo: Altar, Ambo, Priestersitze, Madonnenstele und Osterleuchte aus Basalt. Wände und Fenster erstrahlen neu, wie auch der Fußboden: Juraplatten in den Gängen, Industrieparkett unter den Bänken. Über allem schwebend zwei große perfekt harmonierende Radleuchten.

 

Pestkapelle und Heiligenhaus:

Wenn man die Darmstädter Straße hinunter fährt und rechts in die Zeppelinstraße einbiegt, kommt man zum Friedhof, vor dem die Pestkapelle steht. Die erste Urbanus-Kapelle wurde in einem alten Pfarrbuch schon um 1520 erwähnt. Der heilige Urban, der 18. Papst, um 230 gestorben, wurde als Patron der Weinfrüchte verehrt und wird häufig mit einer Traube in der Hand dargestellt. Er wurde in früheren Jahrhunderten auch in unserer Gegend, in der viel Wein erzeugt wurde, als Patron der Weinfrüchte verehrt. Der hl. Urban wurde auch für das Gedeihen der Feldfrüchte, für günstiges Wetter und gegen Hagel, Blitz und Frost angerufen.

Um seine Fürbitte bei Gott zu erflehen, gingen schon lange Zeit vor dem Jahre 1500 die Stein­heimer Bittprozessionen, wie auch heute noch, nach dieser ältesten Urbanuskapelle. Die alte Pestkapelle wurde 1754 durch eine neue Kapelle ersetzt. Der Friedhof wurde erst 1874 eröffnet. Die neue Friedhofskapelle wurde 1907 durch Herrn Pfarrer Malsi erbaut und heißt weiter „Urbanuskapelle“ bzw. „Pestkapelle“.

In der Kapelle ist noch die Darstellung aus der ersten Kapelle zu sehen. Damals stellte frommer Sinn die Schmerzensmutter mit dem toten Sohn auf dem Schoß (Pietà) auf, die auch in der heutigen Kapelle noch einen tiefen Eindruck auf den Beschauer und den Beter macht. Ergreifend ist das Mitgefühl heischende Antlitz des Heilands. Die Mutter des Herrn hält und zeigt voll verhaltenem Weh, mit tränenumflorten Augen, das Dulderantlitz ihres göttlichen Sohnes. Mit der linken Hand weist sie die Beter auf ihr schmerzdurchbohrtes Herz.

Rechts von der Schmerzensmutter steht der hl. Rochus. Er wird zu den 14 Nothelfern gezählt. Er hatte sein Vermögen den Armen geschenkt und machte eine Wallfahrt nach Rom, als dort die Pest herrschte. Um seine Nächstenliebe zu betätigen, diente er als Krankenwärter, bis er selbst an der Pest erkrankte. Aber er gesundete wieder. Später war er in einen Kerker eingesperrt worden, in dem er, zweiunddreißigjährig, im Jahre 1327 starb. Er wurde als Pestpatron verehrt.

Als im Jahre 1530 unter Pfarrer de Indagine auch in Steinheim die Pest wütete, wurde wahrscheinlich diese Figur des heiligen Rochus in der von nun an Pestkapelle genannten Kapelle aufgestellt. Unsere Figur zeigt einen Jüngling mit Stab und Brotbeutel. Der bis über die Knie herabreichende Oberrock, der durch einen Gürtel zusammengehalten wird, ist über dem rechten Bein zurückgeschlagen. Man sieht hier eine tiefe und breite eiternde Pestbeule. Links von der Schmerzensmutter über dem rechten Seitenaltar steht auf einem neuen Postament der hl. Sebastian (gestorben 288 als Märtyrer unter Diokletian) aus der Zeit um 1480. Er ist an einen Baumstumpf gebunden und von Pfeilen durchbohrt worden.

Er wurde als Patron der Armbrustschützen verehrt. Es ist nicht ausgeschlossen. daß diese Figur zuerst im Sebastiansaltar der Pfarrkirche stand und von Erzbischof Diether den Steinheimer Schützen, die so mannhaft ihre Heimat gegen den gegnerischen Erzbischof Adolf von Nassau verteidigt hatten, gestiftet worden war. Das Standbild ist um 1460 entstanden. Aus gotischer Zeit befindet sich noch eine Heilandsfigur in der Kapelle. Der Herr trägt die Dornenkrone. Er zeigt die Wundmale seines Herzens und seiner linken Hand. In den furchtbaren Zeiten von Pest und Krieg, von Not und Tod. haben viele Tausende Steinheimer Trost und Stärkung in dieser alten Pestkapelle erfahren.

Außer den gotischen Figuren befinden sich hier auch noch Barockstatuen, die einst in kleinen Nischen an der alten Kanzel in der Pfarrkirche angebracht waren. Sie sind um 1700 entstanden. An der Vorderseite der Kanzel stand das Heilandsstandbild. Das Haupt ist von goldenen Strahlen umleuchtet, die rechte Hand lehrend und mahnend erhoben. Neben Christus stand die Gottesmutter. Links und rechts von diesen Figuren folgen die vier Evangelisten mit ihren Sinnbildern: Der hl. Johannes mit dem Adler, der hl. Lukas mit dem Stier, der hl. Markus mit dem Engel, der dem Heiligen ein Tintenfaß hinhält.

Noch eine weitere Barockfigur, der hl. Johannes von Nepomuk, scheint im 18. Jahrhundert von den Schiffern in die Kapelle gestiftet worden zu sein, denn dieser Heilige wurde besonders von den Schiffern und Flößern, sowie gegen Wassergefahr verehrt.

Vor der Kapelle ist noch ein altes Steinkreuz zu sehen. Es handelt sich offensichtlich um ein Sühnekreuz. Wahrscheinlich hat sich einmal an dieser Stelle ein Unglücksfall oder ein Mord ereignet. Man hat solche Kreuze früher da aufgestellt, wo ein Unglück geschah oder sich ein Verbrechen ereignete. Die Legende erzählt von einem Gespann, das hier untergegangen sein soll. Auf diesem Steinheimer Kreuz ist kein Zeichen zu entdecken. Auf vielen Sühnekreuzen gibt es Zeichen, die man früher für Mordwerkzeuge hielt, mit deren Hilfe das Verbrechen ausgeübt wurde. Die neueste Forschung ist der Auffassung, daß es sich eher um Zunftzeichen handelt (Sense, Sichel etc.). Das Alter des Steinheimer Sühnekreuzes ist nicht bekannt. Zwar wurden auch noch im letzten Jahrhundert solche Kreuze aufgestellt, doch wird dieses Kreuz älter eingeschätzt. Wenn es aus dem letzten Jahrhundert stammen würde, hätte man wahrscheinlich in der Überlieferung noch etwas davon gehört.

Von der „Hellenhütte“, dem „Heiligenhaus“, am Ortsausgang von Steinheim an der Darmstädter Straße ist heute nichts mehr zu sehen.

 

Evangelische Gemeinde (Ludwigstraße)::

Die evangelische Gemeinde von Steinheim hat rund 3.100 Mitglieder gegenüber zwei katholischen Gemeinden gleicher Größe und befindet sich folglich in der Diaspora. Ihre Tradition setzte eigentlich erst 1803 ein, als das Erzbistum Mainz, zu dem Steinheim gehört, seine Macht verlor und die Landgrafschaft Hessen-Darmstadt die Macht übernahm. Anfangs gingen die evangelischen Steinheimer zur Kirche nach Seligenstadt 15 Kilometer zu Fuß mainaufwärts, fuhren mit dem Pferdewagen, später mit der Eisenbahn - übrigens auch ins benachbarte Klein-Auheim. Um 1840 wurde beim Landesherrn der Antrag gestellt, wenigstens alle vierzehn Tage an Ort und Stelle Gottesdienst halten zu dürfen, was auch genehmigt wurde - in einem Saal des Steinheimer Schlosses. Ab 1884 genehmigte der Großherzog wöchentlichen Gottesdienst.

Die evangelischen Christen fühlten sich im Aufwind, gründeten 1890 einen Kirchen-Bauverein. Und als ein gutbetuchter Fabrikant namens Rousselle auch noch ein Grundstück stiftete, war der Bau des Gotteshauses nur noch eine Frage der Finanzierung. Die gelang dann mit Hilfe des Gustav-Adolf-Werkes. Im Jahre 1902 konnte die Kirche geweiht werden. Etliche Jahre mußte noch ohne Instrumentalbegleitung gesungen werden. Im Jahre 1910 indes hatte Forster & Nicolaus aus Lieh auch eine Orgel gebaut.

Was Neugotik ist, das ist nach Meinung von Architektur-Experten exemplarisch an und in der evangelischen Backsteinkirche Steinheims zu sehen und zu studieren. Das zierliche und wohlproportionierte Kirchlein ist auch von innen durchaus sehenswert, besonders nach der Renovierung anläßlich des 100. Jubiläums, bei der etliches an „Wiedergutmachung“ gelaufen ist. Denn was ein halbes Jahrhundert zuvor bei der letzten Renovierung im Jahr 1952 alles „verschwunden“ war, ist seither schon öfter bedauert worden, zunehmend in jüngster Zeit. Was wiederum mit einem zeitgeistbedingten Geschmackswandel zu tun hat. So bedauerte etwa vor drei Jahren - Anlaß war der Tag des offenen Denkmals am 9. September 1999 gewesen - Pfarrer Jens George, daß 1966 schließlich auch die ursprüngliche Ausstattung „modernisiert“ worden war, Kanzel, Altar und Taufbecken. Als Vorlage zur originalgetreuen Rekonstruktion des Kircheninneren diente eine alte Postkarte. Ein Restaurator habe dann die passenden Farben ausgesucht.

 

Katholische Kirche „St. Peter und Paul“ in Hanau-Klein-Auheim:

Bereits 1255 wird in Klein-Auheim eine Kirche nachgewiesen, die dem Hl. Petrus geweiht war. Leider ist über das Gotteshaus, das 1866 abgebrochen wurde, um für eine neue Kirche Platz zu machen, nur wenig bekannt. Am 8.Mai 1867 wurde der Grundstein für den Neubau gelegt, der am 18. Oktober 1868 eingeweiht wurde. Schon das alte Gotteshaus hatte einen Turm mit Glocken; dieses Geläut war für den neuen größeren Turm zu klein. Es wurde daher verkauft und bildete den Grundstock für die Anschaffung eines neuen Geläuts. Im Jahre 1875 lieferte der Orgelbauer Schlimbach aus Würzburg eine Orgel für die neue Kirche. Im Jahre 1906 wurden in den Seitenschiffen Fenster durch die Glasmalerei Bernhard Kraus (Mainz) gestaltet, die verschiedene Heilige als Beispiel für die Verwirklichung der acht Seligkeiten und verschiedener Tugenden darstellen.

Im Jahre 1957 wurden die durch Kriegseinwirkung 1943 stark beschädigten Fenster in der Apsis durch neue nach einem Entwurf von August Peukert (Großauheim) ersetzt. Wenn man die dreischiffige neuromanische Kirche heute betritt, kann man das Kreuz kaum übersehen, das im Chor über dem Altar hängt. Auf seiner Vorderseite sind zwanzig Emailplatten angebracht, die als buntes Ornament wirken und von Egino Weinert, Köln, hergestellt wurden. Im Jahre 1968 wurde neben genanntem Kreuz auch die Treppe zum Hauptportal neu gestaltet, der Chorraum umgebaut, drei Fenster neu gebrochen. Am Platz des alten Hochaltars wurde der Tabernakel aufgestellt. Auch ein neuer Taufstein wurde beschafft und ein geschnitzter Kreuzweg aus Südtirol 1975 gekauft. Die Evangelische Erlöserkirche in Klein-Auheim ist aus den Jahren 1955 bis 1958.

 

Siehe auch: Ausflüge, Offenbach, Steinheim südlich.

Klein-Auheim Lauternsee, siehe auch: Naturschutzgebiete in Hessen, Band 1, Main-Kinzig-Kreis, Seite 94.

Alte Fasanerie, siehe auch: Naturschutzgebiete in Hessen, Band 1, Main-Kinzig-Kreis, Seite 100.

 

 

Großauheim: Siehe Kreis Hanau.

 

 

 

Druckversion | Sitemap
© Homepage von Peter Heckert