Ergänzungen zu den Predigten

 

Inhalt: Sondergottedienste, Andachten, Erzählugen, Material.

 

 

 

Sondergottesdienste

Konfirmation, Goldene Konfirmation, Johannistag, Michaelistag, Kirchweih, Musik (Orgelweihe, Posaunenchor), Verschiedenes.

 

 

Konfirmation

 

Konfirmation: 4. Mose 6 , 22- 27    

Wenn wir jeden Gottesdienst mit dem Segen beschließen, dann ist das nicht, wie wenn man nach einer Feier seine Gäste mit ein paar freundlichen Wünschen entläßt. Und schon gar nicht ist die Konfirmation eine Entlassung in ein Leben, in dem man sich die Freiheit nimmt, sich am kirchlichen Leben zu beteiligen oder nicht.

Manche haben Martin Luther so mißverstanden. Sie sagen: Luther hat uns endlich die Freiheit gebracht. Die Katholiken müssen jeden Sonntag zum Gottesdienst. Wir brauchen nur, wenn wir einmal das Bedürfnis danach haben. Da wir das aber nur ganz selten haben, nehmen wir uns auch die Freiheit, am Sonntag etwas anderes zu treiben. Bei den Konfirmanden wird der Gottesdienstbesuch kontrolliert. Aber mit der Konfirmation sind sie endlich den Erwachsenen gleichgestellt und können den Erwachsenen folgen.

Es wäre schade, wenn wir die Konfirmation so verstehen wollten. Die Konfirmation ist ja in erster Linie Einsegnung, durch die Gott sein Gutes vermitteln will. Dieser Segen wird jeden Sonntag aufgefrischt, wenn wir mit dem Segen Gottes wieder in den Alltag gehen. Das ist wie bei einer Impfung gegen Wundstarrkrampf: Am Anfang gibt es eine starke Dosis, und dann alle zehn Jahre eine Auffrischung.

Nur kann man mit dem Segen Gottes keine zehn Jahre warten, etwa bis zur Trauung und dann wieder, wenn die eigenen Kinder Konfirmation haben. Glaube ist nicht etwas für besondere Gelegenheiten in unserem Leben, sondern etwas für jeden Tag. Und das konfirmierende Handeln erstreckt sich nicht nur auf diesen einen Tag, sondern beginnt mit der Taufe und geht bis ans Lebensende. Ein Christ lernt nämlich nie aus, er darf sich immer noch auf Neues gefaßt machen.

Die Konfirmation ist zwar ein besonderer Höhepunkt. Aber sie ist nur das Ende eines Grundkurses. Die Qualifizierung geht jetzt erst los. Und da sollte man sich nicht an negativen Vorbildern orientieren, an den Gleichgültigen und Verächtern, sondern an denen, die fast jeden Sonntag im Gottesdienst sind, die sich an den Gemeindeveranstaltungen beteiligen und sich zum Beispiel zu so etwas wie dem Kirchentag aufgemacht haben. Wer mit Gott leben will, der wird immer wieder seine Nähe spüren können. Er wird mit dem Segen Gottes durchs Leben gehen und viel Hilfe und Bewahrung erfahren.

Im Segen wirkt Gott. Der Segen ist mehr als eine fromme Form des Glückwunsches, er ist sogar mehr als ein Gebet. Er ist kein leeres Wort, sondern wenn Gott spricht, so geschieht es. Wir wünschen uns zwar gegenseitig Gottes Segen. Aber wir könnten ihn nicht herbeiziehen, wenn Gott nicht selbst segnen wollte. Wir können ihm den Segen nicht abnötigen oder Gott unter Druck setzen. Es ist keine Zauberei dabei, wenn wir die Konfirmanden hier einsegnen.

Aber es ist auch nicht so, daß wir nur um den Segen bitten könnten und es dann darauf ankommen lassen müßten, ob er wirklich segnen will. Gott w i 1 1 es tun, er hat es sogar geboten, daß in seinem Namen gesegnet wird.

Doch es braucht keiner Angst zu haben, daß jetzt eine Lawine auf ihn zukommt, von der er überrollt wird. Zwar ist der Segen ein wirkliches und machtvolles Geschehen, aber es geschieht nichts gegen unseren Willen. Wir werden aber zur Entscheidung herausgefordert, ob wir das Angebot Gottes annehmen oder nicht.

Im Segen streckt Gott uns die Hand hin. Wir können diese Hand ausschlagen. Es wird niemand zur Konfirmation gezwungen; es hat keiner Nachteile, wenn er nicht an der Konfirmation teilnimmt. Aber wer hier ist, der muß es mit Gott ernst nehmen, sonst lädt er größere Schuld auf sich als der, der von vornherein nichts von Gott wissen wollte. Wer es aber mit Gott wagt, der hat auf die richtige Karte gesetzt und eine starke Hilfe im Leben.

Gott will im Segen seinen Namen auf uns legen. Das ist ein schönes Bild für die Art und Weise, in der Gott uns begegnet. Er ist nicht irgendeine unbestimmte Macht, denn an so etwas kann man nicht glauben, weil man es nicht anrufen kann. Aber Gott hat uns seinen Namen anvertraut und sich damit anrufbar gemacht. Im Gebet wenden wir uns an einen Gott, den man kennen kann. Gott ist zwar nicht körperlich da, er existiert aber auch nicht nur in unseren Gedanken, sondern wir dürfen auf seine Nähe vertrauen, auch wenn wir ihn nicht sehen, und wir werden seine Kraft spüren, wenn wir seinen Segen annehmen.

Im Segen schafft Gott uns sein Gutes. Verlassen wir den Gottesdienst mit dem Segen Gottes, dann liegt Gottes Name auf uns. Was im Gottesdienst geschehen ist, hat uns nicht nur wohl getan und uns weitergebracht, sondern nun will Gott in unserem Leben Gutes wirken. Dieses Wort beschreibt gut die vielfältige und umfassende Wirkung des Segens.

Im Alten Testament äußert sich der Segen in Wohlstand und großer Nachkommenschaft, die aber weniger Belobung für Wohlverhalten sind, sondern unverdientes Glück und eine Überraschung. Es geht um Glück und Gedeihen, Gesundheit und Wohlbefinden, also sehr weltoffene

und weltfreudige Dinge. Gott möchte doch, daß seine Menschenkinder glücklich sind, besonders auch die, die sich erst anschicken, ins Leben hinauszugehen.

Wir können ihm darauf nur antworten, indem wir ihm danken. Dadurch geben wir zu erkennen, daß wir das Gute in unserem Leben wahrgenommen haben und wissen, wem wir es verdanken. Wer aber gesegnet worden ist, der darf von vornherein wissen, daß er nachher Grund zum Danken haben wird. Gott will gutes und Erfreuliches wirken. Deshalb dürfen wir mit entsprechenden Erwartungen in die Zukunft hineingehen. Wenn wir sauer sehen, dann widerspricht das dem Segen, den Gott uns mitgegeben hat. Wir haben doch einen freigiebigen und

auf unser Wohl bedachten Gott.

Gott will uns auch behüten. Er will Störendes und Gefahrbringendes ausschalten. So brauchen wir nicht mit Angst in den Tag zu gehen. Meist nehmen wir nur die Fälle wahr, wo uns oder anderen etwas zugestoßen ist. Aber daß Gott immerzu Leben erhält und in seine schützenden Hände nimmt, das halten wir für normal, das halten wir für nicht der Rede wert.

Er möchte auch Heil und Frieden bei uns schaffen, also geordnete Verhältnisse und ein unversehrtes Miteinander. Er tut alles, damit wir uns nicht untereinander das Leben zur Hölle machen. Gott möchte die Freundschaft der Völker, Gruppen und Familien. Wo sein Name geehrt wird, da ist man nicht gegeneinander, da sät man nicht Mißtrauen und Haß, sondern hat Ehrfurcht vor dem Leben und vor dem, was es erhält und gedeihen läßt. Aus dem Empfang des Segens ergibt sich folgerichtig das Eintreten für den Frieden in der Welt.

Nur macht es uns zu schaffen, daß unsere Erfahrungen in der Welt nicht mit dem übereinstimmen. Wir denken sicher manchmal: Wenn Gott uns so gut gesinnt ist, dann müßte er doch von seinem himmlischen Stellwerk aus die Weichen sorgfältiger betätigen. Als oberster Knopfdrücker ist er doch für die störungsfreie Funktion aller Weltvorgänge verantwortlich. Doch wir können nicht Gott in die Schuhe schieben, was menschliche Schuld ist. Gott hat den Menschen die Freiheit gegebene mit allem Risiko. Nun rennt er an gegen eine Welt der Sünde. Der Friede zum Beispiel muß gegen Haß und Friedlosigkeit erstritten werden. Aber Gott kämpft gegen das Vernichten, indem er - segnet.

Sein Segen würde uns auch dann begleiten, wenn sich herausstellt, daß wir eine unheilbare Krankheit haben. Er würde auch dann kräftig sein, wenn Gott uns auf den letzten Weg in dieser Welt führt. Was auch immer kommt: Gott schafft uns mit seinem Segen sein Gutes. Gott läßt sein Angesicht leuchten über uns und ist uns gnädig. Ja, Gott hat ein Gesicht, spätestens seit Jesus unter den Menschen war. Gott ist nicht das Unbestimmte und Nebelhafte, sondern er hat uns nach seinem Bild geschaffen. Wir können uns vorstellen, wie Gott ist, und deshalb Gemeinschaft mit ihm haben.

Einen Menschen erkennen wir meist nicht an seiner Körpergestalt, sondern an seinem Gesicht. Dazu gehört aber auch die Art, wie er uns anschaut: offen und aufnahmebereit, oder verbissen und stumpf. Strahlt ein Mensch uns an, dann erkennen wir daraus, wie er es mit uns meint.

Wir haben einen Gott, der uns nicht wie aus einer versteinerten Maske anstarrt, sondern unser Gott hat ein gütiges und väterliches Angesicht. Er neigt sich herab zu uns und blickt uns freundlich an. Dadurch macht er deutlich: Du bist mir wichtig, ich suche die Verbindung mit dir, ich lasse dich nicht aus den Augen. Als Gesegnete gehen wir anders weg, als wir gekommen sind.

Im kirchlichen Unterricht könnte das den Konfirmanden deutlich geworden sein: Gott schenkt uns seine Güte! Aber es wird uns spätestens jeden Sonntag wieder neu verdeutlicht im Gottesdienst. Dort sollten wir immer neu die Gemeinschaft mit Gott suchen und uns dann mit seinem Segen hinaus senden lassen in die Welt. Ein schönes Zeichen der Bereitschaft, mit dem Segen Gottes zu gehen, sind auch die Lederkreuze, die es einmal auf einem Kirchentag gegeben hat. Auf ihnen steht als Losung: „Vertrauen wagen!“ Das ist eine freundliche Einladung an jeden, der es sieht: „Ich habe Vertrauen zu dir, ich möchte dir freundlich und hilfsbereit begegnen, weil ich einen Gott habe, von dem ich auch Liebe und Freundlichkeit erfahren habe!“ Aber auch ohne ein solches Kreuz sollte man uns Christen immer wieder abspüren: Wir gehen mit dem Segen unseres Gottes und tragen seine Liebe und seinen Frieden in die Welt.

 

 

Konfirmation: Jer 31 , 31 - 34 

Wir wollen neu anfangen! Das haben wir uns schon oft an bestimmten Punkten des Lebens vorgenommen. Eine Gelegenheit dazu wäre auch die Konfirmation und der erste Abend­mahls­gang. Es ist gut, wen man wieder einmal neu anfangen kann, wenn man zurücklassen kann, was das Herz beschwert und das Gewissen belastet.

Aber wir brauchen uns auch nichts vorzumachen. Der Konfirmationstag ist schon immer mit allerlei Unsitten belastet gewesen. Morgen geht es wieder in die Schule; und wenn ein Lehrer böswillig ist, dann läßt er sogar noch eine Arbeit schreiben. Für manchen wird das Geschehen dieses Tages schnell vergessen sein. Er wird sich fragen: „Was ist denn nun anders geworden durch die Konfirmation? Ist so etwas überhaupt nötig?“

Doch wir dürfen sicher sein: Durch die Konfirmation wird etwas anders? Nur liegt das nicht an uns, sondern an Gott. Für ihn ist die Konfirmation nicht eine Formsache, sondern eine Gelegenheit, uns ganz nahe zu kommen. Jeremia spricht von dem Neuen Bund, den Gott mit den Menschen schließen will.

Ein Bund wurde damals nicht zwischen zwei gleichberechtigten Partnern geschlossen, sondern ein Mächtiger schloß mit einem Schwachen einen Bund und gewährte ihm darin Schutz und Rechtssicherheit. So hatte Gott einst sein Volk Israel an der Hand gefaßt und aus Ägypten herausgeführt. In dem Bundesschluß am Sinai hat er dieser starken Zuwendung eine feste Gestalt gegeben. Gott und sein Volk sollten von nun an immer zusammengehören.

Auch mit uns hat Gott einen Bund geschlossen in der Taufe. Ein Bund verpflichtet. Gott hat sich zuerst verpflichtet, daß er unser Gott sein will, das ganze Leben lang und darüber hinaus. Aber selbstverständlich sollen auch wir uns bundesgemäß verhalten. Heute ist für uns alle Gelegenheit, uns zu diesem Taufbund zu bekennen, besonders gilt das auch für die Konfirmanden.

Doch wenn wir ehrlich sind, dann geben wir auch zu, daß wir diesen Bund schon oft gebrochen haben. So war das auch schon mit dem Volk Israel. Der erste Bund konnte nicht funktionieren, weil er mit Sündern geschlossen war. Nun ist er zerbrochen und Israel hängt praktisch in der Luft und genießt keinen Schutz mehr. In dieser Situation ist es wie eine Erlösung, wenn Jeremia einen neuen Bund ankündigen darf. Gott beendet die Rechtsunsicherheit, er will sich von neuem selbst an sein Volk binden. Die Talsohle ist bereite durchquert, es geht wieder aufwärts, das Volk darf neue Hoffnung schöpfen.

Gott fängt mit uns noch einmal neu an. Das ist die frohe Botschaft, die wir immer wieder hören dürfen. Gott sagt nicht: „Wir wollen es noch einmal miteinander versuchen, vielleicht kommt beim zweiten Anlauf etwas Besseres dabei heraus!“ In den neuen Bund kommt Jesus mit hinein. Er besiegelt den Bund mit seinem Blut. Früher war jeder Bundesschluß mit einem Tieropfer verbunden. Die Indianer ritzten sich die Haut auf und vermischten das Blut miteinander, um Blutsbruderschaft zu schließen. Jesu Blut aber war noch wertvoller, so daß es dem neuen Bund zwischen Gott und den Menschen viel mehr Festigkeit und Dauer verleihen konnte.

Darauf dürfen wir heute den Finger legen und uns auf das einmal gegebene Wort berufen. Gott hat ja bindende Zusagen gemacht, da dürfen wir auch im Namen Jesu um Gnade bitten. Wir dürfen uns auf den Bund berufen, an dem vor allem drei Dinge neu sind:

Gott schreibt sein Gesetz in das Herz der Menschen. Alle werden Gott erkennen und anerkennen. Gott wird den Menschen ihre Schuld vergeben.

 

(1) Gott schreibt sein Gesetz in das Herz der Menschen: Früher war das Gesetz auf steinerne Tafeln gemeißelt oder in Buchrollen geschrieben. Jetzt aber wird der Mensch jederzeit um Gottes Willen wissen. Er wird tun wollen, was Gott gefällt. Er wird den Willen Gottes nicht als etwas Fremdes und Forderndes empfinden, sondern aus dem eigenen Inneren heraus ihn verwirklichen wollen. So ist das ins Herz geschriebene Gesetz im Grunde kein Gesetz mehr, sondern en fördert die Freiheit des Menschen.

Gott könnte uns natürlich auch zwingen. Sein Wille gilt unter allen Umständen. Wir müßten uns zähneknirschend beugen oder wir bekommen sein Gericht zu spüren. Die Sünde in uns soll ja nicht übergroß werden. Nimmt sie überhand, dann wirkt sie zerstörend auf uns selber zurück und wir müssen sie wieder eingrenzen.

Gott möchte aber, daß wir freiwillig im Innersten mit ihm einig sind und ganz selbstverständlich in der Ordnung des neuen Bundes leben. Wir müßten uns dann Zwang antun, wenn wir etwas anderes unternehmen wollten, als Gott es will. Dann wäre nicht mehr der Gehorsam ein Problem für uns, sondern der Ungehorsam.

 

(2) Alle werden Gott erkennen und anerkennen: Im Vorhof des ApolloTempels in Delphi stand das Wort: „Erkenne dich selbst!“ Aus der Selbsterkenntnis sollte der Mensch eine Änderung seiner selbst herbeiführen. Im neuen Bund aber bringt nicht der Mensch, sondern Gott die Wandlung. Er schenkt uns ein neues „Wissen“, nämlich das unmittelbare Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Jetzt sind nicht mehr Schrift und Bekenntnis, Predigt und Amtsträger nötig, sondern jeder hat sein unmittelbares Verhältnis zu Gott.

Früher war zwischen Gott und den Menschen immer das Gesetz. Wenn wir aber mit Gott aufs Engste vertraut sind, dann brauchen wir nicht durch ein Gesetz zu regeln, was zu tun ist. Ein Gesetz zeigt immer an, daß die Verbindung problematisch geworden ist und der Kontakt gestört ist. Wenn zwei Menschen sich aber wirklich liebhaben, dann brauchen sie keine Belehrung darüber, was sie einander zuliebe tun könnten. Nicht anders aber ist es mit Gott.

(3) Gott wird den Menschen ihre Schuld vergeben: Doch das ist nicht ein Akt der Großzügigkeit. Es soll nicht gesagt sein, daß die Sünde nicht ernst zu nehmen wäre. Jesus mußte ja sein Leben geben als Bezahlung für die vielen, der neue Bund besteht ja nur auf Grund des Opfers Christi. Der neue Bund wurde erst wirksam, als Jesus ihn mit seinem Blut besiegelt hatte.

Wenn wir das Abendmahl empfangen, werden wir gewissermaßen an den Blutkreislauf Christi mit angeschlossen. Wenn einer schwer krank ist, dann muß ihm oft neues Blut zugeführt werden, damit er wieder hochkommt. So ist das aber auch mit dem Abendmahl: Christus nimmt da Wohnung in uns, wir sind an seinen Blutkreislauf angeschlossen und empfangen Kraft von ihm.

Das setzt aber voraus, daß alle Schuld vergeben ist. Nicht einmal mehr im Gedächtnis Gottes kommt sie noch vor. Uns Menschen fällt es oft schwer, etwas Böses zu vergessen. Viel zu viel bewahren wir in unserem Unterbewußtsein auf, bis es dann im ungeeignetsten Augenblick wieder vor uns steht und uns lähmt. Wenn man aber Vergeben hat, dann geht es auch vergessen und ist aus der Welt geschafft. Unsre alten Kleider sind wirklich ins Meer geschleudert und hängen nicht mehr an einer Angel, um uns bei nächster Gelegenheit wieder vor die Füße geworfen zu werden.

Das alles wollen wir uns im Zusammenhang mit der Konfirmation noch einmal ins Gedächtnis rufen lassen: Gott will einen Bund mit uns schließen. Er hat auch Erwartungen an uns. Aber er legt uns nicht ein Gesetz auf, sondern gibt uns Freiheit. Es wird niemand gezwungen, am Gottesdienst teilzunehmen, aber jeder darf dieses Angebot wahrnehmen. Wir können immer wieder in unmittelbare Verbindung zu Gott treten, denn er hat uns die Vergebung unsrer Schuld geschenkt. Das ermutigt uns dann auch, mit anderen wieder klar zu kommen, mit denen wir etwas hatten. Gerade an diesem Punkt kann sich zeigen, ob wir neue Menschen geworden sind und ein neues Herz haben. Die Konfirmation will uns stärker auf diesem Weg, will uns helfen zu einem guten Verhältnis zu Gott und den Menschen. Wer an ihre Kraft glaubt‚ wird ihren Segen in seinem Leben erfahren.

Eine besondere Stärkung auf diesem Weg ist das Abendmahl. Da bindet sich Gott an alle, die seinen Leib und sein Blut empfangen. Ganz sichtbar dürfen wir beim Abendmahl das Ehrenwort Gottes mitnehmen: „Ich will mit dir neu anfangen!“ Wer vom Tisch des Herrn kommt, geht nicht allein in den Alltag. Christus geht mit und hilft, sein Leben als Christ zu leben. Er gibt Kraft zum Bekennen, Halt im Versagen und Mut zu einem freien Leben.

Wir sind auch weiterhin noch schwache Menschen. Der alte Mensch mit seiner Krankheit ist noch nicht erledigt. Aber Gott läßt uns nicht im Stich. Der neue Mensch ist schon da. Er wird immer wieder von Gott gestärkt durch sein Wort und sein Abendmahl. In der Predigt können wir es nur hören. Im Abendmahl dagegen dürfen wir sehen und schmecken: „Wir sind ganz nah dran!“ Zwischen Gott und uns ist weniger als eine Wand aus Seidenpapier! Wir können ihn noch nicht direkt sehen‚ sondern wir sehen nur Brot und Wein. Aber diese äußeren Zeichen machen uns dessen gewiß: Gott ist schon heute bei uns da. Er geleitet uns mit seinem Segen durchs Leben. Er gibt uns seinen Heiligen Geist, daß er uns stärke und bewahre vor dem Bösen und uns helfe zu allem Guten. Einst aber werden wir ihn schauen von Angesicht zu Angesicht.

 

 

Konfirmation an Rogate: Mt 6,5-13

Manchem unsrer Konfirmanden mag der heutige Tag vorkommen wie das offene Tor zum Leben. Endlich wird man die strengen Verpflichtungen gegenüber der Kirche los. Man kann unter den Angeboten der Kirche frei wählen wie die Erwachsenen auch. Und man wird sicherlich von der eigenen Eltern und Verwandten auch ganz anders angesehen als vorher.

Doch das alles ist nicht das Entscheidende an der Konfirmation. Sie ist in erster Linie ein offenes Tor zu einem Leben mit Gott. Gewiß gehören wir seit unserer Taufe zu Gott. Aber heute wird diese Zusage Gottes bestätigt und das Angebot Gottes erneuert. Gott hat uns eine weite Tür aufgetan, und es liegt immer nur an uns, ob wir durch sie hindurchgehen.

Das will uns auch dieser Linolschnitt deutlich [siehe Datei „Religionsunterricht, Gleichnisse, Verlorener Sohn“] machen, der zu der Geschichte vom verlorenen Sohn gehört. Da ist der Vater aus seinem Haus herausgetreten und breitet die Arme aus. „Kommt her zu mir, meine Söhne!“ scheint er zu sagen. Draußen ist Finsternis und Schuld.

Aber drinnen ist es hell, weil dort große Freude herrscht. Der jüngere Sohn geht mit gesenktem Haupt wieder zurück in das Haus des Vaters, wo es Liebe und Vergebung gibt und wo er wieder all seine Rechte und seine Ehre zurückerhält.

Sein Bruder aber sieht darin eine Ungerechtigkeit. Trotzig und hochmütig hat er seinen Kopf erhoben. Die linke Hand hat er zur Paust geballt, weil er sein Recht und seine Verdienste nicht loslassen will. Aber auch die Rechte reicht er nicht dem Bruder und kann deshalb auch nicht die Hand des Vaters ergreifen. Der hat seine Hände über beide Söhne erhoben. Wenn doch auch nur dieser andere Sohn hineingehen würde zu seinem Vater und zu seinem Bruder, damit nicht e r nun zum verlorenen Sohn wird!

Vor dieser Entscheidung stehen wir aber alle: Bleiben wir draußen in der Finsternis oder gehen wir hinein zu dem Vater? Die Konfirmation ist eine Entscheidung für das Hineingehen und zunächst einmal ein erster Schritt. Aber diese Entscheidung muß täglich neu bestätigt werden, gerade in unserer Zeit.

Eine Hilfe dazu soll auch das Gebet zu Gott sein. Am heutigen Sonntag „Rogate“ werden wir ja ausdrücklich aufgefordert: „Betet!“ Diese Aufforderung ist heute auch durchaus nötig, ganz im Gegensatz zu der Zeit, als die christliche Gemeinde die Jesusworte sammelte und aufschrieb. Damals wurde viel gebetet: Die Juden hatten ihre festen Gebetszeiten und haben dann selbst mitten auf der Straße gebetet. Und die Heiden richteten auch wortreiche Gebete an ihre Götter, weil sie meinten, man müsse die Götter solange nötigen, bis sie es sattkriegen und schließlich helfen.

Wir leben heute in einer Welt, in der nicht mehr gebetet wird. Heute ist die Gefahr nicht mehr groß, daß sich einer auf einer belebten Großstadtstraße vom Mittagsläuten überraschen läßt und dann selbstgefällig oder in missionarischer Absicht laut sein Gebet verrichten. Bei uns liegt die Gefahr nicht darin, daß wir demonstrativ beten, sondern daß wir überhaupt nicht beten, auch nicht im „stillen Kämmerlein“.

Viele sagen: „Ich habe keine Zeit und keine Lust!“ Oder auch: „Ich habe keine Kraft mehr nach dem aufreibenden Arbeitstag!“ Mancher hat auch gar kein stilles Kämmerlein, das ihm einigermaßen Ruhe garantieren könnte. Und wer es hat, der erträgt oft die Stille nicht und schaltet dann lieber das Radio an.

Aber natürlich gibt es auch heute viele Menschen, die zu Gott beten. Auch für junge Menschen trifft das zu. Beten ist nicht altmodisch, sondern hilft uns mit, die Probleme unserer Welt zu bewältigen. Dafür gibt es viele Beispiele und Vorbilder. Es ist auch nicht nur so, daß nur gebetet wird, wenn man in Not ist. Viele wissen eben doch, daß sie ihr Leben allein Gott verdanken. Deshalb danken sie Gott auch für die vielen Hilfen, die man täglich erfahren kann. Nur wer dankt, wird dann auch den Mut zum Bitten haben.

Mancher wird vielleicht auch sagen: „Gott weiß doch alles, was nötig ist. Weshalb soll ich ihn da noch extra bitten?“ Aber Kinder bitten ja auch ihre Eltern, wenn sie etwas haben wollen. Sicherlich wissen die Eltern auch vorher schon manchmal Bescheid. Aber sie wollen gebeten werden, sonst erfüllen sie der Wunsch nicht. Und Kinder tun das dann auch im Vertrauen darauf, daß die Eltern ihnen alle Bitten erfüllen, soweit sie das können und soweit sie sinnvoll

sind. Genauso dürfen wir aber auch Gott, unseren himmlischen Vater, bitten. Jesus hat sich wie ein Kind an seinen Vater gewandt, auch wenn er immer dazu sagte: „Nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe!“

In gleicher Weise haben sich viele Christen durch lange Jahrhunderte an Gott gewandt. Unsere Vorfahren haben gebetet. Und auch für uns ist das keine altmodische Sache, die nicht mehr in unsere Zeit passen würde. Es ist gerade umgekehrt: Gerade weil unsere Zeit so modern ist und so viel von uns fordert, brauchen wir immer den lebendigen Kontakt mit Gott. Sonst werden wir mit unsren persönlichen Problemen nicht fertig, werden aber auch die großen Fragen unserer Welt nicht lösen. Gottes Wort kann uns da Wegweisung geben. Und der Glaube an Gott wird uns stärken, unsere Welt nüchtern zu sehen und zu verändern.

Deshalb gehört das Gebet unbedingt zu unserer Welt mit dazu. Einem Pfarrer ist es einmal passiert, daß er nach dem Fürbittengebet den Altar verließ. An der Tür wartete der dann, um die Gemeinde zu verabschieden. Doch niemand kam heraus. Da fiel ihm ein, daß er ja das Vaterunser und den Segen vergessen hatte. Schnell kehrte er um und holte das Versäumte nach. Vielleicht hat die Gemeinde nur an der alten Gewohnheit festgehalten. Oder hat sie eben doch gewußt, daß Vaterunser und Segen unbedingt mit dazu gehören?

Gerade das Vaterunser ist ein Gebet, das fest im Leben vieler Christen verwurzelt ist. Es wird in jedem Gottesdienst und bei jeder Taufe, Trauung und Beerdigung gesprochen. Es wird an Krankenbetten und im Radio gebetet, und zwar bei Evangelischen und Katholiken im gleichen Wortlaut. Viele beschließen den Tag mit einem laut gebeteter Vaterunser.

Dieses Gebet umschließt ja auch so vieles: Einmal macht es in den ersten drei Bitten Gottes Sache zu unsrem Anliegen. Und in den anderen Bitten werden dann unsere Anliegen zu Gottes Sache gemacht. Gott will uns nicht zu kurz kommen lassen, und wir sollen ihn auch nicht zu kurz kommen lassen.

Für manche ist allerdings Gott heute so problematisch geworden, daß sie fragen: Wo ist denn der Gott, mit dem wir reden? Viele möchten das Gebet nur als ein Selbstgespräch gelten lassen, das uns dann in Richtung auf unseren Mitmenschen in Bewegung bringt. Das Gebet sei schon so etwas wie ein Telefongespräch, der Hörer sei auf beiden Seiten abgenommen, aber am anderen Ende habe niemand sein Ohr an der Hörmuschel, so daß man sich alle Fragen selber beantworten und mit allem schließlich allein fertigwerden muß.

Doch Jesus hat es uns anders gelehrt. Er hat klipp und klar gesagt „Vater unser!“ Und er hat uns dazu Mut gemacht, Gott so anzureden, „wie die lieben Kinder ihren lieben Vater“. An dieser persönlicher Anrede müssen wir einfach festhalten, sonst sind wir keine Christen mehr.

Jesus selber ist ja für uns das anschauliche Bild Gottes. Er ist auch für uns der Zugang zu Gott. Das macht uns ja auch dieses Bild hier deutlich. Die Gestalt des Vaters erinnert ja an den gekreuzigten Jesus. In Jesus ist Gott zu uns gekommen und hat die Tür zum Vaterhaus geöffnet.

Die Tür erinnert aber auch an eine Kirchentür. In der Kirche wird uns Gott als ein Vater vor Augen gestellt. Die auf Gottes Wort hören, werden zu Brüdern und gehen gemeinsam durch die offene Tür. Der Vater wartet auf uns alle. Er wartet auch auf die, die heute hier konfirmiert werden, und auf ihre Angehörigen. Mögen sie auch oft im Gotteshaus hier auf dieser Erde zu finden sein, und einst in dem himmlischen Vaterhaus, zu dem uns allen die Tür offensteht.

 

 

Konfirmation: Röm 8 , 26-30

Bei der Konfirmation geht es auch um Geschenke. Mancher mißt den „Erfolg“ der Konfirmation daran, wie großartig die Geschenke ausgefallen sind. Hier in der Kirche wollen wir aber erst einmal darauf achten, wie das mit dem Geschenk Gottes ist, das er uns alle Tage wieder macht. „Denen, die Gott lieben, dienen alle Dinge zum Besten“, sagt Paulus. Gott ist es, der uns letztlich alles gibt, was wir im Leben brauchen.

Liebe Konfirmanden! Ihr sollt heute eingesegnet werden. Die ganze Gemeinde wird dabei für euch beten. Ihr seid nicht allein .Gerade wenn es euch einmal schlecht geht im Leben, steht die Gemeinde Gottes hinter euch, vor allem aber steht Gott hinter euch. Die Kirche legt euch nicht nur Pflichten auf, sondern erst einmal will sie euch helfen und euch etwas anbieten.

Das kostbarste Gut der Kirche ist das Wort Gottes, das uns Wegweisung und Hilfe gibt, das uns tröstet und ermahnt. Dieses Wort wird uns sichtbar und greifbar in den Sakramenten. Vielleicht habt ihr schon einmal etwas von der Kraft der Taufe erfahren. Von heute an soll euch nun das Heilige Abendmahl auf eurem Weg begleiten, und zwar nicht als eine einmalige Angelegenheit, sondern als eine ständige Verbindungsstelle zu Gott; hier können wir die Last unseres Lebens abladen und als neue Menschen wieder davon gehen.

Ein großes Angebot wartet auf euch, im Gottesdienst und in Jugendabenden, auf Bibelfreizeiten und in der kirchlichen Presse. Viele nehmen das dankbar an. Es stimmt doch einfach nicht, daß alle (!) nur aus der Kirche „herauskonfirmiert“ würden. Gar mancher kommt zum Gottesdienst, auch wenn es nicht aufgeschrieben wird. Wir brauchen immer wieder Mitarbeiter in der Kirche. Das Gemeindeleben muß auch weitergehen, wenn einmal kein Pfarrer da ist. Von jedem konfirmierten Gemeindeglied wird da die Bereitschaft zur tätigen Mithilfe erwartet.

Zwei Dinge möchte ich euch besonders ans Herz legen. Einmal denke ich an die eures Jahrgangs, die zwar getauft, aber nicht konfirmiert (bzw. noch nicht konfirmiert) worden sind. Ihr könnt am ehesten auf sie einwirken, durch euer Reden und Verhalten, daß sie auch noch voll und ganz den Weg zur Kirche finden.

Und noch ein Blick mehr in die Zukunft: Der eine oder andere wird einmal zu einem Amt in der Kirche gebeten werden. Da stellt man sich freudig und dankbar zur Verfügung und wird selber noch den größten Gewinn davon haben.

Doch vergessen wir nicht: Wir haben heute den Sonntag von der wartenden, sich sehnenden, um den Geist bittenden Kirche. Sie hat den Geist Gottes verliehen bekommen. Durch die Handauflegung soll das jedem einzelnen Konfirmanden noch einmal deutlich gemacht werden. Aber wir müssen doch immer wieder darum bitten.

Wir kennen alle das Gefühl, ohnmächtig zu sein und nichts tun zu können. Wir sehen das Leid, aber können nicht dagegen ankommen. Menschen werden gefoltert und verhungern, immer mehr und gefährlichere Waffen werden in Stellung gebracht, Wälder werden vergiftet und Flüsse verseucht. Gelangt da nicht auch der hoffnungsbereite Mensch an eine Grenze?

Die Eltern können ihren Kindern und Enkeln keine geordnete und friedvolle Welt übergeben. Sie können nur hoffen, daß es die Kinder besser machen. Und wir können auf den Geist Gottes verweisen, der unsrer Sehwachheit aufhilft. Durch Gott sind wir schon neue Menschen geworden. Aber da wir noch „im Fleisch“ leben, sehen wir nur die Vorderseite der Münze: Schwachheit und Versagen, Ohnmacht und Hilflosigkeit.

Aber diese Münze hat noch eine Rückseite, die im Gegensatz zur unansehnlichen Vorderseite aus Gold ist: Wir sind das Ebenbild Gottes und haben das himmlische Leben schon sicher. Allerdings haben wir es nur anbruchsweise und der Geist ist eine erste Anzahlung auf das Kommende.

Deshalb kann man von einem Christen auch nicht verlangen, daß er sein Christsein in bestimmten nachprüfbaren Erscheinungen beweist, wie das manche christliche Gruppen tun. Sie verlangen Geistesgaben, die sich etwa in lauten Rufen während des Gottesdienstes äußern sollen. Von bestimmten Sünden müßte man sich ein für allemal trennen, bestimmte Dinge unterlassen. Als fröhlicher Mensch darf ein Christ niemals niedergeschlagen sein. Man verlangt Gebetserhörungen und besondere Gotteserfahrungen. Es muß nicht jeder alles vorweisen, aber mit irgendetwas dieser Art sollte jeder Christ aufwarten können.

Doch wer solche Forderungen aufstellt, macht den Glauben zu einem harten Gesetz. Der Christ darf sich gerade zu seiner Schwachheit bekennen. Bei Gott wird die Schwachheit nicht durch Stärke ersetzt, sondern in der Schwachheit kommt die Gnade ans Ziel denn der

Geist kommt unserer Schwachheit zu Hilfe. Er will uns aber nicht so religiös aktivieren, daß wir es nun von selbst können, sondern der Geist vertritt uns und besorgt, was wir nicht können. Wir brauchen es nicht zu „können“. Keiner weiß, was er beten soll. „Gottgemäß“ beten kann nur der Geist selbst. Aber er tut es auch.

Vielleicht bitten wir manchmal um etwas sehr Naheliegendes und nach unserem Urteil auch sehr Nötiges. Wir dürfen es erbitten, und Gott verachtet das Begehren seiner Kinder nicht. Aber er hat noch ganz anderes, ungleich Besseres für uns bereit. Er allein weiß, was wir wirklich nötig haben. Die Sprechverbindung mit Gott ist immer da, nur der Geist hat das Sprechen für uns übernommen.

Aber er könnte natürlich etwas für uns erbitten, was wir uns selbst gar nicht gewünscht hätten. Wir geben da unser eigenes Interesse ja völlig aus der Hand. Aber es wäre wohl auch kein gutes Zeichen, wenn all unsre Bitten erfüllt würden. Aber oft gibt Gott uns noch Besseres, als wir im Auge hatten, nämlich das, was der Geist im Sinn hat.

Wir sollten auch nicht vergessen, was Gott uns in den ersten drei Bitten des Vaterunsers in den Blick rückt. Erst die vierte Bitte geht zu den Alltagsanliegen über, die in Jesu Botschaft ihr volles Recht haben, aber nicht ohne den Ausblick auf das ewige Heil gesehen werden sollten.

„Alle Dinge müssen uns letztlich zum Besten dienen“. Luther sagt dazu: „Es ist Gottes Art, erst zu zerstören und zunichte zu machen, bevor er seine Gaben schenkt!“ Wir sollen dadurch merken, daß es sich wirklich um ein Geschenk handelt. Auch das Nicht-Gewünschte dient dabei zu unserem Besten, sofern Gott es uns zugedacht hat. Auch das Widrige kann Gott in seiner Güte und Weisheit uns dienlich sein lassen.

Allerdings gilt das nur, wenn Gott uns nicht gleichgültig ist. Gottes Liebe wirkt sich nur aus, wenn wir ihn auch lieben. Aber er hat damit längst den Anfang gemacht. Bei der Kindertaufe wird das besonders    deutlich, daß Gott unserm Handeln und Glauben zuvorkommt. Wir können

immer nur antworten auf seine Anrede. Aber wenn wir es tun, dann sollten wir auch alles von ihm annehmen, ob wir es gewünscht haben oder nicht, ob wir es begreifen oder nicht.

Wir könnten jeden Tag mit der Bitte um den Heiligen Geist beginnen, so wie wir das in jedem Gottesdienst tun. Wir könnten uns gegenseitig erzählen, was der Geist aus uns macht. Mancher hat vielleicht etwas erlebt, das ihm „zum Besten“ wurde. Ein anderer konnte gerade noch

mit Gottes Hilfe der eigenen Lieblosigkeit etwas Einhalt gebieten. So können wir merken, daß Gott in seiner Liebe an uns interessiert ist. Ihm gegenüber können wir nicht Zuschauer bleiben. Wir hören ja im Augenblick sein Wort. Wir können erleben, wie Gott sich um uns müht und die Verbindung mit uns sucht. Er hat uns berufen. Da sollten wir auch gerne in seinen Dienst treten.

 

 

Konfirmation: Eph 2,19-22

Seit Jahrhunderten haben wir hier in …… eine Kirche, das heißt eine christliche Gemeinde und auch ein Kirchengebäude. Seit Jahrhunderten werden hier Menschen unter Gottes Wort gerufen. Jeder darf dazu kommen. Keiner braucht eine Eintrittskarte. Niemand braucht schüchtern anzuklopfen; hier ist jeder willkommen.

Trotzdem fühlen sich viele Menschen fremd in dieser Kirche, in der sie doch zu Hause sein dürfen. Vielleicht kommt ihnen diese altertümliche Art des Gebäudes schon komisch vor. Aber vielleicht noch viel mehr die Menschen, die da drin sitzen. Die sehen vielleicht einen „Fremden“ oder einen „Neuen“ mit einem herablassenden Seitenblick an, so als wollten sie sagen: Läßt der sich auch einmal sehen!

Sehr schnell ist dann eine Absperrung geschaffen, die den Betreffenden hindert wieder­zu­kommen. Im Tempel zu Jerusalem gab es wirklich eine äußerlich sichtbare Trennwand, die den inneren Tempelbezirk für die Heiden sperrte. Eine Warntafel drohte jedem an: Wenn ein Fremder hier weitergeht, muß er des Todes sterben! Die Juden fühlten sich als das erwählte Volk und ließen keinen Heiden in ihr Heiligtum.

Aber es bestand auch eine innere Schranke: Die Juden hatten das Gesetz, aber die Heiden kannten es nicht. Mit Hilfe des Gesetzes sollte es angeblich möglich sein, sich den Himmel zu verdienen. Deshalb sahen die Juden überlegen auf die Heiden herab und rechneten ihnen ihr Versagen und ihre Schuld vor. Diese wiederum versuchten sich zu wehren durch Gegenbeschuldigungen und durch Geltungssucht. Eine Gemeinschaft war da untereinander natürlich nicht mehr möglich.

Die gleiche Gefahr besteht aber auch bei uns. Wir teilen die Gemeindeglieder auch gern in vier Klassen ein: Die Kerngemeinde, die sich regelmäßig am kirchlichen Leben beteiligt, dann die Feiertagschristen und solche, die die Kirche nur bei den Amtshandlungen (Taufe, Trauung) aufsuchen, drittens dann die Randsiedler, die sich nur selten rufen lassen, und die Entfremdeten, die nur noch dem Namen nach zur Gemeinde gehören.

Gerade bei der Konfirmation werden auch viele aus der zweiten und dritten Gruppe zu finden sein. Aber, meine Damen und Herren, Sie sind hier auch herzlich willkommen. Wir freuen uns, daß Sie auch da sind und hoffen, daß Sie diese Gelegenheit nutzen. In der christlichen Gemeinde gibt es nämlich keine Klassenunterschiede zwischen den Kirchlichen und den sogenannten „Unkirchlichen“, da gibt es keine Gäste und Fremde, sondern da ist jeder Getaufte ein Mitbürger und Hausgenosse Gottes.

Auch bei den Konfirmanden hier werden heute keine Unterschiede gemacht. Von den 39 Konfirmanden aus Steinbach waren vor drei Jahren immerhin 10 noch nicht dabei. Ich freue mich ganz besonders, daß diese 10 jungen Leute durchgehalten haben und heute hier konfirmiert werden können. Ich hoffe auch, daß sie wie die anderen nun bei der Stange bleiben werden. Zwei sind ja auch auf der Strecke geblieben. Aber selbst die gehören auch zur Gemeinde, auch sie können noch konfirmiert werden, wenn sie die Voraussetzungen erfüllen.

Manche meinen, die Konfirmation sei so etwas wie eine Aufnahme in die Welt der Erwachsenen. Ihr werdet längst gemerkt haben, daß ihr noch lange nicht von den Erwachsenen für voll genommen werdet. Ihr werdet in der Schule nicht einmal mit „Sie“ angeredet, wie das unter Erwachsenen üblich ist. Aber zur Gemeinde gehört ihr ja schon längst durch die Taufe. Heute wird höchstens bestätigt, was schon längst da ist. Eure Rechte stehen auch nicht nur auf dem Papier, sondern wirken sich sofort aus: Ihr dürft jetzt zum Abendmahl, ihr dürft zum Jugendabend, ihr könnt Pate werden und ihr dürft euch meinetwegen auch auf die Empore setzen.

Ihr dürft euch hier in diesem Hause wirklich wie zu Hause fühlen. Es gehört ja nicht dem Pfarrer oder dem Kirchenvorstand, sondern uns allen: wir sind ja die Gemeinde. Durch Jesus Christus ist uns aber auch ein Zuhause bei Gott gegeben. Wir sind alle Mitglieder der großen Familie Gottes, in der jeder die gleichen Rechte hat und wo es keine Mitbürger zweiten Ranges gibt.

Diese Kirche wird nun hier im Epheserbrief verglichen mit einem Haus, einem Tempel.

Wenn man ein Haus bauen will, braucht man zuerst einmal ein gutes Fundament. Das Fundament aber der Kirche sind die Worte der Propheten und Apostel, die sie uns von Gott übermittelt haben. Um dieses Wort Gottes geht es uns bei allem, was wir in der Kirche tun. Mit anderen Dingen brauchen wir uns in der Kirche gar nicht zu belasten. Aber dieses Wort ist so reichhaltig und vielseitig, daß wir es ein ganzes Leben über nicht ausschöpfen können und nie darin auslernen.

Die Kirche entspringt nicht einem menschlichen Zusammenschluß wie ein Verein, sondern ist auf diesem Wort aufgebaut. Aber sie hat darin auch ein tragfähiges Fundament, das nicht gleich wieder wackelt oder vom Wasser unterspült wird. Das Fundament zu dem Bau der Kirche hat also Gott selber gelegt. Auf ihm erheben sich dann die Mauern. Hier baut sich auch wieder jede Reihe Steine auf der anderen auf. Wir Heutigen leben alle von dem, was unsere Vorfahren schon in dieser Kirche aufgebaut haben. Vieles davon war wirklich Wertarbeit und ist heute noch fest und zuverlässig. Viele könnten sich den unerschütterlichen Glauben ihrer Vorfahren zum Vorbild nehmen und daran weiterbauen.

Das Haus Gottes ist nämlich noch gar nicht fertig. Ihr liebe Konfirmanden habt die Aufgabe, unsre Gemeinde weiterzuentwickeln zu einem Haus, das auch heute bestehen kann. Nehmt dazu das Altbewährte eurer Vorfahren. Das ist ein guter Ausgangspunkt. Aber wir dürfen auch nicht an dem Althergebrachten ersticken, sondern müssen es in unserer Zeit lebendig erhalten.

Heutzutage möchte keiner mehr in einem altmodischen und baufälligen Haus wohnen, sondern er versucht es den heutigen Vorstellungen und Erfordernissen anzupassen. Doch in den seltensten Fällen wird dazu das ganze Haus abgerissen, sondern es wird nur teilweise und Schritt für Schritt erneuert. So sollte auch unsre Gemeinde zu einer gesunden Mischung von Alten und Jungen werden, von Althergebrachtem und Modernem.

Viele sind schon in diesem Bau der Kirche hineingefügt worden. Ihr liebe Konfirmanden sollt auch einmal ein tragfähiges Glied in dieser Kette der Christen sein. Ein Baustein für sich ist noch so gut wie nichts, daraus kann man noch kein Haus bauen. Nur wenn er in einer Mauer drinsteckt, hat er eine Aufgabe: er trägt dann die anderen und wird auch selber mitgetragen. Nur im Miteinander der einzelnen Bauteile entsteht ein Haus. So braucht auch jeder Christ die Kirche und die Kirche braucht ihn.

Eins fehlt aber noch in dem Bau der Kirche: der krönende Abschluß. Das Haus wird hier ja als ein Kuppelbau vorgestellt: ganz oben sitzt ein Schlußstein, der dem Gewölbe erst den nötigen Halt gibt. Dieser Schlußstein in der Kirche aber ist Jesus Christus. Er hält uns in seiner Gemeinde zusammen und gibt uns Festigkeit und Stärke und trägt auch die mit, die herausbrechen wollen.

Das Haus Gottes muß aber auch fest gebaut sein, weil Gott in ihr: wohnen will. Wir sind bei Gott zu Hause, er ist aber auch bei uns zu Hause. Die Kirche ist nicht Gott; aber in ihr ist Gott anders gegenwärtig als anderswo. In der Kirche wird uns gesagt: Gott ist für uns da! Die Tür zu seinem Haus steht weit offen. Aber wir werden dadurch gefragt: Willst du auch für Gott da sein? Diese Frage muß sich jeder bei der Konfirmation stellen. Aber voraus geht die Zusage Gottes: Die Schranke vor dem Heiligtum ist weg. Und der in diesem Tempel wohnt, freut sich über jeden, der kommt.

 

 

Konfirmation: 1. Petr. 4, 8 - 11

Euch, liebe Konfirmanden wird die Konfirmation vielleicht vorkommen wie der Gipfel eines Berges. Durch sechs Jahre Religionsunterricht und zwei Konfirmandenunterricht seid ihr nun hochgeklettert. Vieles war sicher ungewohnt und zunächst einmal beschwerlich. Da kommt man dann schon ins Schwitzen und die Knie tun einem weh. Aber das schadet nichts: Je mehr man trainiert, desto besser geht es. Und wenn man m u ß, da läßt sich manches möglich machen.

Ihr habt wahrscheinlich gestöhnt, als es hieß: jeden Sonntag in den Gottesdienst, es wird aufgeschrieben. Man will ja nicht nur am Samstag, sondern auch am Sonntag einmal ausschlafen.

Da ist es wirklich erfreulich, daß ihr in so großem Maße dabei mitgemacht habt.

Doch ihr denkt nun sicher: Der will uns doch nicht nur loben, da kommt bestimmt auch noch die Kehrseite der Medaille. Sie kommt auch: Ich bin nämlich der Meinung: Wenn ihr jetzt so schön in Übung seid, dann könnt ihr doch auch dabei bleiben. Wer aufhört mit trainieren, der wird bald lahm und steif wie ein alter Opa.

Vor euch aber liegt doch erst das Leben. Ihr seid noch längst nicht auf dem Höhepunkt eurer Leistung angelangt. Wenn man einen Gipfel erreicht hat, dann rast man doch nicht gleich wieder auf der anderen Seite hinunter, sondern man genießt doch erst die schöne Aussicht.

Man hält Rückblick: War der Aufstieg wirklich so schwer? Hat man die Mühen und Strapazen nicht bald wieder vergessen? War das wirklich so schwer mit eurer Konfirmandenzeit?

War das bißchen äußerer Druck nicht doch eine Hilfe, um in Schwung und in Übung zu kommen? Erst wenn man oben ist, kann es doch weitergehen.

Man hält auch Vorausschau: Nach unten soll es also nicht gleich wieder gehen. Aber in einiger Entfernung lockt ein neuer Gipfel. Doch man kommt zu ihm nur über einen schmalen Grat. Nur wer bereit ist, diesen engen Weg zu gehen, der wird auch von Gipfel zu Gipfel weiter schreiten und immer neue Herrlichkeiten entdecken und Neues erleben.

So gleicht auch unser Christenleben einer gefährlichen Gratwanderung. Sehr leicht kann man nach links oder rechts abstürzen. Deshalb ist es gut, wenn man nicht allein geht. Im Gebirge kann man gut einen Bergführer gebrauchen, der zuverlässig ist und dem man sein Leben anvertrauen kann. Und wenn das nicht möglich ist, dann informiert man sich wenigstens vorher an Hand eines Buches oder einer Landkarte über die lohnenden Ziele und über die Gefahren.

So kann auch Gott der Führer durch unser Leben sein. Sein Wort ist die Landkarte für unseren Weg und der Reiseführer zu schönen Dingen. Es ist gut, wenn man nicht allein ist und auf sich selbst angewiesen ist.

Im Gebirge sollten es mindestens zwei sein, die eine Seilschaft bilden, die durch ein starkes Seil miteinander verbunden sind. Wenn nun einer abstürzt, dann muß der andere schnell nach der anderen Seite hinabspringen und sie müssen darauf vertrauen, daß das Seil hält. Wenn aber der andere nichts wagt, dann wird er mit in die Tiefe gerissen. Einer muß versuchen, den anderen festzuhalten.

So eng sollen also Christen zusammenstehen und einer muß sein Leben für den anderen einsetzen, sonst geht es schief. Aber er darf dann auch auf die Hilfe der anderen hoffen, wenn er selber einmal in Gefahr ist. - Darum soll nun zuerst von den Gaben an einen Christen die Rede sein und nachher dann von seinen Aufgaben.

Wir leben seit unsrer Taufe in der christlichen Gemeinde. Ehe wir es wußten, waren schon andere Menschen für uns da, war auch vor allem Gott schon bei uns da. Heute nun soll dieses Geleit Gottes noch einmal besonders deutlich werden bei eurer Einsegnung. Die Gemeinde bittet für euch um die Erleuchtung durch den Heiligen Geist. Und dieser Segen Gottes wird dann noch einmal einem jeden von euch ganz persönlich zugesprochen. Das ist doch schon eine große Hilfe für euer Christenleben. Ihr steht nicht allein, sondern unter dem Schutz Gottes und der Fürbitte der Gemeinde.

Ihr seid zum Abendmahl eingeladen. Es werden Zeiten kommen in eurem Leben, da werdet ihr verzweifelt und ängstlich sein. Gott aber ruft euch zu seinem Mahl, wo ihr euch Stärkung und Zuversicht holen könnt. Auch wenn einmal etwas falsch gelaufen ist in eurem Leben, ruft euch Gott doch wieder in seine Gemeinschaft.

Wort und Sakrament und der Rückhalt durch die Gemeinde, das sind die Hauptpunkte, die euch heute wie an jedem Tag eures Lebens angeboten werden. Aber es läßt sich sicher noch manches andere aufzählen, was damit zusammenhängt.

Da ist zum Beispiel die Möglichkeit, jederzeit vertraulich mit einem Pfarrer sprechen zu können, ohne daß der nun gleich alles weitersagt. Da sind die Einladungen zu besonderen Gemeinde-Abenden, in denen Hilfe für das Leben geboten wird. Da sind der Beistand und das fürbittende Geleit der Gemeinde bei Trauung, Taufe und Beerdigung.

Unser Predigttext weist am Anfang auf eine andere Möglichkeit hin: Wir dürfen mit Gott sprechen im Gebet. Man sagt doch oft, junge Menschen seien sehr kritisch und nähmen alles genau unter die Lupe. Das Gebet aber kann uns zu dieser Nüchternheit verhelfen. Erst im Angesicht Gottes finden wir den richtigen Standpunkt und sehen unsere Welt und uns selbst im richtigen Licht. Man kann sehr leicht schwindlig werden bei der Gratwanderung durch das Leben. Da gibt uns das regelmäßige Gebet einen festen Halt. Es ist gewissermaßen die feste Leine, die uns vor dem Absturz bewahrt.

Doch nun soll auch noch von den Aufgaben die Rede sein, die einem Christen gestellt sind. Als erstes führt unser Predigttext hier die beharrliche Liebe auf. Sie gilt auch und gerade    d e m Menschen, der nicht liebenswert ist oder der sich gar nicht lieben lassen will. Sie gilt sogar dem Menschen, der uns etwas Böses antun will. Sie kann auch über manches hinwegsehen und manches zudecken. Jesus hat uns dazu ja das Vorbild gegeben, als er alle Menschen ohne Rücksicht auf ihre Herkunft und ihre Vergangenheit gleich behandelte.

An zwei Beispielen wird das deutlich: Einmal die Mahnung, jeden Menschen willig aufzunehmen, der eine Unterkunft sucht. Sicher gilt das auch noch heute, wenn wir auch vielleicht mehr an die Menschen denken, die eine geistige Heimat suchen und sich nach etwas Geborgenheit sehnen. Das ist auch eine Frage an die Gemeinde der Erwachsenen: Inwieweit kann sie diesen jungen Gemeindegliedern die Kirche so heimisch machen, daß sie sich darin wohl fühlen, inwiefern ist sie bereit, auch einmal auf Wünsche der Jugendlichen einzugehen und eigene Vorstellungen zurückzustellen?

Der zweite Punkt lauter: „Dient einander, ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat!“ Gott hat jedem Menschen eine Gabe mitgegeben, auch einem Konfirmanden, selbst wenn er an anderer Stelle (zum Beispiel in der Schule) ein großer Versager ist.

Ihr, liebe Konfirmanden, seid dazu berufen, eure Gaben auch in der Kirchgemeinde anzuwenden. Seht euch eure Vorgänger an, die haben auf diesem Gebiet schon manches versucht. Aber auch bei euch sind ja schon einige dabei, die beim Kindergottesdienst mitmachen.

Je mehr nun im Laufe der Jahre eure Fähigkeiten wachsen, desto mehr könnt ihr sie auch in den Dienst Gottes und der Gemeinde stellen. Sie sind uns nicht gegeben, damit wir in unsere eigene Tasche wirtschaften, sondern um anderen damit zu helfen.

Gott gibt uns genug Aufgaben, wenn wir nur die Augen aufmachen. Wir können uns allerdings nicht einfach aussuchen, was uns gerade paßt. Das kann kein Jünger Jesu. Schließlich ist Gott der Meister und wir sind die Lehrlinge. Sicherlich machen wir auch manches falsch. Aber das ist doch kein Grund, nun gleich ganz auf zuhören. Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Aber wir dürfen alle in der großen Lehrlingswerkstatt Gottes sein, in der Christus unser Meister ist.

Wir wollen nicht vergessen: Es wird uns nicht aus eigener Machtvollkommenheit gelingen. Nur Gottes Hilfe schenkt uns den Erfolg. Wir brauchen den Geist Gottes, wenn aus unserem Tun Segen entspringen soll. Wir stehen ja jetzt unmittelbar vor Pfingsten, dem Fest der Ausgießung des Heiligen Geistes.

Wir wollen Gott im Gebet bitten, daß er auch uns diese Kraft des Heiligen Geistes senden möge, vor allem aber auch diesen Konfirmanden. Doch wir dürfen auch wissen: Wir warten nicht umsonst, sondern wir dürfen uns immer im Gebet an Gott wenden und werden Erhörung finden.

 

 

Goldene Konfirmation

 

Goldene Konfirmation: Jes 6, 1 - 8

Zu einer goldenen Konfirmation finden sich immer Christen ganz unterschiedlicher Schattierung in der Kirche ein. Da sind auch in diesem Jahr wieder einige kirchlich sehr engagierte dabei, Kirchenvorsteher und kirchlich aktive Leute. Da sind andere, die gelegentlich zum Gottesdienst kommen und wieder andere, die sicher lange nicht ein Gotteshaus von innen gesehen

haben.

Wir wollen uns davor hüten, einen abzuqualifizieren‚ weil er nicht dem Idealbild eines Christen entspricht. Es gibt ja andere, die überhaupt nicht zu diesem Gottesdienst gekommen sind und nicht nur verhindert sind, sondern auch das ablehnen, was hier geschieht. Wer aber hier mit uns feiert‚ der hat recht getan. Wir haben nicht das Recht‚ hier Unterschiede zu machen. A 1 1 e haben wir die Möglichkeit, heute in diesem Gottesdienst dem heiligen und dreieinigen Gott zu begegnen.

Wir haben, ja heute das Trinitatisfest. Es will uns deutlich machen, daß Gott uns auf drei verschiedenen Weisen begegnet: als der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. In einem Predigttext aus dem Alten Testament kann das natürlich noch nicht so deutlich werden, denn damals wußte man ja noch nichts von Jesus Christus, dem Sohn Gottes.

Man hat hinter dem Dreimalheilig, dem Gesang der Engel bei Jesaja‚ die Dreieinigkeit Gottes finden wollen. Aber in Wahrheit kann höchstens sagen, daß der Gott des Alten Testaments noch unerkannt der dreieinige Gott des Neuen Testaments ist. Uns ist die Decke vor den Augen weggezogen und wir sehen die ganze Herrlichkeit Gottes.

Deswegen wollen wir auch heute alle drei Artikel des Glaubensbekenntnisses durchgehen und uns deutlich machen: Gott ist zwar unnahbar, aber er hat uns doch frei gemacht von unserer Sünde und sendet uns heute zu den Menschen.

 

(1.) Gott ist unnahbar: Für viele von uns mag Gott auch groß und unnahbar erscheinen. Und die Welt Gottes sowie die Welt des Gottesdienstes mag ihm fremd und sonderbar erscheinen. Die alltägliche Welt ist ihm völlig anders. Die Sprache, die am Sonntag innerhalb der Kirchenmauern gesprochen wird, ist anders als die Sprache, die am Montag draußen gesprochen wird.

Dennoch darf Jesaja einen kleinen Blick in die Welt Gottes tun. Allerdings kann er Gott nicht selber sehen. Er muß den Blick senken. Er sieht nur ein großes Licht und den Saum des Gewandes Gottes. Gott aber bleibt fremd und übermächtig, in Rauch eingehüllt und nur durch das Rufen der Engel noch angedeutet.

Sie, liebe goldene Konfirmanden, sind in einer Zeit geboren, in der man Gott noch im Wesentlichen so sah. Es gab eine klare Rangordnung: Gott, Kaiser, Eltern, Pfarrer, Lehrer. Der kleine Mann war nichts. Als Sie konfirmiert wurden, war die erste Welle der Kirchenaustritte schon vorbei. Der Glaube an Gott war schon nicht mehr selbstverständlich.

Aber es war wohl auch schon deutlich geworden‚ daß der unnahbare Gott sich uns auch zu erkennen gibt. Er hat sich uns gezeigt in Jesus Christus. Weil wir dafür oft blind sind, muß es uns gesagt werden. Jesaja empfindet das sehr stark, daß er unrein und sündig ist. Als er Gott erkennt, merkt er, daß seine Beziehung zu Gott gestört ist.

So ist auch heute jeder Gottesdienst eire Gelegenheit, das eigene Versagen zu erkennen und sich vor Gott entsündigen zu lassen. Alles, was sich im Laufe des Lebens so angelagert hat, kann jetzt wieder abgewaschen werden. Besonders das Abendmahl will uns das deutlich machen und uns wieder in die Gemeinschaft mit Gott hineinholen.

(2.) Gott macht uns frei: Jesaja empfindet besonders, daß er unreine Lippen hat. Mit den Lippen sprechen wir und stellen die Verbindung zu anderen Menschen her. Die Lippen und die Sprache sind so das eigentlich Menschliche. Aber gerade hier kann sich deshalb eine Verderbnis besonders auswirken. Nicht nur zwischen Gott und den Menschen gibt es da Grenzen, sondern auch auf unsrer Erde gibt es Welten, die streng voneinander getrennt sind. Da gibt es Nachbarn, die zwischen sich keine Brücke kennen. Alte und junge Menschen leben unverstanden nebeneinander. Und auch von manchem Goldenen Konfirmanden kann man hören: „Ich mache nicht mit, weil der oder jener mich geärgert hat!“

Gott aber will das nicht. Seine Welt sieht anders aus. Und deshalb sendet er seine Botschaft hinein in unsere Welt, damit es auch dort anders wird. Er kommt in unsre Welt hinein, damit auch wir es lernen, nur gute Worte zueinander zu sagen. Gerade am Abendmahl kann uns das deutlich werden. Denn wenn Gott sich mit uns versöhnt, dann werden wir auch untereinander Versöhnte sein.

Der Reinigungsakt bei Jesaja ist dabei nicht nur eine symbolische Handlung. Wenn Gott handelt, dann hat das auch Hand und Fuß. Diese Reinigung geschieht auch schon im Blick auf Christus. Er hat ja erst dafür gesorgt, daß wir voll und ganz frei gemacht werden von der Sünde. Gottes Gericht fällt zwar nicht aus, aber es wird nicht an uns vollstreckt, sondern an seinem Sohn Jesus.

 

(3.) Gott sendet uns: Aber eine solche Entsündigung ist auch notwendig, wenn man ein Sprecher Gottes sein will. Und Boten Gottes sollen wir ja alle sein. Deswegen ist uns ja schon in der Taufe der Heilige Geist mitgegeben worden. Nicht jeder von uns ist ein Jesaja. Aber sein Auftrag könnte für jeden von uns gelten. Wer vor uns will mithelfen, daß Gleichgültigkeit und Feindschaft, Selbstsucht und Schweigen aufhören und in Gemeinschaft und Austausch verwandelt werden?

Gott hat den Jesaja doch deswegen entsündigt, damit er Gottes Stimme hören kann. Gott fragt: „Wen soll ich senden?“ Jesaja soll es hören und sich freiwillig zum Dienst melden. Eben war er noch ein Verlorener, nun ist er Bote Gottes. Eben war er noch zu Boden geworfen im Bewußtsein seiner Schuld jetzt wird er ermächtigt zum Botendienst.

Aber wir alle haben die gleiche Chance. Wenn am Anfang der Predigt deutlich gemacht wurde, daß wir unter Umständen von ganz unterschiedlichen Ausgangspunkten her hier zusam­men­gekommen sind, so ist jetzt jedoch zu sagen: „Das muß nicht so bleiben!“ Jeder von uns hat die Möglichkeit, in den Dienst Gottes zu treten.

Gott ist nicht nur der große und heilige Gott. Er ist auch in Jesus Christus hineingekommen in unsere Welt, damit sie anders wird. In dieser Welt hat er sich eine Gemeinde gesammelt, die

er hinaussendet als seine Boten. Sie soll die Gotteswelt hineintragen in die Menschenwelt.

Dafür ist keiner zu alt und zu schwach. Den Kindern und Enkeln die eigenen Glaubenserfahrungen mitzuteilen, das ist doch eine lohnende Aufgabe. Dadurch wird man auch selber im Glauben fester und merkt, daß alles ja gar nicht so schwer ist. Gottes Frage: „Wen soll ich senden?“ gilt heute auch uns. Diese Frage dürfen wir nicht überhören. Aber wenn wir darauf antworten: „Hier bin ich, sende mich!“ dann wird er uns auch dazu ausrichten und uns die Kraft geben, seine Boten zu sein.

 

 

Goldene Konfirmation: Röm 11‚ 33 - 36

Natürlich hält man an so einem Tag Rückschau auf ein halbes Jahrhundert. Wir denken an das, was in unserem persönlichen Leben geschehen ist und was sich in der weiten Welt ereignet hat. Aber wir könnten uns auch fragen: wie das mit dem Glauben weitergegangen ist, auf den Sie, liebe Goldene Konfirmanden, vor 50 Jahren eingesegnet worden sind.

Paulus hat in den Kapiteln 9 bis 11 des Römerbriefes auch Rückschau gehalten auf die Geschichte seines Volkes. Es war das Gottesvolk, aber es hat sich doch so oft von seinem Gott abgewandt. Paulus ahnt, daß in Zukunft ganz andere Menschen zu Gott gehören werden, weil die sich abwenden, die eigentlich gerufen worden sind. Paulus spürt die Schuld seines Volkes.

Er kennt aber auch das Verzeihen und die Barmherzigkeit Gottes.

Denken wir zurück an die Geschichte unsres Volkes. Im Jahre 1918, als Sie konfirmiert worden sind, ging gerade der Erste Weltkrieg zuende, bei dem Deutschland zumindest nichts getan hat, um ihn zu verhindern. Denken wir an die Parteienkämpfe der Weimarer Republik, in denen mancher Schuld auf sich geladen hat. Oder gar an die Naziherrschaft und den Krieg und was da alles passierte.

Fragen wir uns aber auch: Ist es besser geworden mit dem Glauben in unserem Volk? Oder noch persönlicher: Jedes Einzelne von uns wird immer wieder nach seinem Glauben gefragt.

Gar mancher hat längst eine negative Entscheidung gefällt, denn einige von den Konfirmanden des Jahrgangs 1918 sind heute nicht bei diesem Gottesdienst dabei, weil sie nicht mehr zur Kirche gehören. Und jeder Einzelne kann sich ja selber einmal fragen, wie es bei ihm mit dem Glauben bestellt ist.

Wir denken aber auch an die vielen, die nicht mehr unter uns sind, weil sie gestorben sind. Bei manchem wird die Frage aufkommen: Mußte das sein? Gerade bei den Männern, die im Krieg geblieben sind, denken wir doch so. Vielleicht regt sich auch die eine oder andere Anklage in unserem Herzen gegen Gott: Warum hat er so etwas alles zugelassen? Warum ist vieles so sinnlos wie dieser neuerliche Mord in den USA? Wird es denn niemals etwas anders?

Paulus antwortet hier: „Wie unbegreiflich sind seine Gerichtsurteile und wie unerforschlich sind seine Wege! Wer hat des Herrn Sinn erkannt?“ Keiner weiß, was Gott mit jedem Einzelnen vorhat. Wir wissen nicht, was in der Tiefe Gottes alles ruht.

Auch der glaubende Mensch muß hier seine Grenze erkennen. Alles menschliche Begehren und Denken wird hier zurechtgewiesen. Wir sind eben keine Partner Gottes, sondern wir sind ihm untergeben. Wir können auch keine Vorleistungen bringen, etwa durch gute Taten oder durch den Gottesdienstbesuch, um dadurch ein gutes Verhältnis zu Gott herzustellen.

Jesus hat uns das deutlich gemacht durch das Gleichnis vom den Arbeitern im Weinberg: Die elf Stunden und die nur eine Stunde gearbeitet haben, erhalten gleich viel an Lohn. Und ihr Arbeitgeber sagt zu ihnen: „Ich kann doch mit meinem Geld machen, was ich will!“

So souverän ist Gott auch. Er bleibt uns doch immer der verborgene und der unverständliche Gott, der über unser Fassungsvermögen geht. Wir wissen nicht Bescheid über seinen Willen und seine Wege.

Aber bedeutet „Theologie“ nicht „Wissenschaft von Gott“? Müßte nicht s i e des Herrn Sinn kennen? Gibt es nicht Pfarrer, die sich von Berufs wegen für verpflichtet halten, den Leidtragenden und Angefochtenen die Absichten Gottes zu erkläre? Wird das nicht auch von den Gemeindegliedern erwartet?

Gerade bei Amtshandlungen und vor allem bei Beerdigungen besteht doch die Versuchung, dem Menschen zu erklären, sein Geschick habe sicher einen Sinn für sein Heil, etwas Gutes müsse auch an seinem Leid sein. Und mancher will dann auch angeblich wissen, warum Gott dies und das getan hat und jenes unterlassen hat.

Oftmals wird auch erwartet, daß ein bewußter Christ ein Ratgeber und Rechtsanwalt Gottes ist, der jedem das Handeln Gottes verständlich machen kann. Gern werden große geschichtliche Ereignisse als eine sichtbare Gnadenführung Gottes gedeutet. Aber das geht dann nur solange gut, bis diese ganze Heilsdeutung mit Schimpf und Schande widerlegt ist.

Aber auch die Unheilsdeutung ist so eine Form des Bescheidwissens über Gott. Sehr schnell sieht man in einem Unheil ein Gericht Gott, wenn irgendwo eine Überschwemmung ist, dann ist man froh, daß es die anderen erwischt hat - wer weiß, wofür sie bestraft werden sollten.

Wir dürfen aber nicht gleich hinter jedem Ereignis in der Weltgeschichte oder in unserem persönlichen Leben ein ZeichenGottes sehen, weder ein Zeichen des Wohlwollens noch des Zorns.

Gott bleibt uns immer wieder ein verborgener Gott. Wir wissen nicht, warum er uns gerade so hat werde lassen, weshalb wir nicht so erfolgreich oder gesund wie andere sind oder weshalb es uns besser geht als anderen.

Wir wissen nicht, weshalb uns Gott gerade diesen Menschen an die Seite gestellt hat und einen anderen genommen. Wir wissen auch nicht, welchen Weg er mit seiner Kirche vorhat. Sicherlich, manches wird uns nach Jahren doch noch deutlich. Aber alles begreifen wir nie. Gott läßt sich nicht in die Karten sehen, er läßt sich nicht hineinreden und von niemandem begrenzen.

Gott will aber auch, daß wir Menschen frei sein können. Er möchte, daß jeder sein bleibendes Glück findet, aber er zwingt niemand dazu. Er läßt einen Menschen eher in sein Unglück laufen, als daß er Ihn zu seinem Glück zwingt - obwohl er das könnte.

Gott will keine Kriege, denn er ist ein Gott des Friedens. Krieg ist immer Schuld der Menschen. So läßt Gott sie eher in ihr Unglück laufen, als da er sie zum Frieden zwingt. Er will, daß sie mit seiner Hilfe den Weg zum Frieden selber finden. Wir möchten lieber, daß Gott manchmal dreinschlägt und seine Macht erweist. Aber er bleibt ein verborgener Gott und läßt sich nicht zwingen,

Es gibt aber keine Regel, nach der wir die Rätsel der Geschichte lösen können, weder unsre persönlichen noch die großen gemeinsamen Fragen. Wir sollten bescheiden sein und die Frage: „Wer hat des Herrn Sinn erkannt?“ mit einem ehrlichen „Niemand“ beantworten. Wir wissen nicht, warum Gott den einen so und den anderen so geführt hat, warum er bald Schönes und bald Schweres geschickt hat.

Wir können Gottes Fremdheit nicht wegreden mit der Behauptung, daß Gott dennoch Liebe ist. Nur das eine dürfen wir dennoch hören: Gott hat uns seinen Sohn geschenkt, der unser Herr und unser Heil sein will. Nun lernen wir den unerforschlichen Gott von einer ganz anderen Seite kennen. In Jesus Christus hat er den Menschen sein Erbarmen zugewendet. Er hat die Menschen von, sich aus aufgesucht, weil sie ihm nicht gleichgültig sind, und er will ihnen so zu ihrem Glück verhelfen.

An den drei großen Festen des Kirchenjahres können wir uns deutlich machen, wie Gott ist: An Weihnachten kommt Gott zu der Ärmsten und Verachtetsten und schafft eine neue Menschheit. An Karfreitag und Ostern baut er den gottfernen Menschen eine Brücke zu Gott. Und an Pfingsten gibt er ihren die Gewißheit, daß die Kraft seines Geistes ihnen überall beisteht.

Jesus ist die Antwort Gottes auf alle unsre Fragen. Wir brauchen nicht vor einem furchterregenden Gott zu erschrecken, sondern können ihn loben, wie es Paulus hier tut: „Welche Tiefe des Reichtums der Weisheit der Erkenntnis Gottes!“ Nur wenn wir zur Anbetung Gottes kommen, werden wir die Fragen los.

Diese Weisheit und Erkenntnis Gottes umgreift unser Nicht-Wissen und Schein-Wissen und stellt es erst an den richtigen Ort. Wer das begreift, der kann sagen: „Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen!“ Unser Leben hat einen Ursprung, aber auch ein Ziel: Wir sind auf Gott hin erschaffen, von dem und durch den und zu dem alle Dinge sind.

Gar mancher kann dankbar auf die Hilfe Gottes zurückschauen. Vielen ist es schlimmer ergangen. Wir wollen doch nicht nur das Schwere sehen, sondern auch als das Schöne, das jeder Mensch irgendwann einmal erlebt hat.

Das merken vielleicht gerade Goldene Konfirmanden. Jetzt wird es aber auch Zeit, über das Ziel dieses Lebens Bescheid zu wissen. Wir müssen wissen, worauf alles am Ende hinausläuft und wer uns am Ende unsres Lebens erwartet.

Das eine wollen wir nicht vergessen: Gott hat einem jeder von uns einen Schatz mitgegeben. Gerade bei der Konfirmation ist die Verheißung Gottes für jeden Einzelnen deutlich geworden. Da hat Gott gesagt: „Ich bin dein Gott!“

Haben wir diesen Schatz gehütet, sind wir sinnvoll damit umgegangen? Oder haben wir ihn vergraben, so daß er uns nichts genutzt hat? Oder ist er unmerklich immer weniger geworden, so daß er heute gar nicht mehr ins Gewicht fällt? Doch es ist nie zu früh und selten zu spät, diesen Schatz von Gott wieder auffüllen zu lassen. Hier im Gottesdienst und vor allem im Abendmahl ist Gelegenheit dazu!

 

 

Goldene Konfirmation: Epheser 1, 3 - 14

Jeder Mensch muß einmal Lesen und Schreiben lernen. Und jeder Christ muß einmal mit den Grundlagen des Glaubens vertraut werden, auf den er einst getauft worden ist. Sie, liebe Goldene Konfirmanden, haben diesen kirchlichen Unterricht vor 50 Jahren abgeschlossen. Heute ist es an der Zeit, einmal Bilanz zu machen und sich zu fragen: „Was hat mir denn dieser Glaube im Leben gegeben, hat er mir genützt oder geschadet?“

Der Sonntag Trinitatis ist vielleicht besonders für ein solches Nachdenken geeignet. Er weist uns ja darauf hin, daß ein und derselbe Gott uns in drei Gestalten begegnet, nämlich als Vater, Sohn und Heiliger Geist. So wie Wasser nicht nur flüssig sein kann, sondern festgefroren wie Eis und flüchtig wie Dampf, so erscheint Gott uns auch in drei Formen. Er ist „dreifaltig“, das heißt. Er ist in drei Erscheinungsformen auseinandergefaltet. Aber er ist dennoch auch „dreieinig“, das heißt: Er ist doch immer nur e i n Gott.

Unser Predigttext aus dem Epheserbrief gibt uns nun eine knappe Zusammenfassung dessen. Was jeder Christ über diesen dreifaltigen und dreieinigen Gott wissen sollte. Er ist gewissermaßen das ABC unsres Christseins, eine eiserne Ration für unser Leben im Glauben.

Doch es geht dabei nicht nur um bloßes Wissen. Die Theorie allein erweckt noch kein geistliches Leben. Ein kirchlich geprüfter Konfirmand ist    noch nicht ein lebendiger Christ. Man kann das Vaterunser zwar auswendig können, aber es doch nie von ganzem Herzen gebetet

haben. So werden wir uns auch heute wieder fragen müssen: „Worin liegt denn die Bedeutung unsres Wissens von Gott für das alltägliche Leben?“

Wenn wir hier eine Antwort finden wollen, dann bewährt sich wieder einmal die Einteilung unsres Glaubensbekenntnisses in drei Artikel. Wir können ja direkt fragen: „Gibt es nicht eine Kurzfassung des ganzen Glaubensbekennt­nisses, in der gleichzeitig die Bedeutung dieses Glaubens für uns deutlich wird?“ Ich möchte es einmal mit drei Sätzen versuchen:

 

(1.) Ich glaube, daß mich Gott erwählt hat: Vielleicht meint der eine oder andere, nur wenig von dem Segen Gottes zu spüren, von dem hier im Epheserbrief die Rede ist. Im Alten Testament gilt der als gesegnet, dem die Güter dieser Erde in Fülle zugefallen sind: reiche Ernte, wirtschaftlicher Wohlstand, Kinderreichtum, Ansehen bei den Nachbarn usw.

Aber darüber haben sich die Auffassungen längst gewandelt: Kinderreichtum zum Beispiel wird von den meisten unsrer Zeitgenossen eher als eine Last denn als Segen empfunden. Und unsren Wohlstand verstehen wir doch auch nur als Werk unsrer regsamen und nimmermüden Hände. Wenn es uns heute besser geht als früher, dann haben wir das doch allein uns selber zu verdanken. Was soll das mit dem Segen Gottes zu tun haben? Noch dazu ein „geistlicher Segen in himmlischen Gütern“! Ist das Ende etwa erst etwas, das jenseits unserer Welt liegt?

Der Segen Gottes zeigt sich nicht so sehr in materiellen Dingen, sondern tatsächlich auf dem Gebiet des Glaubens. Gott zeigt sich uns in seinem Sohn Jesus Christus. Er kommt uns hier als Mensch nahe und zeigt uns darin seine Liebe. Gott kommt uns entgegen, nicht wir ihm.

Er hat einen Treffpunkt bestimmt, an dem er uns begegnen will.

An uns liegt es nun, ob wir diese Verabredung einhalten. Der genaue Termin ist offengelassen. Aber das heißt doch wohl: Gott kann uns an jedem Tag und zu jeder Stunde begegnen. Hier in diesem Gottesdienst ist er uns nahe, wenn wir sein Wort hören und das Sakrament des das Abendmahls miteinander feiern.

Aber er ist uns auch nahe in den Menschen, die er uns schickt: im Ehepartner, in den Kindern, in den Verwandten, in den Freunden, aber auch in den Unbekannten, deren Not uns vor die Füße gelegt wird. Gott hat sich mit uns verabredet, er will uns begegnen. Das war sein Wille von Anfang an, dazu hat er uns erwählt.

Es könnte Gott kalt lassen, was aus uns wird. Er könnte zu den Unmengen an Menschen ein ganz unpersönliches Verhältnis haben wie zu einem Ameisenhaufen. Aber wir sind nicht Inventarstücke einer großen bunten Welt, sondern von ihm geliebte Wesen, so wie ein Vater seine Kinder liebhat. Er hat uns erwählt. Daran sollten wir nicht zweifeln, sondern ihn dankbar loben. Gott ist auch nicht der große Unbekannte, sondern in Christus hat er für uns Gestalt angenommen.

Es ist nicht ein glücklicher Zufall, daß Gott auf uns gestoßen ist. Es ist auch nicht zu befürchten, daß er unversehens wieder anderen Sinnes werden könnte. Schon vor der Erschaffung der Welt hat er an uns gedacht. Er hat uns als seine Kinder haben wollen, denen er Gutes tun kann und die gern zu ihm gehören.

Hierin liegt der Segen für uns: Wir haben einen Gott, der uns liebhat. Deshalb ist unser Leben nicht eine Fahrt ins Blaue. Es waltet nicht ein blindes Schicksal über uns und das Ziel unsres Lebens ist nicht ungewiß. So wie bei einer Wanderung über das freie Feld der Kirchturm uns die Richtung nach der Heimat zeigt, so zeigt uns Gott den Weg zur himmlischen Heimat

Seit unsrer Taufe gehören wir zu Gott. Hier hat er seine Erwählung in die Tat umgesetzt. Seitdem haben wir die Möglichkeit, die Liebe Gottes in unserem Leben umzusetzen und unter die Leute zu bringen. Mancher hat schon viel Gutes im Leben tun können. Wir wollen Gott dafür dankbar sein, daß er uns die Fähigkeiten dazu mitgegeben hat.

 

(2.) Ich glaube, daß Jesus Christus mich erlöst hat:

Vielleicht sehen wir aber gar nicht so recht ein, daß wir von etwas losgemacht werden müssen. Wir sind doch freie Menschen und können tun und lassen, was wir wollen. Aber wenn jemand krank ist, dann täuscht er sich ja auch oft über seiner tatsächlicher Zustand: entweder hält er sich für kränker als er tatsächlich ist. Oder er will die Gefahr für sein Leben nicht wahrhaben.

Man kann sich sehr über sich selbst täuschen. Entweder man hält sich für größer und tüchtiger sie man tatsächlich ist. Oder man meint, zu nichts mehr zu taugen und im Grunde ein wertloses Leben zu führen. Wenn man jung ist, wird man eher der Gefahr der Überschätzung unterliegen. Wenn man älter ist, wir man eher seine Möglichkeiten unterschätzen.

Auf dem Gebiet des Glaubens ist eine solche Täuschung aber noch viel gefährlicher. Da versucht man oft, die Schuld mit einem Mantel des Vergessens zuzudecken. Gott reißt uns diesen Mantel herunter und zeigt uns allen Leuten, so wie wir wirklich sind. Aber Christus bekleidet uns wieder mit Mantel der Vergebung und verändert so unser Leben ganz tiefgreifend.

Dazu hat Jesus sein Blut am Kreuz vergossen. Dazu ist er von Gott am dritten Tag auferweckt worden. Er ist jetzt der Herr des Weltalls und räumt alles weg, was Gott und uns beschwerlich sein könnte. Allmählich füllt er die ganze Welt auf mit der Liebe Gottes und zuletzt wird nichts mehr sein, was nicht von seiner Liebe erreicht wird.

Wir wollen heute dafür danken, daß sie vor allen Dingen uns erreicht hat. Gerade die Goldenen Konfirmanden haben hier eine Aufgabe, anderen davon zu erzählen, wie sie die Liebe Christi in ihrem Leben erfahren haben. Gewiß war für jeden viel Schweres dabei, auch Schuld und Versagen. Aber heute haben wie die Gelegenheit, mit Christus in Berührung zu kommen und ihm zu danken für das, was er an uns getan hat.

 

(3.) Ich glaube, daß der Heilige Geist mich erleuchtet hat: Die volle Verwirklichung des Heils liegt noch vor uns. Wir können das Erbe noch nicht voll antreten. Aber wir haben einen An­rechtschein darauf. Das ist der Heilige Geist, der und seit der Taufe mitgegeben wurde. Sicherlich werden wir erst jenseits des Todes in einem neuen Leben erkennen, welche Bedeutung dieser Geist Gottes für unser Leben hat.

Gott selbst schafft durch seinen Geist die neue Erkenntnis: Für den Maulwurf besteht die Welt aus kleine Erdlöchern und Gängen. Der Mensch aber denkt in den Weiten des Weltalls. Der glaubende Mensch aber dringt in noch tiefere Geheimnisse ein. Es ist ja nicht so, daß der Glaube alles vernebelt, wie manche behaupten. Im Gegenteil: Er schafft Klarheit. Einmal läßt er uns die Geheimisse Gottes erkennen. Zum anderen aber gibt er uns Klarheit für unser praktisches Leben. Daß ich mich selbst Welt im Lichte Gottes sehe, verdeckt mir ja nicht den Blick auf gegebene Tatbestände. Ich werde vielmehr dankbar und aufgeschlossen immer wieder Neues entdecken‚ aber auch kritisch und nüchtern bleiben.

Wenn wir jetzt in diesen Tagen die Natur betrachten, dann werden wir all ihre Schönheit entdecken. Aber wir sehen auch den wirtschaftlichen Nutzen, den sie für uns hat; und wir bemerken auch die Gefahren‚ die der Welt durch die Umweltverschmutzung drohen. Dennoch begreifen wir die Natur als eine Schöpfung Gottes. Und wenn wir sie genießen oder benutzen, dann sind wir Gott dankbar für seine Gabe. Der Glaube an Gott hindert nicht unsre Erkenntnis, sondern erweitert sie nur noch.

Dieser Geist Gottes macht uns aber auch zugleich deutlich, wessen Eigentum wir sind und unter wessen Schutz wir stehen. Ein Sklave hatte im Altertum eine Tätowierung     an sich, an der man gleich erkennen konnte, welchem Herrn er gehörte. So ist uns auch bei der Taufe gewissermaßen ein Siegel aufgeklebt worden, das unsre Zugehörigkeit zu Gott klarlegt.

Gewiß, mancher hat die Berufung in die Gemeinde Gottes nachher nicht mehr wahrhaben wollen. Er hat gewissermaßen das Siegel Gottes abgerissen und versucht sich so durchs Leben zu schlagen. Auch von den Goldenen Konfirmanden sind heute nicht alle hier, die damals konfirmiert worden sind.

Wir aber dürfen freudig bekennen, was Gott uns geschenkt hat: Ich glaube‚ daß mich Gott erwählt hat! Ich glaube‚ daß Jesus Christus mich erlöst hat! Ich glaube, daß der Heilige Geist mich erleuchtet hat! Ohne unser Zutun hat Gott das an uns getan. Wir werden auch weiterhin nur Empfangende sein. Aber gerade deshalb könnte alle Verdrießlichkeit von uns abfallen und alle Müdigkeit schwinden. Wir haben doch wenigstens eine Perspektive, uns ist doch schon längst die Zukunft durch Gott gesichert.

 

 

Goldene Konfirmation: 1. Joh 4, 16 b - 21

Als die heutigen Goldenen Konfirmanden gerade erwachsen waren, begann der Zweite Weltkrieg. Er hat auch unter ihnen viele Opfer gefordert. Jedes Jahr gehen wir nach dem Gottesdienst auf den Friedhof und gedenken der gefallenen und verstorbenen Mitkonfirmanden.

Aber wir wollen auch die nicht vergessen, die aus Krankheitsgründen nicht mit dabei sein können. Es gibt natürlich auch immer solche, die nicht teilnehmen wollen. Aber es gibt auch die anderen, die wirklich nicht können. Sie sind körperlich krank, aber auch seelisch so belastet oder mit Problemen überhäuft, daß sie sich das Drum und Dran einer solchen Feier nicht zumuten können.

„Gott ist Liebe!“sagt der 1. Johannesbrief. Doch müssen wir nicht manchmal ein Fragezeichen hinter diese Aussage setzen. Wo war denn Gottes Liebe, als es Krieg gab? Wo spüren wir seine Zuwendung in Zeiten der Krankheit? Nun, Krankheit gehört mit zu unserem Leben dazu, sie ist sozusagen ein Teil der Schöpfung. Dagegen können wir nur bedingt etwas tun. Kriege aber sind immer Schuld der Menschen. Die Opfer der Kriege und anderer Gewalttaten brauchten nicht zu sein, wenn alle Menschen nach der Liebe Gottes lebten.

Gottes Liebe ist dennoch da. Wo uns Dunkelheit empfängt, da beginnt Gottes Sonne aufzugehen. Wo unsre Möglichkeiten enden, da fangen Gottes Möglichkeiten erst an. Da wird uns erst deutlich, daß nur der Glaube an Gottes Liebe über solche schweren Schicksalsschläge hinweghelfen kann.

„Gott ist Liebe“. Das ist etwas anderes als die Rede vom „lieben Gott“. Wer vom „lieben“ Gott redet, der macht sich oft nur eine billige Religion zurecht, so wie sie ihm paßt. Gott ist da noch eine schöne Randverzierung des Lebens, ein gelegentlicher netter Gedanke. Aber alles darf nicht störend in den Ablauf des Tages eingreifen, denn dort geht es ja manchmal gar nicht „lieb“ zu, sondern nach anderen Gesetzen.

Ein „lieber Gott“ wird nicht unbequem. Man kann ihn vergessen oder ihm den Laufpaß geben, wenn er anscheinend nicht lieb gewesen ist.

Er soll immer in Reserve stehen. Aber von uns soll er keinen Bereitschaftsdienst oder gar einen sofortigen Einsatz verlangen. Doch ein solcher Gott ist nichts anderes als die Götzen der Heiden, denen man Schläge gibt, wenn sie den Wünschen ihrer Verehrer nicht nachgekommen sind.

Die Liebe Gottes erkennen wir am besten, wenn wir auf seinen Sohn schauen. An ihm hat Gott gar nicht „lieb“ gehandelt. Der Sohn mußte sogar sterben, um uns das Heil zu bringen. Aber er blieb dennoch in der Liebe Gottes. Diese hört nicht auf‚ wenn wir Schweres im Leben erfahren.

Gott hat ja den Menschen geschaffen, weil er jemanden zum Liebhaben braucht. Aber er thront nicht als ewig liebender Gott im Himmel und strahlt nicht ständig seine Liebesenergie ab. Seine Liebe wird vielmehr ständig zum Ereignis durch Jesus Christus. Hier gibt Gott sich selbst, hier offenbart er das Tiefste seiner Gottheit.

Doch Gott ist nicht einer, der nur noch lächeln kann. Wenn Gott zornig ist, dann ist das kein Irrtum, der durch die frohe Botschaft aufgeklärt werden muß. Über der Güte Gottes darf man seinen Ernst nicht übersehen. Und es ist nun einmal eine Tatsache, daß wir sündige Menschen sind und die Vergebung Gottes brauchen.

Aber Gott will uns ja helfen. Im Abendmahl bietet er uns immer wieder seine Gemeinschaft an. Deshalb dürfen wir auch Zuversicht haben für den Tag des Gerichts. Das Wort „Zuversicht“ meinte ursprünglich die demokratische Freiheit, seine Meinung und seine Beschwerden in der Öffentlichkeit ohne Scheu auszusprechen. So darf auch ein Christ alles sagen, darf Gott seine Not und auch seine Glaubensprobleme sagen.

Deshalb hätten auch die mitmachen sollen bei der Goldenen Konfirmation, die seelische Probleme haben‚ wie sie sagen. Hier in der Kirche kann man doch etwas hören von der Liebe Gottes, die uns hilft, unser Leben besser zu bewältigen. Hier können wir auch erfahren, daß wir keine Angst zu haben vor dem endgültigen Gericht Gottes. Ein Angeklagter kann doch alles gelassen hinnehmen, wenn er weiß: „In letzter Instanz werde ich ja doch freigesprochen!“

Dann nimmt ihn auch das nicht zu sehr mit, was er vorher durchzumachen und zu erleiden hat. Er kann ohne Scheu und Sorge leben und braucht sich nicht mißtrauisch zu verschließen. Und er wird auch anderen gegenüber nicht mit Angstmachen operieren, sondern wird ihnen Freiheit gewähren, weil er selber aus der Freiheit lebt. Hier wird nun deutlich: ein Leben in Gottes Liebe bezieht immer auch den Mitmenschen mit ein. Wenn es heißt: „Gott ist Liebe!“

dann gehört unbedingt dazu: „Laßt uns lieben!“ Von der Liebe kann man leicht reden. Aber das Tun ist oft schwer. Es gibt keine Mittellage zwischen Liebe und Haß: Wer den Mitmenschen nicht liebt, der haßt ihn .Und wo der Mitmensch gehaßt wird, da bleibt kein Raum für die Gottesliebe.

Die junge Gemeinde, an die der erste Johannesbrief gerichtet ist, hatte mit einer neuen Glaubensbewegung zu tun, deren werbenden Worte ganz ähnlich klangen wie die christliche Botschaft. Aber es ging nur um die unmittelbare Schau Gottes, aber über die Welt und ihre Verpflichtungen wollte man sich erheben. Die neue Weltanschauung war völlig liebeleer: Es ging nur um das Heil des Einzelnen„ nicht um das Recht der Ausgebeuteten und Unterdrückten, nicht um di Hilfe von Mensch zu Mensch für Kranke und Verletzte, für Leidende und Behinderte, für Schwache und Verzweifelte.

Der Johannesbrief aber macht deutlich, daß die Liebe zu Gott und die Liebe zu den Menschen zusammengehören. Wir leben alle aus Liebe, die wir von Gott empfangen haben. Nur vergessen wir das oft. Da geht es uns so wie jenen Fischen, die nicht wußten, was Wasser ist. Sie gingen zu einem gelehrten Fisch, der ihnen das Wasser zeigen sollte. Er sagte: „O ihr törichten Fische! Im Wasser lebt und bewegt ihr euch. Aus dem Wasser seid ihr gekommen, ins Wasser kehrt ihr wieder zurück. Ihr lebt im Wasser, aber ihr wißt es nicht. Alles, was euch umgibt, ist Wasser!“

Genauso möchte man auch sagen: „O ihr törichten Christen! Aus der Liebe Gottes seid ihr gekommen und zur Liebe Gottes kehrt ihr wieder zurück Ihr lebt in der Liebe Gottes, aber ihr wißt es noch immer nicht!“ Aber heute hören wir es wieder einmal im Gottesdienst. Wir sollten es nicht wieder vergessen.

Gott will uns immer wieder hineinziehen in den Kreislauf seiner Liebe von ihm zu den Menschen und wieder zurück. Wenn einer Kreislaufstörungen hat, dann kommt es zu Verkrampfungen im Adersystem. Es treten Stauungen auf‚ die lebensgefährlich werden können.

Dann sinkt die Arbeitsfreude, man zweifelt an seinen Fähigkeiten, es kommt zu Schwierigkeiten in Beruf und Familie. Pillen allein helfen da nicht. Häufig liegt die Ursache ja im seelischen Bereich und kann also nur von innen heraus wirklich behoben werden. Kreislaufstörungen kann es aber auch im Leben einer christlichen Gemeinde geben. Die Zahl der praktizierenden Christen ist ziemlich klein; nur ein Teil füllt die Bänke und Stühle in Kirche und Gemeindehaus. Deshalb ist es besonders schön, daß heute einmal etwas mehr Leute da sind. Doch immer noch größer ist die Zahl der Nur-Kirchensteuer-Zahler, die sich nicht einmal die Zinsen ihres Kapitals abholen. Dazu kommen noch die Unentschiedenen, die zwischen Glauben und Nicht-Glauben pendeln.

Sie alle verstopfen den Kreislauf. Aber auch die Kirchlichen können hemmend wirken, wenn sie nicht bereit sind, einen größeren oder kleineren Dienst in der Gemeinde und an der Welt zu übernehmen.

Der heutige Gottesdienst könnte wieder einmal so eine Aufbauspritze sein, die wieder neue Kraft gibt. In den vergangenen Jahren konnte man das mehrfach beobachten, daß der Gottesdienst zur Goldenen Konfirmation nicht der letzte war, zu dem man gekommen ist; mancher hat sich danach sehr aktiv am Gemeindeleben beteiligt.

Gott hat uns lieb! Wenn wir das recht begriffen haben, kommt der Kreislauf der Liebe wieder in Ordnung. Wir brauchen uns ja nicht um alle Menschen auf einmal zu kümmern. Unsre Zeit, unsre Kraft und unsre Mittel sind ja begrenzt. Aber sie reichen aus, um den einen oder anderen in den Kreislauf der Liebe Gottes hineinzuziehen. Dadurch funktioniert der ganze Kreislauf besser, und das kommt dann ja auch uns selber zugut.

Wer das recht begriffen hat‚ wird sich durch eine sogenannten „Schicksalsschlag“ nicht gleich umwerfen lassen. Er wird auch nicht mehr nur nach vorn und nach oben streben und andere dabei zu verdrängen suchen. Wer sich bei Gott aufgehoben weiß, hat Freiheit zur Liebe.

 

 

 

Johannistag und Michaelis

 

Johannistag: Lk 1, 57 - 64 und 76 - 79

Heute werden die Vornamen wieder modern, die schon die Grpßvä.ter und Großmütter hatten. Wir könnten das vielleicht schon an den Namen der Konfirmanden zeigen, erst recht aber am Taufregister der letzten Jahre. Besonders bei den Jungen sind dabei die biblischen Namen sehr beliebt. Spitzenreiter war zum Beispiel „Christian“, aber es gab auch „Thomas, Stefan, Michael“ und sogar so seltene biblische Namen wie „Samuel, Jonathan und Hosea“. Doch es wäre natürlich auch gut, wenn man etwas über die biblischen Personen wüßte nach denen die Kinder genannt werden .Wir wollen das heute einmal tun mit dem Namen „Johannes“ tun, der ja auch heute wieder als Vorname verwendet wird, und zwar nicht in der Kurzform „Hans“, sondern richtig „Johannes“. Schließlich haben wir ja heute den „Johannisstag“, den 24.Juni.

Der Name „Johannes“ kommt ja in der Bibel mehrfach vor. Wir denken vielleicht zuerst an den Jünger Jesu, der ja der Lieblingsjünger war. Dann gibt es den Seher Johannes, der die Offenbarung geschrieben hat; dazu die Johannesbriefe. Schließlich noch den Evangelisten Johannes. Aber der Johannestag am 24. Juni bezieht sich auf den Täufer Johannes, der der Vorläufer Jesu war.

Gott macht durch bestimmte Zeichen auf dieses Kind aufmerksam, so daß man im ganzen jüdischen Bergland von ihm spricht. Es beginnt mit der langen Kinderlosigkeit der Eltern. Erst in einem Alter, in dem man normalerweise nicht mehr mit Kindern rechnen

kann, wird das erste Kind geboren. In einem Volk, in dem man Kindersegen sehr hoch einschätzt, wird so etwas besonders vermerkt. Am Grenzfall kann man besonders lernen, was an sich für immer gilt.

Manche Leute sprechen vom „Kinder machen“. Dabei können sie es mitnichten „machen“. Nicht einmal so eine einfache Sache, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird, können sie beeinflussen. Aber sie haben es auch nicht in der Hand, ob das Kind gesund ist, ob es gut lernen wird und einen guten Charakter haben wird. Manche bekommen auch keine Kinder, obwohl sie es sich sehr wünschen.

Der Eintritt eines Kindes ins Leben beruht nicht auf menschlichem Wollen und Wünschen, sondern stellt Gottes besondere Tat dar. Wer an Gott, den Schöpfer glaubt, sagt von jedem Menschenleben dankbar: Gott hat es gewollt und gegeben.

Wenn Gott gar etwas Besonderes mit einem Menschen vorhat, dann macht er besonders deutlich, daß er sich das Wann und Wie vorbehalten hat. Im Zusammenhang mit der Ankündigung der Geburt des Kindes ereignet sich gleich ein kleines Bündel von Sonderbarkeiten: Gerade den Zacharias trifft das Los, das Räucheropfer im Heiligtum darzubringen. Dort hat er die Engelerscheinung, die zum Stummsein führt. Und schließlich der ungewöhnliche Name des Kindes, den Vater und Mutter unabhängig voneinander festlegen.

Zeichen sind natürlich keine Beweise. Für alles könnte man sicher auch einen „natürlichen“ Erklärungsversuch finden. Aber sicherlich gibt es solche Zeichen Gottes, aber sie sind nur dem Glauben als solche erkennbar. Es wird also darauf ankommen‚ ob die Predigt in uns zündet, das heißt, ob der für uns in Sicht kommt, den der Täufer angekündigt hat.

Im weltlichen Bereich sucht man einen Menschen nach vorne zu bringen, den man für geeignet hält. Vielleicht wird er erst noch besonders ausgebildet. Dann wird er „aufgebaut“, in der Presse wird von ihm berichtet, er kommt ins Fernsehen, er wird mit Sonderaufgaben betraut. Spitzenpolitiker versuchen so, ihren möglichen Nachfolger nach vorne zu bringen, er kommt im Partei- und Staatsämter. Ob er nachher tatsächlich genommen wird, ist noch eine andere Frage, da sind dann oft plötzlich doch andere an Drücker.

Aber einen Menschen wie Johannes konnte nur Gott geben. Die ungewöhnlichen Umstände sollen uns dabei hellhörig machen. Aber darauf hätte er auch verzichten können. Wichtig ist allein, daß es erst recht in diesem Fall ganz und gar seine Sache ist, dieses Leben entstehen zu lassen. Er sagt sorgt auch dafür, daß das Kind einen Namen erhält, der gleichzeitig ein „Programm“ ist.

Einen beliebigen Menschen mag man so nennen wie es den Eltern gefällt, wie es dem Geschmack und der Mode entspricht, vielleicht auch, was den Wünschen und Plänen der Eltern angemessen erscheint. Johannes aber heißt: „Gott ist gnädig!“ Da sagt der Name schon, was Gott mit diesem Kind vorhat; hier beginnt er sein Heilswerk. Ein sprechender, ein „predigender“ Name begleitet künftig diesen Mann und weist ihn als ein Werkzeug Gottes aus, denn ein Name ist nicht Schall und Rauch, war es zumindest damals nicht.

Die Lebensaufgabe des Täufers wird sein, „vor dem Herrn herzugehen“ und „Prophet des Höchsten“ zu sein. Er ist nicht nur Vorläufer Gottes wie beim Propheten Jesaja, sondern er ist ausdrücklich der Vorläufer des Messias Jesus. Johannes ist das Zeichen dafür, daß Gott sich

jetzt aufmacht, um seine Welt wiederzugewinnen.

Das wird besonders auch deutlich in dem Lobgesang des Zacharias, dessen Schlußverse wir gehört haben. Zweimal wird erwähnt, daß Gott sein Volk besucht. Er naht sich also seinem Volk in Gnaden und will an ihm handeln. So könnte sich bei uns manches ändern. Solange eine Sünde nicht vergeben ist, solange nicht das behoben ist, was uns vor Gott belastet, kann man nicht von „Heil“ reden. Was nützt denn ein Haus mit allem Komfort und ein Leben in Reichtum, wenn die ganze Familie zum Beispiel mit dem Vater zerstritten ist? Wenn immer nur „dicke Luft“ ist, dann wäre das doch bedrückend und quälend.

Gott will eine ungestörte und glückliche Gemeinschaft in seinem Hause. Dazu bedarf es der Umkehr. Der Täufer wird Gott den Weg bereiten, indem er zur Umkehr ruft. Umkehr, nicht  d a m i t Gott kommen kann, sondern w e i 1 er gekommen ist. Daß er uns besucht, hat seinen Grund in seiner herzlichen Barmherzigkeit. Sein Erbarmen geht bei ihm „durch und durch“. Er will seine verlorenen Menschen wiederhaben. Deshalb kommt er selbst in seinem Sohn.

Gott will seinem Volk „erscheinen“, das „in Finsternis und Schatten des Todes sitzt. Er wird also als ein aufgehendes Gestirn beschrieben, das alle Dunkelheit überwindet. In unserer von künstlichen Lichtern erhellten Welt können wir uns das Grauen vor der Finsternis in früheren Zeiten gar nicht mehr so recht vorstellen. Im Finstern verbirgt sich das Böse, dort lauert die Gefahr. Wenn ein Gefangener in Dunkelhaft kommt, dann wird sein Kerkerdasein noch beängstigender.

Licht aber kann die Angst verscheuchen. Mit dem Wort „Es werde Licht!“ fing nach der biblischen Erzählung die Welt an. Mit Jesus aber ist erst das volle Licht in die Welt gekommen. Deshalb hat man die Feier seines Geburtstags auf Weihnachten verlegt, also in die Zeit der Wintersonnenwende, wenn die Tage wieder länger werden.

Zur Zeit aber sind wir an der Sommersonnenwende. Und dahin gehört Johannes der Täufer. „Christus muß wachsen, er aber muß abnehmen“, heißt es im Johannesevangelium. Wir machen uns das vielleicht nicht bewußt, während wir noch auf den Hochsommer warten: Das Licht und die Wärme nehmen jetzt wieder ab. Johannes war das Ende des Alten, das vergeht.

Gott aber leuchtet auf‚ unabhängig von der Jahreszeit oder Tageszeit.

Wohin seine Strahlen, gelangen, da wird das Dunkel aufgehoben und vertrieben. Da sieht man wieder, findet sich wieder zurecht und unterscheidet wieder. Was gefährlich sein könnte, muß sich zurückziehen. Wo Licht ist, kann das Böse nicht gedeihen, da wächst Gutes und reift he­ran.

Man sollte nicht sagen: „Dadurch gerät die Welt nur in eine neue Beleuchtung, aber eigentlich bleibt alles beim alten!“ Sicherlich bleibt vieles so, wie es war. Und doch ist unser Leben schon total verwandelt und wir leben in dem Horizont der Hoffnung. Ziel ist ein Leben in Frieden.

Dazu gehört ein Leben ohne Gewaltanwendung und Blutvergießen, wo man ohne Sorge seiner täglichen Arbeit nachgehen kann und unbedroht ihren Ertrag genießen kann. Aber das ist dann doch alles eingebunden in eine neue Weltordnung und ein neues Weltklima, in dem Gewalt und Drohung, Ausbeutung und Erpressung, Menschenverachtung und List nicht mehr gedeihen können.

Natürlich kommt der Friede nicht über uns wie der Sommer, sondern er will von uns wie ein Weg gegangen sein. Die Predigt Johannes des Täufers, der uns zur Umkehr ruft, könnte uns dazu anleiten und uns Mut zum Frieden machen.

 

 

Johannistag: Joh 3, 22 - 30

Der Johannistag am 24. Juni ist ein kirchlicher Feiertag, der früher eine viel größere Bedeutung hatte als heute. Daran kann man sehen, welches Schicksal ein Tag erleidet, wenn er nicht mehr staatlich geschützt und arbeitsfrei ist. Dennoch ist es für uns angebracht, diesem Tag auch heute unsre Aufmerksamkeit zu widmen.

Früher beachtete man den Tag vor allem in der Landwirtschaft, denn an diesem Tag begann man auf den Gebirgswiesen das Gras zu mähen. Aber uns soll es natürlich um die kirchliche Bedeutung des Tages gehen. In manchen Gemeinden wird der Tag mit einer Andacht auf dem Friedhof begangen, in den Abendstunden, so daß man die Gräber der Angehörigen mit Lichtern schmücken kann Teilweise wird auch noch der Brauch des Johannisfeuers geübt. Manche sagen auch Sonnenwendfeuer dazu. Aber christlich gedeutet handelt es sich um das Johannisfeuer, nicht mehr um den heidnischen Brauch.

Auf jeden Fall hat der Johannistag mit der Symbolik des Lichtes und des Feuers zu tun. Das Fest fällt ja tatsächlich in die Zeit der Sommersonnenwende. Das Tageslicht wird wieder kürzer, die Nächte wieder länger. Zur Wintersonnenwende, wenn wir den Geburtstag Jesu feiern, ist es dann wieder umgedreht. Mit anderen Worten: Wenn Johannes kommt, geht es bergab mit dem Licht. Jesus aber hat ein neues Licht in die Welt gebracht.

Man hat zwar gegen diese Deutung einwenden wollen‚ hier werde ein geschichtliche Tatsache mit dem Gestirnaberglauben verknüpft. Aber es ist doch auch ein schöner Gedanke (der sich erstmals bei dem Kirchenvater Augustin findet), daß man die durch Jesus herbeigeführte Wende auch in der Natur gleichnishaft abgebildet findet. Die beiden Wörter „wachsen“ und „abnehmen“ werden im Griechischen gern für die Zunahme und Abnahme des Sonnenlichtes verwendet. Da legt sich eine solche Deutung an sich doch ganz nahe.

Die Bescheidenheit des Täufers ist auch für uns heute noch vorbildlich: „Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen!“ Es kann beim Glauben niemals um die menschliche Ehre gehen, um menschlichen Erfolg und Größe, sondern immer nur um die Ehre Jesu Christi und die Hoheit Gottes. Es geht darum, ob wir Gott auch wirklich Gott sein lassen.

Nach dem Johannesevangelium haben Johannes der Täufer und Jesus nebeneinander gewirkt. Die anderen Evangelisten erzählen davon nichts. Lukas legt sogar großen Wert darauf, daß erst alles über Johannes erzählt wird, sogar sein Tod, ehe Jesus seine Wirksamkeit beginnt. Aber möglich ist immerhin, daß doch das Johannesevangelium recht hat, beide Gottesmänner also gleichzeitig wirkten.

Einmütig bezeugen alle Evangelien, daß Jesus von Johannes getauft worden ist. Jesus ist also aus der Täuferbewegung hervorgegangen Aber dann hat er sich wohl doch selbständig gemacht und ist eigene Wege gegangen, im Gehorsam gegen Gott. Aber eigenartig wäre schon, wenn Jesus auch selber getauft hätte. Im Johannesevangelium wird ja auch später die Angabe von der Taufe Jesu wieder zurückgenommen mit der Bemerkung, nur seine Jünger hätten getauft.

Aber an sich war eine Taufe erst nötig nach Tod und Auferstehung Jesu. Die Taufe soll ja eine Gemeinschaft mit Jesus begründen, auch wenn er selbst nicht persönlich da ist. Solange er aber als Mensch unter Menschen war, konnte ja jeder Gemeinschaft mit ihm haben und brauchte dazu nicht erst getauft zu sein. Die Taufe war erst nötig in der Kirche, also nach Ostern.

Die Angabe des Johannesevangeliums hätte den Vorzug, daß Jesus durch die Taufe schon zu seinen Erdentagen eingesetzt oder doch wenigstens gespendet hätte. Doch vielleicht wäre es nur eine Wassertaufe ähnlich der des Johannes gewesen, die dann auch Jesu Auferstehung von der Geisttaufe abgelöst worden wäre. Es gibt hier also einige Schwierigkeiten. Der Evangelist Johannes geht mit den Tatsachen aus dem Erdenleben Jesu bemerkenswert frei um. Aber er will halt nicht nur erzählen, sondern er will Christus verkündigen, und zwar so, daß

er dabei eine Antwort gibt auf die Glaubensfragen seiner Zeit und seiner Gemeinde.

Es gab offenbar eine ganze Zeit eine Johannesgemeinde und eine Jesusgemeinde nebeneinander. Beide tauften sie, beide beriefen sich auf einen Gottesmann. Welche Gruppe hatte nun Recht? Der Evangelist Johannes verlegt den Konflikt zurück in die Lebzeiten dieser Lebzeiten dieser Männer und läßt sie selbst eine Entscheidung herbeiführen.

Nach ihm hat Johannes selber gesagt: „Ich bin nur der Vorläufer, Jesus ist der Richtige, auf den ihr schon lange gewartet habt!“ Das muß der wirkliche Johannes auch tatsächlich so gesagt haben‚ das kann man nicht erst später von ihm behauptet haben, denn sonst hätten die Johannesjünger einer solchen Behauptung sicher sofort widersprochen. Johannes wußte: „Ich bin nur Wegbereiter des Kommenden!

Wir hören allerdings auch, daß Johannes zeitweise wieder unsicher geworden ist, ob Jesus der Messias ist. Er mußte erst noch begreifen, daß Jesus anders war, als er es angenommen hatte. Die später noch vorhandenen Täufergemeinden berufen sich auf diesen Zeitpunkt im Leben des Johannes, wo er schwankend geworden war. Sie wollen bei diesem Glaubensstand stehen bleiben und wollen Jesus nicht anerkennen. Johannes aber ist vorangeschritten und hat zum Glauben an Jesus gefunden.

Das war durchaus nicht selbstverständlich. Damals tauchten immer wieder Männer auf‚ die sich für den Messias hielten oder wenigstens ausgaben. Johannes hätte ja auch denken können: „Warum gerade Jesus und nicht ich selber?“ Aber das war nicht seine Versuchung. Er wußte: Ein Mensch hat eben die Rolle zu spielen, zu der er beauftragt ist. Ein Mensch kann

nichts nehmen, wenn es ihm nicht vom Himmel gegeben ist. Was hätte er denn gewonnen, wenn er sich seine Aufgaben selbst ausgesucht hätte? Er hätte dann zwar frei wählen können, wäre aber schwach geblieben, weil Gott nicht hinter ihm gestanden hätte. Weil er sich aber an Gottes Auftrag gebunden weiß, hat er auch das Format, in den Hintergrund zu treten, wenn das Ziel erreicht ist

Die Geltungssucht ist auch in der Gemeinde Gottes der Hebel, mit dem der Satan verwirren und zerstören will. Da will halt auch mancher im Rampenlicht stehen. Er will die erste Geige spielen‚ weil nur so der Sache gedient wird. Angeblich kann es keiner so gut. Das gilt natürlich auch von dem Pfarrer einer Gemeinde. Wie mancher spricht von „meiner Gemeinde“, wo es doch die Gemeinde Gottes ist. Wie mancher meint, ohne ihn werde alles zusammenbrechen. Oder sie brauchten nur ihn zu rufen‚ dann ginge es wieder bergauf. Dabei wäre es doch viel richtiger, wenn Christus für die Menschen so wichtig würde, daß sie den Pfarrer darüber vergessen. Es geht um die Sache und nicht um die Menschen.

Johannes der Täufer kann uns alle da die rechte Bescheidenheit lehren. Er ist wie der Freund des Bräutigams, der die Hochzeit vorbereitet und die Braut abholt. Aber er heiratet die Braut nicht selber, auch nicht wenn er an ihr Gefallen gefunden haben sollte, sondern er tritt still

beiseite und freut sich mit dem Bräutigam über dessen Glück. Doch diese Bescheidenheit ist keine menschliche Tugend, sondern der Herr soll ja zu seinem Recht und zu seiner Ehre kommen‚ darum geht es. Es geht nicht darum, daß man ein feiner Mensch ist und dem anderen höflich den Vortritt läßt, sondern es geht darum, daß man Gott auch wirklich Gott sein läßt.

Aber nun soll Johannes der Täufer doch nicht ganz vergessen sein. Der Johannistag ist ein Christusfest. Wenn Johannes bescheiden zurücktritt, dann bezeugt er doch Jesus als den Kommenden. Jesus wird zwar äußerlich auch mit Wasser taufen, aber in Wirklichkeit wird er mit Geist und Feuer taufen. Durch diese Taufe verfällt der alte Mensch, aber es entsteht ein neuer Mensch, der sein Leben ganz aus Christus hat.

Nach Jesus kommt es auch nicht wieder zu einer Sonnenwende oder Zeitenwende, bei der Johannes wieder zunehmen und Christus wieder abnehmen würde. Die kreisende Zeit des Neuwerdens und Vergehens wird abgelöst durch eine gleichbleibende Zeit, die auf ein Ziel hinläuft. Die Zeitspirale wird gewissermaßen aufgebogen zu einer Zeitgeraden, die auf Gottes Ewigkeit hinführt.

So können wir uns auch nur freuen, wie Johannes der Täufer, wenn wir selber auch vor Gott gering dastehen. Verdient haben wir es nicht, wenn wir für würdig erachtet wurden zu seiner Gemeinde zu gehören. Für den Täufer war das eigene Abnehmenmüssen nur die Kehrseite dessen, daß Christus wächst. So kann auch für uns nichts Besseres geschehen, als daß Christus ganz groß wird, weil in ihm Gott ist, der sich uns ganz zugewandt hat und uns führt und leitet nach seiner Welt zu.

 

 

Michaelistag: Offb. 12, 7 - 12a

Wenn wir etwas vom Teufel hören, dann denken wir vielleicht an die komische Figur im Kasperletheater. Es wäre schön, wenn er so leicht zu erkennen wäre. Dann brauchten wir ihn nicht zu fürchten, denn wir könnten uns dann leicht gegen ihn wappnen. Aber so leicht ist es nicht mit dem, was wir „Teufel“ nennen.

Die Bibel hat übrigens mehrere Namen dafür. Der Teufel ist der, der alles durcheinanderbringt. Das hebräische Wort dafür heißt „Satan. In der Offenbarung des Johannes hat er die Gestalt eines Drachen. Oder er wird „die alte Schlange“ genannt; damit wird an die Geschichte von Adam und Eva erinnert, die beispielhaft schildert, wie die Macht des Bösen über die Menschen Macht gewinnt.

In Wirklichkeit aber bedient sich das Böse der Menschen, um seine Ziele zu erreichen. Jeder kann für jeden zum Verführer werden. Der Teufel kann dem jungen Mann in der Gestalt eines hübschen Mädchens begegnen. Der Mann kann seiner Frau gegenüber die Rolle des Verführers übernehmen. Der Mensch, dem wir unser Vertrauen geschenkt haben, kann für uns zur Verführung werden.

Aber es gibt in der Welt nicht nur das Böse, sondern auch die guten Mächte. In der Offenbarung des Johannes werden sie als „Engel“ bezeichnet. Wir können mit dieser Vorstellung heute nur noch wenig anfangen. In der Kunst werden sie meist als Frauengestalten dargestellt oder gar als Kinder mit niedlichen kleinen Flügeln. Aber in der Offenbarung sind die Engel kämpferische Männer. Ihr Anführer ist Michael, einer der drei Erzengel. Sie treten an zum Kampf gegen den Drachen und seine Engel. Es mag uns verwundern, daß Engel auch auf der anderen Seite stehen und Satan ursprünglich Gottes Diener war, ehe er von ihm abgefallen ist. Aber die Engel sind Personen, die sich entscheiden können und wollen. So haben sie sich, obwohl Geschöpfe Gottes, gegen Gott gewandt.

Doch der Sohn Gottes ist gekommen‚ um die Werke des Teufels zu zerstören .Jesus sah einst den Satan vom Himmel fallen. Jetzt kämpfen die Engel im Himmel gegen den Drachen. Christus braucht gar nicht selber einzugreifen, seine Engel machen das schon. So ist der Teufel ist schnell aus dem Himmel geworfen. Allerdings ist er jetzt auf der Erde und kämpft dort weiter gegen Gottes Gemeinde.

Das bekommt die Gemeinde zu spüren, für die Johannes schreibt. Es sind die Christen in Kleinasien, in der heutigen Türkei. Sie leiden unter dem Wüten des Kaisers Domitian und brauchen Trost. Da schreibt ihnen Johannes: Die Entscheidungen über die Welt sind im Himmel gefallen, die guten Mächte haben gesiegt, trotz des Zorns des bösen Feindes durch das Blut des göttlichen Lammes.

 

(1.) Der Sieg der guten Mächte: Die Lage der Kirche war damals niederschmetternd. Die Christen waren zwar standhaft. Aber viele hatten mit dem Leben dafür bezahlen müssen. Doch man darf nicht nur das Schicksal des Einzelnen betrachten. Beim Glauben geht es nicht nur um das, was sich zwischen Gott und dem Einzelnen ereignet oder nicht ereignet, ganz in der Stille und im privaten Bereich.

Beim Glauben muß man auch im Weltmaßstab denken. Und da steht fest: Die Entscheidung ist schon im Himmel gefallen. Mag der Kaiser jetzt auch noch wüten. Aber seine Macht ist schon gebrochen, sein Ende schon beschlossene Sache. Ganz nüchtern wird hier aber gesehen, daß kein Mensch für sich allein steht in der Welt. Es gibt unsichtbare Mächte, die ihn beein­flussen, um ihn streiten oder um ihn werben.

Im 20. Jahrhundert haben wir es in unseliger Weise erfahren, wie böse Mächte von Menschen Besitz ergreifen können. Das Erschreckende an den Nationalsozialisten war: Eigentlich ganz gesunde und normale, für sich genommen sogar gutmütige Menschen, sind auf einmal von einem bösen Geist erfaßt worden, daß sie nicht mehr wiederzuerkennen waren.

Weit über unseren guten oder bösen menschlichen Einzelaktionen gibt es noch übergreifende Wirklichkeiten. Daher wird ein Kampf in der Welt ausgetragen, in dem nicht nur Irdische fechten, sondern übergreifende Siege und Niederlagen stattfinden. Darin fügen sich unsere persönlichen Einbrüche und Niederlagen irgendwie ein. Wären wir nicht anfällig für das Böse und hätten wir nicht selber eingewilligt, o würden wir dem Bösen auch nicht erliegen. Das Bild von dem Engelkampf im Himmel dürfte deshalb nicht so abwegig sein, auch heute noch nicht.

Es gibt aber auch „gute Mächte“. Wahrscheinlich ist ihr Wirken schwerer aufzuzeigen. Aber Gott hat nicht aufgehört, Schöpfer und Erhalter der Welt zu sein, obwohl die Menschen oft eigene Wege gehen. Mitten in der sündigen Welt gibt es auch gute und heilsame Gedanken und Bewegungen, Strömungen und Kräfte, die aus dem Raume Gottes kommen.

Natürlich könnte man auch fragen, warum Gott seinem Widersacher überhaupt soviel Zeit gibt oder ihn nicht von vornherein am Aufstand gehindert hat. Aber die Freiheit zum Bösen gehört nun einmal zum Personsein der Menschen und auch der Engel. Eine Maschine kann nicht sündigen. Wenn sie versagt, kann man sie nicht verantwortlich machen. Sie kann aber auch nicht lieben, auch wenn sie noch so vollkommen konstruiert wäre. Die Liebe kann nur aus der Freiheit kommen.

Gott hat natürlich etwas riskiert, als er die Menschen und die Engel so schuf. Aber er hat das Wagnis auf sich genommen, weil er solche Geschöpfe haben wollte, die mit ihm Gemeinschaft halten können. Aber Gott läßt es nicht bei dem Abfall, den er einstweilen hingenommen hat. Er gewinnt seine Welt zurück. Ja, man muß sagen: Er h a t sie längst zurückgewonnen. Der Satan ist schon gestürzt. Gott hat sich seine Schöpfung auf die Dauer nicht streitig machen lassen. Jetzt ist das Reich Gottes schon da.

 

(2.) Der altböse Feind zeigt noch seinen Zorn: „Wieso ist das Reich Gottes da?“ werden wir vielleicht fragen. Jede Nummer der Zeitung enthält Meldungen, aus denen hervorgeht, daß die Macht des Bösen noch nicht endgültig besiegt ist. Damals wütete der Kaiser Domitian ganz besonders schlimm. Er 1ieß sich „Gott und Heiland in Ewigkeit“ nennen. In Ephesus ließ er sein Kultbild in vierfacher Lebensgröße aufstellen. Dieses Bild könnte gemeint sein mit dem Tier, das aus dem Meer aufsteigt, denn in Ephesus wurde es an Land gebracht. Dieses Bild sollte man anbeten und Weihrauch vor ihm ausstreuen als ein Zeichen der göttlichen Verehrung.

Wenn der Satan auch im Himmel schon besiegt war, so ist der doch vom Himmel auf die Erde gestürzt und tobt sich nun dort aus und verfolgt die Gemeinde Jesu. Sie verspürt die „Stinkwut“ dessen, der im Grunde das Spiel schon verloren hat. Er weiß, daß er wenig Zeit hat. Alles ist nur ein Schachspiel der längst schon gefallenen Entscheidung. Wer nicht gerade mit Blindheit geschlagen war, der wußte schon Anfang 1943 nach der Schlacht von Stalingrad, wie der Krieg ausgehen würde. Und doch hat die Welt noch über zwei Jahre die verheerende Macht des Faschismus erfahren und erdulden müssen. Je verzweifelter die Lage war, desto schrecklicher war das Wüten. Viele kamen noch in den letzten Tagen um, in den Konzentrationslagern oder wegen Feigheit vor dem Feind. Man hatte das letzte Sich- Aufbäumen der Geschlagenen noch zu dulden.

Man darf aber den Zorn Satans nicht zum Erklärungsschlüssel für die ganze Weltgeschichte machen. Es gibt auch die guten Mächte und den Gott, der in der abtrünnigen Welt immer wieder das Gute tut. Auch wirkt sich die im Himmel gefallene Entscheidung nicht unmittelbar und unverzüglich auf den Lauf der irdischen Welt aus. Wir meinen oft, wenn es mit Gott seine Richtigkeit haben solle, dann dürften bedrückende und schmerzhafte Dinge nicht vorkommen. Die erste Christenheit wußte, daß auf Erden noch weitergekämpft werden muß und

es nicht ohne Mühe und Belastung am Kreuz vorbei in den Himmel gehen kann.

 

(3.) Das Blut des göttlichen Lammes rettet uns: Niemand sollte meinen, im Himmel sei Ruhe und die irdische Gemeinde sei vergessen. Es gibt immer nur e i n e Gemeinde, im Himmel und auf Erden. Und so wie sie den Verkläger im Himmel kleingekriegt haben, so wird er auch auf Erden besiegt werden durch das Blut des göttlichen Lammes. Weil Christus für uns eingetreten ist, sind wir vor Gott völlig unbelastet.

Ein Erpresser will sein Opfer willig machen, indem er ihm seine Schuld nachweist. Schuld belastet immer und macht unfrei. Das nutzen feindliche Geheimdienste immer aus, wenn sie jemand für ihre Zwecke gewinnen wollen. Oft wird dann gesagt: „Ihr habt sowieso verspielt, ihr steckt sowie schon drin, jetzt macht lieber mit uns mit, wir haben euch noch etwas zu bieten!“

Durch das Opfer Jesu aber sind wir frei geworden und unverwundbar. Was auch immer ein Ankläger gegen uns vorbringen könnte: es ist längst abgegolten und erledigt. Das Böse ist noch nicht völlig ausgeschaltet, aber es kann uns nicht mehr die Freiheit nehmen. Machen wir uns das noch einmal zum Schluß an einem Vergleich deutlich: Ein Kind soll in eine Haus gehen, aber auf dem Hof ist ein Hund angebunden. Er rennt an der Kette hin und her und bellt wild. Das Kind traut sich nicht hinein, denn der Hund scheint auch die Haustür zu versperren. Aber dann sieht jemand aus dem Haus und sagt: „Du kannst ruhig hereinkommen. Die Kette reicht nicht ganz. Etwa ein Meter bleibt loch frei, der Hund kann dir nichts antun!“ Noch besser ist es, wenn der Erwachsene das Kind das erste Mal an der Hand nimmt und hineinführt. Nachher wagt es vielleicht auch den Weg allein, auch wenn der Hund noch so bellt. Wenn man den sicheren Weg kennt‚ braucht man keine Angst mehr zu haben.

So führt uns auch Jesus an der Hand. Wir müssen nur dicht an ihm bleiben. Er weiß, wo die gefährlichen Bereiche sind. Der Teufel ist zwar schlauer als wir. Aber Jesus ist noch stärker. Auch wenn wir Angst haben vor dem Wüten des bösen Feindes: bei Jesus sind wir in Sicherheit!

 

 

 

Kirchweihtag

 

Bei der Predigt zum Gedenktag der Kirche sollte man nicht einfach den Predigttext für den laufenden Sonntag nehmen, sondern zum Beispiel von dem Kirchengbäude selbst oder einem Teil von ihm ausgehen. Anknüpfungspunkt könnte aber auch ein konkretes historisches Er­eignis in der Gemeinde sein. Die folgende Predigt schildert so ein Beispiel, müßte aber auf ein entsprechendes Ereignis vor Ort umgeschrieben werden.

 

Für diesen Tag sind noch folgende Texte vorgeschlagen:

Reihe IV: Jos 24,14-14 (in die Reihe eingefügt)

Reihe V: Jes 66,1-2

Reihe VI. Hebr 8,1-6

 

 

Kirchweih: Psalm 91

Der kleine Fritz geht mit seinem Vater durch das Dorf und fragt immer wieder: „Wer wohnt denn in diesem Haus?“ Der Vater antwortet geduldig: „Da wohnt Familie Müller, hier Familie Meier, und dort der Wilhelm!“ Aber der Junge läßt nicht locker. Er deutet auf die Kirche und fragt: „Und wer wohnt dort?“ Der Vater antwortet: „Da wohnt der liebe Gott!“ Der Junge ist es zufrieden. Aber am nächsten Samstag fehlt er beim Mittagessen. Als er endlich ankommt, erklärt er mit entwaffnender Offenheit: „Ich war bei Gott. Aber er war nicht zu Hause, und sie hat gerade sauber gemacht!“

Ja, wenn es so einfach wäre, daß Gott in so einem Haus wohnte wie wir Menschen. Daß man ihn einfach so in einem Haus antreffen könnte oder auch einmal nicht antreffen könnte, sondern nur seine Frau in Gestalt der Kirchendienerin, die gerade sauber macht. Und doch wohnt Gott in der Kirche, hier kann man ihn in besonderer Weise antreffen - aber nicht nur hier. Und vor allem wohnt er nur in der Kirche, wenn auch Menschen da sind, die ihn suchen. Ohne gläubige Menschen ist die Kirche auch nur eine Ansammlung von Steinen und Holz.

Aber wenn man es recht betrachtet, so ist unsere Kirche schon mehr als eine gewöhnliche Kirche. Zunächst einmal ist sie sehr alt. Sie hat prächtige Malereien, die in den letzten Jahrzehnten wieder freigelegt wurden. Und dann ist die Kirche auch heute noch mit einer Wehrmauer umgeben. Sie ist also eine echte Wehrkirche, wie es sie weit und breit nicht gibt. Nun ja, gegen eine richtige Armee wird sie auch nichts ausgerichtet haben. Aber gegen umherziehende Trupps und Räuber war sie schon eine große Hilfe. Dorthin konnten sich die Einwohner mit Kind und Kegel und Vieh zurückziehen, wenn Gefahr drohte. Und wenn alles nichts half, dann gab es noch einen unterirdischen Gang nach draußen [Hier ist natürlich auf die Besonderheiten der örtlichen Kirche einzugehen].

Die Kirche ist aber auch im übertragenen Sinne Zuflucht für die Menschen, auch für uns heute. So meint es jedenfalls der Psalm 91, wenn er Gott preist: „Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe!“ Das ist doch ein schönes Bild: Gott ist wie eine Burg, hinter die man sich bei Gefahr zurückziehen kann. So verstehen ihn heute viele Menschen: Für gewöhnlich braucht man ihn nicht, aber bei Gefahr erinnert man sich und sucht Zuflucht bei ihm. Wenn eine Krise kommt in der Familie oder im Beruf oder im Verhältnis zu anderen Menschen, wenn man etwas Unrechtes getan hat oder gern etwas erreichen möchte, dann wendet man sich an Gott und dann soll er auch gleich helfen.

Besser ist es, man wohnt ständig in dieser Burg und läßt sich alle Tage von ihr beschützen. Das haben ja die gemacht, die eine große Ringmauer um das ganze Dorf bauten, damit alle Häuser und alle Menschen geschützt waren, soweit das Menschen möglich ist. Aber sie wußten sicherlich auch etwas von dem höheren Schutz Gottes, den wir alle brauchen, damals wie heute.

Auch das andere Bild aus dem Psalm drückt das aus: „Er wird dich mit seinen Fittichen decken, und Zuflucht wirst du haben unter seinen Flügeln!“ Wie eine Vogelmutter ihre Jungen bedeckt und beschützt, so dürfen wir uns auch bei Gott geborgen wissen. Eine Frau sagte immer zu denen aus dem Haus, wenn sie in Urlaub fuhren und uns verabschiedeten: „Fahren Sie mit Gott!“ Das ist doch ein schöner Wunsch für jeden von uns, gerade jetzt am Beginn der Ferien und Reisezeit.

Aber auch die Kirchweih soll natürlich unfallfrei ablaufen. Und es könnten sich auf der Kerb auch noch andere Vorfälle ereignen, die zwar heute nicht mehr unbedingt als ein Unglück angesehen werden, aber doch nicht zu sein brauchen. Da beklagt sich im März 1713 ein Mann aus Dorfelden beim Kirchenvorstand, der damals noch „Presbyterium“ hieß, weil eine Frau ihn beim Pfarrer und Schultheißen angeklagt hat, er habe sie geschwängert. Die Frau wird vorgeladen und weil sie keinen guten Ruf hat, werden alle Umstände von ihr ausgefragt: Wann und wie oft er sie beschlafen. Sie antwortet: Zweimal, das erste Mal auf der Hochstädter Kerb und noch einmal drei Wochen später. Sie wird gefragt, ob es nicht auch sechs Wochen später so gewesen sei, da hätte sie doch bei einer Hochzeit Gelegenheit gehabt. Als sie das verneint, wird ihr vorgehalten: Das würde sie doch gewiß nicht ausgelassen haben. Ob sie es nicht noch das eine oder andere Mal versucht hätten, sie solle doch nicht lügen!

Viele werden heute sagen. Nur gut, daß der Kirchenvorstand heute nicht mehr diese Macht hat, vor allem, weil man ja immer dem Mann eher glaubte als der Frau, die immer als Verführerin gesehen wurde, so wie bei Adam und Eva im Paradies, wo aber auch zwei zur Verführung gehörten. Doch die Menschen damals haben diese Macht des Presbyteriums akzeptiert und nicht als unerlaubte Kontrolle empfunden. Sie führten ihr Leben in der Verantwortung vor Gott und waren irgendwie auch froh, daß ihnen dabei durch die Gebote und eine moralische Instanz, die darüber wachte, eine Hilfestellung gegeben wurde.

Sicherlich gab es auch unschöne Begleiterscheinungen, wenn etwa die Frauen dann den ganzen Gottesdienst über vor der Kanzel stehen mußten und vor der ganzen Gemeinde „mit vielen Tränen“ ihre Schuld bezeugen mußten. Das wurde dann ja auch abgeschafft und es gab nur noch die Buße vor dem Presbyterium und später nur noch vor dem Pfarrer. Und es war natürlich auch falsch, daß man unter „Sünde“ fast nur dies Eine verstand und nicht die Verderbtheit des ganzen Lebens und Handelns.

Wir brauchen Gott auch wie eine starke Burg, wenn wir unser Leben in Ordnung halten wollen. Ohne seine Gebote und das Hören auf ihn geht es nicht, kann unser Zusammenleben nicht gelingen. Deshalb brauchen wir den Kontakt mit ihm, nicht nur am Gedenktag der Kirchweihe, sondern an jedem Tag unseres Lebens. Und Symbol dafür, daß er mitten unter uns ist, wird immer das Kirchengebäude sein. Unsere Häuser versammeln sich um die Kirche und stehen unter Gottes Schutz, so wie eine Glucke ihre Küken behütet.

Aber der schönste Schmuck einer Kirche sind die Menschen, die sich dort versammeln. Ohne die Menschen ist sie tot und wir brauchen sie im Grunde auch nicht. Aber so wie die Kirche allgemein und auch unsere Kirche ein große Vergangenheit hat, wird sie auch eine Zukunft haben. Ob es eine große Zukunft wird, muß man wohl erst einmal dahingestellt sein lassen. Das liegt in erster Linie an Gott, aber auch an uns.

Die Kirche hat durch all die Jahrhunderte hindurch Bestand gehabt. Sie hat sich gewandelt, aber sie ist auch ihrem eigentlichen Anliegen treu geblieben. Der Glaube an Gott und die Gemeinschaft mit anderen Christen ist auch in der heutigen Zeit ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens. So wie unsere Vorväter Kraft daraus geschöpft haben, können auch wir es heute tun!

 

 

Kirchweih: 2. Kön 25, 8 - 1

Was aus einer Kirche werden kann, die nicht mehr benutzt wird, kann man an früheren Klosterkirchen sehen. In der Nähe von Rohr bei Meiningen kann man auf dem Gelände eines ehemaligen Klosters sogar noch die alte Klosterkirche zu entdecken. Aber wie sah sie lange Zeit aus?! Unten waren Garagen eingebaut, oben wurden Heu und Stroh gelagert, und vorne, wo der Altar gestanden hat, war die Turnhalle der dortigen landwirtschaftlicher Berufsschule eingebaut.

Natürlich kann man darauf verweisen: Es war eine Klosterkirche, und als das Kloster aufgelöst wurde, hatte sie keine Aufgabe mehr. Es gibt ja auch im Ort selbst die berühmte andere Klosterkirche, die heute noch von der Gemeinde genutzt wird. Aber so ein Beispiel macht doch deutlich, was aus einem Kirchengebäude werden kann, in dem sich keine Gemeinde mehr zum Gottesdienst versammelt.

Es gibt ja in unserem Land eine Menge Kirchen, die Ruinen geworden sind oder zu werden drohen. Andere sind fremden Zwecken zugeführt worden: Sie wurden Museum oder Konzerthalle, sie wurden Scheune oder Lagerhalle.

Damit es nicht so weit kommt, ist eine lebendige Gemeinde nötig, die die Kirche baulich erhält und auch mit Leber füllt. Am Tag der Kirchweih denken wir voller Dankbarkeit an unsre Vorväter, die dieses Gotteshaus vor mehr als.... Jahren in schwerer Zeit errichtet haben. Wir feiern es auch in Dankbarkeit gegenüber Gott, der die Kirche und die Gemeinde bisher erhalten hat. Aber wir fühlen auch die Verpflichtung, das Haus und vor allem die Gemeinde auch in Zukunft zu erhalten.

Andernfalls müssen wir damit rechnen, daß Gott auch Gericht übt. Eine verfallende oder anderweitig genutzte Kirche kann uns Mahnzeichen dafür sein. Da fragen wir uns doch: „Hat Gott sich überlebt? Hat die Kirche noch eine Zukunft?“ Hoffentlich fragen wir auch: „Was kann ich tun, damit es mit der Kirche weitergeht?“

Das fragten sich auch die Israeliten, die die Zerstörung Jerusalems und die Zerstörung ihres Tempels erlebt hatten. Reichlich eineinhalb Jahre hatte die belagerte Stadt den Babyloniern getrotzt. Aber im August des Jahres 587 rissen die Belagerungsmaschinen eine Bresche in die Mauer der Stadt. Der König floh zunächst in den Süden und dann in Richtung Osten, wurde aber bei Jericho gefaßt und in das Hauptquartier Nebukadnezars gebracht.

Vier Wochen nach der Einnahme der Stadt folgte die Zerstörung. Die Leibgarde des babylonischen Königs hatte das Gericht über die Stadt zu vollstrecken, die sich gegen die Oberherrschaft der Babylonier aufgelehnt hatte. Diese Soldaten trugen den bezeichnenden Namen „die Schlächter“. Die Oberschicht des Volkes wurde nach Babylon verschleppt, nur Bauern und Winzer durften bleiben und führten ein kümmerliches Leben.

So übte Gott Gericht an seiner Stadt. Diese geschichtlichen Ereignisse haben ihren Platz im Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk. Gott wirkte in der Geschichte seines Volkes. Aber nun schien diese Geschichte zu Ende zu sein. Heilsgeschichte war umgeschlagen in Unheilsgeschichte. Schlimmer als die äußeren Schicksalsschläge war das Zerbrechen der Glaubensüberzeugungen und Zukunftshoffnungen.

Jahrhundertelang war die Stadt Gottes unangetastet geblieben. Selbst die Assyrer hatten gut 100 Jahre vorher wieder abziehen müssen. Aber nun lag selbst der Tempel in Schutt und Asche, der doch die Anwesenheit Gottes in seinem Volk bezeugen sollte.

Man kann sich die Glaubenskrise für das Volk nicht tief und verheerend genug vorstellen. Hatte Gott die Bestätigung für den Thron Davids zurückgezogen? Hatte er sein Volk aufgegeben? Wie sollte man ihn noch verehren, wenn der Tempel in Trümmer lag? War der Tempel deshalb zerstört worden, weil Gott so böse auf das Volk war, daß er gar keinen Gottesdienst mehr wollte?

Die Bibel ist weit davon entfernt, in solchem erschütternden Geschehen ein sinnloses Walten eines blinden Schicksals zu sehen. Gott bestimmt die Geschichte, auch Nebukadnezar ist sein Werkzeug. Und was über Jerusalem kommt, ist von Gott gewollt und verfügt. Ein Volk, das so schwer schuldig geworden ist, sollte nicht Gott anklagen, sondern sieh selbst. Die Weltgeschichte ist nicht einfach das Weltgericht. Vieles in der Welt bleibt auch ungerächt. Aber in der Weltgeschichte geschieht - wenn auch oft anbruchsweise und zeichenhaft- das Gericht Gottes. Das soll in den Samuel-und Königsbüchern aufgezeigt werden.

Viele bei uns haben in der Bombenhölle des zweiten Weltkriegs ein Versagen Gottes gesehen. Wer wollte es den Menschen auch verübeln, wenn sie in ihrer Verzweiflung nach Gott schreien? Nur hätte man dabei nicht vergessen dürfen, was andere Völker durch unser Volk erlitten haben. Was uns am heutigen Sonntag aus der Bibel gesagt wird, können wir nur in Betroffenheit hören. Von Gottes Gerichten kann man nicht in der Zuschauerhaltung reden.

Wir haben die Geschichte Gottes mit seinem Volk nicht als Zuschauer zu deuten. Jahrhundertelang hat man in der Kirche auf die Juden gezeigt, sie als Christusmörder beschimpft und die Zerstörung des dritten Tempels im Jahre 70 nCh als Strafe Gottes für den Tod Jesu gedeutet. Aber besser wäre es gewesen, aus diesem Geschehen den Anruf Gottes an uns zu vernehmen. Es ist uns geschrieben zur Warnung und zur Selbsterkenntnis und auch zur Demütigung unter die gewaltige Hand Gottes.

In Jerusalem wurden nicht nur Ängste und Schmerzen ausgestanden, wie sie überall in der Welt auftreten. Hier befand man sich zu dem allen noch in der Anfechtung des Glaubens. Man hätte alles ertragen können, wenn man nur Gott auf seiner Seite gewußt hätte. Aber hier hatte man auch Gott verloren. Hier hatte man nicht nur Menschen zu Feinden, sondern Gott selbst. Davon steht allerdings nichts in den Zeitungen. Gottes Gericht in der Geschichte muß man erst einmal annehmen. Denn wem viel gegeben ist, von dem wird auch viel dann gefordert.

Gott übt Gericht an seinem Volk. Der Verfasser der Samuel- und Königsbücher stellt sich mit seiner Darstellung der Geschichte Israels dem Gericht Gottes. Er spürt die Ursachen auf und erkennt die innere Notwendigkeit dieses Geschehens. Er berichtet nicht nur, sondern versucht auch, das Erlittene im Glauben aufzuarbeiten.

Aber er tut das nicht, indem er Schuldige aufspürt und zur Rechenschaft zieht. Das haben die Babylonier getan. Vielmehr bedenkt er die Schuld des ganzen Volkes. Aber er nimmt auch besonders die Könige unter die Lupe: mit ihrer Treue zu Gott steht und fällt auch das Schicksal des Volkes.

Auch in unserem Volk muß sich jeder Einzelne fragen: „Sind wir nicht alle mit schuld an dem, was anderen Völkern angetan wurde? Sind wir nicht nach 1945 viel zu schnell von einem anspruchsvollen Wohlstandsdenken erfaßt worden?“ Viele sagen doch: „Jahrzehnte nach dem Grauen des Krieges sollte man nicht mehr davon reden!“ Und viele beruhigen sich mit der Ausrede: „Ich bin es doch nicht gewesen!“

Die Bibel erlaubt uns nicht zu meinen, unsere Sünden seien etwas Vergangenes, über das allmählich Gras wächst. Wir werden uns durch Gottes Gericht nicht durchmogeln können. Luther hat den Leuten, die durch den Erwerb von Ablaßbriefen billig davonkommen wollten, in den 95 Thesen von 1517 klargemacht, daß wahre Reue die Strafe sogar sucht. Das unruhig gewordene Gewissen w i 1 1 sich gar nicht unbehelligt aus der Affäre ziehen, sondern das Gericht Gottes zur eigenen Sache machen.

Aber Gott übt auch Gericht an seinem Sohn. Dieser letzte Ausblick darf nicht fehlen. Alle Gerichte in der Geschichte sind nur Vorspiele des großen Gottesgerichtes. Das brennende und zerstörte Jerusalem war nicht Gottes letztes Wort. Gott will unser Heil: Er will, daß dem Recht die Ehre gegeben wird. Aber er möchte auch, daß wir zu ihm zurückfinden und als sein Volk bei ihm leben können. Darum trägt der Sohn Gottes das, was wir eigentlich verdient hätten. Alle Gottesgerichte treffen letztlich ihn. Jetzt steht der Gekreuzigte für uns ein, weil er das Gericht Gottes auf sich gezogen hat.

Deshalb können wir auch mit Zuversicht in die Zukunft schauen. Unsre Kirche hat eine Zukunft, weil Gott es so will. Er ermutigt uns, das zu tun, was wir tun können, um die Kirche zu erhalten, und zwar das Gebäude wie die Gemeinde, die sich in ihm versammelt. Aber letztlich liegt es nicht an unserem Wollen und Mühen, sondern an der Liebe Gottes zu seiner Gemeinde und zu allen Menschen.

 

 

Kirchweih 1986: Röm 1, 16 - 17

Im nächsten Jahr begehen wir das 450-jährige Jubiläum der Reformation in ……. Das mag vielleicht verwundern, denn bei Reformation denkt man doch eher an das Jahr 1517, als Luther seine 95 Thesen veröffentlichte, die dann zur Reformation führten. Doch das ging nicht von einem Tag auf den anderen. In Wittenberg kam es erst 1522 zu deutlichen Veränderungen. In der Kreisstadt wurde 1525 der erste evangelische Pfarrer eingesetzt, aber die Klöster zum Beispiel blieben bestehen.

In einem Ort mit zwei Landesherren hatte man sich 1527 geeinigt, daß man abwechselnd die Pfarrstellen besetzen wollte. Dazu mußte die Stelle aber erst einmal frei werden. Die Gelegenheit ergab sich erst 1537. Die Besetzung mit einem evangelischen Pfarrer wurde aber dadurch erleichtert, daß auch der andere Landesherr zur Reformation übergegangen war.

So kam 1537 N.N. als erster evangelischer Pfarrer nach …. Er war im Alter von 37 Jahren in Rotenburg an der Fulda ohne Ordination zum Predigtamt zugelassen worden, wie das in Hessen möglich war. Dann war er zwölf Jahre Schulmeister in der Kreisstadt und schließlich sieben Jahre Pfarrer in unserer Stadt und danach noch 20 Jahre Pfarrer in …. So können wir das Jahr 1537 als Zeitpunkt der Einführung der Reformation in unserer Stadt ansehen. Es war das Jahr, in dem Luther die „Schmalkaldischen Artikel“ als seine Bekenntnisschrift vorlegte.

Aus Anlaß dieses Jubiläums im Jahre 1987 haben wir einen Wandbehang drucken lassen, den ich Ihnen heute zur Kirchweih vorstellen kann. Er zeigt die „Kirche“ in unserem Tal. Unsere Kirche steht im Vordergrund, die anderen gruppieren sich dazu, es sieht aus wie ein Dorf aus lauter Kirchen. Die eingepfarrten Orte gehören ja sowieso zu unsrer Gemeinde. Aber auch die Nachbarorte gehörten früher zum Kirchspiel. In dem einen Ort war die Mutterkirche für das ganze Tal. So kommen in diesem Wandbehang 450 Jahre gemeinsamer Geschichte zum Ausdruck, die bis heute nachwirken.

Doch wenn wir das Jubiläum der Reformation begehen wollen, dann müssen wir uns auch fragen: „Worum ging es denn damals bei der Reformation und wie weit wirkt das noch heute nach?“ Zur Beantwortung dieser Frage hilft uns der Bibeltext aus Röm 1,16-17, der die Zentralstelle für die reformatorische Erkenntnis Luthers ist:“Im Evangelium wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt!“

Luther fragte voller Unruhe: „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ Auf diese Frage konnte ihm keiner Antwort geben. Nächtelang lag er im Augustinerkloster in Erfurt auf dem Steinfußboden und betete. Er sagte sich: „Wenn Gott gerecht ist, dann muß er mich in Grund und

Boden verdammen, denn ich bin ein sündiger Mensch!“ Je mehr er sich aber in die Bußübungen seiner Kirche versenkte, desto größere Zweifel kamen ihm, ob er zu den Auserwählten Gottes gehöre.

Im Kloster von Wittenberg ging ihm dann die Erkenntnis auf, die alles über den Haufen warf. Er las diese Bibelstelle Röm 1, 17. Doch auf einmal verstand er das Wort von der „Gerechtigkeit Gottes“ anders: Es ist die Gerechtigkeit, die uns von Gott geschenkt wird, „die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt“, wie er von nun an übersetzte. Jetzt wußte er: Wir können gar nichts zu unsrer Gerechtsprechung beitragen, sondern sind immer auf den Freispruch Gottes angewiesen. Gerechtigkeit ist keine Eigenschaft Gottes, sondern meint die Beziehung zwischen Gott und Mensch. Gerechtigkeit ist ein Tun Gottes, durch das er sündige Menschen wieder

s e i n e Menschen sein läßt.

Stellen wir uns einen Menschen vor, der vor Gericht steht. Er weiß genau, daß er das wertvolle Werkzeug gestohlen hat. Aber der Richter weiß es auch, leugnen ist zwecklos. Nach den geltenden gesetzlichen Bestimmungen kann er nur verurteilt werden. Bis zu drei Jahre Gefängnis stehen auf so einer Tat. Er wird fort müssen von seiner Familie und von seiner Arbeit; die menschliche Gemeinschaft wird ihn ausstoßen und er wird keine Freude mehr am Leben haben. Doch als der Richter das Urteil verkündet, heißt es: „Die Strafe wird zur Bewährung ausgesetzt!“ Er muß nicht hinter Schloß und Riegel .Wenn er sich in Zukunft ordentlich benimmt und den Schaden wieder gut macht, wird ihm die Strafe erlassen.

So macht es Gott auch mit uns. Er hat vielmehr Geduld mit uns als ein irdischer Richter. Er gibt uns immer wieder eine neue Chance. Die Strafe wird nicht zur Bewährung ausgesetzt und steht immer noch drohend über uns. Vielmehr sagt Gott: „Deine Strafe habe ich meinem

Sohn auferlegt, du gehst frei aus!“ Das war die große Erkenntnis Luthers‚ von der wir heute noch alle leben.

Aber ist uns das wirklich bewußt? Ist es wirklich die Lebensfrage Nummer eins, ob Gott uns annimmt und gelten läßt, ob er uns zustimmt und sein Wohlgefallen an uns hat? Wir fragen doch nicht mehr wie Luther nach dem gnädigen Gott, sondern wir stellen die Existenz Gottes selber in Frage. Wir wollen uns doch mehr vor uns selbst rechtfertigen. Für jeden ist seine normgerechte Stellung in der Welt wichtig. Wir sind empfindlich, wenn herauskommt, daß wir in irgendeiner Hinsicht unsern Platz nicht ausfüllen. Wir wollen uns nicht damit trösten, daß wir sagen: „So bin ich nun einmal!“

Helfen kann uns dann, daß wir ja Menschen Gottes sind. Wir sind auf Gott hin geschaffen und stehen vor ihm. Er will uns retten, wenn wir falsch gegangen sind. Vielleicht halten wir das Wort „Rettung“ für zu dramatisch. Von Rettung reden wir, wenn Bergleute durch einen Stolleneinbruch verschüttet gingen und nun gerettet werden sollen. Ist unser Verhältnis zu Gott so gefährlich?

Das Evangelium, die frohe Botschaft Gottes, lautet nicht: Gott hat sich damit abgefunden, daß unser Verhältnis zu ihm nicht in Ordnung ist. Vielmehr sagt er: „Ich will dich wiederhaben. Du mußt nicht in deiner Sünde bleiben. Ich bringe dein Verhältnis zu mir wieder in Ordnung und mache es heil. Unser rechtes Verhältnis zu Gott verwirklicht sich allein in dem, was Christus an uns tut.

Das Urteil über unser Leben fällt allein Gott. Deshalb brauchen wir uns vor keinem Menschen zu rechtfertigen. Unsere Vorgesetzten fordern immer wieder einmal Rechenschaft. Auch in uns selber steckt der Zwang, uns vor uns selbst oder vor anderen zu rechtfertigen. Wie oft hört man: „Ich tue alles nur für meine Kinder!“ Wie oft erlebt man, daß ein Mensch ständig seine Schwäche überspielt und verdeckt, um vor den anderen als unfehlbar zu erscheinen.

Kaiser Wilhelm II. hat einmal gesagt: „Wir Deutschen furchten Gott und sonst nichts auf der Welt!“ Er hat noch gewußt, daß wir allein Gott verantwortlich sind. Aber er will auch sagen: „Gewisse Dinge verantworten wir auch ganz für uns allein, die nehmen wir auf die eigene Kappe, ohne nach Gott zu fragen!“ Wie soll man so einem Menschen klar machen, daß er schuldig wird, wenn er alles aus eigener Kraft vollbringen will.

Viele Menschen finden den Gedanken uneinsichtig und lächerlich, wir seien durch den Opfertod Christi erlöst und gerechtfertigt worden. Viele schütteln nur mit dem Kopf, wenn man ihnen sagt: „Du bist ein verlorener Mensch, du brauchst die Erlösung durch Gott!“ Aber die Gerechtigkeit, die von Gott ausgeht, kann uns nur durch Jesus vermittelt werden.

Paulus schreibt später in seinem Brief: „Wir müssen mit Jesus mitsterben, erst einmal ganz anders werden; aber dabei kommt etwas ganz Neues heraus ein ganz neues Leben aus dem Glauben. Diese Erkenntnis ist uns durch Luther wieder neu geschenkt worden. Und solche Männer wie der erste evangelische Pfarrer in unserem Ort. haben das an Ort und Stelle umgesetzt.

Auch heute wird die frohmachende Botschaft von dem Gott, der uns gerecht spricht, in unserem Tal gepredigt. Das wird auch so weitergehen. Die Frage ist nur: nehmen wir diese Botschaft an. Lassen wir die Kirche im Dorf, dann braucht uns um die Zukunft nicht bange zu sein!

 

 

Kirchweih: 2. Kor 3, 4 - 9 (auch Reihe VI, 20. Sonntag nach Trinitatis)

Hier vorne neben dem Taufstein ist die eine der Treppenstufen in den Altarraum schon ganz ausgetreten. Da kann man sich schon so meine Gedanken darüber machen, wer wohl schon alles über diese Stufe geschritten ist. Wir sind ja nicht die Ersten, die diese Kirche benutzen, sondern wir haben sie von unseren Vorvätern übernommen. Wir stehen in einer langen Kette von Christen, die hier in diesem Gotteshaus Trost und Hilfe, Rat und Zuversicht gefunden haben.

Überlegen wir und doch einmal, wer wohl alles dazu beigetragen hat, im Laufe von mehr als 300 Jahren diese Stufe derart auszutreten. Da sind zunächst einmal die Pfarrer, die jeden Sonntag diese Stufen hochgestiegen sind. Es sind viele Pfarrer gewesen, die bisher hier in dieser Kirche Dienst taten. Dazu kommen noch die vielen Gäste, die hier im Gottesdienst oder bei Gemeindeveranstaltungen mitwirkten. Nicht zu vergessen sind auch die Kirchendiener und früher gehörten ja auch die Kirchenvorsteher noch mit dazu.

Doch auch die Gemeinde versammelt sich hier im Altarraum zu besonderen Anlässen. An wichtigen Punkten des Lebens dürfen wir hier ganz persönlich den Zuspruch und die Verheißung Gottes hören bei Taufe, Konfirmation und Trauung, vielleicht auch bei der Beerdigung.

Und schließlich versammelt sich ein großer Teil der Gemeinde hier im Altarraum zur Feier des Heiligen Abendmahls, um die Vergebung der Sünden und Kraft für einen Neuanfang zu erhalten. An all das erinnert uns so eine einfache Stufe aus Stein, die von vielen Füßen schon ganz ausgetreten ist.

In unsrem Predigttext ist auch die Rede von alten Zeiten und von Steinen. Hier wird der alte Bund Gottes mit dem Volk Israel verglichen mit dem neuen Bund, den Gott mit allen Menschen geschlossen hat, die an seinen Sohn Jesus Christus glauben. Es wird gesagt: Schon diese alte Sache, das Amt des Mose und sein Gesetz, hatte eine große Herrlichkeit und Klarheit. Aber heute ist diese Herrlichkeit noch größer, weil uns nicht nur das tote Gesetz gegeben ist, das in steinerne Tafeln gehauen wurde, sondern weil uns Gott den Geist geschenkt hat, der den Buchstaben des Gesetzes überbietet und echte Gerechtigkeit gibt: „Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig!“ Das ist der zentrale Satz.

Es geht also nicht um den Buchstaben eines Gesetzes, sondern um den Geist, der hinter einer Vorschrift steht. Da besteht zum Beispiel an manchen Stellen einer Straße „Halteverbot“. Aber was will man machen, wenn sich eine Schlange von Autos bildet und man einfach anhalten m u ß ? Oder wie ist es, wenn ein technischer Fehler am Fahrzeug auftritt und man im Halteverbot stehenbleibt? Da kann man doch nicht nach dem Buchstaben des Gesetzes gehen und den Fahrer bestrafen. Verkehrsbedingtes Anhalten ist deshalb auch ausdrücklich von der Strafe ausgenommen. Es geht doch um den Sinn der Vorschrift, um das, was gemeint ist, nicht wie es wörtlich dasteht.

Das werden wir Christen och viel mehr lernen müssen, nicht einfach stur nach alten Gesetzen und Vorschriften zu handeln, sondern nach dem Willen Gottes zu fragen. Nur zu oft wird unser Glaube auch von Außenstehenden immer noch als eine gesetzliche Religion mißverstanden, so wie bei den Juden.

Im Zusammenhang mit der Konfirmation sagte jemand: „Das war aber schön, wie der Pfarrer die Kinder ermahnt hat!“ Der Pfarrer war erst einmal erschrocken. Erstens einmal sind konfirmierte Jugendliche keine kleinen Kinder mehr. Und zweitens hatte er sich für seine Begriffe gerade bemüht, nicht zu ermahnen, sondern das Geschenk Gottes herauszustellen. Aber so ist das eben: In den Augen vieler Leute ist die Kirche und besonders der Pfarrer nur dazu da, zum Gehorsam zu ermahnen und das Bestehende zu verteidigen.

Das war auch die traditionelle Aufgabe der Kirche in den vergangenen Jahrhunderten. Sie war ein Instrument der herrschenden Klasse, um das Volk in Unfreiheit zu halten und jede freiheitliche Regung abzutöten. Natürlich haben da nicht alle Christen mitgemacht, aber viele haben sich auch vor einen fremden Karren spannen lassen. Das Ergebnis war, daß Vieles abstarb. Zum Beispiel ging spätestens im vorigen Jahrhundert das Vertrauen der Arbeiter gegen­über der Kirche verloren, weil diese ganz auf Seiten der Herrschenden stand.

Eigentlich erst in den letzten Jahrzehnten hat man wieder erkannt, daß die Kirche eine eigenständige Kraft ist und von ihrem Glauben her eine eigene Meinung zu den Lebensfragen dieser Welt äußert. Es ist nicht unsere Aufgabe, politische Parolen nachzusprechen, sondern nach der Bibel und nach Gott zu fragen und von daher eine Stellungnahme zu geben. Viele Christen haben das heute auch begriffen.

Man kann heute nicht mehr so ohne weiteres die Kirche mit den herrschenden Klassen in eine setzen. Denken wir zum Beispiel auf katholischer Seite an die Arbeiterpriester in Frankreich oder an manche Priester in Südamerika, die sich für die Armen einsetzen. Und auf evangelischer Seite sind zu nennen der Kampf einiger schwarzer Pfarrer um die Gleichberechtigung aller Rassen in den USA oder denken wir an die positive Haltung mancher Bischöfe zu den Studentenunruhen in der Bundesrepublik. In manchen kirchlichen Kreisen spricht man heute sogar von einer „Theologie der Revolution“.

Unser Amt ist es also nicht unbedingt, für Ordnung und Ruhe zu sorgen, sondern den Geist des Evangeliums in unserer Welt laut werden zu lassen. Nur der Geist macht lebendig. Viel schöner als die Predigt des Gesetzes ist doch die Aufgabe, allen Menschen etwas von der Freiheit der Kinder Gottes zu sagen.

Allerdings wird es auch darauf ankommen, ob wir den Menschen diese Freiheit vorleben können. Wir sollen nicht immer nur davon reden, sondern andere sollen auch daran glauben können. Oft müssen wir allerdings erleben, daß wir gar nicht so handeln können, wie wir sollen. ihr haben zwar eine herrliche Botschaft zu bringen, die die ganze Welt verändern könnte. Aber als Botschafter sind wir nur klägliche Hilfsprediger. Wir sind nur armselige Behälter, aber der Inhalt ist herrlich. Der einzelne Christ taugt nicht unbedingt etwas, wohl aber das, was er zu bringen hat.

Paulus hat deshalb ausdrücklich alle Empfehlungsbriefe abgelehnt. Er hat nicht sein eigenes Evangelium an den Mann zu bringen, sondern eine Botschaft Gottes. Und dazu ist es nicht unbedingt nötig, daß er ein tugendhafter, sündloser Mensch ist. Und ebenso brauchen auch seine Hörer nicht unbedingt irgendwelche Vorleistungen zu erbringen. Natürlich wird sich jeder bemühen, daß seine persönlichen Mängel nicht zum Hindernis für die Botschaft werden. Aber in erster Linie geht es doch um die Weitergabe eines Geschenks.

Stellen wir uns vor, der Geldbriefträger bringt eine beträchtliche Menge Geld ganz unerwartet und unverdient von einem Freund. Das Geld kommt gerade wie gerufen und wir zögern nicht, es anzunehmen. Keiner würde sich in so einem Fall den Ausweis des Briefträgers geben lassen, um nachzuprüfen, ob er auch berechtigt ist, das Geld zu bringen.

Doch wie ist es, wenn ein Bote Gottes uns die Predigt von Gott bringen will? Gibt es da nicht viele „Wenn und Aber“ und am Schlug heißt es dann: Annahme verweigert!

Dabei ist es doch solch eine herrliche Sache, die uns da gebracht wird. Natürlich wird uns nicht der Himmel auf Erden versprochen. Aber wir haben einen Glauben, der uns getrost und innerlich frei macht, weil es um Gottes Sache geht, die die Sache der Wahrheit ist. Wer die Annahme nicht verweigert hat, kann dann auch selber Bote werden. Gott hat uns von dem harten Gesetz des Buchstabens befreit, damit wir seine Freiheit recht anwenden. Er hat für jeden von uns einen Auftrag.

Deshalb müssen wir immer wieder neu lernen, unseren Glauben lebendig zu erhalten, nicht nur einfach den Glauben unserer Väter zu rühmen, sondern unser Vertrauen zu Gott hier und heute erneuern. Wie oft kann man von Leuten hören: „Mein Großvater, der ging jeden Sonntag in die Kirche, Sommer wie Winter und auch wenn noch so viel Arbeit war!“ Aber warum tut es der Enkel nicht auch? Er kann sich doch nicht auf die Verdienste seines Großvaters

berufen. Es geht doch nur darum, ob sein Glaube h e u t e lebendig ist.

Oft kann man auch hören: „Bei uns gehen noch viele Leute zur Kirche!“ Man vergleicht sich dann mit anderen Orten gleicher Größe und ist stolz auf die eigene Leistung. Manchmal ist es allerdings auch nur die Leistung der anderen. Denn meist sagen das doch nur solche Leute, die sich nur wenig im Gottesdienst sehen lassen; und wer wirklich regelmäßig kommt, der redet nicht davon.

Und außerdem: Wenn hier 250 Leute zum Gottesdienst kommen, dann sind das immer nur 5 Prozent aller Gemeindeglieder. Wir müssen uns dann doch auch fragen: Wo sind die anderen 95 Prozent in dieser Stunde? Wir wollen uns also nicht selbst loben. Es gibt auch viel Enttäuschung und Versagen. Die Herrlichkeit Gottes ist vielfach noch verhüllt.

Und wer ein Bote Gottes sein will, der hat es oft schwer. Denken wir nur daran, wie es einem Paulus in Korinth ergangen ist und welch häßlichen Verdächtigungen er ausgesetzt war, obwohl er doch so eine herrliche Botschaft hatte. Auch solch eine Botschaft trifft trotz allem auf viel Unverständnis.

Wir haben von unsren Vorvätern dieses schöne Kirchengebäude geerbt mit Kanzel, Taufstein und Altar als den größten Kostbarkeiten und mit diesen vielen Bildern an den Emporen. Aber das alles bleibt eine tote Masse aus Stein und Holz, wenn nicht Menschen da sind, die dieses Gebäude mit Leben erfüllen.

An manchen Stellen kann man im Gestein die Jahreszahlen und die Namen von Stifter entdecken. Diese Buchstaben und Zahlen sind nicht einfach tot für uns, sondern sie künden vom lebendigen Glauben der Männer, die diese Kirche in schwerer Zeit errichteten. Nur im Vertrauen auf Gott konnten die Menschen damals überhaupt dieses Werk beginnen. Ihr Vorbild ist eine Verpflichtung für uns, ihnen nachzueifern.

Heute sind noch viele stolz auf die traditionelle Kirchlichkeit in der Gemeinde. Aber wie wird es hier in 20 Jahren aussehen? Ob dann auch noch eine Kirmesgesellschaft hier zum Gottesdienst kommt? Anderswo ist das schon nicht mehr der Fall. Bei uns allerdings erfreut sich die Kirmes immer noch einer großen Beliebtheit. Wenn im Konfirmandenunterricht einmal nach den drei großen christlichen Festen gefragt wurde, sagte ein Mädchen: Weihnachten, Ostern und Kirmes.

Aber das Gedenken an den Tag der Kirchweihe ist nicht einfach eine Gelegenheit, uns auf unseren Lorbeeren oder denen unsrer Väter auszuruhen. Gerade weil es solch ein wichtiger Tag ist, sollte er uns eine Verpflichtung sein, auch in der Zukunft die guten Gewohnheiten der Vergangenheit lebendig zu erhalten. Eine bloße Tradition hilft uns nicht, denn sie führt zu einem langsamen Absterben. Nur wenn sie immer wieder neu belebt wird, hat sie einen Sinn und wird auch in Zukunft bleiben.

So kann man nur wünschen, daß diese Stufe hier neben dem Taufstein immer weiter ausgetreten wird. Es wäre kein Schade, wenn wir sie einmal auswechseln müßten, sondern ein erfreuliches Zeichen. Jeder von uns hat Gelegenheit, zu diesem Werk mit beizutragen.

 

 

Kirchweihfest: Offb. 21 , 1 - 7         

Wird es im Himmel wohl auch eire Kirmes geben? Nicht nur eine, die drei Tage dauert wie heute oder neun Tage wie früher, sondern ein ständiges Fest! Oder sollte es so sein, daß dann gar kein Interesse mehr besteht für Tanz und Rummel, für Musik und Vergnügen? Wenn

wir als die Hauptsache an der Kirmes den Gottesdienst ansehen, dann können wir wohl sagen: „Im Himmel wird immer Kirmes sein!“ Wenn wir aber mehr an das andere denken, an das Drum und Dran beim Kirchweihfest, dann wird man wohl doch ein Fragezeichen setzen müssen.

Aber von der Kirmes kann man etwas lernen, was auch für den, Himmel wichtig ist. Erst einmal müßte man begreifen, daß das Leben im Himmel ein Fest ist, ein ständiger Höhepunkt, etwas ganz außerordentliches. Aber ehe es soweit ist, gilt es allerhand Vorbereitungen zu treffen. Früher begann man eine Woche vorher, die Häuser vom Keller bis zum Dachboden zu scheuern. Der Haussockel, die Treppenstufen und Türtritte wurden mit Kalk gestrichen. Vor den Häusern wurden Tannenbäume gesetzt, die mit bunten Papierfähnchen geschmückt waren, Rosinenkuchen und Zwetschenkuchen und die fetten Rahmkuchen wurden gebacken. Auf dem Dorfplatz wurde eine „Tanzbrücke“ gezimmert, die von einem Zaun aus Reisig und eingegrabenen Fichten umgeben war. Für die Kinder gab es ein einfaches Karussell und Zuckerboden [Dies sind nur Beispiele. Hier sind örtliche Besonderheiten an die Stelle der Ausführungen zu setzen]

Für die Kirmes galten strenge Ordnungen. Früher wurde sie die Woche über gehalten, weil am Sonntag kein Tanz sein durfte. Die Polizei hatte Großeinsatz, denn oft kam es zu Schläge­reien und sogar Messerstechereien. Die Kirmesgesellschaften mußten ermahnt werden, daß sie nicht im Schlafrock und Pantoffeln und mit einer Zigarre im Mund umzogen oder gar in die Kirche kamen. Und beim Tanz durfte ein Auswärtiger nur ein Mädchen bitten, wenn deren Herr dazu aufgefordert hatte. Für die feinen Herren aus der Stadt galt der Wahlspruch: „Man lasse dem Hunde die Knochen und den Bauern die Kirmes!“

Wir wollen froh sein, daß die Kirchweih bei uns auch noch ein Volksfest ist, daß die Männer der Kirmesgesellschaft zum Gottesdienst kommen und umgekehrt viele Gottesdienstbesucher auf dem Festplatz und beim Tanz dabei sind. Man versucht ja gelegentlich, die Bedeutung der altenVolksfeste etwas zurückzuschrauben und neue Feste im Bewußtsein des Volkes zu verankern. Manche Bräuche sind von selber eingegangen, andere wurden abgeschafft. Es wird versucht, die Dauer der Festtage einzuschränken. Aber Kirmes bleibt eben Kirmes. Und der Gottesdienst am Sonntagmorgen sollte dabei eine zentrale Stellung haben.

In den letzten Jahren hat man sich ja vielfach wieder auf das Alte besonnen: Historische Gebäude werden restauriert, Dokumente gesammelt und Museen eingerichtet, Folkloretreffen veranstaltet. Auch die Kirche wird in diese Bestrebungen einbezogen. Sie ist ja schließlich die älteste Organisation und besitzt eine Menge denkmalswerter Gebäude. Kirchliche Persönlichkeiten wie Martin Luther werden von der Gesamtgesellschaft beansprucht. Wir sollten dem nicht gleich mißtrauisch gegenüberstehen. Wenn man die Kirche der Vergangenheit ehrt, wird mag nicht die Kirche der Gegenwart in den Dreck treten können. Man wird sich zwangsläufig mit der Lehre der Kirche und dem heutigen. Erscheinungsbild der Kirche befassen müssen. Und das kann uns nur zugutekommen und uns einen Freiraum für die eigenen Dinge ermöglichen.

Die Kirmes ist heute ein Stück Folklore. Wir Christen aber sollten sie nutzen zur Predigt der Botschaft Gottes und zum Nachdenken über unseren Weg in dieser Welt. Wir wollen aber auch deutlich machen, daß wir nicht „von gestern“ sind. Das beherrschende Wort in diesem Bibelabschnitt ist das Wort „neu“. Dieses ist heute.- trotz aller Besinnung auf das Alte - ein Modewort. Man will neue Menschen, neue Methoden, neue Technik, neue Höchstleistungen, neue Wohnungen usw. Es gibt sogar noch die Steigerung: „das Neueste“ oder gar „das Allerneueste“. Man will die Gesellschaft und die Menschen voranbringen und hat dabei auch ein

bestimmtes Ziel vor Auge.

Unser Ziel ist der neue Himmel, das „neue Jerusalem“. Diese Bezeichnung ist natürlich ein Bild. Das „neue Jerusalem“ ist nicht schon irgendwo vorhanden und würde dann nur auf die Erde herabgesenkt. Wir können nicht so tun, als hätten wir die kommende Welt Gottes schon gesehen oder doch wenigstens einen ausführlichen Reiseführer studiert.

Andererseits müssen wir uns klarmachen, daß das Alte vergehen wird: Die Berge, die Häuser, die Maschinen und auch die Menschen werden nicht mehr sein. Daß unser Haus, unsere Kirche, unser Ort einmal zugrundegehen könnten, das läßt sich noch vorstellen. Daß Staaten und Völker untergegangen sind, ist schon vorgekommen. Und vielleicht haben wir uns auch schon einmal mit den Aussagen der Wissenschaft beschäftigt, wonach unsre Erde einmal ein Ende finden wird, zumindest das Leben auf ihr.

Doch in der Offenbarung des Johannes geht es um mehr: Da ist die Rede vom Ende des gesamten Weltalls. Das ist außerhalb unseres Blickfeldes. Wir denken: irgendwie wird es schon wieder weitergehen. So wenig wie wir uns vorstellen können, daß Gott den Himmel und die Erde aus dem Nichts hat erstehen lassen, so wenig will es uns in den Kopf, daß das alles wieder spurlos im Nichts verschwinden soll.

Aber einmal wird eben das völlig Neue kommen: der neue Himmel und die neue Erde. Gott wird sie ebenso aus dem Nichts hervorbringen wie unsere jetzige Erde und unseren jetzigen Himmel. Das wird dann die Welt der Ewigkeit sein.

Allerdings wird unsere Welt im gewissen Sinn auch in der neuer Welt aufgehoben sein. Das Wort „aufheben“ hat ja eine doppelte Bedeutung: Ein Vertrag kann auf gehoben werden und ist damit beendet. Er kann aber auch in einen neuen Vertrag übergeführt werden, der die wesentlichen Dinge des alten Vertrages für die Zukunft. aufhebt. So wird zwar unsere Welt einerseits aufgehoben und beendet. Aber andererseits wird auch vieles von ihr in die neue Welt mit hineingenommen.

Insofern ist es schon recht, wenn die neue Welt mit dem Bild einer Stadt beschrieben wird. Man spricht heute davon, daß die ganze Erde zu einer riesigen Stadt geworden sei, über die Hälfte der Welt-Bevölkerung lebt in Städten. Das himmlische Jerusalem wird etwas anderes sein als die Millionenstädte unserer Zeit. Aber es wird etwas von der Art einer Stadt im herkömmlichen Sinne haben, nämlich so etwas wie Heimat, Lebensraum, Nachbarschaft und Geborgenheit bieten.

Vor allen Dingen aber wird die neue Welt unlösbar mit Gott verbunden sein. Eine Stadt ohne Gott wäre die Hölle. Deshalb gehört zu jedem Neubauviertel auch eine Kirche. Die christliche Gemeinde braucht einen sichtbaren Ort, wo sie sich versammeln kann. Es muß

nicht unbedingt ein hoher Turm dabei sein. Aber ein umschlossener Raum mit .einem schützenden Dach ist nötig, wo sich dann alle versammeln können.

Ein Ort ohne eine Kirche wäre wie ein Mensch ohne Seele. Was wären all unsere Dörfer und Städte ohne den beherrschenden Mittelpunkt der Kirche! Ohne die Kirche wäre alles nur eine belanglose Anhäufung von Häusern. Selbst die Politiker sprechen von „unserer Kirche“. Da tun sie auch völlig recht daran. Die Erhaltung dieses großen, denkmalwerten Gebäudes ist nicht nur eine Sache der Christen der r Stadt, sondern aller Bürger.

Doch es geht ja nicht nur darum, daß die Menschen der christlichen Gemeinde hier einen Versammlungsraum haben. Die .Kirche ist das „Gotteshaus“, wo Gott in besonderer Weise zu finden ist. Hier will er unter uns sein, durch sein Wort zu uns reden und im Gebet angesprochen werden.

Hier will er uns schon etwas vom Wesen des neuen Jerusalem deutlich machen. Wir leben zwar noch in einer Welt der Tränen, aber hier können wir schon heute Trost und Ermutigung finden. Hier wird schon etwas vor der Ruhe und dem Frieden der künftigen Welt Gottes spürbar. Hoffentlich findet er auch etwas von ihrer Gelassenheit und Fröhlichkeit. Fröhlichsein kann man nicht kommandieren oder sich antrinken. Wer sich aber über Gott und seine guten Gaben freut und als Ziel die neue Weit Gottes vor sich hat‚ der erfährt eine bleibende Freude während die Lust an allem anderen einmal zuende geht.

 

 

 

Musik

 

Orgelweihe: Ps 150

Zum Beginn des neuen Kirchenjahres können wir eine neue Orgel in unserer Kirche einweihen. Damit haben wir endlich wieder ein Instrument für den Gottesdienst, für die Liturgie und den Gemeindegesang. Aber es ist nun auch möglich, hochwertige Kirchenmusik und speziell Orgelkonzerte zu machen. Deshalb können wir nur dankbar sein, wenn uns nun dieses Instrument zur Verfügung steht.

Man nennt die Orgel „die Königin der Instrumente“, denn sie vereinigt viele andere Instrumente in sich, von der Posaune bis zur Waldflöte. Dabei war die Orgel zu Anfang in der Kirche verpönt, weil sie als heidnisches Instrument galt. Heute ist Orgelmusik fast nur in der Kirche zu hören. Orgelmusik ist ein Stück Kultur, ob sie nun im Gewandhaus oder in der Kirche aufgeführt wird.

Doch für uns soll sie vor allem dem Lob Gottes dienen. Man kann Gott natürlich auch ohne Orgel loben. Auf den Dörfern ist es oft vorgekommen, daß kein Organist da war und man dann ohne Orgelbegleitung singen mußte. Da merkt man dann erst, wie sehr das Singen ohne Orgel doch nur ein Notbehelf ist. Mit der Orgel ist das Singen leichter und macht mehr Freude Sicher soll die Orgel nicht alles erschlagen, sie soll dem Gesang nur führen. Aber zum Lob Gottes gehört auch das Lob mit Orgelpfeifen und mit all den anderen Instrumenten, die im 150. Psalm genannt werden und die zum Teil von der Orgel nachgemacht werden.

Meist hat man schon beim Bau der Kirche oder gleich danach auch eine Orgel aufgestellt. Später hat man diese durch ein größeres Instrument ersetzt [Hier die Daten der örtlichen Kirche einsetzen]. Irgendwann muß man nach allerhand Reparaturen zu einem völligen Orgelneubau übergehen. Dann kann man nur froh sein, wenn man eine Firma findet, die zeitnah

eine neue Orgel liefern kann. Und dann hofft man, daß die Orgel auch für hundert Jahre der Gemeinde zur Verfügung steht, wie es der Orgelbauer versprochen hat.

Manche werden natürlich auch wieder sagen: „Wozu wird denn soviel Geld ausgegeben für so eine große Orgel. Eine elektronische Orgel für einige Euro hätte es auch getan!“ Dieser Vorwurf ist alt, er gilt ja auch für die Kirchengebäude und ihre Kunstwerke, für die Altargeräte und Glocken. Wer nichts davon versteht, der wird sagen: „Das ist Luxus!“ Wer aber Gott loben will, für den ist das Beste gerade gut genug. Wenn wir zu Hause ein Fest feiern wollen, dann wird ja auch die Wohnung renoviert, das beste Tischtuch und Geschirr und Besteck her­vorgeholt. Da sollten wir es bei Gott nicht anders machen und alles einsetzen, was möglich ist.

Wenn es nicht möglich wäre, dann würde es natürlich auch so gehen. Und die anderen Aufgaben der Kirche sollen deswegen nicht zu kurz kommen. Schon gar nicht sollen Kirchensteuermittel für eine Orgel eingesetzt werden, denn sie werden für dringendere Dinge gebraucht. In diesen Zusammenhang können wir dankbar vermerken‚ daß scho0n viele Spenden aufgebracht worden ist. Wir danken allen, die durch kleinere und größere Beträge dazu beigetragen haben. Aber wir bitten auch weiterhin um Gaben, damit die Schulden noch abgetragen werden können.

Wir wollen die Orgel nicht zu den Zwecken nutzen, von denen es in Jesaja 5, Vers 11 und 12 heißt: „Weh denen, die des Morgens früh auf sind, des Saufens sich zu befleißigen, und sitzen bis in die Nacht, daß sie der Wein erhitzt, und haben Harfen, Psalter, Pauken, Pfeifen und Wein in ihrem Wohlleben und sehen nicht auf das Werk des Herrn und schauen nicht auf das Geschäft seiner Hände!“

Diese Orgel soll vor allem zu freudigen Anlässen erklingen, zu den Gottesdiensten und Amtshandlungen und Konzerten. Das Nächste wird das Konzert heute Nachmittag sein. Da soll die Orgel zeigen, was in ihr steckt, soll uns zur Entspannung oder auch zur Spannung helfen. Musik kann ein Stück Himmel auf Erden sein. Im Himmel wird sicher nicht nur Bach gespielt. Dort gibt es sicher auch eine Ecke für Rockmusik und Disco-Musik. Aber auch viele junge Leute haben etwas für Orgelmusik übrig und können auch in ihr das Lob Gottes vernehmen.

Aber mancher wird auch sagen: „Ich habe keinen Grund zum Lob Gottes, bei mir ist alles so traurig!“ Oder man wird allgemein fragen: „Hat die Menschheit einen Grund zum Lob Gottes, wo es noch so viele ungelöste Probleme und so viele Schattenseiten des Lebens gibt?“ Die Orgelmusik will uns zu neuer Hoffnung fuhren und uns Mut machen‚ mit der Hilfe Gottes die Probleme anzupacken. Die Kraft, die wir hier erhalten, brauchen wir in unserem Leben. Dort soll sich auswirken, was wir hier erfahren haben. Das Lob Gottes zeigt sich nicht nur darin, daß wir uns hier im Gotteshaus versammeln und fromme Lieder singen. Es will auch in die Tat umgesetzt werden und sich in unserem Alltag auswirken.

Heute aber wollen wir uns vereinen zum Lob Gottes, mit unsrer Stimmen und mit diesem neuen Instrument. Das Leben des Menschen erschöpft sich nicht im Tun und Hetzen, sondern es gehört auch die Ruhe und die Hinwendung zur Welt Gottes hinzu. Der 150.Paalm jedenfalls fordert uns in seinem letzten Vers dazu auf: „Alles, was Odem hat, lobe den Herrn! Halleluja!“

 

 

Posaunenchorjubiläum (zu Eph 5,15-20)

Wenn der Mensch nicht nur vom Verstand angesprochen werden will, sondern auch in der

Seele, dann kommen wir auch zu dem, was wir heute feiern wollen: die Arbeit unseres Posaunenchores, der nun schon …..Jahre tätig ist. Und damit feiern wir auch die Arbeit aller Posaunenchöre und der Kirchenmusik überhaupt. Die Musik ist etwas, das in viel tiefere Schichten des Menschen hineinreicht, als der Verstand sie erreichen kann. Mancher nimmt

vom Gottesdienst nicht viel mehr mit als das Gefühl, daß es ihm gefallen hat. Er kann vielleicht gar nicht im Einzelnen sagen, was ihn besonders angesprochen hat. Aber wenn man tiefer forschen würde, wäre es vielleicht gerade die Musik.

Der Geist kommt zu uns durch Wort und Sakrament, aber auch im Wechselgesang und dem Loben und Bekennen der Gemeinde. Weil Christen vom Geist erfüllt sind, singen sie und loben. Aber indem sie reden und singen, werden sie auch wiederum mit Geist erfüllt. Hier wird ein Stromkreis geschlossen: Gott redet zu uns durch sein Wort, wir aber reden mit ihm durch Gebet und Lobgesang. Sonst hätte Gott ins Leere gesprochen, wenn er von uns keine Antwort bekäme.

Die Urchristenheit hat Lieder und Gebete aus der Tradition des Gottesvolkes aufgenommen. Aber sie hat auch das neue Lied gesungen, vom Geist Gottes angeregt. Wir können nicht die Glaubensäußerungen der Väter überheblich verachten. Aber wir können auch nicht nur Überkommenes zitieren, sondern sollten dem Glauben auf unsere Weise Ausdruck geben. Auch heute sprudeln die Quellen neuer Lieder. Auch die Posaunenchöre haben sich weitgehend umgestellt, blasen nicht nur Choräle, sondern auch Volkslieder oder gar Märsche.

Das kann alles gern sein, wenn es dem Lob Gottes und der Gemeinde dient. Wir machen keine Kultur, sondern wollen Gottes Botschaft verkündigen. Hier liegt eine feine Grenze, die es aber scharf zu beachten gilt. Gott soll Dank gesagt werden und nicht menschliches Tun umrahmt und überhöht werden. Wenn das beachtet wird, dann wird auch die Gemeinde offen sein und Verständnis gewinnen für die verschiedenen Weisen singender Verkündigung.

Außerhalb der Kirche beobachtet man oft, wie die Jugend sich vor einem Podium in Verzückung bringen läßt durch Texte, die keiner versteht, und durch eine Musik, die weder melodisch noch harmonisch noch im Rhythmus originell und aussagekräftig ist. Es empfiehlt sich nicht, solches in den Gottesdienst zu übertragen, am Ende noch mit primitiven Mitteln und mit weniger Schmiß.

Grundsätzlich ist keine Stilform vom Gottesdienst auszuschließen. Aber es wird alles daran zu messen sein, ob hier wirklich Menschen dem Herrn in ihrem Herzen singen und ob Gott damit Dank gesagt wird im Namen, unseres Herrn Jesus Christus. Das Zucken der Arme

und Beine, das laute Schreien und die Entfesselung unseres Menschseins machen uns noch nicht zu Menschen Gottes.

Entscheidend wird sein, ob sich eine personale Verbindung mit Gott knüpft, dem unser Lob und unser Dank gelten soll. Wenn es so gemeint ist, dann darf sich auch das „volle Herz“ auf jede Art und Weise äußern. Dann dürfen wir auch wünschen, daß unser Posaunenchor und alle Chöre im Land noch lange zur Ehre Gottes wirken können.

 

 

 

Verschiedene Anlässe

 

 

Predigt Jes 50,4 - 9

 

„Gott der HERR hat mir die Zunge eines Schülers gegeben,

damit ich den Müden zu helfen weiß mit einem Wort.

Er weckt auf, Morgen für Morgen weckt er mir das Ohr,

damit ich höre wie ein Schüler.

 Gott der HERR hat mir das Ohr aufgetan,

und ich bin nicht widerspenstig gewesen,

bin nicht zurückgewichen“

 

„Morgen für Morgen weckt er mir das Ohr, damit ich höre wie ein Schüler...“, so heißt es in den Worten des Jeremia, die wir eben gehört haben. Er, Gott, weckt mir das Ohr, damit ich höre wie ein Schüler.

Sie waren bis vor siebzig Jahren Schüler. Sie teilten acht Jahre lang die Schulbank. Die meisten von Ihnen kannten sich schon vorher, vom Spielen auf der Straße, in den Wiesen. Dann begann die Schule. Gerade von der Schule haben Sie viel zu erzählen.

Haben Sie gerne gehört? Gerne heißt ja auch frei, mit Lust. Ihre Schulzeit war weiß Gott keine einfache Zeit. Auch in der Schule nicht. Die Mächte der damaligen Zeit, finstere Mächte, griffen nach der Schule, nach den Schülern. Sie mußten das hören. Sie mußten hören. Die Lehrer waren hart und Sie mußten hin.

Wenn Sie heute darauf zurückblicken, sich von Ihrer Schulzeit erzählen, erzählen Sie wahrschein­lich lieber Geschichten, über die Sie lachen können, wo Sie der Schule ein Schnippchen ge­schla­gen haben und nicht die Schule Sie.

„Morgen für Morgen“, doch halt, wie war das noch früher, als Jesaja diese Worte den Juden von Gott ausrichtete? Morgen für morgen weckt er mir das Ohr, damit ich höre wie ein Schüler. Damals war es eine große Ausnahme, wenn ein Kind Schüler wurde. Die allermeisten lernten von ihren Eltern und fingen früh an, hart zu arbeiten, als Kin­der. Die Familie lebte davon. Nicht nur die Kartoffeln im Herbst, nein das ganze Jahr.

Lehrer gab es nur wenige. Und die wenigen suchten sich ihre Schüler aus, Kinder, die besonders helle waren, die zu einem der wenigen Lehrer gebracht wurden, die ihnen durch irgendeinen Zufall auffielen. Es waren nur wenige und die waren dankbar und hörten ihre Lehrer. Man mußte es ihnen nicht sagen.

„Morgen für Morgen weckt er mir das Ohr“. Er, das ist Gott, der sich Gehör verschafft. Nicht durch Lautstärke und Kraftworte. Gott wird tiefer vernommen, im Herzen. Sein Wort rührt uns an, ganz tief, ganz leise.

Ohne Schläge. Die braucht es nicht, weil es eine stille, stetige Kraft in sich trägt. Diese Kraft verwandelt uns Menschen. Hören wir, wie es bei Jesaja heißt: „Gott der HERR hat mir die Zunge eines Schülers gegeben, damit ich den Müden zu helfen weiß mit einem Wort.“

In Gottes Schule geht es nicht darum, zu hören und zu gehorchen. Gott will uns mit seinen Worten Worte geben. Er macht uns nicht kleinlaut, sondern gibt uns Sprache, Zunge. Die Zunge eines Schülers, der das Wort weitersagt, der es laufen und wachsen läßt: damit ich den Müden zu helfen weiß mit einem Wort.

Vielleicht haben Sie es in der Schule erlebt: Kinder, die so müde waren, von Arbeit, Armut und Sorgen geschwächt, daß sie einschliefen. Ich will nicht wissen, was Ihre Lehrer dann getan hätten oder getan haben. Solche Kinder werden alles drangesetzt haben, um nicht einzuschlafen, nicht hart geweckt, nicht verlacht zu werden.

Und dann gab es ja noch eine noch größere Müdigkeit, lebensmüde Menschen. Die am Alter, an der Zeit verzweifelten, an der großen Lebensmüdigkeit unseres Volkes, das sich und die Welt in Ihrer Jugend in Krieg und Verderben stürzte, lebensmüde. Da ein Wort haben, den Müden zu helfen, daß sie Kraft schöpfen, Zuversicht und Hoffnung, da braucht es die Zunge eines Schülers, eines Gottes­schülers. Das waren Sie ja als Konfirmanden. Sie gingen bei Gott in die Schule. Daß er Ihnen die Zunge eines Gottesschülers gibt, eines, der Gottes Frohe Botschaft ins Leben trägt, daß der Müde Hilfe findet, der Sterbende Leben. Das war damals nicht einfach.

So ist das bei denen, denen Gott die Zunge eines Schülers gegeben hat, die hören wie ein Schüler. Da gibt es keine Garantie auf ein erfolgreiches Leben. Schläge und Schande können einen treffen. Hart wie ein Kieselstein, heißt es bei Jesaja, macht der Gottesschüler sein Gesicht. Den Anwürfen gibt er keinen Raum. Gott ist bei ihm, er ist nicht allein. Gott trägt seine Schuld, rein steht er da, auch wenn die Feinde anderes sagen. Wenn auch andere den Blick von ihm wenden, Gott sieht sein Kind, seinen Schüler an und läßt den Blick nicht von ihm ab.

Sie haben in Ihrem Leben Schweres erlebt. Die Kameraden zu Grabe getragen. Die Eltern, den Mann, die Frau. Sie haben gespürt, wie das Leid Sie einsam gemacht hat, Ihnen die Sprache verschlagen hat, Sie ermüdet und niedergeschlagen hat. Sie werden auch Gegner, ja Feinde erlebt haben, die sich an Ihrem Leid geweidet haben, die auf Distanz geblieben sind, die kein Wort, keine Geste übrig hatten, Ihnen zu helfen. Sie werden gemerkt haben, daß man da das Hören verlernen, das hörende Herz verhärten kann.

Doch irgendwann haben Sie hoffentlich verspürt: Morgen für Morgen weckt er mir das Ohr. Sie haben hoffentlich sein Wort vernommen, das den Müden, auch den Lebensmüden zu helfen vermag. Sein Wort, das auch vor dem Grab nicht Halt macht, das nicht nur Herz und Nieren, sondern auch die Finsternis des Todes durchdringt. Jesus Christus, der hören konnte wie keiner sonst, der Menschen wie Gott gehört hat und ihrem Hilferuf nachging, um Nächster zu werden und nahe zu hören, daß keine Not ihm entgeht.

An ihn sich zu erinnern, Morgen für Morgen sich von ihm wecken zu lassen und mit seinem Wort den Tag zu leben, das ist es, was einen Christen zum Christen macht. Hören wie ein Schüler, um mit der Zunge eines Schülers das Wort sagen, mir, meinem Nächsten, meinem Feind, meinem Fernsten, meinem Freund. Kein einfacher Weg. Doch auf ihm liegt Segen, ein Segen, der stärker ist als jedes böse Wort, als jeder Fluch. Dieser Segen möge Sie geleiten: in die Stille Woche zur Auferstehung unseres Herrn, ihr Leben lang zum ewigen Leben in Gott. (nach Dr. Martin Streck).

 

 

Jesus und der Osterhase (Gottesdienst mit mehreren Mitwirkenden)

Predigt zu einem Jugendgottesdienst über Joh 20,19-21 (Ostern)

Pfarrer (geht im Talar mit einen Stapel Bücher auf die Kanzel): „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche durch des Frühlings holden belebenden Blick!“ sagte schon Goethe. So hat auch Jesus das Eis gebrochen‚ als er an Ostern von den Toten auferstand. Ostern - Fest des Frühlings und der Auferstehung! Die Kinder suchen ihre Ostereier und auch die Alten erfreuen sich an diesen Anblick.

O Tod, wo ist dein Stachel nun? Wo ist dein Sieg, o Hölle?

Was kann uns jetzt der Teufel tun, wie grausam er sich stelle?

Gott sei gedankt, der uns den Sieg so herrlich hat

nach diesem Krieg durch Jesus Christ gegeben!

(Ein Mitwirkender in der Bank gähnt lautstark): „Ach, jedes Jahr der gleiche Käse. Die Sache mit Ostern ist schon in Ordnung. Aber Sie erzählen ja so langweilig davon, daß jetzt alles hier schon eingeschlafen ist. Seit 2000 Jahren werden die gleichen Worte gepredigt, aber nichts wird anders. Ich möchte behaupten, Jesus ist gar nicht auferstanden, sonst müßte es in der Kirche und unter den Christen anders aussehen!

Pfarrer: Wenn Sie alles besser wissen, dann können Sie ja weitere machen. Ich kann ich auch meinen Talar an den Nagel hängen, wenn die Jugend einen nicht einmal zu Wort kommen lassen will (zieht auf der Kanzel demonstrativ den Talar aus und kommt herunter).

 

(1. Mitwirkender): Was tun denn die Christen gegen die Kriege in der Welt? Sie stehen auf beiden Seiten der Front und tun so, als wären sie Erzfeinde. Wie viele Länder haben Krieg miteinander geführt, obwohl die beiden Staatsoberhäupter Christen waren und auch die Mehrheit der Bevölkerung.

(2. Mitwirkender): Auch die Rassevorurteile sind geblieben. Wir brauchen gar nicht an die USA zu denken. Wieviel Rassenvorurteile gibt es auch heute noch bei uns. Auch heute kann man noch hören: „Die Juden sind an allem schuld!“ Hat nicht Christus gesagt: „Ihr seid alle Brüder und Kinder des gleichen Vaters? Haben die Christen das vergessen?

(3. Mitwirkender): Wie steht es mit dem Hunger in der Welt? Während dieses Gottesdienstes sterben 3.000 Menschen irgendwo in der weiten Welt an Hunger. Sollen wir sie vertrösten und sagen: „Gott wird euch schon wieder auferwecken?“ Hat Jesus nicht vielmehr gewollt, daß es erst gar nicht zum Hunger kommt? Wenn Christus lebt, warum sind dann die Christen so lahm und gleichgültig?

(4. Mitwirkender): Auch innerhalb der Gemeinde ist vieles tot. Wer geht denn noch in die Kirche: ein paar alte Frauen und kleine Kinder. Aber von denen geht keine Kraft für die Welt von heute aus. Es sieht eher so aus, als warteten die Gemeinden auf ihren Tod, anstatt wie Auferstandene zu leben und Mut für die Zukunft zu fassen.

Pfarrer: Viele hängen auch noch zu sehr an der guten alten Zeit. Da klagt der Pfarrer an jedem Sonntag über die Schlechtigkeit der Welt von heute. Aber damit nimmt er doch allen Mut zum tatkräftigen Einsatz. Unsere Gemeinden werden doch nicht lebendig, wenn wir nur von vergangenen Zeiten träumen? Wir leben doch nun einmal in der Welt von heute und haben uns ihren Aufgaben zu stellen. Aber die Frage bleibt eben doch: Warum hat die Osterbotschaft von dem lebendigen Christus heute so wenig Durchschlagskraft?

(4. Mitwirkender): Vielleicht liegt das auch mit daran, daß kaum einer etwas mit dem Begriff „Auferstehung Jesu“ anfangen kann. Die einen sehen darin nur ein Gleichnis für das Frühlingserwachen. Die anderen sagen: „Nur die Seele kann in den Himmel!“ Die anderen wieder pochen darauf: „Jesus kam wieder so lebendig aus dem Grab heraus, wie er vorher auch war!“ - Herr Pfarrer, können Sie denn nicht einmal kurz und verständlich sagen, was es mit Ostern auf sich hat?

Pfarrer: im Neuen Testament ist der Vorgang der Auferstehung nirgends beschrieben. Es heißt nur: „Jesus wurde von den Jüngern gesehen, allerdinge in einer anderen Gestalt. Gott hat ihm einen neuen Leib gegeben, so wie er jedem in der Geburt das Leben gibt!“

In dem Predigttext heißt es: „Er zeigte ihnen die Hände und seine verwundete Seite!“ Das soll doch wohl bedeuten: Es war derselbe Jesus, den sie schon immer kannten. Die entscheidende Botschaft an Ostern war aber: „Er lebt! Jetzt geht es erst richtig los!“ Viele zweifeln schon an dieser Tatsache. Aber hier können wir auch nicht helfen, da können wir nur zum Glauben aufrufen. Die Schwierigkeit ist eben nur: Glaubwürdig wird die Auferstehung Jesu

Nur, wenn die Christen wie Auferstandene leben. Wir müßten uns jetzt einmal überlegen, welche Auswirkungen Ostern auf die Gemeinde von damals hatte.

(5. Mitwirkender): In dem Predigttext hieß es doch: „Sie hatten die Türen verschlossen aus Furcht vor den Juden!“Die Gemeinde war also wie so viele Gemeinden eingeschüchtert. Sie hatte sich nur auf ihren engen, eigenen Kreis zurückgezogen, sie machte sich keine Hoffnungen mehr für die Zukunft.

(6. Mitwirkender): Aber sie haben diese Krise wenigstens oberwunden. „Als sie den Herrn sahen, wurden sie wieder froh“, heißt es hier. Müßte das nicht auch bei uns heute passieren, daß wir unsere Müdigkeit und Mutlosigkeit überwinden und wieder froh und zuversichtlich werden? Dann wäre Ostern nicht vergeblich für uns gewesen.

 (7. Mitwirkender): Geht das nicht an besten, indem man sich ein Ziel und eine Aufgabe stellt?
Wenn man sich tagsüber müde gearbeitet hat, dann ist man abends wie erschlagen. Wenn man aber dann noch fort will, zum Beispiel zum Tanz, ist die Müdigkeit sehr schnell verflogen. Wenn man noch etwas Schönes vorhat, dann kriegt man auch wieder Kraft.

Pfarrer: So sendet ja auch Jesus seine Jünger aus und gibt ihnen den Auftrag, mit seiner Sache weiterzumachen. Darum ging es doch an Ostern: Die Jünger waren erst mutlos. Aber als sie Jesus sahen, erhielten sie wieder neue Kraft. Sie hatten schon aufgegeben; aber jetzt ging es wieder weiter. Ostern war dann nicht vergeblich für uns, wenn wir uns in gleicher Weise von Jesus losschicken lassen.

(8. Mitwirkender): Wir sollten uns deshalb nicht entmutigen lassen, wenn in der Gemeinde wirklich alles niederschmetternd ist. Wir müßten in der Gemeinde wieder viel mehr zu einer Mannschaft zusammenwachsen, denn alleine schafft man es doch nicht. Nur wenn man voneinander lernt‚ die Erfahrungen austauscht und die Probleme gemeinsam angeht, wird man Erfolg haben. Der Gottesdienst wäre dann so etwas wie eine Verabredung, welche Aktionen man in nächster Zeit in Angriff nehmen will.

(9. Mitwirkender): Wenn ich mich für eine Sache einsetzen soll, dann muß sie aber auch anziehend für mich sein.

(10. Mitwirkender): Meinst du nicht, daß der Glaube auch attraktiv sein kann und einem Menschen von heute eine Hilfe zum Leben gibt? A 1 1 e s liegt ja nun auch nicht im Argen. Es gibt doch auch gute Beispiele dafür, wie Christen ihren lebendigen Glauben in die Tat umgesetzt haben. Es ist längst nicht alles tot in der Kirche.

Pfarrer: Ja, wenn es nur nach den lahmen Christen ginge, wäre die Wirkung der Auferstehung Jesu gleich Null. Aber weil Christus in ihr wirkt, wird es auch mit ihr weitergehen. Es gibt auch ermutigende Zeichen in der Kirche.

Sprechchor: Beispiele, Beispiele!

(11. Mitwirkender): Na, so ein Gottesdienst hier, das ist doch etwas. Und es geschieht ja auch anderswo in ähnlicher Weise. Es geht nicht nur bergab mit der Kirche, sondern es wachsen in ihr schon wieder neue Kräfte heran. Es ist falsch, daß die Jugend gar kein Interesse an der Kirche hat und nichts mehr von ihr erwartet.

(12. Mitwirkender): Schließlich waren es zuerst die Christen, die nach dem Zweiten Weltkrieg versucht haben‚ eine Brücke zwischen den Völkern zu schlagen. Gerade junge Menschen nahmen an den Aufbaulagern der „Aktion Sühnezeichen“ teil. Sie haben in den vom Krieg geschädigten Gebieten beim Bau von Kindergärten, Altenheimen und Gemeindehäusern mitgeholfen oder Soldatenfriedhöfe in Ordnung gebracht.

(13. Mitwirkender): Oder denken wir an die Verständigungsversuche zwischen den Christen in den früheren beiden deutschen Staaten. Sie haben schon bald die bestehenden Realitäten anerkannt. Und sie haben miteinander und mit den Atheisten gesprochen, als bei den Politikern noch kein Hoffnungsschimmer für einen vernünftigen Meinungsaustausch vorhanden war.

(14. Mitwirkender): Beim Hunger ist auf die „Aktion Brot für die Welt“' hinzuweisen. Sie ist zwar auch nur sehr bescheiden, aber sie bringt doch wenigstens einige Hilfe in Katastrophenfällen oder durch medizinische Unterstützung.

Pfarrer: In der Tat, vieles kann uns Mut zum Glauben machen. Wir müssen uns nur anstecken lassen von der Osterfreude und von der Gewißheit, daß Jesus lebt.

[Man kann natürlich auch mit weniger Mitwirkenden auskommen, indem man eine Person mehrere Beiträge sprechen läßt]

 

 

Predigt in der DDR: 1. Petr 2,11-17 (Marginaltext für 23. Sonntag nach Trinitatis)

 „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!“ hieß es zu Kaisers Zeiten. Die Regierenden erwarteten, jeder Untertan solle ein braver Staatsbürger sein, leicht zu leiten und verläßlich in Krisensituationen. Im öffentlichen und privaten Leben sollte Ordnung herrschen und keiner durfte auch nur der Gedanken haben, daß diese Ordnung geändert werden müßte.

Die Christen, an die sich der 1.Petrusbrief wendete, waren sicherlich nicht solche braven Staatsbürger. Sicherlich war eine ganze Menge nicht gerade sehr braver Menschen dabei, mit etwas dunkler Vergangenheit und von den anderen nicht besonders angesehen. So sahen ja damals die Christengemeinden im römischen Weltreich im Allgemeinen aus. Vom Staat wurde- sie mißtrauisch beobachtet oder sogar verfolgt, weil sie nicht dem Kaiser wie einem Gott opfern wollten; sie waren Außenseiter der Gesellschaft.

Im 1. Petrusbrief werden sie deshalb als Fremde und Pilger in der Welt bezeichnet. Sie haben zwar eine Heimat auf der Erde, sie haben eine Wohnung, ihre Arbeit, ihre Freunde, Verwandter und Bekannten. Aber sie sind immer auch ein wenig Pilger auf dem Weg nach der ewigen Heimat. Die Wohnungen des Vaters im Himmel sind eben mehr als die Heimat in dieser Welt. Unsere Welt ist nur das Vorletzte, etwas Vorläufiges, etwas, das der neuen Welt Gottes vorausläuft und vor ihr einmal überboten wird.

Das wird man heute besonders der Christen ins Gedächtnis rufen müssen, die sich zu sehr an die Welt angleichen, die bei allem mitmachen und sich in nichts von anderen Menschen unterscheiden. Sie bejahen die Welt zu sehr und sind der Welt so freudig zugewandt, daß sie die himmlische Heimat vergessen haben.

Aber auch das Gegenteil ist falsch. Es gibt ja Christen, die leben zwar in dieser Welt und können ihr auch in vielen Dingen nicht aus dem Weg gehen, aber sie tun doch so, als existiere diese Welt nicht für sie. Sie sind mit ihrem Glauben so sehr auf sich selber bezogen, daß, viele sagen: „Mit solchen Leuten möchte ich nichts zu tun haben!“ Sie sind dann mit schuld daran, wenn andere die christliche Botschaft ablehnen.

Es entsteht dadurch aber auch der Eindruck, daß die Christen in sich zwiespältig sind: Sie sind zwar i n der Welt, aber nicht v o n der Welt, sie machen bei Manchem mit und anderes wieder lehnen sie ab. Wir selber würden das wohl als fruchtbare Spannung in unserem Leben empfinden. Aber ein Außenstehender wird hier nur Widersprüche sehen und verständnislos mit dem Kopf schütteln.

[Predigtteil unter den Verhältnissen der DDR: Damit aber haben wir das Problem umrissen, das gerade in diesem Tagen uns wieder vor Augen gestellt ist. Es haben da ja wieder in Oberhof und Eisenach Gespräche mit leitenden Amtsträgern der Thüringer Kirche stattgefunden. Die Zeitungen waren ja voll davon. In Eisenach sagte der Staatssekretär für Kirchenfragen. „In dem sozialistischen Staat haben auch alle Bürger einen geachteter Platz, die sich von der humanistischen Prinzipien christlicher Ethik leiten lassen. Die Kirche soll kein Fremdkörper in der sozialistischer Gesellschaft sein!“ Damit hat er durchaus etwas Richtiges gesagt. Wenn wir nur tatsächlich einen geachteten Platz hätten und nicht vom Staat als ein Fremdkörper betrachtet würden! Der sozialistische Staat versucht ja, alles unter seine Fittiche zu nehmen. Daß die Christen noch einen anderen Herrn haben als den Kaiser von heute, das muß ihm

ein Dorn im Auge sein. Es bleiben im Grunde nur drei Möglichkeiten: Entweder den Fremdkörper abzustoßen oder zur Bedeutungslosigkeit verkleinern oder in einkapseln, daß er nicht mehr schädlich sein kann. Da eine totale Abstoßung schwierig ist, benutzt man die beiden anderen Wege. Den Versuch der Verkleinerung erleben wir in Schule- und Betrieben, wo man die Christen mit mehr oder weniger sanfter Nachhilfe von ihrem Glauben abbringen will. Den Versuch der Einkapselung können wir in der Zeitung nachlesen. Der Bischof hat ja dann auch in Eisenach gesagt: „Die Kirche und die Christen sind gerufen, sich in die sie umgebende Gesellschaft und ihre Aufgaben zu integrieren und jeder Dienst mitzutun, der in einer friedlosen Welt endlich zu einem Zustand führt, in dem die Menschen in einem wirklichen Frieden und ohne Sorge vor Hunger und Ausbeutung leben können!“ Der Meininger Oberkirchenrat von Frommannshausen ging sogar noch einen Schritt weiter, indem er sagte: „Als Christen fühlen wir uns integriert in die sozialistische Gesellschaft und empfinden, daß der Sozialismus die gerechtere und bessere Gesellschaftsordung ist!“ Es mag sein, daß der Herr Oberkirchenrat sich integriert fühlt. Aber wir erleben doch jeden Tag, wie die Christen aus den Leitungen der Betriebe herausgedrängt werden, daß sie nicht mehr für den Elternbeirat oder den Gruppenrat in Frage kommen, daß man selbst Parteirente und Geburtstagsglückwünsche von der Kirchenzugehörigkeit abhängig macht. Wie müssen da wohl solche Aussagen der Kirchenführer auf die Gemeindeglieder wirken, die täglich mit Schwierigkeiten wegen ihres Glaubens zu kämpfen haben?!

Allerdings muß man dazu sagen, daß die Vertreter der Kirche auch einige Probleme an die Vertreter des Staates herangetragen haben, die sie gegenwärtig bewegen und um deren Klärung gebeten wurde. Das stand auch in der Zeitung. Und man kann damit rechnen, daß dabei sehr unverblümt gesprochen wurde. Aber gerade dabei hätte doch deutlich werden müssen, daß wir gerade noch nicht in die uns umgebende Gesellschaft integriert sind.

Die Mehrheit der Christen wird heute erkannt haben, daß sie sich nicht von der Welt abkapseln kann. Sie wollen sich gerne am Aufbau der Gesellschaft beteiligen und ihre von Gott verliehener Kräfte zum Wohle aller einsetzen. Sie möchten sich gerne integrieren, aber man läßt sie ja nicht bzw. man weist ihren den Ort an, den man selbst für richtig hält. In diesen Zusammenhang gehört auch das Zitat: „Es können nicht alle Pfarrerskinder auf die höhere Schule kommen. Aber wenn einer bei der LPG oder beim Dienstleistungskombinat anklopft, dann wird er nicht danach gefragt, ob er konfirmiert ist! Da kann er jederzeit ankommen!“ Christen sind gut für den „Mach-mit“- Wettbewerb, aber nicht für die Leitung einer Schule. Das ist doch die heutige Praxis].

In Zeit des 1.Petrusbriefes hatten die Christen noch Keinerlei Anteil an der Ordnung und Gestaltung des öffentlichen Lebens. Deshalb wird ihnen geraten, es auch dabei zu belassen und aller menschlichen Ordnung untertan zu sein. Das entspreche dem Willen Gottes. Ein Christ kann also nicht unter Berufung auf seine Freiheit eine verächtliche Haltung gegenüber dem Staat einnehmen. Fast jeder Staat versucht doch wenigstens, das Böse einzudämmen und das Gute zu fördern. Und schon gar nicht kann man dem früherer Berliner Bischof Dibelius zustimmen, der gesagt hat „Weil es in der DDR keine von Gott eingesetzte Obrigkeit gibt, braucht man dort nicht einmal die Verkehrsregeln einzuhalten!“ Dann würde man nur von christlicher Freiheit reden, um die eigene Bosheit zu vertuschen.

Aber es kann auch nicht die Haltung eines Christen sein, sich allen Anordnungen des Staates sklavisch zu unterwerfen. Nicht umsonst heißt es zuerst: „Fürchtet Gott“ und dann erst „Ehret der König!“ Der Gehorsam gegenüber Gott geht immer vor dem Gehorsam gegenüber den Menschen. Die Vertreter des Staates sind dabei nur Beispiele. Auch gegenüber anderen Menschen gilt die Regel: „Jedermann ehren, die Brüder lieben, Gott fürchten!“

Einen grundlegenden Unterschied haben wir allerdings doch gegenüber den ersten Christen und gegenüber dem Kaiserreich: Wir sind nicht mehr Untertanen, über denen der Staat gleichsam als eine göttliche Macht schwebt. Der Staat ist unser Staat und wir sind zu aktiver Mitverantwortung für den Staat verpflichtet. Wer im Herzen resigniert und verdrossen sich vom öffentlichen Geschehen distanziert, kann sich nicht auf diesen Bibeltext berufen. Wir sind alle aufgerufen, mitzudenken und mitzuarbeiten und von unsren Rechten und Pflichten Gebrauch zu machen.

Viele empfinden „die da oben“ immer roch als eine anonyme Macht, der man sich unterzuordnen hat. Es heißt dann etwa: „Der Staat hat euch zehn Jahre Ausbildung bezahlt, jetzt könnt ihr ihm auch drei Jahre dienen!“ Aber wer ist denn der Staat? Ein Gott, der uns gnädig etwas gewährt und dann doch wieder seine Opfer verlangt? Das Geld für die Schulen wird ja immer noch von allen Staatsbürgern aufgebracht, auch von den Eltern der Schulkinder selber. Und später helfen sie selber wieder mit, daß andere ausgebildet werden können.

Als Christen dürfen wir den Staat weder verteufeln noch vergöttlichen. Wir dürfen uns in ihm als Gäste verstehen, nicht als zwangsweise einquartierte Gäste oder als gerade noch geduldete Gäste, sondern als angenehme und wohltuende Gäste. Gerade wenn man uns manchmal so etwas mißtrauisch betrachtet, wird es für uns darauf ankommen, durch positives Verhalten und Wirken dieses Mißtrauen in der Praxis zu widerlegen, deutlich machen, wie sehr unser Glaube an Gott unser Alltagsleben bestimmt.

Wir müssen immer wieder mit Kritik rechnen, weil man uns nicht verstehen will bzw. auch gar nicht das Geheimnis unseres Glaubens verstehen kann. Da hilft dann nur eins: Unbeirrt das Gute tun, dem Mitmenschen gegenüber aufgeschlossen sein, zum Frieden zwischen Nachbarn und Kollegen reden und Frieden stiften. Ein solches Zeugnis wird man dann schon verstehen, wenn es aus einem guten Herzen kommt.

Die christliche Freiheit ist ja nicht dazu da, ohne Rücksicht auf Gott und die Menschen

und nach, eigenem Gutdünken zu leben, sondern sie ist eine Freiheit zum Guten. Das sollte ein Nichtchrist an uns ablesen können. Dann wird er auch langsam Verständnis für unsere Haltung gewinnen. Vielleicht wird er sogar begreifen, daß wir gerade durch unsere Verbindung mit Gott geeignet sind, förderliche Glieder der menschlichen Gesellschaft zu sein. Er wird uns dann nicht mehr als ein Ärgernis ansehen, sondern als eine dankbar empfundene Wohltat und vielleicht doch sagen können: „Es ist nur gut, daß es diese Leute gibt!“ Wenn man so vor uns redet, dann haben wir unseren Glauben recht in unseren Alltag und unsere Umwelt umgesetzt [Hier wird oft so geredet, als sei der Staat der DDR ein demokratischer Staat und alles in ihm in Ordnung. Aber jeder Zuhörer hat verstanden, daß hier Defizite genannt werden und Rechte eingefordert werden].

 

 

Nicht in den Perikopen: 2. Mose 32, 15 – 20 und 30 - 34

Ein junger Mann erzählte einmal von einer großen Enttäuschung seines Lebens: Das Mädchen, das er über alles liebte, konnte nicht treu sein. Zusammenfassend konnte er nur sagen: „...und dann ist etwas in mir zerbrochen!“ Es ist ein schwerwiegender Satz, auch wenn er zunächst ganz harmlos klingt „Etwas zerbrochen!“ Dieses „etwas“ hat ihn im Innersten verletzt.

Wir wollen diese Wunde oft vor anderen verbergen. Aber dieses etwas sitzt doch sehr tief und tut sehr weh.

Als Mose die beiden Steintafeln mit den Geboten Gottes zerschmetterte, war auch mehr zerbrochen als nur Stein. Jetzt war im Herzen Gottes etwas zerbrochen, das Verhältnis zu seinen Kindern war in Zukunft anders. Vierzig Tage war Mose auf dem Berg gewesen, ganz auf Gott konzentriert und in enger Verbundenheit mit ihm, wie sie in dem neu geschlossenen Bund möglich war.

Wenige Wochen nur hat dieser Bund bestanden. Nun ist er von Israels Seite her zerbrochen und alles ist vertan. Wütend zerschmettert Mose die Tafeln mit Gottes eigener Schrift. Sein Zorn spiegelt dabei nur den Zorn Gottes über die Menschen.

Dieser Bund hat eben zu viel von diesem Volk verlangt. Es schien ihnen ein unbequemer Gott zu sein, den Mose da aufsucht. Blitz und Donner, das Beben des Berges, der Ernst seiner Gebote - das ist alles so unheimlich, soviel Glauben haben sie einfach nicht. Als dann Mose ausbleibt, da ist es erst recht mit ihrer Zuversicht am Ende.

So haben auch wir immer unsre Vorstellungen von Gott. In unserer Jugend waren sie anders als heute und wahrscheinlich werden sie sich auch noch einmal wandeln. Aber dennoch sind sie feste Haltepunkte, ohne die wir nicht auskommen können, sozusagen Sicherheitsgurte unseres Glaubens.

Aber uns fällt es genauso schwer wie dem Volk Israel von damals, daß wir uns unter Gott unterordnen sollen. Wir haben alle die Sehnsucht danach, Oberwasser zu haben und nicht klein bei zu geben. Auch Gott soll sich in diese Vorstellungen einfügen. Aber er tut uns den Gefallen nicht. Gott ist nicht so, wie wir ihn uns vorstellen, sondern wie er eben ist.

Doch wir wollen uns immer wieder nicht nur mit dem nackten Wort begnügen, das er uns gegeben hat und das immer wieder Nachdenken und Entscheidung von uns fordert. Unser Wunschgott entspricht nicht dem Bild, das Gott von sich selber gegeben hat: Er war da in dem Menschen Jesus von Nazareth, in dem Lamm, das sich wehrlos töten ließ.

Oft ist dieser Gott uns sogar lästig. Es gibt keine Stunde, wo man ihn einmal aussparen könnte und wo man ihn aus seinen Gewohnheiten und Vorhaben herausdrängen könnte. Gott ist immer da und fordert unseren Glauben. Aber er bleibt doch für uns unsichtbar und gibt uns nur wenige Hilfen zum Glauben. Ein sichtbarer Gott ist leichter anzubeten. Ihm zu opfern ist leichter als Gebote zu halten und zu ihm zu beten.

Das dachten auch die Israeliten auf ihrem Zug durch die Wüste. Sie wollten einen Alltagsgott haben, der sie anführt, wie das Leittier die Herde anführt. Sie wollten einen Gott haben, mit dem sie Staat machen konnten und dessen Wunder alle bestaunen können - so wie beim Durchzug durchs Rote Meer.

Dabei denken sie durchaus nicht an einen anderen Gott als den, der sie durchs Meer geführt hat. Sie wollen sich keinen neuen Gott schaffen, sondern sie wollen ihren Gott nur handgreiflicher vor Augen sehen. Sie machen sich nicht einmal ein Bild von ihm. Das goldene Stierbild soll nicht Gott selber darstellen, sondern nur den Thron hergeben, auf dem Gott unsichtbar sitzt.

Aber die Meinung ist eben: Wo der Stier ist, da ist auch Gott. Jetzt kann er uns nicht mehr entwischen, jetzt steht er immer zu unserer Verfügung. Im Grunde handelt es sich hier um die uralte Sehnsucht der Menschen, über die Götter und Dämonen Macht zu erlangen. Der Gott der Christen ist für viele zu abstrakt und zu theoretisch, etwas für die Gebildeten und nicht für das einfache Volk.

Aber vergessen wir nicht, daß dieser Gott ein Kind in der Krippe wurde und ein Mensch am Kreuz. Vergessen wir nicht, daß er seine Macht auch heute an vielen Menschen zeigt und seine Wunder auch heute noch zu spüren sind. Nur dürfen wir ihn nicht von uns aus auf irgendetwas festlegen und etwa sagen: „Wenn du jetzt nicht das und das tust, dann glaube ich nicht mehr an dich!“ Gott legt sich schon fest; aber nur so, wie er selbst es will, zum Beispiel in seinen Geboten.

Wir vertauschen aber gern den Gott, der sich uns offenbart hat, mit dem Gott, der uns liegt. Er soll für unsere Zwecke brauchbar sein, soll unsere Gewohnheiten nicht stören und unsere althergebrachten Auffassungen nicht umwerfen .Aber er soll in allen Konflikten an unserer Seite stehen, soll jeweils den anderen unrecht geben und sich nichts erlauben, was unseren vorgefaßten Meinungen widerspricht.

Natürlich könnte ein Gott, der nachher im Tempel von Jerusalem „gewohnt“ hat und der in den Elementen des Abendmahls da ist, auch bei einem Stierbild gegenwärtig sein. Aber er tut es nicht. Aaron handelt eigenmächtig und ohne Gottes Befehl und kann sich auf keine Verheißung Gottes berufen.

Natürlich hätte Gott die Freiheit gehabt, auf diesen Wunsch der Menschen einzugehen. Aber er hat seine guten Gründe, weshalb er es nicht tut. Der Stier war das Symbol der heidnischen Baals-Religion. Damit darf der echte Gottesglaube nicht vermischt werden. Das wäre dasselbe, wie wenn wir heute unseren Glauben mit den Worten von Karl Marx und Lenin ausdrücken wollten. Vielleicht wäre so etwas möglich, aber es wäre doch nur Anlaß zu Mißverständnissen.

Das hat der Erzähler dieser Geschichte auch den Menschen seiner Zeit deutlich machen wollen. Diese Geschichte geht zwar auf ein tatsächliches Ereignis am Berg Sinai zurück, aber sie wird vom Verfasser aktualisiert, um auf brennende G1aubensfragen seiner Zeit zu antworten. In den Königsbüchern wird uns der geschichtliche Hintergrund dieser Erzählung verdeutlicht.

Das Volk Israel ist in ein Nordreich und ein Südreich gespalten worden. Der König Jerobeam im Norden sieht seine Herrschaft in Gefahr, wenn seine Leute weiterhin nach Jerusalem wallfahrten und damit in den Machtbereich des anderen Königs kommen.

Deshalb schafft er sich eigene zugkräftige Heiligtümer im Nordreich an. Er läßt zwei goldene Stierbilder anfertigen und stellt sie in den Heiligtümern in Bethel und Dan auf. Jetzt muß keiner mehr nach Jerusalem. „Das sind deine Götter, Israel“, sagt Jerobeam. Doch dieser Abschnitt aus dem 2. Mosebuch – der ja vielleicht erst in der Zeit Jerobeams aufgeschrieben wurde - will deutlich machen, was man von einem solchen Gott zu halten hat, der hier verächtlich als ein „Kalb“ bezeichnet wird.

Dieser Predigttext am Sonntag Judika will uns auch zeigen, was in einer solchen Lage geschehen kann und was schon geschehen ist, um die Folgen dieses Abfalls von Gott abzuwenden. Judika heißt ja: „Gott, schaffe mir Recht!“ Gemeint ist allerdings nicht der Ruf nach einer Bestrafung, sondern „Laß mir dein Recht widerfahren!“ und das heißt wieder im neutestamentlichen Sinne: „Erlaß mir die Strafe und versöhne dich mit mir!“ An dieser Geschichte vom

Tanz um das goldene Kalb sind wir alle beteiligt. Und es ist die große Frage unseres Lebens: Kann das Zerbrochene wieder heil werden?

Das Thema dieses Sonntags ist „der Hohepriester“, also das Amt Jesu Christi, das schon in dem alttestamentlichen Amt voraus abgebildet ist. Mose ist ein solcher Priester, der vor Gott für andere eintritt. Er setzt sich für sein abtrünniges Volk mit seiner ganzen Existenz ein.

Mose hat durch seine persönliche Gotteserfahrung soviel Zutrauen, daß er die Schuld seines Volkes offen bekennt und um Vergebung bittet. Er weiß, daß es für Gott keine Kleinigkeit ist, diesem Volk zu vergeben. Es ist ja etwas zerbrochen im Herzen Gottes. Es gibt keine Entschuldigung für das Volk, dazu sind seine Taten zu schwerwiegend.

Gott drückt nicht einfach ein Auge zu, sondern er nimmt die Sünde so ernst wie nur möglich. Das zeigen die zerschmetterten Tafeln, die Zerstörung des Stierbildes und das Blutbad, das die Leviten anrichten. Mose sagt klipp und klar: „Ihr habt eine große Sünde getan!“

Aber Mose geht dennoch Gott entgegen, nicht weil die Sünde leicht, sondern gerade weil sie so schwer ist. Er selber hat ja keinen Anteil an der Schuld des Volkes. Deshalb kann er für dieses verschuldete Volk eintreten. Aber er setzt sein Vertrauen nicht auf die Großzügigkeit Gottes, sondern darauf, daß seine Vaterliebe stärker ist als sein Zorn.

„Vielleicht“ kann die Sünde noch einmal vergeben werden. Das Evangelium ist keine Schleuderware, für die Gott sich noch bedankt, wenn wir sie ihm abnehmen. Mose legt ein klares Eingeständnis der Schuld ab. Er tut es stellvertretend für sein Volk, das wohl in diesem Augenblick gar nicht zur Formulierung seiner Schuld fähig ist. So wird ja auch bei uns im Gottesdienst hin und wieder ein allgemeines Beichtgebet vorgesprochen, dem aber jeder Einzelne innerlich zustimmen soll. Mose bietet sogar sein eigenes Leben an, wenn Gott nur diesem Volk noch einmal vergibt. Erst hat er diesem Volk den Zorn Gottes verkündet, jetzt setzt er sein Leben für es ein. Vergebung erfordert letzte Hingabe. Und dennoch nimmt Gott von Mose nichts an. Israel darf zwar weiterleben; aber Gott selber wird nicht mehr mit ihm ziehen, nur noch sein Engel.

Erst Jesus Christus hat dem Herzen Gottes keine Wunde zugefügt. Er allein hat die Liebe Gottes so erwidert, wie er sie empfangen hat. Nur die Liebe konnte das wieder heilen, was im Herzen Gottes zerbrochen war. Jesus hat die Strafe getragen, die uns hätte treffen müssen. Er ist der Hohepriester, der uns vertritt. Sein Opfer hat der Vater angenommen. Er hat uns aber auch gleichzeitig das einzig wahre Bild Gottes gezeigt: Gott als der Vater, dessen Erbarmen größer ist als aller Zorn.

 

 

Gottesdienst mit Schaustellern: Offb. 1, 9 - 20 (Letzter Sonntag nach Epiphanias):

„Die weite Welt ist Gottes Feld!“ Das hätte auch der Johannes aus dem letzten Buch der Bibel sagen können. Er hatte es auch sehr nötig, sich das vor Augen zu halten. Seine Welt erstreckte sich nur auf die Insel Patmos vor der kleinasiatischen Küste. Die Römer hatten ihn auf diese Sträflingsinsel verbannt, weil er den christlichen Glauben verbreitet hatte.

Damit hatte er etwas getan, was den Interessen des römischen Staates entgegenlief. Die Christen widersetzten sich nämlich der Weltanschauung des Staates, der den Kaiser in den Himmel hob. Domitian ließ sich Gott und Heiland nennen. Auf Geldstücken war er dargestellt mit einem Gesicht, das wie die Sonne leuchtet. So trug er seinen Anspruch auf Weltherrschaft bis ins kleinste Dorf. Die Stadt Ephesus drüben auf dem Festland war der Brennpunkt des Kaiserkultes. Dort gab es kaiserliche Hohepriester. Die Stadt nannte sich „kaiserliche Tempelhüterin“.

Was sind demgegenüber die Christen? Eine verschwindend geringe Zahl‚ die bald an die Wand gedrückt werden wird. Und doch gibt es sie schon überall in der damals bekannten Welt. Auch in Ephesus und den umliegenden Städten gab es Christen. Der Apostel Paulus war wesentlich an der Gründung dieser Gemeinde beteiligt. Aber es geht dabei gar nicht so sehr um Personen, um Paulus und Johannes, sondern um Jesus Christus, der diese Gemeinden in ihrer Bedrängnis erhalten wird.

Das wollen auch wir vor Augen haben, deren Zahl doch immer kleiner wird. Gewiß gibt es auch viel Erfreuliches aus dem Leben der Kirche zu berichten: Kirchen werden renoviert, Nachbargemeinden arbeiten zusammen, die Opferfreudigkeit wächst, es gibt Gemeindetage, Feste, Gottesdienste in neuer Gestalt. Es gibt selbst eine Schaustellergemeinde, die ganz eigene Formen des Gemeindelebens entwickelt hat. Gottes Feld ist an vielen Ecken und Erden bestellt und bringt Frucht.

Dennoch sehen wir in vielen Ortsgemeinden wenig Imponierendes und Verlockendes. Manches sieht nach Sterben und Ende der Kirche aus. Die Machtverhältnisse sind klar. Schon ein Domitian hat versucht, seine göttlichen Ansprüche mit Gewalt durchzusetzen. Wir aber haben doch nun einen anderen Gott, der der allein wahre ist. Wir können uns doch dem Atheismus oder irgendeinem Weltherrschaftsanspruch nicht beugen. Was kann uns da helfen, im Glauben fest und stark zu werden oder zu bleiben?

Jeder Gottesdienst vereint uns aber auch mit dem himmlischen Gottesdienst. Im Diakonissenmutterhaus in Dresden ist Jesus dargestellt, wie er mit seinen Jüngern um den Abend­mahls­tisch sitzt. Über ihnen schweben die Engel. Und unten, wo die eine Seite am Tisch freigeblieben ist, steht der Altar der Kirche, an dem die Gemeinde von heute zum Abendmahl zusammenkommt. Der Gottesdienst verbindet die Gemeinde im Himmel und die Gemeinde auf Erden. Er verbindet uns auch mit unseren Vorvätern. Ihre Plätze nehmen wir hier im Gotteshaus ein, ihre Lieder singen wir, ihre Bekenntnisse sprechen wir nach.

Dieses Wissen: „Wir sind nicht allein!“ gibt uns Kraft in den Anfechtungen unserer Gegenwart. Um der Selbsterhaltung willen sind wir immer wieder zu faulen Kompromissen geneigt und wollen uns unserer Umwelt anpassen. Es fällt uns schwer, anders zu sein als die anderen und nicht überall dabeisein zu können. Jesus Christus erspart uns nicht das Kreuz. Er hat es ja selber zuerst getragen.

Aber er gibt sich auch uns als den Herrn der Welt zu erkennen, damit wir keine Angst mehr vor der Zukunft zu haben brauchen. Der Seher Johannes darf durch die bedrückender Verhältnisse seiner Zeit hindurchsehen auf Jesus, der die ganze Machtfülle Gottes in sich ver­eint. Er erlebt Christus ganz anders, so wie ein Junge über seinen Vater staunt, der auf dem Bauplatz den großen Kran lenkt. Jesus ist nicht ein idealer Mensch, dessen Beispiel wir nacheifern, sondern ein gewaltiger Herrscher.

Johannes, der vor keinem Kaiserbild die Knie gebeugt hat, fällt vor diesem Herrn auf sein Angesicht. Er ist geblendet vor dem Licht Gottes. Es fehlen ihm die Worte für einen Vergleich: Es ist wie Wolle, wie Schnee, wie Feuerflammen, wie glühendes Erz im Ofen. Doch er stampft nicht auf und sagt: „Unser Herr ist doch größer als der Kaiser in Rom!“Er hat keinen Grund zum Triumphieren. Die Christenheit empfängt ihr Licht nur von dem Herrn und spiegelt es weiter in den Alltag hinein. Vor diesem Licht kann man sich nur zu Boden werfen wie ein Toter.

Aber Johannes fühlt auch die rechte Hand seines Herrn auf sich. Er ist nicht nur der Richter der Welt, sondern auch der Hohepriester und Fürsprecher. Er sagt: „Fürchte dich nicht! Ich. bin der Erste und der Letzte und der Lebendige!“ Das römische Kaiserreich ist längst vergangen. Und manch anderer, der Weltherrschaftsansprüche hatte, kommt kaum noch in den Geschichtsbüchern vor. Unser Herr aber geht seinen Weg durch Bedrängnis und Widerspruch. Wir brauchen nur seiner Spur zu folgen, dann werden wir auch teilhaben an seinem Sieg. Hier im Gottesdienst wird uns das immer wieder gewiß gemacht.

Johannes darf ein Bild sehen, das ihm Mut und Zuversicht gibt. Es ist Sonntag. Drüben auf dem Festland in den sieben Gemeinden sind sie jetzt zum Gottesdienst versammelt. Da erscheint Christus vor dem inneren Auge des Johannes mitten unter den Leuchtern, er ist bei seinen Gemeinden. Johannes darf ihn auch sehen und ist so mit seinen Gemeinden verbunden. Weil sie alle auf den gleichen Herrn schauen, sind sie auch alle untereinander verbunden zu einer Gemeinschaft

Das wird dem Johannes in seiner Gefangenschaft deutlich, als er ganz allein für sich den Gottesdienst feiert. Der Gottesdienst ist nicht eine mehr oder weniger gut besuchte Versammlung derer, die sich für Glaubensfragen interessieren. Hier treffen sich nicht Menschen, die ein Referat hören wollen oder gar über den lieben Gott diskutieren. Im Gottesdienst feiert der Herr der Welt mit seiner Gemeinde. Der Himmel als die Welt Gottes und die Erde als die Welt der Menschen werden zusammengeschaut, Menschen werden angesprochen und beschenkt und dürfen ihren Glauben bekennen.

Durch den Gottesdienst sind wir mit den Gemeinden rund um den Erdball verbunden. Auch wenn unsre Welt gar nicht so offen ist für den christlichen Glauben, so gibt es doch überall Christen. Heute ist uns sicher auch deutlich geworden, daß Christen auch dort sind, wo wir

es vielleicht gar nicht vermuten, nämlich unter den Schaustellern.

Dabei haben es unsere Freunde von der Schaustellergemeinde gar nicht so leicht mit ihrem Glauben. Wenn man praktisch jede Woche an einem anderen Ort ist, dann kann man in keiner Gemeinde so recht heimisch werden. Manchmal kommt so ein Paulus oder ein Johannes: Da ist ein Kidd zu taufen oder zu konfirmieren, da ist einmal ein Problem zu besprechen. Aber ist schon einmal einer von den Christen einer solchen üblichen Ortsgemeinde gekommen und hat Kontakt zu diesen Mitbrüdern aufgenommen?

Gott hat ein weites Feld. Vor manchem Christen aus der Schaustellergemeinde könnten wir vielleicht noch etwas lernen. Sie stellen ja in unserer Zeit im wörtlichen Sinne das wandernde Gottesvolk dar. Immer wieder neu haben sie sich so wir allen aufzumachen zu unserem Gott und können ihm an jedem Ort unseres Landes begegnen. Sie gehören mit zu dem weltumspannenden Leib des Christus, der seine irdische Darstellung in der Kirche findet. Wir werden uns in Zukunft auch mit diesen Christen verbunden wissen, wenn wir hier den Gottesdienst beginnen.

 

 

 

 

Andachten

 

2. Mose 20, 2-17: „Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst….“

Jetzt wird uns durch die Hintertür doch wieder ein Gesetz auferlegt, denken wir. Jesus hat uns das Evangelium gebracht, und dieses verträgt sich nicht mit dem Gesetz. Nun - Jesus hat an diesem Gesetz keine Abstriche gemacht, er hat es im Gegenteil noch verschärft und von den großen Tatsünden auf die böse Gesinnung verwiesen. Ist das nicht ein Widerspruch?

Wir wissen alle: Diese Gesetze sind nur Bojen, die unser Lebensschiff in der richtigen Fahrrinne halten. Sie sind nur die äußersten Grenzen eines weiten Bereichs, innerhalb dessen wir frei sind. So sagt man doch immer wieder. Aber mit solchen Beispielen macht man sich dieses Problem nach meiner Meinung zu leicht, denn die Tatsache bleibt doch bestehen, daß es da unüberschreitbare Grenzen gibt.

Wir müssen dieser Tatsache ins Auge sehen und - gehorsam sein: Gott gibt uns neben dem Evangelium auch sein Gesetz, und wenn wir das Evangelium annehmen, wird uns auch klar, wozu das Gesetz nützlich und heilsam ist. Nur besteht dieses Gesetz nicht aus vielen Einzelvorschriften, die wir alle ängstlich beachten müssen. So etwas können wir gar nicht. Gott will uns nicht Angst machen, sondern er hat uns zur Freiheit berufen. Wer das gemerkt hat, für den regeln sich die vielen Einzelfälle des Alltags ganz von selbst. Auf die tägliche Grundentscheidung für oder gegen Gott kommt es an, die Pannen in unserem Zusammenleben sind demgegenüber unbedeutend, weil Gott sie dem vergibt, der an ihn glaubt.

Nicht umsonst spricht man in einer Gemeinschaft von „ungeschriebenen Gesetzen“, die auch nicht bis ins Einzelne festgelegt sind, die aber doch jeder fühlt. Sie können aber im Einzelfall leicht abgewandelt werden, ohne daß ihr Sinn entstellt wird. Gottes Gebote sind auch solche „ungeschriebenen Gesetze“, denn diese zehn Gebote sind ja nur einige Richtlinien.

Sie grenzen unser Verhältnis zu Gott und dem Mitmenschen in rechter Weise ab. Sie sind der Zaun, der uns vor einer Grenzüberschreitung bewahren soll. Aber sie sollen nicht zu einem Zaun werden, der uns von Gott und unseren Mitmenschen trennt. Wir können einfach nicht sagen: Der hat die Gesetze der Gemeinschaft nicht geachtet, der kann gehen! Solche Zäune sind dazu da, niedergerissen zu werden. Das ist der positive Sinn dieser Gesetze, nicht nur als Befehl, sondern als Bitte.

 

Psalm 130,6: „Meine Seele wartet auf den Herrn von einer Morgenwache bis zur anderen“

Warten wir auf den Herrn? Erwarten wir etwas von ihm? Gott gehört natürlich zu unserem Leben dazu. Aber wir spüren zu wenig, wie sich das konkret auswirkt.

Ein Ehepaar ging einmal spazieren. Plötzlich stellten sie fest, daß sie etwas verloren hatten. Es wurde schon dunkel und man konnte nur noch schwach sehen. Aber sie fanden das Verlorene doch wieder. Nachher sagte die Frau: „Als ich es merkte, habe ich erst einmal gebetet, daß wir es wiederfinden mögen!“ Daran hatte der Mann gar nicht gedacht. Er war der Meinung: Was man sich selbst eingebrockt hat aus Unachtsamkeit oder Mutwillen, das muß man auch selber auslöffeln. Wozu denn Gott mit solchen Kleinigkeiten belästigen. Wenn wir uns selber helfen können, ist das doch gut so. Unmögliches wird sofort erledigt, Wunder dauern etwas länger. So denken wir doch weitgehend.

Der Beter dieses Psalms hat ein anderes Problem, das ihm Mühe macht, wenn er zu Gott beten möchte: Aus der Tiefe ruft er zu Gott, er weiß, daß er in Sünde verstrickt ist und in der Gottferne lebt. Was geschieht, wenn Gott ihm das nun vorhält? Kein Mensch könnte etwas von Gott erwarten, wenn der die Sünden anrechnen würde.

Und doch sagt er: „Ich hoffe auf das Wort des Herrn!“ Gerade weil er so darniederliegt, kann er nur noch auf Gott hoffen. Gott antwortet nicht immer gleich. Von einer Morgenwache bis zur anderen muß der Beter warten, Tag für Tag. Doch er gibt nicht auf.

Wer würde nicht nach einiger Zeit erlahmen und denken: „Gott hört nicht, er hat ja auch im Grunde recht, denn ich habe es ja nicht verdient!“ Aber dieser Beter fordert sogar noch die anderen auf: „Hofft mit mir!“ Er erwartet a l l e s von Gott. Wie sollte ihm Gott da nicht alles schenken?

Unsre Sünde ist kein Grund, nicht nach Gott zu rufen. Unsre Sünde ist kein Grund, daß wir uns von Gott zurückziehen. Unsre Sünde ist vielmehr der Grund, aus dem wir noch mehr auf Gott geworfen werden und zu ihm rufen dürfen, Tag für Tag, in großen und in kleinen Dingen. Wir haben kein Recht, nicht in jedem Fall alles von Gott zu erwarten. Denn bei dem Herrn ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm!

 

Hiob 1,13-22: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen: der Name des Herrn sei gelobt!“

Ein kleines Mädchen erhält eine Puppe geschenkt..Die hegt es und pflegt es wie ein eigenes Kind. Es ist den Eltern dankbar für diese Gabe und kann nicht mehr darauf verzichten. Und dann kommt ein fremder Junge, nimmt ihr die Puppe weg und zerlegt sie in ihre Einzelteile. Wir sehen den Scherz und das heulende Gesicht des Kindes direkt vor uns.

Hiob ist es viel schlimmer ergangen: Mit einem Schlag wurde ihm all sein Besitz und seine Kinder genommen. Im Krieg kann man so etwas das tausendfach erleben. Da kann einem das Leben doch nur sinnlos erscheinen. Jahrzehntelang hat man sich abgemüht und gesammelt, die Kinder wurden unter großen Opfern und Ängsten großgezogen, und dann wird man plötzlich wieder auf den Nullpunkt zurückgeworfen. „Ich bin nackt von meiner Mutter Leib gekommen, nackt werde ich wieder dahinfahren“, sagt Hiob.

Wie viele unserer Pläne haben wir schon aufgeben müssen, wieviel haben wir schon verloren? Aber Hiob hat mehr verloren! Wir singen ganz unbekümmert: „Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib, laß fahren dahin!“ Aber was wäre, wenn es jetzt in diesem Augenblick von uns gefordert würde?

Nicht einmal Gut und Ehre, Wohnung und freundliche Nachbarn könnten wir hergeben. Könnten wir Gott noch anbeten, wenn er die eben geheiratete Frau oder das eben geborene Kind wieder von uns fordert? Uns fällt es ja schon unendlich schwer, wenn wir einmal ein paar Tage auf die Gemeinschaft und das Gespräch mit Frau und Kind verzichten müssen. Und dann gar das Leben hergeben? Ja, wenn einem sowieso nichts daran liegt, dem mag es egal sein. Aber wir hängen doch alle am Leben, wir lieben das Leben. Jetzt verstehen wir erst, was es für Jesus bedeutete, für uns ans Kreuz zu gehen.

Hiob trauert auch. Den rein menschlichen Schmerz kann man niemandem ausreden. Aber für Hiob ist der Schmerz nicht das Letzte: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen. Der Name des Herrn sei gelobt!“ Er weiß, daß er alles, was ihm lieb und wert ist, von Gott als Gabe geliehen erhielt. Gott kann es jederzeit wieder zurückfordern und dann müssen wir es ohne Murren wieder hergeben, denn es gehört Gott und ist bei ihm gut aufgehoben.

Es wird uns schwer fallen, diesen Satz des Hiob nachzusprechen, aber wir sollten ihn auch im Kopf haben, wenn die Zweifel an Gott kommen, weil er etwas so Schweres von uns fordert:

„Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen! Der Name des Herrn sei gelobt!“

 

Matth 10,11-25: Bibelarbeit

Der Friede erscheint wie ein Besitz, der gegeben und genommen wird. Es geht um eine privaten Vorgang, der keine großen gesellschaftlichen Umwälzungen mit sich bringt. Dieser Friede wird ausgestreut. Wer aber ist es wert, daß ihm der Friede gegeben wird? Er ist eine einmalige Chance, nicht ein ständiges Angebot.

Der Friede liegt nicht als ein Besitz in der Verfügungsgewalt des Boten, der nur einen ganz alltäglichen Gruß ausspricht. Auf diesen Gruß sollte man antworten. So wird eine Verbindung zwischen Menschen hergestellt. Das Haus hat nicht in sich Frieden, sondern nur durch den Kontakt mit anderen. Wenn man die Botschaft nicht annimmt, kann der Bote nichts daran ändern. Man kann niemanden zum Evangelium zwingen. Wenn man Matthäus 28 daneben hält, kann man aus dieser Stelle lernen, daß nicht alle Getauften das Evangelium annehmen.

Nicht behandelt wir die Frage, ob es um den Frieden mit Gott geht oder um die mitmenschlichen Beziehungen; beides gehört zusammen. Aber hier geht es gerade um den mitmenschlichen Gruß, nicht um religiöse Ansprachen in den Häusern.

Schwierig ist die Frage, wem hier der Gruß gilt: Den Juden und Samaritanern, den Kranken und Besessenen oder den schon bekehrten Christen? Matthäus 28 ist an alle gerichtet. Aber befreiend ist, daß die Boten sich nicht festbeißen sollen, sondern auch wieder weggehen können. Was mit den Ablehnenden geschieht, ist die Sache von Gottes Gericht (Vers 15). Wichtig ist nur, daß die Boten nicht aus einer Position der Sicherheit heraus reden, sondern daß sie ungesichert - vielleicht mit erbärmlichen Worten - die Botschaft sagen und nur dadurch glaubwürdig werden.

Auch vorher ist nur von Gottes Handeln die Rede (Gottesreich!). Erst dann geht es um konkrete menschliche Fragen der Mission. Aber wir empfangen (!) den Frieden. Dazu gehören: Warten, Schweigen und Beten.

Das Schicksal der Boten wird hier unter eschatologischem Gesichtspunkt gesehen (die Parallelen stehen in Markus 13). Ihr Leiden entspricht dem Kommen des Herrn, auch wenn dieses bis heute noch nicht eingetreten ist. Deshalb ist aber alles Bisherige nur Vorläufiges. Darum jagt die Urgemeinde auch nicht die Welt verlassen, hat missioniert, ist aber damit auch den Weg gegangen, den Jesus gegangen ist. Ihre Botschaft erregt Anstoß.

Wo das nicht geschieht, könnte man fast vermuten, die Botschaft sei verfälscht worden. Wenn der Bote aber leidet, dann soll das Martyrium nicht unbedingt zum Tode führen: Die Boten sollen klug sein, sich hüten und fliehen. Es geht nicht unbedingt darum, sich durch Klugheit dem Martyrium zu entziehen. Es geht ja gerade darum, daß jemand schon vor Gericht steht. Dann soll er klug sein und sich verteidigen mit Klugheit. Dann hat er auch die Verheißung, daß der Heilige Geist ihm die Worte eingibt!

Aber die Kirche muß immer wissen, daß sie in die Situation des Leidens kommen kann. In der früheren DDR hat der Staat einer wohlsituierten Volkskirche die Privilegien genommen und ihr eine andere Stellung in der Gesellschaft gegeben. Das konnten viele Christen nicht verwinden und fühlten sich deshalb zum Martyrium und zum Leiden getrieben. Aber die machtlose Kirche ist die Kirche Jesu Christi.

 

Mk 1,35-39: „Jesus ging an eine einsame Stelle und betete daselbst!“

Wir hätten durchaus einmal etwas Ruhe und Abgeschiedenheit nötig. Unsere Tage laufen einer nach dem anderen davon, von unserer Arbeit getrieben. Das geht alles so schnell und es gibt keinen Ruhepunkt. Jesus fand Zeit, um einmal allein zu sein und mit Gott reden zu können. Er löst sich von allen irdisch-menschlichen Bindungen, von allen anderen Aufgaben, die sicher auch wichtig sind, und hat einmal Zeit für Gott. Ist das in unserer Zeit unmöglich geoworden? Bleibt uns da nur noch der Weg ins Kloster?

Die alten Mönche sagten: „Bete und arbeite!“. Sie haben sich bei aller täglicher Arbeit doch Zeit genommen für das Gebet. Und sie haben zuerst gesagt „Bete“, und dann „Arbeite“. Alle Arbeit kann das Gebet nicht aufwiegen.

Wir halten heute nichts mehr von einem lebenslänglichen Klosterleben. Aber für eine begrenzte Zeit würden wir gern einmal Stunden der Einkehr halten, um über unser Leben vor Gott nachzudenken. Unsere Kirche bietet uns manche Freizeit an, wo wir das finden können.

Aber auch bei unserer Alltagsarbeit besteht die Möglichkeit zum Gebet. Wir haben 24 Stunden Zeit am Tag. Da bleibt auch Zeit für ein Morgen- oder Abendgebet. Und danach wieder an die Arbeit oder in den Schlaf. Als die Jünger zu Jesus kommen und sagen: „Man braucht dich!“gibt er gar keine langen Erklärungen, sondern nimmt sein übliches Tagwerk wieder auf.

 

Mk 12, 28-34: „Du sollst lieben Gott deinen Herrn, und deinen Nächsten wie die selbst!“

Merksatz für alle, die ein etwas schwaches Gedächtnis haben, möchte man fast sagen. Wer sich die Zehn ‚Gebote nicht alle merken kann, für den genügt auch das Liebesgebot Jesu: „Du sollst lieben Gott deinen Herrn, und deinen Nächsten wie die selbst!“ Ist doch alles einfach mit diesen Geboten: nur zwei Dinge!

Aber ist es wirklich einfach? Fangen wir einmal hinten an: sich selber lieben! Das geht ja noch. Wenn es hart auf hart geht, ist sich jeder ganz automatisch selbst der Nächste. In dem Film „Solange du da bist“ wird eine Szene gezeigt, wie eine Frau ihren hinkenden Mann im Stich läßt und sich auf den schon anfahrenden Zug schwingt, der sie vor den gegnerischen Soldaten in Sicherheit bringt. Sogar Eheleute können das Liebesgebot vergessen.

Wie oft vergessen wir das Liebesgebot in unserem Alltag. Können wir überhaupt unseren Nächsten lieben, der uns andauernd auf die Nerven fällt? Wie können wir den lieben, der ständig die Türen zuschlägt? Wie können wir ruhig bleiben, wenn einer immer wieder mit der gleiche Sache zu uns kommt?

Besonders im Pfarramt ist da manchmal viel gefordert: Der Großbauer soll uns genausoviel sein wie der Asoziale, dem Bürgermeister können wir nicht anders begegnen als der alten Frau oder dem Kindergottesdienstkind. Für uns gibt es keine Randsiedler, der Pfarrer muß für alle da sein, auch wenn es gerade klingelt, während er mitten beim schönsten Predigtgedanken ist. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!

Sich selbst zu lieben ist leicht, den Mitmenschen zu lieben ist schwerer. Gott zu lieben ist am schwersten. Luther ist daran fast innerlich zerbrochen, daß er Gott nicht lieben konnte. Auch wir müßten daran zerbrechen, wenn wir es so ernst nähmen wie Luther und wenn wir nicht wissen könnten: Gott hat uns zuerst geliebt! Nur deshalb können wir versuchen, ihn wiederzulieben. So viel wie wir Gott lieben, werden wir auch unseren Mitmenschen lieben. Wenn wir Gott lieben, wird auch unser Verhältnis zu den Menschen in Ordnung kommen.

 

Lk 9,62: „Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt zum Reich Gottes!“

Wir könnten auch sagen: „Wer die Hand an den Hebel der Maschine legt und sieht in eine andere Richtung, der ist kein guter Arbeiter“ oder „Wer Vorlesungen nur belegt und nicht hingeht, der ist kein eifriger Student!“ Und den obigen Vers könnten wir umformen: „Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist kein gewissenhafter Bauer!“ So steht es aber nicht da, denn der Bildhälfte von dem Pflug steht die Sachhälfte gegenüber, die vom Reich Gottes redet. Was ist nun aber mit dem Bild gemeint?

Deutlich ist, daß hier eine bedingungslose Entscheidung verlangt wird von denen, die Jesus nachfolgen wollen: Entweder ihr nehmt die Sache in die Hand, dann aber ganz, oder ihr taugt zu gar nichts! Ein Mittelding, eine unverbindliche Besichtigung und Vorführung des Gegenstandes gibt es nicht!

Wodurch kommen wir dazu, nach rückwärts zu schauen? Einmal weil wir uns in unsere Vergangenheit „verliebt“ haben, nach der guten oder der bösen Seite: Entweder verherrlichen wir sie und können uns noch nicht von der schönen Erinnerung trennen, oder wir sehen in ihr nur unsere „sündige“ Vergangenheit, die uns hindert, Jesus ganz nachzufolgen, und vergessen dabei, daß Gott auch einmal einen Schlußstrich und einen Neuanfang setzen kann.

Zum anderen fürchten wir uns davor, nach vorne zu schauen, wir fürchten uns vor der Zukunft. Wer weiß, welche hohen Anforderungen das Christsein an uns stellt, vielleicht schlägt die öffentliche Meinung einmal um, und wer sagt denn überhaupt, daß mir das Christsein in meinem praktischen Leben so sehr hilft?

Hier liegt ein wunder Punkt, der in diesem Vers nicht gelöst ist: Was sollen wir denn tun, damit wir „geschickt“ sind zum Reich Gottes, also dafür bestimmt? Sollen wir sagen: „Wer alle Gebote hält, der ist geschickt zum Reich Gottes?“ Wir verlangen nach einer Verdeutlichung der Bildhälfte dieses Verses, aber sie wird uns nie gegeben werden, das müssen wir schon selbst finden.

Hier soll nur eins gesagt werden: Es kommt darauf an, daß wir überhaupt eine ganze Ent­scheidung fällen, daß unsere grundsätzliche Entscheidung feststeht, daß wir blindlings wissen, zu wem wir gehören. Dann werden wir schon ganz von selbst merken, worauf es in einer bestimmten Lage ankommt und wie und für wen wir dann zu entscheiden haben. Wir können nicht immer in dem großartigen Bewußtsein leben, alle Entscheidungen lägen schon hinter uns. Nein, viele kleine und große Entscheidungen werden täglich von uns gefordert, aber wichtig ist, daß wir wissen, von woher und von wem her sie zu fällen sind.

Wir können nicht ständig hundertprozentige Christen sein - so etwas gibt es überhaupt nicht. Aber wir können uns die Augen öffnen lassen, damit wir überhaupt merken: Hier hast du beherzt und helfend beizuspringen, hier stehst du in der Gefahr zu lügen, hier mußt du ein verstehendes Wort für deinen Mitmenschen finden.

Aber wichtig ist, daß wir diese Notwendigkeiten erkennen und einen Weg wissen, ihrem Anspruch zu antworten. Auf den W e g kommt es an, nicht auf die fertige Lösung, die muß sich jeder selbst sagen lassen. Wir stehen nicht in einem Gitternetz von Vorschriften, die uns in jedem Augenblick sagen könnten, was wir in diesem oder jenem Fall zu tun haben.

Deshalb haben auch jene Kulturpessimisten Unrecht, die meinen, man müßte der Jugend eine festgefügte Ideologie in die Hand geben. Vor allem kann man das Christentum nicht dafür verwenden, denn das Christentum ist seinem Wesen nach nicht ideologisch, sondern fordert immer wieder, erst einmal die Lage nüchtern zu prüfen und dann zu fragen: „Was sagt Gott dazu?“ Wenn man das wirklich ernst nimmt und sich Mühe damit macht, dann weiß man schon, was man zu tun hat.

Aber noch etwas gehört dazu: Dieser Vers steht bei Lukas am Anfang des sogenannten „Reiseberichts“ am Anfang des Zugs nach Jerusalem. Diese Stadt bedeutet für ihn: Passion und Leiden. Mit seinem Wort ruft er also auch zum Leiden auf. Wir schnell eine Entscheidung für Jesus zum Leiden führen kann, brauchen wir uns nicht lange auszumalen: Es reicht vom verächtlichen Lächeln der anderen bis zum Wagnis des eigenen Lebens. Aber wir können dabei doch nicht das Wort Jesu vergessen, das im Johannesevangelium überliefert ist: „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden!“

 

Lk 10,1-11: Aussendung der siebzig Jünger

Wir machen immer wieder die Erfahrung, daß andere Menschen nicht auf Gottes Wort hören wollen. Es läßt sie kalt, auch wenn wir uns immer wieder bemühen. Ein Verwandter oder Bekannter ist aus der Kirche ausgetreten, immer wieder spricht man mit ihm über dieses Thema, aber es gibt keinen Fortschritt in dem Gespräch.

Unser Text hier empfiehlt uns da Gelassenheit: „Geht wieder, wenn ihr keinen Erfolg habt!“ Man kann keinen zwingen, sondern nur seinem Schicksal überlassen. Aber er muß etwas von Gott erfahren haben. Er soll ruhig wissen, daß ihm das Reich Gottes nahe gewesen ist. Das ist eine ungeheure Aufgabe. Auch in unserer Gesellschaft soll jeder von Gott gehört haben. Wir können nicht von vornherein sagen: „Bei dem hat es ja doch keinen Zweck!“ Manchmal würde man überrascht sein.

Aber ein ganz anderes Arbeitsfeld liegt dort vor uns, wo eine große Ernte auf uns wartet. Es ist wichtiger, erst einmal die Früchte in die Scheunen zu bringen, die Gott für uns hat wachsen lassen. Überall um uns herum gibt es offene Ohren, und Menschen, die auf einen Zuspruch, ein tröstendes Wort, einen Rat warten. Es ist wirklich eine große Ernte da, wir bewältigen noch längst nicht alle Aufgaben, die uns Gott stellt.

Auch in der Kirche herrscht Arbeitskräftemangel, weil viele ihre kirchliche Aufgabe nur als Nebenbeschäftigung ansehen, am Ende nur für Frauen und Kinder.

Doch eine Ernte erfordert den Einsatz der ganzen Person. Man muß unter Umständen sehr lange und hart und mit ganzer Hingabe arbeiten, ehe die Fürchte wirklich sicher sind, gerade weil sich nur so wenige an diese Arbeit heranwagen. Wir haben ja auch keine richtigen Waffen, um uns zu verteidigen, wenn wir angegriffen werden. Wie Lämmer unter den Wölfen kommen wir uns oft vor. Deshalb ist es wichtig, daß wir nicht allein auf weiter Flur stehen, sondern mindestens noch einen neben uns haben.

Jesus hat seine Jünger auch zwei und zwei ausgesandt, das hat sich bewährt. Jeder von uns sollte sich so einen Mitstreiter unter den Kollegen und Nachbarn, unter Verwandten und Bekannten suchen. Unser bester Mitarbeiter aber ist Jesus selbst, der entscheidend dazu mithilft, Arbeiter bereitzustellen, die Gottes Ernte einbringen. Sicherlich sind auch wir solche Arbeiter Gottes, heute wie an jedem anderen Tag.

 

Apg 5,17-20 und 26-29: Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen!

Ich hätte da Angst: Gerade aus dem Gefängnis entronnen und gleich wieder dieselbe Sache in Angriff nehmen, wegen der man ins Gefängnis kam. Der Gefängnisaufenthalt soll ja gerade erreichen, daß man sich eines Besseren besinnt. Die Apostel aber werden nur noch in ihrer Meinung bestärkt. Richtige Dickköpfe sind sie.

Wir stehen in unsrer Verkündigung und in unsrem Dienst nicht in der Gefahr, nun gleich verhaftet zu werden. Und doch sind wir oft schon feig in unserem alltäglichen Dienst. Bei einem Besuch geht es um das Wetter, die Arbeit oder das Fernsehen. Und wir denken dabei: „Müßtest du nicht auch hier das Wort Gottes verkündigen?

Da ist jemand gestorben. Wo nun die Kraft hernehmen, um die Angehörigen nicht nur nach den Lebensdaten des Verstorbenen zu fragen, sondern ihnen auch ein Wort des Trostes mitzugeben?

Im öffentliche Leben geschieht so manches, zu dem wir von unserem Glauben her unsere Stimme erheben müßten: Gemeindevertretersitzung, Einwohnerversammlung, Elternversammlung, Diskussion von Gesetzesentwürfen .Wie oft bleiben wir da Gottes Wort schuldig! Im Zug oder sonstwo, wo uns keiner kennt, wird auf die Kirche geschimpft. Machen wir uns da die Mühe, unsere Kirche zu verteidigen?

Wir haben es doch viel leichter als die Apostel. Aber auch uns ist heute gesagt: Geht hin und tretet auf und redet zum Volk alle Worte dieses Lebens! Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen, auch mehr als unseren eigenen menschliche Ängsten und Einwänden.

 

Röm 5, 1-5: Wir rühmen uns auch der Trübsale!

Trübsal bringt Ungeduld, möchten wir sagen. Wenn es uns schlecht geht, wenn uns etwas Unangenehmes bevorsteht, denken wir: Wenn es doch nur schon vorbei wäre! Wer liegt schon gern im Krankenhaus? Wer läßt sich gern von anderen herumkommandieren? Wer wäre erfreut, wenn der Sohn von zuhause wegläuft oder die Tochter Dummheiten macht? Wer könnte es aushalten, wegen seines Glaubens ständig verspottet zu werden?

Es gibt schon wirklich schwere Schicksale: Eine Frau hat schon als Kind den Vater verloren. Sie hat immer nur hart für die Geschwister arbeiten müssen. Im fortgeschrittenen Alter hat sie noch einen deutlich älteren Mann geheiratet. Nun ist der Mann fast an die 90 und liegt mit einem Oberschenkelhalsbruch und geistesgestört seit Wochen im Bett. Die Frau muß ihn pflegen, ob sie will oder nicht. Sie muß ihre Arbeit aufgeben und sie können nur von der Rente des Mannes leben .Er beansprucht sie ständig, aber sie kann ihm nicht wirklich helfen. Sie können beide eigentlich nur noch auf den Tod warten. Die Frau sagt: „Was habe ich denn vom Leben gehabt? Wäre es nicht besser gewesen, ich hätte mich als Mädchen gleich aufgehängt, dann hätte ich mir das alles erspart!“ Und dann steht hier: „Trübsal bringt Geduld! Wir rühmen uns sogar der Trübsal! Das könnte leicht mißverstanden werden, so als brauchten wir in allem Leid nur zu sagen: „Es ist ja alles nur halb so schlimm! Ich muß nur Geduld haben, dann wird alles wieder gut!“ So billig ist es mit dem Trost nicht, wenn es uns erst einmal in einem konkreten Fall gepackt hat.

Im Grunde könnten wir überhaupt keine Geduld aufbringen, wenn wir aus unserem eigenen Willen Geduld aufbringen möchten. Nur wenn wir um das Ende wissen, können wir der Trübsal mit gelassener Geduld begegnen. Wer Geduld hat, probiert aus, wie das mit Gottes Hilfe in der Not ist. Und wenn man das einmal erfahren hat, dann kann man auch Hoffnung für die Zukunft daraus schöpfen. Hoffnung aber läßt nicht zuschanden werden, weil Gottes Liebe dahinter steht. Erst wenn man um diesen ganzen Weg weiß - von Trübsal über Geduld, Bewährung und Hoffnung bis zum Glauben an die Liebe Gottes, kann man auch den ersten Schritt wagen von der Trübsal zur Geduld.

Wir wissen noch nicht, was der heutige Tag für uns bringen wird. Vielleicht ist auch viel Trübsal und Schweres dabei: Eine unangenehme Nachricht, Ärger bei der Arbeit, Familiensorgen. Vielleicht hilft es uns da, wenn wir es in größeren Zusammenhängen sehen. Wir haben Frieden mit Gott! Von daher sind unsere täglichen menschlichen Sorgen schon nicht mehr so groß. Von dorther erhalten wir auch den langen Atem, das Alles durchzustehen. Gott will nicht Trübsal, sondern Gnade - und zwar nicht irgendwann, sondern jetzt. Denn wir stehen schon in dieser Gnade und dürfen uns einer künftigen Herrlichkeit rühmen.

Diese Worte wie Glaube, Friede, Gnade, Hoffnung, Herrlichkeit, Liebe Christus sind wie ein großer Kreis, in dessen Mittelpunkt unser geängstetes Herz steht. Das ist jetzt vielleicht in großer Beklemmung, darf sich aber geborgen wissen bei Gott. Trübsal ist nur der Anfang, aber am Ende stehen Liebe und Herrlichkeit.

 

1. Kor 9, 19-23: Den Schwachen bin ich geworden wie ein Schwacher!

„Ich bin wie ein Ungläubiger geworden“, könnte man fortfahren. „Ich bin Mitglied einer Partei geworden, damit ich einige gewinne. Ich bin Arbeiter geworden, damit ich einige rette!“.

Ist das aber nicht eine falsche Anpassung an die Welt? Wenn wir von der Wahrheit des Evangeliums überzeugt sind, dann brauchen wir es doch nur zu verkünden. Die Hauptsache ist, daß wir das Wort Gottes weitersagen, auf die Methode kommt es doch gar nicht an. Wenn die anderen es nicht hören wollen, dann sind sie eben verstockt und es liegt an ihnen und nicht an mir.

Paulus denkt nicht so lieblos. Er weiß, daß er etwas anderes ist als die anderen, daß er es eigentlich nicht nötig hätte, ein Knecht, ein Jude, ein Gesetzloser oder ein Schwacher zu werden. Aber er begibt sich doch auf die Ebene der anderen, um sich ihnen verständlich zu machen.

Und das ist auch unsere Aufgabe, heute mehr denn je. Die kirchlichen Fachausdrücke sind heute noch unverständlicher als damals und müssen unbedingt übersetzt werden. Das hat gar nichts zu tun mit einer falschen Anpassung an die Welt. Natürlich gibt es das auch. Die Substanz darf nicht verlorengehen. Wir können nicht den anderen zuliebe die Botschaft Gottes verändern. Aber wir müssen all unsere Phantasie und unseren Verstand aufbieten, um uns so auszudrücken, daß man uns versteht. Was haben wir denn erreicht, wenn wir zwar theologisch richtig reden, aber der andere nur „Bahnhof“ versteht.

Natürlich besteht auch die Gefahr dabei, daß es dann doch an die Substanz geht. Das hat man ja den französischen Arbeiterpriestern vorgeworfen, die sich zum Teil so mit den Arbeitern einließen, daß sie sich schließlich von der Kirche entfernten. Aber dieses Wagnis muß man eingehen.

Wenn schon, dann auch richtig. Wer sich nicht selbst in Frage stellen läßt, wird auch anderen keine Fragen bereiten. Und das wollen wir doch: Andere aus ihrer Sicherheit herausholen, aber selber dabei auch unruhig werden. Das ist die wahre Freiheit, die wir haben.

Ist das aber nicht nur billige Menschenfängerei? Wir verstellen uns, geben vor, mit dem anderen solidarisch zu sein, aber in Wirklichkeit haben wir sehr eigensüchtige Ziele und wollen die anderen nur für uns vereinnahmen. Dieser Einwand ist berechtigt. Aber in Wahrheit können wir uns gar nicht verstellen. Wenn dieses Anpassen nicht ehrlich gemeint ist, wenn wir den anderen nicht wirklich verstehen wollen, kommt es ja doch einmal heraus.

Deshalb sagt Paulus ausdrücklich: „Alles aber tue ich um des Evangeliums willen!“ Nicht dem eigenen Ruhm können wir dienen, sondern nur dem Evangelium. Wer nur als toller Pfarrer oder moderner christlicher Laie auftreten will, wird bald entlarvt sein.

Weil es aber um das Evangelium geht, um die Rettung aller Menschen, ist es wichtig, daß wir Gottes Wort auf alle nur mögliche Art weitersagen. Dazu gehört auch, daß wir den Menschen erst einmal abholen, wo er ist, in der Hoffnung, daß wir von da aus ein Stück mit ihm gemeinsam weitergehen können und uns selbst auch weiterführen lassen.

 

Lk 22,24-30: Der Vornehmste unter euch soll sein wie ein Diener

Wer von uns möchte nicht auch gern nach oben kommen. Wer von uns wäre nicht empfänglich für ein Lob von oben oder von unten, das uns zeigt: „Du wärst der richtige Mann, zu bist zu Besserem geboren!“ Vielleicht kann man dann sogar mit den Ellenbogen noch etwas nachhelfen, die anderen machen es doch auch so.

Wir schlucken es doch mit Wonne, wenn jemand „Herr Pfarrer“ oder „Herr Kirchenverwaltungsrat“ zu uns sagt. Aber hätten wir nicht auch das Zeug dazu, daß bald ein Oberpfarrer oder sonst etwas daraus wird? Manche scheinen doch nur ihren Beruf erlernt zu haben, um nachher etwas zu werden. Dann heißt es schon von dem Theologiestudenten: „Der wird doch nicht so ein gewöhnlicher Pfarrer, der wir doch gleich etwa Besonderes!“ Mancher macht sich auch nur interessant damit und erzählt: „Der und der Posten ist mir angeboten worden!“ Aber nachher wird nichts daraus. Das muß doch in jedem Menschen so drinstecken, daß er mehr scheinen will als sein.

Jesus aber sagt: „Unter euch soll es nicht so sein!“ Im Staat gibt es diese Postenjäger und Überordnung und Unterordnung und Befehlsgewalt. Aber bei uns soll der Vornehmste ein Diener sein. In der römisch-katholischen Kirche gibt es das, daß der Priester in der Karwoche vor Ostern einigen seiner Gemeindeglieder die Füße wäscht. Aber auch dort ist es mehr zu einer bloßen Form geworden.

Sehen wir uns doch einmal im Lande um, wie es da zugeht. Auf dem Pfarrkonvent sind sie alle Brüder. Aber der Superintendent ist natürlich der „Herr Superintendent“. Aber auch die Brüder sind manchmal eher reißende Wölfe als eine echte Bruderschaft. Vielleicht gilt das auch von einer kirchlichen Behörde oder einem Predigerseminar.

Wäre da nicht schon viel geholfen, wenn sich jeder bemühte, dem anderen mit besten Kräften zu helfen? Jesus hat uns dafür ein Vorbild gegeben. Wir brauchen uns bei ihm nur an den gedeckten Tisch zu setzen und er bedient uns, wenn wir zu ihm in den Gottesdienst kommen.

Aber dann sollen wir auch Diener werden an den anderen Menschen. Weil Christus uns bedient hat, können wir auch anderen dienen. Dann werden uns auch einmal die anderen dienen, wenn wir sie brauchen.

Es gibt Unterschiede unter den Menschen, und es muß auch Ordnungsverhältnisse geben. Wenn eine Verkehrspolizistin auf der Kreuzung steht, müssen ihr alle gehorchen. Wenn sie aber ihren Dienst beendet hat und in die Straßenbahn steigt, muß sie dort dem Schaffner gehorchen.

Diese abwechselnde Über- und Untergeordnetsein müssen wir lernen. Auch das Überordnen will gelernt sein (Gebt dem Deutschen doch ein Amt, schon ist sein Charakter verdorben).

Doch sicherlich werden wir später einmal - auch vor den Menschen - nur danach beurteilt, ob wir Gott und den Menschen in unserem Leben gedient haben.

 

 

1. Petr 2, 5-10: Baut auch ihr euch als die lebendigen Steine zum geistlichen Haus!

Der Schreiber dieses Briefes hat den Mund vielleicht etwas zu voll genommen, wenn er sagt:
„Ihr als die lebendigen Steine“ oder „Ihr, die ihr glaubt“ oder „Ihr seid das auserwählte Geschlecht“.

Wenn wir die Wirklichkeit unserer Gemeinden oder auch unsere eigene Wirklichkeit ansehen, dann ist dort doch oft wenig zu sehen von Lebendigkeit, Glaube und Erwählung. Wenn man das alles so mit menschlichen Augen betrachtet, dann spricht vieles doch einfach ärmlich aus. Auch eine große Veranstaltung zu besonderen Anlässen kann nicht darüber hinwegtäuschen.

Es ist schon ein eindrückliches Bild, wenn hier die Rede ist von einem geistlichen Haus, zu dem die einzelnen Gemeindeglieder zusammengefügt werden: Ein Stein baut auf dem anderen auf und alle sind sie fest miteinander verbunden und alle aufeinander angewiesen.

Aber ist das denn wirklich so? Fehlt uns denn etwas, wenn einer sich von der Kirche lossagt? Leiden wir darunter, wenn einer austritt? Ist unser geistliches Haus nicht schon längst zu einer Ruine geworden?

Das Ärgerliche ist nur, daß wir immer noch behaupten: „Das ist die Kirche!“ Es gibt an sich nur e i n e n Grund, aus dem wir dazu berechtigt sind: In diesen Bau ist als krönender Abschluß ein Schlußstein eingefügt, Jesus Christus. Solange dieser Stein da ist, gibt es eine Kirche.

Das ärgert die anderen natürlich, daß die Kirche so stark ist, weil sie Christus hat. An diesem Stein wird sich noch mancher die Zähne ausbeißen. Wir aber dürfen von daher die Zuversicht mitnehmen, zu dem auserwählten Geschlecht zu gehören. Wir sind aus den vielen Steinen auserwählt zum Eigentum Gottes und dürfen in dem großen Bau der Kirche eine Aufgabe wahrnehmen.

Ja, jeder von uns hat seine Aufgabe, auch wenn er sich noch so klein vorkommt, auch wenn er noch so schwach ist. Alle zusammen stellen sie doch etwas dar, und der Schlußstein schließlich hält doch alle zusammen.

Deshalb sollten wir keinem unserer Mitchristen zu wenig zutrauen. Gewiß, man nimmt sich immer wieder vor, keine Vorurteile zu haben. Doch dann muß man sich vielleicht manches Mal schämen, weil man innerlich einen anderen Menschen als unkirchlich abgestempelt hatte, dann aber nur darüber staunen konnte, was sich da alles durch die Gnade Gottes entwickelt hat.

Wir selber fühlen uns vielleicht auch als kleine Kirchenchristen. Wir dürfen aber wissen: Wir sind ein wichtiger Stein in dem Bau Gottes, von dem Gott vieles erwartet, dem er aber auch seinen Sinn und Zusammenhalt gibt.

 

1. Petr 3, 18-22: Christus hat gepredigt den Menschen in der Hölle

Wir stehen immer wieder in der Gefahr, uns in Glaubensdingen ganz einfach in Erörterungen zu verlieren, anstatt uns selbst anreden zu lassen oder andere anzureden. Wir betrachten die Dinge nüchtern und vom Zuschauerstandpunkt aus, ohne zu bedenken, daß das u n s gesagt ist.

Bei dieser Bibelstelle könnte man zum Beispiel über das Problem der Höllenfahrt Christi reden. Die ersten Christen fragten sich: „Was ist denn mit den Verstorbenen, die nie etwas von Christus gehört haben, die zum Teil auch Gott ungehorsam waren?“ Der 1. Petrusbrief gibt die Antwort: „Jesus hat auch ihnen noch einmal gepredigt und sie letztmalig vor die Entscheidung gesellt!“

Aber dieses Problem liegt uns doch im Grunde fern. Damals war es noch wichtig, denn man fragte sich: „Was geschieht mit meinem Urgroßvater, der schon lange vor Jesus gestorben ist?“ Wir heute fragen doch - wenn überhaupt - nur nach unserem eigenen Heil. Das ist auch sicher erst einmal richtig. Bei Ostern geht es ja auch nicht um das Problem der Auferstehung, sondern ob wir selbst einmal auferstehen werden.

Und in dieser Richtung wird in dieser Bibelstelle auch ganz überraschend die Frage nach den Menschen zur Zeit Noahs gestellt: Das Wasser, durch das damals acht Menschen hindurch gerettet wurden, erleben wir heutigen in der Taufe. Ein etwas seltsames Bild, das aber aus den damaligen Taufbräuchen verständlich ist: Der Täufling wurde ganz ins Wasser getaucht und dann wieder herausgezogen. Dadurch wird ein neuer Bund mit Gott geschlossen durch Christus. Was Christus durch seinen Tod und seine Auferstehung für uns getan hat, kommt uns in der Taufe zugute. Bei allen theologischen Erörterungen ist nur das eine entscheidend: Ist das für m i c h wichtig und kann ich daran glauben?

Fragen wir doch einmal ehrlich: Hat die Taufe wirklich eine Bedeutung für uns? Wissen wir noch unseren Taufspruch, der uns doch ein ganzes Leben begleiten sollte als ein verheißendes Wort Gottes, das gerade u n s gesagt ist. Es wäre vielleicht gut, wenn wir heute einmal durchdächten, was Taufe und Auferstheung für uns und die anderen vor uns, neben uns und nach uns bedeuten.

 

Offb 3,7-14: Halte, was du hast, damit niemand deine Krone nehme!

Der Vers „Halte, was du hast, damit niemand deine Krone nehme!“ wird gern als Konfir­mations­spruch genommen. Denkt der Pfarrer sich etwas dabei, wenn er einen solchen Spruch aussucht? Fragt sich der Konfirmand: Was soll ich festhalten? Die Katechismussprüche, die wohlwollende Haltung im Religionsunterricht, den einigermaßen regelmäßigen Gottesdienstbesuch?

Jeder von uns hat einen Konfirmationsspruch, jeder von uns hat sich zu fragen, was er ihm damals und heute zu sagen hat. Eine gute Hilfe kann es da sein, wenn man wieder einmal an einer Konfirmation teilnimmt und die Ansprache nicht nur auf die Konfirmanden bezieht, sondern auf sich selbst. Was haben wir aus unserem Versprechen gemacht? Wir können Gott nur bitten, daß er uns nicht verwirft.

 

 

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Erzählungen

 

Vorsichtshalber

[Junge will beim Fahrradfahrenlernen immer gehalten werden]

Francois, der eben erst fünf Jahre alt geworden ist, hat ein neues Fahrrad erhalten, zu Weihnachten, ein Kinderfahrrad mit nur zwei Rädern, er muß also Radfahren lernen, das Gleichgewicht halten und so, was halt dazugehört zum richtigen Radfahren.

Da der Vater von Francois den ganzen Tag an der Universität zu tun hat, werde ich als Vertreter gebeten, ihm diese Kunst beizubringen, nach Ostern, als das Wetter besser geworden ist, die Straßen frei sind von Schnee und Matsch und Nässe, und die Sonne dann und wann scheint. Ein Vatervertreter bin ich nicht so recht, ich bin eher der Opa von Francois, und ich fühle mich sehr wohl in dieser Rolle. Der Sport bekommt mir, wenn es auch nicht einfach ist, den ganzen Vormittag auf einer zwar einsamen und verkehrsarmen, dafür aber sehr langen Straße einem sehr niedrigen Fahrrad hinterherzurennen, immer in gebückter Haltung, denn ich muß es am Sattel festhalten, damit es nicht umkippt während des Fahrens mit seiner kostbaren Last. Die Schelte bekäme ich ja, wer sonst?

Wenn man auf die Sechzig zugeht, ist so ein Dauersport von etlichen Kilometern am Tage, immer in gebückter Haltung, nicht nur ein Spaß, und ich muß Francois, der immer nur radeln will, öfter als einmal anhalten, um mir den Schweiß abzuwischen und Luft zu holen, die im Alter so leicht nicht mehr zu haben ist. Francois fährt schon ganz ausgezeichnet, und ich kann die meiste Zeit die Hände vom Sattel wegnehmen. Nur umdrehen darf er sich nicht, sonst verlöre er das Gleichgewicht - er ist der festen Überzeugung, daß ich ihn halte, und nur mit diesem Vertrauen hält er sich im Gleichgewicht. Trotzdem, der Sport bekommt mir, das merke ich an meinem Schlaf.

Nun will ich freilich die materiellen Vorzüge auch mit den geistigen verbinden, mit den geistlichen, und ich beginne mit einem geistlichen Gespräch. „Das mit dem Radfahren-Lernen ist wie mit dem lieben Gott“, sage ich. „Erst hält er dich fest an der Hand und führt dich, aber wenn du es erst einmal alleine kannst und genügend Selbstvertrauen besitzt und das Gleichgewicht halten kannst, dann zieht er seine Hand weg und läßt dich alleine fahren, ganz alleine. Und er tut bloß noch so, als ob er dich festhält.“

„Aber du nimmst die Hand doch nicht weg, Opa?“ fragt Francois besorgt und tritt etwas langsamer in die Pedalen. Er kann es ja nicht wissen: vielleicht macht der Opa es genauso wie der liebe Gott!

„Wo denkst du hin“, lüge ich, und das kann ich, weil Francois sich noch so unsicher auf dem Fahrrad bewegt, daß er sich nicht umzudrehen traut. „Erst wenn du ganz richtig fahren kannst. nehme ich meine Hand weg.“ - „Wann kann ich denn richtig fahren?“ - „Wenn ich die Hand wegnehme!“ - „Aber jetzt noch nicht, bitte Opa, ich kann es nämlich wirklich noch nicht richtig!“

„Solange du es noch nicht richtig kannst, nehme ich die Hand auch nicht weg“, lüge ich noch einmal, dann mache ich allerdings die Einschränkung: „Höchstens für einen Augenblick!“ - „Auch nicht für einen Augenblick“, bittet Francois, immer noch fahrend, „sonst fall ich runter!“ Fahren kann er, aber er besitzt noch nicht genügend Selbstvertrauen. Und das kann wichtiger sein als das Fahrenkönnen. „Na gut“, gebe ich mich geschlagen, aber nur in Worten, denn in Wirklichkeit lasse ich die Hand schon für viele Augenblicke los, aber ich muß, um den Schein zu wahren, immer ganz dicht hinter dem Fahrrad her rennen, damit ich die Hand gleich wieder an den Sattel legen kann, wenn Francois sich doch einmal umdrehen sollte - sonst liegt er auf der Nase, und das Fahrrad neben oder über ihm.

Eines Abends sind seine Eltern auswärts, und Francois übernachtet bei uns. Wir wollen aber auch noch ausgehen, meine Frau und ich, in einen religiösen Vortrag der Pfarrgemeinde. und ich versuche den Jungen zu überreden, allein zu bleiben, aber es gelingt mir nicht. ..Du brauchst doch keine Angst zu haben, der liebe Gott bleibt da und paßt auf dich auf. Er ist ja immer da!“ - „Aber bleib du lieber auch da, Opa“, wendet Francois ein, „vorsichtshalber, bei dir weiß ich nämlich, daß du mich festhältst, aber beim lieben Gott kann man ja nie wissen, ob er bloß so tut!“ Natürlich bleibe ich da. Als Opa, der einen Enkel zu betreuen hat? (Alfred Kumpf)

 

Die Brücke der Gerechten

[Gewalttäter auf der eisernen Brücke und Gerechte auf der Brücke aus Papier]

„Erzähl, Maminka, erzähl!“ bestürmte ich allabendlich die Mutter. Und kein Winterabend verging, an dem sich Mutter, die den Tag über hart an der Nähmaschine gearbeitet hatte, nicht erweichen ließ. Von allen Geschichten, die sie mir hundertmal erzählen mußte und die sie meisterhaft zu variieren verstand, gab es eine, die mich stärker als alle anderen beeindruckte. Und auch Mutter schien eine besondere Vorliebe für sie zu hegen. Jedenfalls wußte sie sofort, welche Geschichte ich meinte, wenn ich bettelte: „Erzähl doch noch einmal eine, du weißt schon ...!“ „Ja, ich weiß“, lächelte Mutter, während ich mir's unter der Decke bequem machte und ganz Ohr wurde. Und die Mutter begann:

Einmal wird eine Zeit kommen, in der die Menschen für immer Einzug halten im Land des ewigen Friedens und der Gerechtigkeit. Doch der Weg in dieses Land wird sie über den Sambatjon-Fluß führen, der sechs Tage lang Pech und Schwefel speit und nur am Sabbat, wie die Väter erzählen, Ruhe gibt. Aber es werden nicht alle Menschen in das Land gelangen, denn nicht alle werden die Probe bestehen. Der Fluß wird wild sein und toben, und die Menschen werden furchtsam sein und nicht wissen, wie hinübergelangen. Und während sie noch überlegen und rätseln, werden sich wie durch ein Wunder zwei Brücken über dem Fluß beweisen: die eine aus Eisen, die andere aus Papier.

Da werden die einen, die es gewohnt sind, sich alles mit Gewalt zu nehmen, die eiserne Brücke bestürmen, so daß die Gerechten das Nachsehen haben und ihnen nichts anderes übrigbleibt, als ihr Vertrauen und ihre Schritte auf die Brücke aus Papier zu setzen. Und die Leute auf der eisernen Brücke werden ihnen dabei zusehen und sich vor Gelächter nicht zu halten wissen. „Nun wird sich zeigen“, werden sie rufen, „was eure guten Taten wiegen!“ Ihr spöttisches Rufen und Gejohle wird übergehen in ausgelassenes Springen und Tanzen. Aber plötzlich wird die eiserne Brücke, noch bevor sie der erste verlassen hat, mittlings entzweibrechen. Und der Strom wird alle verschlingen, die sich ihrer so sicher wähnten.

Die Gerechten jedoch werden auf der papiernen Brücke sicher ins Land der Verheißung gelangen, und nicht einer wird sein, den die Brücke nicht trägt ....

So ging die Geschichte, die ich nicht genug hören konnte und an der mich mehr als alles andere die Brücke aus Papier ins Nachdenken brachte. „Wird die Brücke wirklich nur aus einfachem Papier sein?“ unterbrach ich Mutter jedesmal beim Erzählen.

„Ja, mein Kind!“ bestätigte sie. „Das Papier der Brücke wird von gleicher Art sein wie jenes, aus dem du dir Mützen und Schiffchen faltest. Und es wird sich genauso leicht in hundert Stücke reißen lassen. Denn es ist nicht das Papier, dem die Brücke ihre Festigkeit und Stärke verdankt. Es sind die Gerechten, die über sie hinschreiten.“ (Mark Rasumny).

 

 

Des Landvogts salomonisches Urteil

[Mann will seine Frau nicht öffentlich verspotten lassen, sie aber will es mit ihm so manchen

Ein Bauer von Maur, namens Gretler, beklagte sich bei dem Landvogt von Greifensee über die Unvertragsamkeit seiner Frau, die immerfort mit ihm zanke, ihn mißhandle und ihm sogar

in ihrer Wut eine Schale siedenden Kaffee in die Brust gegossen habe, wovon die Spuren wirklich noch sichtbar waren.

Landolt ließ sich mit diesem Manne in eine lange Unterredung ein, ohne mit sich selbst einig werden zu können, wer von beiden Eheleuten eigentlich der bösere Teil sein möchte. Endlich sprach er: „Ich sehe wohl, daß du ein geplagter Hiob bist und will dir Recht schaffen. Künftigen Sonntag lasse ich dein Weib in die Drille - einen drehbaren Holzkäfig - sperren, und dann kannst du den giftigen Satan vor der ganzen versammelten Gemeinde drillen, solange es dir gefällt!“

Der Bauer erschrak und beteuerte dem Landvogt, dazu könne er sich unmöglich verstehen. Wenn auch böse, so sei sie doch seine Frau, und es stehe ihm nicht an, dieselbe vor den Augen aller Welt der Schande preiszugeben. Er hatte eigentlich nur gewünscht, der Herr Landvogt möchte ihr einen kräftigen Zuspruch halten.

Landolt ließ ihn abtreten und die Frau rufen. „Ich höre“, begann er zu dieser, „Du lebest in einer schlimmen Ehe und geratest öfters in einen heftigen Wortwechsel mit Deinem Manne. Es muß wohl ein nichtsnutziger Kerl sein!“

„Jawohl ist er das“, erwiderte das Weib und fing an, sich mit geläufiger Zunge in einen ganzen Strom bitterer Klagen über des Mannes Fehler zu ergießen. „Wenn dem so ist“, sprach Landolt, „so werde ich Dir wohl Ruhe verschaffen müssen. Weißt Du was? Wir lassen den Schwerenöter am Sonntag in die Drille setzen, und dann kannst Du ihn selber nach Herzenslust kuranzen!“

Jetzt funkelten die Augen der Xanthippe, und freudig rief sie aus: „Ja, ja, Herr Landvogt! Das will ich mit tausend Freuden tun; ich will ihn drillen, daß er an mich denken soll!“

Nun wußte Landolt, wen er vor sich hatte und ließ die Zänkerin zwar nicht drillen, aber doch für ein paar Tage bei Wasser und Brot einsperren, bis sie mürbe geworden war (David Hess,1770-1843)

 

 

Gustav

[Geistig Behinderter paßt auf die Kinder im Dorf auf]

Jemand erzählt aus seiner Kindheit: In unserem Dorf gab es einen Mann, der hieß Gustav. Man sah schon von weitem, daß mit ihm nicht alles in Ordnung war. Er grinste immer, auch wenn es nichts zu grinsen gab, und wo er auch war, sprach er mit sich selber. „Der hat's gut gehabt“, sagten die Kinder, „der ist nie in die Schule gegangen, weil er zu dumm war!“

Ein kleiner Junge klappte sein Lesebuch auf und hielt es Gustav dicht vor die Augen. „Lies!“ sagte er und zeigt auf das Wort „Hahn“. Er zeigte auf den Hahn, der neben dem Wort gezeichnet war, und sagte: „Kikeriki“. Da lachten wir alle ganz fürchterlich und schrien: „Er kann nicht lesen!“ Dann rannten wir hinter ihm her und sagten: „Schrumm, schrumm, schrumm, wir sind schlau und du bist dumm!“

„Hört auf Kinder“, sagte meine Großmutter. „Warum sollen wir aufhören“, antwortete ich. „Das macht doch Spaß!“ Aber sie rief mich ins Haus und sagte: „Wenn du dabei noch einmal mitmachst, hau ich dir eins hinter die Ohren. Gustav war auch so schlau wie du, aber noch bevor er in die Schule kam, hatte er eine Hirnhautentzündung. Seitdem ist er so.“

„Und warum geht er nicht zum Doktor?“ fragte ich. „Seine Mutter war mit ihm bei vieler Ärzten, aber da ist nichts mehr zu machen“, sagte die Großmutter. Gustav tat der ganzen Tag nichts: Er trottete hin, wo es etwas zu sehen gab, und grinste denen zu, die vorüberkamen. Er beugte sich über alle Kinderwagen und streichelte Katzen und Hunde. Manchmal führte er ein dickes kleines Mädchen an der Hand. Sobald die Sonne unterging, verschwand er in seinem Zimmer.

„Er taugt zu nichts“, sagte mein Onkel, der etwas im Dorf zu sagen hatte. „Er ist ein unnützer Esser. Früher hat er der Leute Holz gehackt, aber jetzt haben sie alle elektrische Herde, da brauchen sie nicht mehr so viel Holz. Und für die Feldarbeit ist er zu langsam. Man hätte ihm gleich eine Arbeit beibringen sollen, als er noch jung war.“

„Seine Mutter“, sagte die Großmutter, „wollte ihn zu einem Korbmacher in die Lehre geben, aber sie starb, als er vierzehn Jahre alt war. Dann hat sich niemand mehr recht um ihn gekümmert. Jetzt ist er schon fast fünfzig!“ „Er fällt allen zur Last“, sagte mein Onkel. „Aber die Hunde und Katzen mögen ihn“, antwortete die Großmutter.

Im Dorf wurde ein Spielplatz für die kleinen Kinder eingerichtet. Wir Großen schauten den

Männern zu, die einen Sandkasten anlegten“. Sie stellten auch ein Klettergerät und eine kleine Schaukel auf. Der Zaun wunde bunt gestrichen. „Wann wird der Spielplatz eröffnet“, fragte ich den Onkel. „Noch nicht“, antwortete er, „wir haben noch keinen, der auf die Kleinen aufpaßt. Man braucht viel Geduld dazu!“

„Ich wüßte jemand“, sagte die Großmutter. „Den Gustav!“- „Was“, rief der Onkel, „dieser Trottel!“ - „Mit Hunden und Katzen versteht er's. Warum sollte er's nicht auch mit den Kindern verstehen? Ich habe ihn manchmal mit Willrichs kleiner Enkelin spielen sehen. Er geht mit ihr spazieren, obwohl sie noch nicht gut laufen kann. Er hat Geduld mit ihr. Er spricht mit ihr. Geh doch mal hin und erkundige dich!“ Der Onkel ging und kam nach einer Weile wieder. „Sie sagen, es gäbe kein besseres Kindermädchen als ihn!“

Am Nachmittag sah ich den Onkel mit Gustav auf dem Spielplatz stehen. Gustav grinste und nickte. Und am nächsten Morgen stand das Tor weit offen. Die Kleinen durften hineingehen und spielen. Gustav war auch da. Er hatte sogar eine Krawatte um. Er nahm einen Jungen auf den Arm, einen ganz kleinen, der sich vor den vielen Kindern fürchtete.

Er setzte ein Mädchen auf die Schaukel und schubste es vorsichtig an, bis es vor Vergnügen jauchzte. Er zog zwei Zankhähne im Sandkasten auseinander. Als ein Hund hineingelaufen kam, jagte er ihn hinaus.

Ein paar Mütter schauten zu. „Er macht es gut“, sagten sie. Am Abend gaben ihm nicht nur die Kinder die Hand, sondern auch die Erwachsenen. Sie sagten: „Danke, Gustav, komm morgen wieder! Du hast es großartig gemacht!“ Gustav war sehr stolz. Er nickte und grinste. Niemand sagte mehr: „Da kommt der Trottel!“ Alle grüßten ihn und waren freundlich. Als Gustav einmal zwei Tage lang krank war, fragte des ganze Dorf nach ihm, und der Onkel jammerte: „Was machen wir ohne ihn?“ - Siehst du“, sagte die Großmutter.

 

Fragen:

1. Woran merken die Leute, daß Gustav so anders ist?

2. Wie ist es dazu gekommen?

3. Warum möchte der Onkel nicht, daß Gustav auf die Kleinen aufpaßt?

4. Warum hat das Verhalten der Großmutter im Dorf etwas verändert?

Die Großmutter hat gesehen, wie er mit Kindern und Tieren umgeht. Sie hat gehört, wie er mit Kindern redet und wie andere mit ihm reden, sie hat gehört, wie es ihm ergangen ist. Sie hat gehandelt, wie Jesus gehandelt hätte.

 

 

Der kleine florentinische Schreiber

[Junge hilft seinem Vater beim Kopieren, damit dieser mehr Geld verdient]

 In Florenz, einer großen Stadt in Italien, wohnte ein armer Bahnbeamter, der eine große Familie hatte. So fleißig der Vater auch arbeitete - das Geld wollte doch oft nicht zum Nötigsten reichen. Die Eltern hofften nun darauf, daß der Älteste, der zwölf­jährige begabte Giulio, sie bald einmal unterstützen könnte. Darum sollte er so schnell wie möglich etwas Ordentliches lernen.

Obwohl der Vater ziemlich alt war, übernahm er doch neben seinem schweren Dienst noch manche zusätzliche Schreibarbeit, die er nachts erledigte. Einmal hatte er von einem Verlag den Auftrag bekommen, regelmäßig Adressen. zu schreiben. Für 500 Stück bekam er drei Lire (eine Lira war vor dem Kriege soviel wert wie dreizehn Pfennige in Deutschland). Da sagte Giulio schließlich einmal zu ihm: „Vater, laß mich an deiner Stelle arbeiten. Du weißt, ich schreibe ganz genau wie du!“ Aber der Vater wollte es nicht erlauben. Giulio sollte genügend Zeit für seine Schularbeiten haben.

Aber der Junge faßte einen Plan. Er wußte, daß der Vater immer genau nach Mitternacht aufhörte zu schreiben. Da wartete Giulio, bis der Vater ins Bett gegangen war, setzte sich an den Schreibtisch, drehte die Lampe an und fing, an zu schreiben. Dabei gab er sich Mühe, die Schrift seines Vaters genau nachzuahmen. Als er 160 Adressen geschrieben hatte, legte er den Federhalter glücklich beiseite: „Eine Lira!“ dachte er, löschte die Lampe und ging zu Bett.

Am nächsten Tag setzte sich der Vater fröhlich zum Essen. Er hatte nicht gemerkt, daß Giulio aufgestanden war und dachte, er habe selbst so viele Adressen geschafft. Er zählte nämlich niemals während des Schreibens. Giulio freute sich mit dem Vater und nahm sich vor, regelmäßig zu helfen.

So ging das viele Nächte hindurch. Eines Tages sagte der Vater beim Essen: „Es ist doch merkwürdig, wieviel Licht wir seit einiger Zeit brauchen!“ Giulio erschrak. Aber er sagte nichts dazu. Allmählich merkte er aber, wie ihn die Nachtarbeit anstrengte. Er war am Tage müde und zerstreut und schlief manchmal sogar bei den Schularbeiten ein. Da wurde der Vater böse und sagte schließlich: „Giulio, du hältst dein Wort nicht. Denke daran, daß die ganze Familie ihre Hoffnungen auf dich setzt. Ich bin unzufrieden mit dir, verstehst du!“

Giulio nahm sich vor, den Betrug aufzudecken. Aber am selben Abend sagte der Vater zufrieden: „Diesen Monat habe ich mit den Adressen 32 Lire mehr verdient als im letzten!“ Mit diesen Worten zog er eine Schachtel Süßigkeiten hervor, mit der er den Kindern eine besondere Freude machen wollte. Da konnte sich Giulio nicht entschließen, dem Vater alles zu sagen, und er half heimlich weiter, so gut er konnte.

Aber mit seiner Ermüdung wurde es immer schlimmer. Auch der Lehrer beschwerte sich schließlich über seine Unaufmerksamkeit. Daraufhin machte ihm der Vater ernstliche Vorwürfe. Giulio brach in Tränen aus und war schon dabei, alles zu entdecken. Aber da unterbrach ihn der Vater und sagte: „Du kennst die Verhältnisse, in denen wir leben, und weißt, daß guter Wille und Opfergeist von uns allen nötig ist. Ich selbst, siehst du, sollte doppelt soviel arbeiten. Ich zählte diesen Monat auf eine Lohnerhöhung von hundert Lire bei den Eisenbahnen, und heute früh habe ich erfahren, daß ich nichts bekommen werde!“

Da brachte Giulio es wieder nicht übers Herz, dem Vater alles zu sagen, und er quälte sich weiter mit seiner Nachtarbeit. Dabei wurde er aber immer blasser und magerer. Er wußte auch, daß er diese Anstrengung nicht mehr lange aushalten würde. Jeden Tag nahm er sich vor: „Heute nacht stehe ich nicht mehr auf!“ Aber dann dachte daran, daß jede Lira für die Familie wichtig sei, und ging doch wieder an.

Arbeit.

Eines Abends sagte die Mutter: „Was ist nur mit Giulio los? Er sieht so krank aus!“ Der Vater warf nur einen flüchtigen Blick auf den Jungen und antwortete: „Das schlechte Gewissen verdirbt ihm die Gesundheit. Es ging ihm besser, als er noch ein fleißiger Schüler und ein anhänglicher Sohn war!“ - „Aber er ist krank“, rief die Mutter aus. „Das ist mir jetzt gleichgültig“, erwiderte der Vater. Das traf den Jungen wie ein schwerer Schlag. Sein Vater hatte ihn nicht mehr lieb! Etwas Schlimmeres konnte sich Giulio nicht denken.

Er nahm sich fest vor, mit dem Adressenschreiben aufzuhören. Nur noch einmal wollte er in der Nacht aufstehen und ein paar Minuten in dem Zimmer sein, in dem er bei seiner Arbeit so glücklich gewesen war. Als er am Schreibtisch saß, griff er doch wieder heftig nach der Feder, um die gewohnte Arbeit aufzunehmen. Aber da stieß er aus Versehen an ein Buch, und es fiel zu Boden. Giulio wurde starr vor Schreck. Er lauschte - aber nichts regte sich. Da fing er wieder an zu schreiben. Draußen hörte man einen Wagen rollen. Ein Hund bellte. Giulio schrieb, ohne aufzusehen.

Währenddessen stand sein Vater hinter ihm. Er hatte das Buch fallen hören, war aber erst eine Weile später hereingekommen, als das Geräusch des Wagens seine Schritte übertönte. Und nun hatte er alles begriffen.

Plötzlich stieß Giulio einen Schrei aus - zwei Arme hatten ihn fest umschlungen. „Vater, Vater - verzeih mir!“ - „Nein, du mußt mir verzeihen, du lieber Kerl!“

Und nun brachte der Vater Giulio ins Bett und blieb die ganze Nacht bei ihm sitzen. So gut wie in dieser Nacht hatte Giulio lange nicht geschlafen (nach einer Erzählung von Edmondo de Amicis. Die Erzählung läßt sich auch in Spielszenen umsetzen).

 

Die Moritat von der guten alten Zeit

Der Bänkelsänger (singt):

Was ich heute euch berichte, liegt es wirklich schon so weit?

Freunde, hört nun die Geschichte von der guten, alten Zeit!  (Er spricht):

Unser Küster beispielsweise rechnet zwar zu seiner Pflicht

auch den Dienst am Jugendkreise; aber leicht fällt es ihm nicht.

 

Der Küster (spricht):

Fürchtet ihr nichts fürs Bekenntnis und fürs Kirchenregiment

von dem falschen Weltverständnis, das man Jugendarbeit nennt?

Hörte man schon unter Christen - wenigstens zu meiner Zeit -

daß die Werk- und Arbeitsrüsten nötig sind zur Seligkeit?

Keines Jugendwerks Bestreben hat uns je den Blick getrübt,

denn wir sind ins Christenleben seit der Taufe eingeübt.

Jugendarbeit! Die Vokabel macht mir eine Gänsehaut.

Denkt nur an den Turm zu Babel, eh' ihr selber einen baut!

 

Der Chor der Jugend (singt):

Lieber Küster, nur kein Grollen; such' uns bitte zu versteh'n!

Wenn wir auf dich hören sollen, darfst auch du nicht überseh'n:

 

Einer aus dem Chor der Jugend (spricht):

Wieviel immer neue Moden haben schon die Welt beglückt;

- wechseln wir auch die Methoden, bleibt das Ziel doch unverrückt.

 

Der Bänkelsänger (singt):

Was ich heute euch berichte, liegt es wirklich schon so weit?

Freunde, hört noch die Geschichte von der guten, alten Zeit!  (Er spricht):

Eine Mutter hat mir neulich kummervoll das Herz bewegt;

vieles fand sie ganz abscheulich, was die Jugend heute trägt.

 

Die Mutter (spricht):

Von der Mode spracht ihr eben: unbeständig soll sie sein.

Nun, wir stehen auch im Leben und wir sehen manches ein,

und wir können viel verstehen, denn wir waren auch mal jung;

aber was wir heute sehen, grenzt schon fast an Lästerung.

Perlon steht zwar vielen Frauen, doch zugleich sind sie bedroht;

und mit ernster Sorge schauen wir auf manchen Petticoat.

Aber eins muß uns erbosen, weil's der Sitte widerspricht:

Wollte Gott die Frau in Hosen? Ich für mein Teil glaub es nicht.

 

Der Chor der Jugend (singt):

Liebe Mutter, nur kein Grollen; such' uns bitte zu versteh'n!

Wenn wir auf dich hören sollen, darfst auch du nicht überseh'n:

 

Eine aus dem Chor der Jugend (spricht):

Wer, um Frau und Mann zu kleiden, nicht des Paradies vergißt,

weiß: heut steht die Hose beiden, einfach, weil sie praktisch ist.

 

Der Bänkelsänger (singt):

Was ich heute euch berichte, liegt es wirklich schon so weit?

Freunde, hört noch die Geschichte von der guten, alten Zeit!   (Er spricht):

Auch ein Lehrer hatte Sorgen, der, das wurde mir bald klar,

zwar kein Mann von übermorgen, doch auch nicht von gestern war.

 

Der Lehrer (spricht):

Praktisch nennt ihr Mädchenhosen, und ich weiß, das geht so fort:

Lippenstift und Puderdosen, Fahrt und Lager, Spiel und Sport.

Zwar bin ich bestimmt der letzte, der euch zu verzärteln heißt;

im gesunden Körper schätzte ich von je gesunden Geist.

Mit dem Medizinball trieben wir beim Wandervogel Sport.

Was ist heute noch geblieben? Nur die Sucht nach dem Rekord.

Früher Wanderfahrt und Zelten, Mopedfahrt und Camping jetzt;

das Natürliche wird selten, wenn uns erst die Technik hetzt.

 

Der Chor der Jugend (singt):

Lieber Lehrer, nur kein Grollen; such' uns bitte zu versteh'n!

Wenn wir auf dich hören sollen, darfst auch du nicht überseh'n:

 

Einer aus dem Chor der Jugend (spricht):

Lange hat man uns bemuttert, und jetzt reißt uns die Geduld;

wer sich dabei überfuttert, der ist selber daran schuld.

 

Der Bänkelsänger (singt):

Was ich heute euch berichte, liegt es wirklich schon so weit?

Freunde, hört noch die Geschichte von der guten, alten Zeit!  (Er spricht):

Doch das gute, alte Schema reicht nicht her und reicht nicht hin;

und nun spricht zu diesem Thema eine Jugendleiterin.

 

Die Jugendleiterin (spricht):

Bei dem Thema Mädchenhose hat der Lehrer schon gesagt,

daß ihm auch die Puderdose keineswegs so recht behagt.

Und daß ich es nur gestehe: es ist auch nicht mein Geschmack,

wenn ich euer Make-up sehe, Lippenstift und Nagellack.

Zwar ich hab euch nichts verboten und auch selbst schon was versucht,

denn ich weiß, den blonden Knoten nennt ihr heimlich „Glaubensfrucht“.

Wenn ich euch auch nicht gefalle, und wenn keine mich begriff:

zehnmal lieber sind mir alle ohne Toilettenkniff.

 

Der Chor der Jugend (singt):

Liebe Hanna, nur kein Grollen; such' uns bitte zu versteh'n!

wenn wir auf dich hören sollen, darfst auch du nicht überseh'n,

 

Eine aus dem Chor der Jugend (spricht):

Daß nun mal in unsern Zeiten ein Make-up, das keinen stört,

zu den Selbstverständlichkeiten in Beruf und Amt gehört.

 

Der Bänkelsänger (singt):

Was ich heute euch berichte, liegt es wirklich schon so weit?

Freunde, hört noch die Geschichte von der guten, alten Zeit!  (Er spricht):

Wozu uns das Lippenröten und das Schminken noch verführt,

weiß ein Pfarrer, der in Nöten einen wunden Punkt berührt.

Der Pfarrer (spricht):

Da wir schon von Schminke reden, fast als ob ein Stichwort fiel:

eigentlich betrifft doch jeden heut das Stichwort „Laienspiel“.

Oft schon schien es fest beschlossen, daß das Spielunwesen stirbt;

doch es ist ins Kraut geschossen, sie sind mir nicht mehr fürchterlich:

Draußen steht der Homo ludens, in der Kirche stehe ich!

 

Der Bänkelsänger (singt):

Dieses war nun die Geschichte von der guten, alten Zeit.

Liegt der Anlaß der Berichte heute wirklich schon so weit?

 

Der Chor der Jugend (singt):

Liebe Freunde, nur kein Grollen; doch ihr dürft nicht überseh'n:

wenn wir auf euch hören sollen, sucht uns bitte zu verstehe!                    (Gerhard Valentin)

 

[An Zutaten braucht je nach den Möglichkeiten nicht gespart zu werden: Leierkasten oder andere Instrumente zur Begleitung des Bänkelsängers, Zeigestock und schauerlich handgemalte Moritatenbilder, aber eventuell auch Glasbilder im gleichen Stil, die auf eine Leinwand projiziert werden, bieten sich geradezu an. Der Bänkelsänger und vor allem die wechselnden sprechenden Personen sollten Spaß an einer typischen Kleidung haben] (nach Gerhard Valentin).

 

 

Der Arme und der Reiche

[Armer Mann nimmt Gott unwissend bei sich auf, der reiche Nachbar will es ihm nachtun]

Vor alten Zeiten, als der liebe Gott selber auf Erden unter den Menschen wandelte, trug es sich zu, daß er eines Abends müde war und ihn die Nacht überfiel, ehe er zu einer Herberge kommen konnte. Da standen auf dem Weg vor ihm zwei Häuser gegenüber, eines groß und schön, das andere klein und ärmlich anzusehen, und gehörte das eine einem reichen und das andere einem armen Manne.

Unser Herrgott dachte: „Dem Reichen werde ich nicht beschwerlich fallen“, und er klopfte bei ihm an der Tür. Da machte der Reiche sein Fester auf und fragte, was er wolle. „Ein Nachtlager!“. Der Reiche guckte Ihn an vom Haupt bis zu den Füßen und weil der liebe Gott schlichte Kleider trug und nicht aussah wie einer, der viel Geld in der Tasche hat, schüttelte er mit dem Kopf und sprach: „Ich kann euch nicht aufnehmen, meine Kammern liegen voll Samen; und sollte ich jedermann aufnehmen, der an meine Tür klopft, so müßte ich bald selber fortgehen. Sucht euch anderswo ein Auskommen!“ Damit schlug er sein Fenster zu und ließ den lieben Gott stehen.

Also kehrte ihm der liebe Gott den Rücken, ging hinüber zu dem kleinen Haus und klopfte an. Kaum hatte er angeklopft, klinkte auch schon der Arme sein Türchen auf und bat den Wundermann, einzutreten und bei ihm die Nacht über zu bleiben. „Es ist schon finster", sagte er, „und heute könnt Ihr doch nicht weiterkommen!“ Da gefiel es dem lieben Gott, und er trat ein. Die Frau des Armen reichte ihm die Hand, hieß ihn willkommen und sagte, er möchte es sich bequem machen und vorlieb nehmen; sie hätten nicht viel , aber was es wäre, gäben sie von Herzen gern. Dann setzte sie die Kartoffeln aufs Feuer, und derweil sie kochten, melkte sie ihre Ziege, damit sie ein bißchen Milch dazu hätten. Und als der Tisch gedeckt war, setzte sich der liebe Gott zu ihnen und aß mit. Die schlechte Kost schmeckte ihm gut, denn es waren vergnügte Gesichter dabei.

Wenn sie gegessen hatten und Schlafenszeit war, rief die Frau heimlich ihren Mann und sprach: „Hör, lieber Mann, wir wollen uns heut' Nacht eine Streu dahin machen, damit der arme Wanderer sich in unser Bett lege und ausruhen kann: Er ist den ganzer Tag über gegangen, da wird einer müd!“ - „Von Herzen gern" sprach der Mann, „ich will es ihm sagen!“ Er ging zu dem lieben Gott und bat ihn, wenn es ihm recht wäre, möcht' er sich in ihr Bett legen und seine Glieder ordentlich ausruhen. Der liebe Gott wollte den beiden Alten ihr Lager nicht nehmen, aber sie ließen nicht ab, bis er es endlich tat und sich in ihr Bett legte; sie aber machten sich eine Streu auf die Erde.

Am anderen Morgen vor Tag standen sie schon auf und kochten ihm ein warmes Frühstück. Als nun die Sonne durchs Fensterlein hereinschien und der liebe Gott aufgestanden war, aß er wieder mit ihnen und wollte dann seines Weges ziehen. Doch als er in der Tür stand, sprach er: „Weil ihr so mitleidig und fromm seid, so wünscht euch dreierlei, das will ich euch erfüllen!“ Da sagte der Arme „Was soll ich mir sonst wünschen als die ewige Seligkeit und daß wir zwei - solange wir leben- gesund sind und unser notdürftiges tägliches Brot haben. Fürs dritte weiß ich nichts zu wünschen!“ Der liebe Gott sprach: „Willst du dir nicht ein neues Haus für das alte wünschen?“ Da sagte der Mann, ja, wenn das ginge, wäre es ihm wohl lieb. Alsbald erfüllte der liebe Gott ihre Wünsche und verwandelte ihr altes Haus in ein schönes neues und verließ sie darauf.

Als es nun voller Tag war und der Reiche aufstand und sich ins Fenster legte, sah er gegenüber ein schönes neues Haus stehen statt der alten Hütte. Da machte er Augen, rief seine Frau und sprach: „Frau, sieh einmal, wie ist das zugegangen? Gestern Abend stand dort eine elende Hütte, und nun ist es ein schönes neues Haus. Lauf doch einmal hinüber und hör', wie das gekommen ist!“

 

 

„Was hätte ich sonst tun sollen?“

[Verkehrspolizist bekreuzigt sich bei der Verkehrsregelung auf der Kreuzung]

Wir zelteten in einer kleinen Bucht weit draußen vor Saloniki. Dicht bei unseren

Zelten gab es einige Siedlungshäuser in diesem Vorort Kalamaria. Und in einem dieser kleinen weißen Häuser wohnte Theodoros mit seiner Mutter. Gleich am ersten Mittag, als die Sonne glühendheiß über dem Sand stand und die blauen Wasser der Ägäis an das hohe Felsenufer der griechischen Küste klatschten, stand Theodoros neben uns. Er zeigte uns den kleinen Einstieg am Felsen, von wo aus man herrlich schnell ins Wasser gelangen und dann unbehelligt von den Algen und Schwämmen weit hinaus ins Meer schwimmen konnte.

Theodoros war Polizist. Dort, wo mitten in der Stadt die breite Avenue über jene Straße führte, die von der großen neuen Kirche des heiligen Georg herunterkam, hatte unser junger Freund sein Podest. Mitten in dem brandenden Verkehr, denn von der anderen Seite brachte die Straße die Autos vom Kai herein in das Zentrum der Stadt.

Aber Theodoros stand völlig ruhig in seinem weißen Anzug mit dem weißen, sonnenabschirmenden Helm dort auf seinem Platz. Er hatte uns gleich am ersten Tag unserer Bekanntschaft aufgefordert, ihn doch dort einmal zu besuchen. Und so kreuzten wir dann auch immer, wenn wir mit unserem Wagen durch die große Stadt fahren mußten, den Knotenpunkt, winkten aus allen Fenstern heraus, und Theodoros grüßte zu uns herab.

Eines Tages, wir kamen vom Burgberg herab, rollten wir wieder einmal auf der breiten Hauptstraße unserem Freund entgegen. Schnellere Wagen überholten uns immer wieder und flitzten an uns vorbei. In Saloniki war Messe, und besonders die amerikanischen Wagen lagen breit auf der Straße. Der Verkehr war unübersehbar geworden. Aber unser Theodoros würde das schon bewältigen, da hatten wir keinen Zweifel! Wir wußten ja, solchem Ansturm gegenüber blieb er völlig gelassen. Ruhig schaltete er die Lichter seiner Ampel: rot und grün. Er achtete darauf, daß die Wagen in ziemlich gleichen Abständen wieder freie Fahrt bekamen. Theodoros, der Polizist, drückte auf den Knopf: rot - grün - rot - grün.

Da plötzlich - wir waren dicht vor der Kreuzung und konnten den Platz nicht übersehen - passierte das, worauf sich Theodoros, als wir abends mit ihm darüber sprachen, nicht mehr entsinnen konnte. Wie war das überhaupt möglich? Hatte er vielleicht einen Augenblick daran gedacht, daß uns seine Mutter abends zum Essen gebeten hatte und daß er noch Apfelsinen und Nüsse einkaufen wollte? Hatten ihn vielleicht doch die anbrausenden großen 'Wagen, die von der Messe zurück in die Stadt fluteten, verwirrt? Er wußte es nicht. Er starrte nur wie gebannt auf den Platz, der völlig leer dalag. Nicht ein einziger Wagen überquerte ihn.

Was war passiert? Theodoros, der Polizist, hatte für alle Straßen „rot“ eingeschaltet. Die Fahrer an den vier Straßen gaben ungeduldig Signal. „Verrückter Polizist da oben, was fällt ihm ein?“ Die Geschäftsleute, erschöpft von dem hinter ihnen liegenden Messetag, schimpften laut über die Straße hinweg. Entsetzt schaute Theodoros über seinen Platz, unfähig eines vernünftigen Gedankens darüber, was er jetzt tun sollte. Seine Hand, die sonst mit sicherem Griff den Verkehrsschalter bediente, schien wie gelähmt.

Und während die Sekunden wie lange Minuten dahin schlichen, hatte Theodoros doch den besten Gedanken, den er nur haben konnte. Hilflos, dem brandenden signalgebenden Verkehr gegenüber, stand der kleine Polizist im weißen Anzug auf -seinem Podest und - alle auf den vier Straßen konnten es deutlich sehen! - faltete einfach die Hände über der Brust. Er senkte den Kopf. Auch das dauerte nur Sekunden. Dann berührte er die Stirn, Brust und Schultern mit den Fingerspitzen der rechten Hand und - schaute wieder fest nach allen Seiten! Ruhig drückte er den Schaltknopf. Erst rot, dann grün ...

Theodoros, der Polizist, hatte gebetet. In seiner absoluten Hilflosigkeit, in einem Augenblick, da seine Nerven dem anstürmenden Lärm nicht mehr gewachsen waren, hatte er das für ihn einzig Mögliche getan: Er hatte um Kraft gebetet, Verkehrsknäuel wieder entwirren zu können.

Nicht ein einziger Fahrer hatte während der wenigen Augenblicke, da der Polizist auf seinem Podest inmitten des leeren Platzes betete, Signal gegeben. Und als die einzelnen Richtungen dann wieder freie Fahrt hatten, glitten die Wagen fast lautlos und ganz behutsam, so, als wollten sie sich entschuldigen für ihre Ungeduld, aber wohl auch mit einer gewissen Bewunderung, an dem kleinen weißen Polizisten vorüber. „Ja, das ist die kindliche Frömmigkeit der Orthodoxen“, sagte unser Fahrer, als wir an Theodoros - diesmal ohne uns bemerkbar zu machen - vorübergefahren waren und schon zum Galeriusbogen kamen.

Abends, nachdem wir uns die gefüllten Paprikaschoten mit Eierfrucht und Reis, die Theodoros so vortrefflich anzurichten wußte, hatten schmecken lassen, kamen wir noch einmal auf das Geschehen dieses Nachmittags zu sprechen. Theodoros war erstaunt, daß wir sein Beten noch einmal erwähnten. „Was hätte ich denn sonst anderes tun sollen?“ war seine schlichte Frage an uns (H. Gordon).                                                                                                      

 

Eine Geschichte über den Fleiß

Es war einmal ein Holzfäller, der bei einer Holzgesellschaft um Arbeit vorsprach. Das Gehalt

war in Ordnung, die Arbeitsbedingungen verlockend, also wollte der Holzfäller einen guten

Eindruck hinterlassen.

Am ersten Tag meldete er sich beim Vorarbeiter, der ihm eine Axt gab und ihm einen bestimmten Bereich im Wald zuwies. Begeistert machte sich der Holzfäller an seine Arbeit.

An einem einzigen Tag fällte er 18 Bäume. „Herzlichen Glückwunsch“, sagte der Vorarbeiter. „Weiter so!“

Angestachelt von den Worten des Vorarbeiters, beschloß der Holzfäller, am nächsten Tag das

Ergebnis seiner Arbeit noch zu übertreffen. Also legte er sich in dieser Nacht früh ins Bett.

Am nächsten Morgen stand er vor allen anderen auf und ging in den Wald.

Trotz aller Anstrengung gelang es ihm nicht, mehr als 15 Bäume zu fällen. „Ich muß müde sein“, dachte er. Und beschloß, an diesem Abend gleich nach Sonnenuntergang schlafen zu gehen.

Im Morgengrauen erwachte er mit dem festen Entschluß, heute seine Marke von 18 Bäumen

zu übertreffen. Er schaffte noch nicht einmal die Hälfte. Am nächsten Tag waren es nur sieben Bäume, am übernächsten fünf, seinen letzten Tag verbrachte er fast vollständig damit, einen zweiten Baum zu fällen.

In Sorge darüber, was wohl der Vorarbeiter dazu sagen würde, trat der Holzfäller vor ihn hin,

erzählte, was passiert war, und schwor Stein und Bein, daß er geschuftet hatte bis zum Umfallen.

Der Vorarbeiter fragte ihn: „Wann hast du denn deine Axt das letzte Mal geschärft?“ - „Die Axt schärfen? Dazu hatte ich keine Zeit, ich war zu sehr damit beschäftigt, Bäume zu

fällen!“                                   (Aus: Jorge Bucay, Komm, ich erzähl dir eine Geschichte).

 

Variante:

Wenn eine Axt stumpf geworden ist.

 Zwei Holzfäller, der eine jünger, der andere älter, wollten wissen, wer von ihnen an einem Tag mehr Bäume fällen kann als der andere. Sogleich machten sie sich an die Arbeit. Am Ende des Tages war leicht zu erkennen, wer gesiegt hatte: der Ältere!

Der Jüngere konnte es kaum begreifen, wie so etwas geschehen konnte. Fragend wandte er sich an seinen Kollegen: „Ich habe doch gesehen, wie du dich jede Stunde hingesetzt und ausgeruht hast, während ich unermüdlich weiterarbeitete!“ Der ältere Holzfäller antwortete mit einem Lächeln: „Während du dachtest, daß ich eine Pause machte, habe ich meine Axt geschärft. Warum hast du es nicht genauso gemacht?“

Die Bibel sagt (Prediger 10,10): „Wenn eine Axt stumpf geworden ist und man die Schneide nicht schärft, dann muß man umso mehr Kraft anwenden!“

Wir sind keine Holzfäller, aber uns leuchtet das Bild von der scharfen Axt ein. Wir wundern uns manchmal, warum so wenig bei dem herauskommt, was wir anfangen. Wir sind erschöpft, ohne daß die Ergebnisse viel davon zeigen, wo die Kraft geblieben ist. Der Tip aus Gottes Wort kann uns dabei helfen: Die Axt muß geschärft werden!

 Wir können bei Gott Pause machen und uns den neusten Schliff holen.

 Dann haben wir anschließend wieder die nötige „Schärfe“ für unseren Alltag.

Dabei geht es um etwas anderes, als wieder und wieder neue Informationen aus Gottes Wort zu sammeln. Vielmehr geht es darum, daß wir uns sammeln und umgestalten lassen. Manchen mag diese Lebensweisheit aus dem Predigerbuch lästig und unzeitgemäß erscheinen.

Doch der Erfolg spricht eindeutig für diesen Tip.

 Nicht wer dauernd am Klopfen ist, kommt zu guten Ergebnissen, sondern wer gezielt und mit Schärfe seine Schläge ansetzt. Lassen wir uns von Gottes Wort Effektivität schenken!

Als ein Mann im Wald spazierengeht kommt er an einer Lichtung vorbei, wo ein Waldarbeiter gerade Holz hackt. Er sieht ihm eine Weile zu und bemerkt dabei, daß der Ärmste sich recht abrackert, müht und plagt, nur weil seine Axt recht stumpf zu sein scheint.

Schließlich gibt er sich einen Ruck und spricht ihn an: „Hallo! Warum schärft Ihr denn Eure Axt nicht? Die ist ja total stumpf.“ Der Holzfäller sieht kurz auf und antwortet außer Atem: „Was? Die Axt schärfen? Nein - ausgeschlossen, dazu habe ich keine Zeit - ich muß noch soviel Holz hacken!“

Der Holzfäller sieht nichts als seine Arbeit. Er erkennt nicht, daß das Schärfen der Axt zwar kurzfristig ihn von seiner Arbeit abhält, aber er dadurch später insgesamt viel schneller und leichter vorankommt. Es geht also vorerst um seine eingeschränkte Sichtweise. Diese wird aber durch den Spaziergänger erweitert - der Holzfäller kennt also unter Umständen die Zusammenhänge. Danach geht es nur noch um die nötige Konsequenz, dieses Wissen auch anzuwenden - und nicht irgendwelche scheinbar wichtigen Gründe als Ausrede „vorzuschieben“.

 

Für zehn Mark Vertrauen

[Eine Frau hat zehn Mark verloren, aber die Hausbewohner bringen jeder einen Zehnmarkschein]

Plinganser Straße 152a - kein sonderlich schönes Haus, in das sie da vor drei Monaten eingezogen war! Doch damit konnte sie sich schließlich abfinden; denn die Wohnung, Zimmer, Kabinett und Küche, entsprach ganz ihren Wünschen.

Woran sie sich aber nicht gewöhnen konnte, waren die Leute, die in diesem Haus wohnten, eine Zufallswahl unsympathischer Menschen, wie sie sich eben in solchen Mietshäusern gelegentlich zusammenfindet: der alte, verschrobene Oberst a. D. Karl Lagarde, der immer nur mit Frau, Tochter und Dogge ausging, dann ein gewisser Vinzenz Pröbstl, „Vertreter“ wie auf dem Türschild stand. Nun, man weiß ja, was sich unter dieser Berufsbezeichnung mitunter herumtreibt; denn „vertreten“ läßt sich schließlich alles.

Und nebenan protzige Leute, ein Oberlehrer Scheibelberger, dessen Frau sie schon mehrmals zum Fernsehen eingeladen hatte, vermutlich nur, um mit dem neuen Apparat den nötigen Eindruck zu machen.

Sie hatte natürlich abgelehnt. Das Beste war überhaupt, sich gar nicht um die einzelnen Mietparteien zu kümmern und so zu tun, als ob man in diesem Haus allein wäre. Dies aber hieß: sich gegen alle mit Mißtrauen zu wappnen und rechtzeitig die Sperrkette einzulegen.

So ging dann alles nach ihrem Wunsch, bis sie eines Tages mit einer Tasche voll Kartoffeln vom Viktualienmarkt heimkam, erschrocken feststellte, daß ihr jener Zehnmarkschein fehlte, den sie eben in der Trambahn noch in der Hand gehabt hatte.

Sie durchsuchte ihre Einkaufstasche - der Schein war nicht da. Also konnte sie ihn nur im Stiegenhaus verloren haben; denn die Trambahn hielt unmittelbar vor dem Haus. Sie ging nochmals die Stiege hinunter, suchte lange und genau - der Schein war nicht mehr zu finden. Das bedeutete, daß jemand im Haus diesen Zehnmarkschein gefunden haben mußte, gefunden und selbstverständlich an sich genommen, wie das von dieser „Zufallsauswahl unerfreulicher Menschen“ gar nicht anders zu erwarten war.

Aber die Leute sollten, bei Gott, nicht glauben, daß sie sich damit leichthin abfinden ließ. Also schrieb sie einen Zettel und befestigte ihn neben dem Eingang an der Haustür. Da stand nun schwarz auf weiß: „Zehnmarkschein im Stiegenhaus verloren, Melanie Marbach, Revi­dentenswitwe, dritter Stock links.“

Sie ersparte sich die üblichen Worte wie „Der ehrliche Finder wird gebeten ...“, Worte, die bei diesen Leuten gewiß unangebracht waren. Immerhin aber konnte der, den es betraf, sehen, was sie mit diesem Zettel sagen wollte! Ich weiß genau, was geschehen ist! Ich kenne euch! Mich, Melanie Marbach, könnt ihr nicht hintergehen.           

Die Kartoffeln standen noch auf dem Herd, als auf der Stiege Gebell zu hören war, und schon klingelte es. „Also der Oberst“, dachte sie. „Hat ihn doch das Gewissen gedrückt.“ Da stand er schon, die Dogge neben sich, in seiner ganzen Größe im Türrahmen und salutierte militärisch. „Gefunden!“ rief er schmetternd und hielt ihr den Zehnmarkschein entgegen. Sie nahm den Schein an sich, bedankte sich, etwas verwirrt, tat noch ein Übriges, streichelte die Dogge und sagte: „Ein schönes Tier!“

Der Oberst, sichtlich erfreut, salutierte wieder und empfahl sich. Doch auf der Stiege drehte er sich nochmals um. „Eine Frage, Gnädigste: Spielen Sie Bridge?“ Daraufhin konnte sie ehrlicherweise nur mit „Ja“ antworten, fügte aber vorsichtshalber „gelegentlich“ hinzu, obwohl sie eigentlich hätte sagen müssen: „Leidenschaftlich gern!“ Der Oberst ging. „Doch ein anständiger Mensch in diesem Haus“, dachte sie, „und eigentlich gar nicht so unsympathisch!“

 

Als sie bei ihrer bescheidenen Kartoffelsuppe saß, ging abermals die Klingel. Draußen stand der kleine, rothaarige Vinzenz Pröbstl. Gewohnt, an jeder Tür, die sich ihm öffnete, soviel Worte zu machen als darin Platz hatten, begann er sogleich: „Verehrteste Dame! Ich habe Ihre Ankündigung im Hausflur gelesen. Sie haben zehn Mark verloren. Sehr bedauerlich! Zehn Mark, das ist wenig und doch wieder viel, je nachdem, wie man es nimmt. Im Stiegenhaus, schreiben Sie. Ihr Glück, Verehrteste! Denn was auf der Straße verlorengeht, ist verloren für immer. Im Stiegenhaus aber kommt nichts unter fremde Leute, da bleibt es sozusagen ,unter uns'.

Um es kurz zu machen: Ich parke meinen Wagen im Hof, trete beim Hintereingang in das Haus und gehe über die Stiege. Was liegt da? Ein blaues Stück Papier. Ich kann es nicht genau erkennen; denn ich bin leider etwas kurzsichtig. Meine Frau sagt, ich sollte mir eine Brille anschaffen. Aber ein Vertreter mit Brille ist nur mehr ein halber Vertreter. Sie glauben gar nicht, Verehrteste, was in unserem Beruf das äußere Erscheinungsbild bedeutet, der ,Aspekt' sozusagen! Die Kunden wollen dem Mann, der an ihre Tür kommt, nicht auf die funkelnde Brille, sondern in das offene Auge sehen können. Keine Brille also!

Doch wo war ich? Ach ja, bei dem blauen Papier, das auf der Stiege lag. Um es kurz zu machen: Ich hebe es auf. Oh, was sehe ich? einen richtigen Zehnmarkschein! Wenig, aber viel für den, der ihn findet. ,Hast du zehn Mark verloren, Katinka?' fragte ich meine Frau. Ich nenne sie Katinka, obwohl sie aus Tegernsee stammt und eigentlich Katharina heißt. Aber ich habe sie als Wehrmachtshelferin in Woronesch kennengelernt. Dortzulande sagt man Katinka. Ein hübscher Name, nicht wahr?

,Nein', sagte sie, ,aber die stille Frau im dritten Stock, du weißt schon, wen ich meine, hat unten einen Zettel angeschlagen!' Um es kurz zu machen, Verehrteste, ich gehe nochmals die Stiege hinab, um den Anschlag zu lesen, von dem Katinka gesprochen hat. Richtig! Da steht es zu lesen, schwarz auf weiß. Ich nehme also den Zehnmarkschein und ...“

Vergebens suchte sie seinen Redefluß zu hemmen. Erst als sie den Zehnmarkschein, den der Oberst zurückgebracht hatte, vor seinen Augen hin und her schwenkte, stoppte er seine Rede.

„Ah, schon zu spät!“ meinte er verlegen, errötete wie ein Schuljunge, der bei einem mißlungenen Streich ertappt worden ist, und zeigte lächelnd seine goldenen Zähne - der „Aspekt“ dachte sie! - „Schon zu spät! Wer ist mir da zuvorgekommen? Der Oberst Lagarde vermutlich. Kann ich verstehen! Schließlich ist er Oberst, und ich war bloß Gefreiter! Somit, um es militärisch zu sagen: Ich bitte, wegtreten zu dürfen, Verehrteste!“

Offen gestanden, sie war gerührt und wollte dem guten Mann noch etwas Angenehmes sagen.

„Was vertreten Sie eigentlich, Herr Pröbstl?“ Eine überflüssige Frage! Sie sah doch, was er immer in seinem Wagen verstaute, Haushaltgeräte, Staubsauger, Küchenmaschinen und dergleichen. Doch Vinzenz Pröbstl schluckte heftig auf und sagte schnell: „Rasierapparate!“ um ja nicht in Verdacht zu kommen, diese private Vorsprache mit geschäftlichen Absichten zu vermengen. „Ein aufreibender Beruf!“

„Gewiß, gewiß! Aber wenn man dann wieder gemütlich daheim ist - übrigens Katinka läßt Sie bestens grüßen, Verehrteste, und ich soll Sie fragen, ob Sie nicht einmal zu uns kommen möchten, unsere Diapositive anzusehen, Portofino, Rapallo, Pisa, Florenz. Hin und wieder verreise ich nämlich auch privat, mit Katinka meine ich.“

 

Am Abend dieses ereignisreichen 12. März erschienen noch Herr und Frau Scheibelberger an der Wohnungstür. Der Oberlehrer warf sich in die Brust, holte tief Atem und streckte gewohnheitsmäßig den Zeigefinger nach ihr aus. „Ich bitte Sie, Frau Revident, überzeugt zu sein, daß der Verlust, den Sie erlitten haben, uns überaus schmerzlich berührt. Wir haben uns daraufhin entschlossen, das ganze Stiegenhaus eingehend zu durchsuchen, leider ohne Erfolg. Doch am Ende sagte meine Frau: „Alois“, sagte sie, „vielleicht geht es Frau Revident schlecht. Frau Revident sieht immer so blaß aus, und nun hat Frau Revident außerdem noch zehn Mark verloren. Wie wäre es, Alois, wenn du der Frau Revident diese zehn Mark ...“.

„Das Geld ist doch schon gefunden, Herr Oberlehrer!“

„Oh, das bedaure ich sehr, Frau Revident, das heißt, ich will sagen, natürlich, Gott sei Dank, daß es schon gefunden worden ist. Aber könnte man das nicht feiern, Frau Revident oder, wenn ich mir die Freiheit nehmen darf, Frau Nachbarin. Ich darf Sie doch so nennen? Vielleicht haben wir Glück mit dem Fernsehen, falls Sie zu uns herüberkommen wollten, Frau Nachbarin, es tröstet manches Mal, das Fernsehen, zumindest, es lenkt ab, wenn man einen schmerzlichen Verlust erlitten hat.“

Um es, wie Herr Pröbstl, kurz zu machen: Die gesamte „Zufallsauswahl unangenehmer Menschen“ im Hause Plingaser Straße 15z a war an ihrem Mißgeschick beteiligt, das eigentlich gar keines war; denn als sie am nächsten Tage das Fahrscheinheft für die Trambahn hervorsuchte, entdeckte sie sogleich den Zehnmarkschein wieder, der neben dem Heft im Etui steckte.

Also mußte sie wohl oder übel einen Stock tiefer gehen, um dem Oberst das Geld zurückzugeben. Für alle Fälle nahm sie dabei auch ihre Bridgekarten mit; denn ist man gezwungen, zum erstemal mit fremden Menschen Bridge zu spielen, empfiehlt es sich, zur Sicherheit die eigenen Karten zu verwenden. (Karl Springenschmid).

 

 

Das Erkennen

Ein Wanderbursch, mit dem Stab in der Hand,

 kommt wieder heim aus dem fremden Land.

Sein Haar ist bestäubt, sein Antlitz verbrannt;

von wem wird der Bursch wohl zuerst erkannt?

So tritt er ins Städtchen durchs alte Tor,

am Schlagbaum lehnt just der Zöllner davor.

Der Zöllner, der war ihm ein lieber Freund,

oft hatte der Becher die beiden vereint.

Doch sieh, Freund Zollmann erkennt ihn nicht,

zu sehr hat die Sonn' ihm verbrannt das Gesicht.

Und weiter wandert nach kurzem Gruß

der Bursche und schüttelt den Staub vom Fuß.

Da schaut aus dem Fenster sein Schätzel fromm:

„Du blühende Jungfrau, viel schönen Willkomm!"

Doch sieh, auch das Mägdlein erkennt ihn nicht,

die Sonn' hat zu sehr ihm verbrannt das Gesicht.

Und weiter geht er die Straße entlang,

ein Tränlein ihm hängt an der braunen Wang'.

Da wankt von dem Kirchsteig sein Mütterchen her.

„Gott grüß Euch!“ so spricht er und sonst nichts mehr.

Doch sieh, das Mütterlein schluchzet voll Lust:

„Mein Sohn!“ und sinkt an des Burschen Brust.

Wie sehr auch die Sonne sein Antlitz verbrannt

das Mutteraug' hat ihn doch gleich erkannt.

Johann Nepomuk Vogl (1846)

 

 

Wo Liebe ist, da ist auch Gott

In einer Stadt wohnte ein Schuster, der hieß Martin Awdjeitsch. Er wohnte im Keller in einem einfenstrigen Stübchen. Das Fenster ging nach der Straße. Durch das Fenster konnte man sehen, wie die Leute vorübergingen. Obgleich nur die Füße zu sehen waren, erkannte Martin Awdjeitsch die Menschen an den Stiefeln.

Martin Awdjeitsch wohnte schon lange an derselben Stelle und kannte viele Menschen. Es gab wenige Stiefel im Stadtteil, die er nicht ein- oder zweimal in seinen Händen gehabt hätte. Die einen besohlte er, auf andere setzte er Riester, andere wurden gesteppt, noch andere vorgeschuht. Und oft sah er durchs Fenster seiner Hände Werk. Awdjeitsch hatte viel zu tun, weil er solide arbeitete, gutes Leder verwandte, nicht zu teuer war und sein Wort hielt. Konnte er zur rechten Zeit liefern, so nahm er den Auftrag an; konnte er das nicht, so täuschte er die Leute nicht, sondern sagte im voraus Bescheid. Und alle kannten Awdjeitsch, und er hatte reichlich zu tun.

Awdjeitsch war stets ein guter Mensch gewesen, als er aber älter wurde, begann er mehr an sein Seelenheil zu denken und sich Gott zuzuwenden. Als Martin noch beim Meister wohnte, war seine Frau gestorben. Seine Frau hatte ihm einen Knaben von drei Jahren hinterlassen. Kinder hatten sie weiter nicht. Die älteren waren alle früher gestorben. Martin wollte das Söhnchen zuerst zu seiner Schwester gehen, die auf dem Lande wohnte, dann tat es ihm leid - er dachte: es wird meinem Kapitoschka schwerfallen, bei fremden Leuten groß zu werden, ich lasse ihn bei mir.

Awdjeitsch ging von dem Meister fort und wohnte mit seinem Söhnchen zur Miete. Aber Gott gab Awdjeitsch in seinen Kindern kein Glück. Der Knabe war kaum herangewachsen und be­gann dem Vater zu helfen, so daß dieser schon seine Freude daran hatte, da befiel Kapitosch­ka eine Krankheit, der Knabe legte sich zu Bett, fieberte eine kleine Woche und starb. Martin begrub den Sohn und geriet in Verzweiflung. Und seine Verzweiflung war so heftig, daß er gegen Gott zu murren begann.

Ihn überkam ein solcher Trübsinn, daß er mehr als einmal Gott um den Tod bat und Gott vorwarf, daß er nicht ihn, den alten Mann, sondern den geliebten einzigen Sohn zu sich genommen hätte. Awdjeitsch ging auch nicht mehr zur Kirche. Einst kam vom Troizki-Kloster ein Landsmann, ein Greis, der schon im achten Jahre pilgerte, zu Awdjeitsch. Mit dem unterhielt sich Awdjeitsch und klagte ihm seinen Kummer: „Nicht mal zum Leben“, sagte er, „hat ein Christenmensch mehr Lust. Möchte sterben. Das ist das einzige, um was ich Gott bitte. Hab jetzt alle Hoffnung verloren.“

Der Landsmann sprach zu ihm: „Du redest nicht gut, Martin. Wir dürfen über Gottes Werke nicht urteilen. Nicht unser Verstand, sondern Gottes Hand! Gott hat bestimmt, daß dein Sohn sterben soll, du aber - leben. Also ist es besser so. Daß du verzweifelst, kommt daher, weil du zu deiner Freude leben willst.“

„Wozu soll ich sonst leben?“ fragte Martin. Und der Alte sagte: „Für Gott, Martin, muß man leben. Er gibt dir das Leben, für ihn muß man leben. Wenn du für ihn lebst, wirst du dich um nichts grämen, und alles wird dir leicht vorkommen.“ Martin schwieg einen Augenblick und sagte dann: „Aber wie kann man für Gott leben?“ Und der Alte sagte: „Wie man für Gott lebt, das hat Christus uns gezeigt. Kannst du lesen? Kauf dir das Evangelium und lies, da wirst du erfahren, wie man für Gott lebt. Da wird dir alles gezeigt.“

Und diese Worte fielen in Awdjeitschs Herz, und er ging am selben Tage hin und kaufte sich das Neue Testament in großem Druck und begann zu lesen. Awdjeitsch wollte nur an Feiertagen lesen, aber als er anfing zu lesen, wurde ihm so wohl ums Herz, daß er jeden Tag las. Bisweilen vertiefte er sich so ins Lesen, daß er sich von dem Buche gar nicht losreißen konnte, obwohl in der Lampe alles Petroleum verbrannt war. Und so las Awdjeitsch jeden Abend. Und je mehr er las, umso klarer wurde ihm, was Gott von ihm wollte und wie man für Gott leben müsse, und es ward ihm immer leichter und leichter ums Herz. Wenn er sich früher zum Schlafen niederlegte, stöhnte und jammerte er oft und dachte immer an Kapitoschka, jetzt aber sagte er nur: „Preis sei dir, preis sei dir, Herr! Dein Wille geschehe!“

Von der Zeit an veränderte sich Martins ganzes Leben. Früher kehrte er an Feiertagen bisweilen im Wirtshaus ein, um Tee zu trinken, und wies auch ein Schnäpschen nicht zurück. Er trank bisweilen mit Bekannten, und wenn er auch nicht betrunken war, so kam er doch ange­heitert aus dem Wirtshaus und redete dummes Zeug: er besprach seine Nebenmenschen und beurteilte sie hart. Jetzt hatte er alle diese Eigenschaften abgelegt. Sein Leben floß gleichmäßig und heiter dahin. Frühmorgens geht er an die Arbeit, schafft sein Tagewerk, nimmt die kleine Lampe vom Haken, stellt sie auf den Tisch, nimmt das Buch vom Bord, schlägt es auf und setzt sich zum Lesen nieder. Und je mehr er liest, um so mehr begreift er und umso klarer und heiterer wird es in ihm.

Martin hatte sich wieder einmal bis spät in die Nacht in sein Buch vertieft. Er las das Evangelium Lukas. Las das sechste Kapitel, und zwar die Verse: Und wer dich auf einen Backen schlägt, dem reiche auch den andern; und dem, der dir den Mantel nimmt, verweigere auch den Rock nicht. Gib jedem, der dich bittet; und wer das Deine nimmt, von dem fordere es nicht wieder. Und wie ihr wollt, das euch die Leute tun, so tut auch ihr ihnen.

Er las weiter die Verse, wo der Herr spricht: „Warum sprecht ihr zu mir: Herr, Herr! und tut nicht. was ich sage? Jeder, der zu mir kommt und meine Rede hört, und sie tut, wem dieser gleich ist, das will ich euch zeigen. Er ist gleich einem Manne, der ein Haus baute, der tief eingrub, und den Grund auf einen Felsen legte. Als nun eine Überschwemmung kam, stieß der Strom an jenes Haus und konnte es nicht bewegen; denn es war auf einen Felsen gegründet. Wer aber hört und nicht tut, der ist gleich einem Menschen, der sein Haus ohne Grund auf die Erde hinbaute; wider dieses Haus stieß der Strom, und es fiel sogleich; und der Fall desselben Hauses war groß.“

Awdjeitsch las diese Worte, und es wurde ihm fröhlich ums Herz. Er nahm die Brille ab, legte sie auf das Buch, stützte die Ellbogen auf den Tisch und dachte nach. Und er begann sein Leben mit diesen Worten zu vergleichen. Und dachte bei sich: „Wie steht es mit meinem Hause - ist es auf Fels oder Sand gebaut? Gut, wenn es auf Fels steht, es ist so leicht, wenn man allein ist, es scheint einem, als hätte man selber alles getan, was Gott befohlen; zerstreut man sich aber, so sündigt man wieder. Ich will mich stets zum Besten bemühen. Das ist sehr schön. Hilf mit, Herr!“

Mit diesem Gedanken wollte er sich hinlegen, aber es tat ihm leid, sich von dem Buche loszureißen, und er begann noch das siebente Kapitel zu lesen. Er las von dem Knechte des Haupt­manns, vom Sohn der Witwe, las die Antwort, die den Jüngern des Johannes erteilt wurde, und kam bis zu der Stelle, wo der reiche Pharisäer den Herrn bei sich zu Gaste bat; und las weiter, wie ein sündiges Weib seine Füße salbte und sie mit Tränen benetzte und wie er sie rechtfertigte; und er kam bis zum vierundzwanzigsten Verse und las:

„Dann wandte er sich zu dem Weibe und sprach zu Simon: Siehst du dieses Weib? Ich kam in dein Haus, und du gabst mir kein Wasser für meine Füße; diese aber benetzte meine Füße mit Tränen und trocknete sie mit ihren Haaren. Du gabst mir keinen Kuß; sie aber hörte nicht auf, seit sie hereingekommen ist, meine Füße zu küssen. Du salbtest mein Haupt nicht mit Öl; diese aber salbte mit Salbe meine Füße.“

Er las diese Worte und dachte: „Der hat kein Wasser für die Füße gegeben, hat keinen Kuß gegeben, das Haupt nicht mit Öl gesalbt.“ Wieder nahm Awdjeitsch die Brille ab, legte sie aufs Buch und dachte wieder nach: Der Pharisäer war offenbar so einer wie ich. Auch ich habe nur an mich gedacht. Daß ich meinen Tee trinken kann, daß ich im Warmen sitze und es sauber habe; an einen Gast aber denke ich nicht. Wer ist aber der Gast? Der Herr selbst. Kehrte er bei mir ein, würde ich wohl so handeln?“

Awdjeitsch stützte den Kopf auf beide Hände und bemerkte nicht, wie er einschlief. „Martin!“ klang es plötzlich wie ein Hauch an sein Ohr. Martin fuhr aus dem Schlummer auf: „Wer ist das?“ Er wandte sich um, blickte nach der Tür - da war niemand. Dann schlummerte er wieder ein.

Plötzlich hörte er deutlich: „„Martin! Aber Martin! Sieh morgen auf die Straße, ich werde kommen.“ Martin erwachte, stand vom Stuhl auf und fing an, sich die Augen zu reiben. Er wußte selbst nicht - hatte er die Worte im Traume oder im Wachen gehört. Dann drehte er die Lampe aus und legte sich schlafen.

Am anderen Morgen vor Tagesanbruch erhob sich Awdjeitsch, betete zu Gott, heizte den Ofen an, setzte Kohlsuppe und Buchweizengrütze ans Feuer, brachte die Teemaschine in Ordnung, band seine Schürze um und setzte sich zur Arbeit ans Fenster. Als Awdjeitsch so dasitzt und arbeitet, fällt ihm plötzlich ein, was gestern geschehen ist, bald glaubt er, er hätte geträumt, bald, er hätte wirklich die Stimme gehört. Ach was, denkt er, das ist schon vorgekommen.

Martin sitzt am Fenster und blickt mehr durchs Fenster als er arbeitet, und wenn jemand in Stiefeln vorüberkommt, die er nicht kennt, biegt er sich vor, um nicht nur die Füße, sondern auch das Gesicht zu sehen. Da ging der Hausknecht in Filzstiefeln vorüber, dann der Wasserträger, dann erschien der alte Soldat, der unter Nikolaus gedient, in alten geflickten Filzstiefeln, mit einer Schaufel in der Hand, vor dem Fenster.

An den Filzstiefeln erkannte Awd­jeitsch ihn. Der Alte heißt Stjepanytsch und wohnte bei einem Kaufmann in der Nachbarschaft, der ihm aus Barmherzigkeit Obdach gewährte. Seine Arbeit bestand darin, daß er dem Hausknecht half. Stjepanytsch begann vor Awdjeitschs Fenster den Schnee wegzuschaffen.

Awdjeitsch sah ihn an und machte sich wieder an seine Arbeit. „Bin vor Alter närrisch geworden“, lachte Awdjeitsch über sich selbst. „Stjepanytsch schafft den Schnee weg, und ich denke: Christus kommt zu mir. Bist wirklich närrisch geworden, alter Kerl!“ Höchstens ein Dutzend Stiche hat Awdjeitsch gemacht, da drängt es ihn wieder, durchs Fenster zu sehen. Er sah wieder durchs Fenster und schaut: Stjepanytsch hatte die Schaufel gegen die Wand gelehnt und wärmte sich oder ruhte aus.

Ein alter, gebrochener Mann! Hatte offenbar nicht einmal Kraft, Schnee zu schaufeln. Awd­jeitsch dachte: „Soll ich ihm nicht Tee zu trinken geben?“ Der Samowar kocht so schon über. Awdjeitsch steckte die Ahle ein, stand auf, stellte den Samowar auf den Tisch, goß Tee ein und klopfte an die Fensterscheibe. Stjepanytsch wandte sich um und trat ans Fenster. Awd­jeitsch winkte ihm und ging die Tür öffnen.

„Komm herein, wärm dich etwas“, sagte er - „bist wohl durchgefroren, was? Komm, setz dich, und trink Tee.“ Awdjeitsch goß zwei Glas ein, schob eins dem Gast hin, goß sein Glas in die Untertasse und begann zu pusten. Stjepanytsch trank sein Glas aus, stellte es mit dem Boden nach oben hin, legte das Stückchen Zucker, von dem er abgebissen, darauf und bedankte sich. Man sah aber deutlich, daß er gern noch mehr gehabt hätte. „Trink noch eins“, sagte Awdjeitsch und goß sich und dem Gaste noch ein Glas ein.

Awdjeitsch trinkt seinen Tee und blickt dabei heimlich auf die Straße. „Du erwartest wohl jemand?" fragte der Gast. „Ob ich jemand erwarte? Ich mag nicht einmal sagen, auf wen ich warte. Ich warte und wart auch nicht, mir ist da ein Wort ins Herz gedrungen. Ist es Einbildung oder nicht, ich weiß selbst nicht. Siehst du, Bruder; ich hab gestern das Evangelium vom Väterchen Christus gelesen, wie er gelitten hat, wie er auf Erden wandelte. Du hast wohl davon gehört?“

 „Gehört wohl“, erwiderte Stjepanytsch, „aber unsereins ist ungebildet, wir können nicht lesen.“ - „Nun, ich habe gerade gelesen, wie er auf Erden wandelte. Ich lese da, weißt du, wie er zum Pharisäer kam und der ihm keinen richtigen Empfang bereitet. Als ich gestern so las, da denke ich so bei mir: wie wenig feierlich hat der unseren Herrn Christus empfangen! Passierte das zum Beispiel mir, oder wem sonst, ich glaube, ich wüßte gar nicht, was ich alles täte, um ihn zu empfangen. Jener aber hat ihm gar keinen Empfang bereitet! So dachte ich und schlief ein. Und wie ich so schlafe, höre ich mich beim Namen gerufen. Ich erhebe mich und höre eine Stimme, als wenn jemand flüstert: ‚Wart nur, ich komme morgen.‘ Und das war zweimal. Willst du wohl glauben: mir hat sich das in den Kopf gesetzt, ich mache mir selbst darüber Vorwürfe, aber ich kann nicht anders, ich warte immer auf den Herrn!“

Stjepanytsch schüttelte den Kopf, sagte nichts, trank aber das Glas leer und stürzte es um. Awdjeitsch stellte es aber wieder aufrecht hin und goß noch einmal ein. „Trink zur Gesundheit! Ich glaube doch, als der Herr noch auf Erden wandelte, hat er keinen verachtet und ist meistens mit einfachen Leuten umgegangen. Stets wandelte er unter dem Volke einher und wählte seine Jünger meistens unter Leuten, wie wir sündigen, unter Arbeitern. ‚Wer sich selbst erhöht', sagt er, ‚der soll erniedrigt werden, wer sich aber erniedrigt, der soll erhöht werden. Ihr nennt mich Herr; und ich will euch die Füße waschen. Wer der erste sein will', der soll allein ein Diener sein‘. Deswegen sagt er: ,Gesegnet sind die Armen, die Demütigen, die Sanftmütigen, die reinen Herzens sind'."

Stjepanytsch vergaß seinen Tee. Er war ein alter, weichherziger Mann, der leicht weinte; er sitzt, hört zu, und über sein Gesicht fließen Tränen. „Nun, trink doch“, sagte Awdjeitsch. Aber Stjepanytsch bekreuzigte sich, dankte und stand auf. „Ich danke dir, Martin Aw­djeitsch“, sagt er, .,du hast mich bewirtet und Leib und Seele erquickt.“ „Geh mit Gott und sprich wieder einmal vor; bist mir stets willkommen“, sagte Awdjeitsch.

Stjepanytsch ging fort, Martin aber goß sich den Rest Tee ein, trank aus, räumte das Geschirr ab und setzte sich wieder zum Fenster an die Arbeit, einen Absatz zu steppen. Er steppt und blickt fortwährend durchs Fenster - er wartet auf Christus. denkt immer an ihn und an seine Werke. Und durch seine Gedanken gehen allerhand Reden des Heilands.

Gingen zwei Soldaten vorüber, einer in Dienststiefeln, der andere in eigenem Schuhwerk, dann kam der eigene Hausherr von nebenan in sauberen Überschuhen und ein Bäcker mit einem Korbe. Alle gingen vorbei, und dann erschien vor dem Fenster noch ein Weib in wollenen Strümpfen und Bauernschuhen. Sie ging am Fenster vorüber und blieb an der Mauer zwischen den Fenstern stehen. Awdjeitsch guckte von unten auf durchs Fenster nach ihr hin, sieht das fremde Weib in schlechter Kleidung mit einem Kinde; sie hat den Rücken gegen den Wind gekehrt und hüllt das Kind ein, hat aber nichts rechtes zum Einhüllen. Ihr Kleid ist für den Sommer gemacht und schlecht. Und Awdjeitsch hört, wie das Kind vor dem Fenster schreit; die Frau will das Kind beruhigen, bringt es aber nicht fertig. Da stand Awdjeitsch auf, trat durch die Tür auf die Treppe und rief: „Liebe Frau, hört doch einmal!“

Die Frau hörte und wandte sich um. „Was stehst du da so mit dem Kinde in der Kälte? Komm ins Zimmer, in der Wärme kommst du besser mit ihm zurecht. Hierher, hier!“ Das Weib wunderte sich. Sie blickt hin und sieht den Alten in der Schürze, mit der Brille auf der Nase, der sie zu sich ruft. Sie folgte ihm.

Sie stiegen die Treppe hinunter, traten in die Stube, und der Alte führte das Weib zum Bett.

„Da setz dich hin, gute Frau“, sagte er, „dichter an den Ofen, wärm dich, und dann nährst du das Kind.“ „Ich habe keine Milch in der Brust, habe seit heute morgen nichts gegessen“, sagt das Weib, legte aber das Kind dennoch an die Brust.

Awdjeitsch schüttelte den Kopf, trat zum Tisch, holte Brot und eine Tasse, öffnete die Ofentür und goß Kohlsuppe in die Tasse. Dann nahm er auch den Topf mit Buchweizengrütze heraus, aber sie war noch nicht ganz gar geworden, so goß er nur Kohlsuppe ein und stellte sie auf den Tisch, legte Brot hin, nahm das Handtuch vom Haken und breitete es auf den Tisch aus.

„Setz dich“, sagt er - „iß, liebe Frau, ich setze mich mit dem Kinde hin. Hab selbst Kinder gehabt - versteh mit ihnen umzugehen.“

Die Frau bekreuzigte sich, setzte sich an den Tisch und begann zu essen. Awdjeitsch aber setzte sich mit dem Kinde aufs Bett. Er schmatzte fortwährend mit den Lippen, aber das ging schlecht, er hatte keine Zähne. Das Kind schrie fortwährend. Da wollte Awdjeitsch es mit dem Finger zur Ruhe bringen, machte mit ihm „die Maus kommt“, mit dem Finger gerade auf den Mund zu und zog ihn dann zurück. In den Mund steckte er den Finger nicht, weil er schwarz, mit Pech besudelt war. Und das Kind sah den Finger an und wurde still, und dann begann es zu lachen. Und Awdjeitsch freute sich darüber. Das Weib aber ißt und erzählt dabei, wer sie ist und wohin sie wollte.

„Ich bin eine Soldatenfrau“ sagte sie. „Meinen Mann hat man vor acht Monaten weit fortgejagt, und ich habe nichts wieder von ihm gehört. War Köchin und habe geboren. Mit dem Kinde wollte man mich nicht länger behalten. Jetzt plage ich mich schon den dritten Monat ohne Stelle. Hab alles verzehrt. Wollte als Amme gehen - aber man nimmt mich nicht - bin zu mager, sagen sie. Da ging ich zu einer Kaufmannsfrau, bei der wohnt eine Bekannte, und da versprach man, mich zu nehmen. Ich glaubte es ganz sicher, aber die Frau sagte mir, ich sollte nächste Woche wiederkommen. Und sie wohnt so weit. Bin ganz erschöpft und hab' das Kind zu sehr gequält. Gott sei Dank, die Wirtin behält uns um Christi willen in der Wohnung.“

 

Awdjeitsch seufzte und sagte: „Hast du denn keine warme Kleidung?“ - „Lieber Freund, wie sollte ich wohl warme Kleidung haben! Gestern habe ich das letzte Tuch für zwanzig Kopeken verpfändet.“ Dann trat das Weib zum Bett, nahm das Kind auf, Awdjeitsch aber stand auf, trat zur Wand, reckte sich auf und brachte ein altes Unterkleid. „Da nimm“, sagte er - „ist zwar ein schlechtes Stück, aber immer noch gut, um sich einzuwickeln.“

Das Weib sah das Unterkleid an, sah den Alten an, nahm das Kleid und fing an zu weinen. Awdjeitsch wandte sich ab; kroch dann unters Bett und zog einen Kasten heraus, wühlte darin herum und setzte sich wieder der Frau gegenüber. Und das Weib sprach: „Dich soll der Herr segnen, Väterchen. Er hat mich offenbar vor dein Fensterchen geschickt. Sonst wär mir mein Kind erfroren. Als ich hinauskam, war es warmes Wetter, jetzt ist aber solche Kälte gekommen. Er, der Herr, hat dich geheißen, durchs Fenster zu blicken und dich meiner im Elend anzunehmen.“

Awdjeitsch lächelte und sagte: „Wirklich, er hat mich geheißen. Ich sehe nicht umsonst zum Fenster hinaus, liebe Frau.“ Und Martin erzählte der Soldatenfrau seinen Traum, wie er eine Stimme gehört, die versprochen hat, daß heute der Herr zu ihm kommen würde.

„Ist alles möglich“, sagte das Weib, stand auf, warf das Kleid um, wickelte das Kind darin ein, verneigte sich und bedankte sich nochmals bei Awdjeitsch. „Nimm das um Christi willen“, sagte Awdjeitsch und gab ihr ein Zwanzigkopekenstück, „kannst das Tuch dafür einlösen.“ Das Weib bekreuzigte sich, Awdjeitsch ebenfalls und begleitete dann das Weib hinaus.

Sie ging fort.

Awdjeitsch aß die Suppe auf, räumte ab und setzte sich wieder an die Arbeit. Während er so arbeitet, denkt er immer ans Fenster - wie es dunkel wird, blickt er hin. Da gingen Bekannte und Fremde vorüber, und es war nichts Besonderes.

Jetzt sieht Awdjeitsch, wie vor seinem Fenster ein altes Hökerweib stehenbleibt, sie trägt einen Korb aus Baumrinde mit Äpfeln. Sind nur noch wenige übrig, offenbar hat sie fast alle verkauft; und auf der Schulter hat sie einen Sack mit Spänen. Wahrscheinlich hat sie irgendwo auf einem Bau gesammelt und geht jetzt nach Hause. Man sieht, wie der Sack ihr die Schulter niederdrückt; sie will ihn auf die andere Schulter legen, setzt ihn auf das Pflaster, stellt den Korb mit Äpfeln auf einen Sockel und beginnt die Späne im Sack zusammenzu­schütteln.

Und während sie den Sack durchschüttelt, kommt, hast du nicht gesehen! ein Junge mit zerrissener Mütze angerannt, nimmt einen Apfel aus dem Korb und will davonlaufen. Aber die Alte bemerkt es, dreht sich um und hält das Jungchen am Ärmel fest. Der Junge fängt an zu schlagen und will sich losreißen, aber die Alte packt ihn mit beiden Händen, schlägt ihm die Mütze vom Kopf und reißt ihn an den Haaren. Der Junge schreit, die Alte schimpft. Awdjeitsch hatte nicht einmal Zeit, die Ahle einzustechen, er warf sie auf den Fußboden, sprang zur Tür, stolperte sogar auf der Treppe und ließ die Brille fallen.

Wie Aw­djeitsch auf die Straße gelaufen kommt, packt die Alte den Jungen gerade am Schopf und schilt, sie will ihn zur Polizei bringen; der Kleine verteidigt sich und lügt: „Ich habe ihn nicht genommen“, sagt er, „warum schlägst du mich, laß mich los!“ Awdjeitsch brachte sie auseinander, nahm den Knaben am Arm und sagte: „Gib ihn frei, Mütterchen, verzeih ihm um Christi willen!“ „Ich werd's ihm so geben, daß er ein Jahr dran denken soll! Ich bring den Spitzbuben zur Polizei.“

Awdjeitsch begann die Alte zu bitten: „Mütterchen, laß ihn laufen“, sagt er, „er wird es nicht wieder tun. Laß ihn um Christi willen laufen. Die Alte ließ ihn los, der Knabe wollte weglaufen, Awdjeitsch hielt ihn aber fest. „Bitt die Frau um Verzeihung“, sagt er, „und tu das nicht wieder; ich habe gesehen, wie du ihn genommen hast.“

Der Junge fing an zu weinen und bat um Verzeihung. „Siehst du wohl! Und jetzt nimm den Apfel, er ist dein.“ Awdjeitsch nahm ihn aus dem Korb und gab ihn dem Jungen. „Ich bezahl ihn, Mütterchen“, sagte er zur Alten. „So verdirbst du die Taugenichtse“, sagte die Alte. „man muß ihn so belohnen, daß er eine Woche dran denkt.“

„Ach, Mütterchen, Mütterchen“, sagt Awdjeitsch, „so denken wir wohl, aber Gott denkt anders. Wenn man ihn wegen des Apfels auspeitschen wollte, was müßte dann wohl mit uns wegen unserer Sünden geschehen?“ Die Alte schwieg.

Und Awdjeitsch erzählte ihr das Gleichnis, wie der Herr dem Knecht seine ganze Schuld erließ, wie der Knecht aber hinging und seinen Mitknecht zu würgen begann. Die Alte hörte zu, und der Knabe stand dabei und hörte auch zu.

„Gott hat befohlen, Vergebung zu üben“, sagte Awdjeitsch, „sonst wird auch uns nicht vergeben werden. Wir müssen allen vergeben, den Unvernünftigen noch mehr.“ Die Alte schüttelte den Kopf und seufzte: „Ja, ja, so ist es“, sagte sie, „aber sie sind wirklich zu ausgelassen.“

Und die Alte erzählte, wo und wie sie bei ihrer Tochter wohnte und wieviel Enkel sie hätte. „Meine Kraft langt zwar nicht mehr weit“, sagte sie, „aber ich quäle mich wenigstens. Die Enkel tun mir leid, und es sind auch gute Kinder; niemand ist so gut zu mir wie sie. Aksjutka geht zu niemandem als zu mir. ‚Großmutter, liebe Großmutter, Herzensgroßmutter!' ...“Und die Alte wurde ganz weich.

„Ja, Kinder sind Kinder. Na denn, in Gott's Namen“, sagte die Alte, auf den Jungen deutend.

Eben wollte sie den Sack auf die Schulter heben, da sprang der Junge herzu und sagte: „Laß mich tragen, Großmütterchen; hab denselben Weg.“ Die Alte nickte und lud dem Jungen den Sack auf.

Und dann gingen sie nebeneinander die Straße entlang, und die Alte hatte vergessen, das Geld für den Apfel von Awdjeitsch zu fordern. Awdjeitsch stand da, betrachtete sie lange und hörte, wie sie im Gehen immer miteinander sprachen, und kehrte nach Hause zurück. Auf der Treppe fand er die Brille, sie war nicht zerbrochen, hob die Ahle auf und setzte sich wieder an die Arbeit.

Als er ein wenig gearbeitet hatte, konnte er schon nicht mehr einfädeln und sieht, wie der Laternenanzünder vorbeigeht und die Laternen ansteckt. Muß Licht machen, dachte er, machte die Lampe zurecht, hängte sie auf und begann wieder zu arbeiten. Einen Stiefel machte er ganz fertig; er betrachtete ihn von allen Seiten, er war gut. Nun legte er sein Werkzeug beiseite, fegte die Abfälle zusammen, sammelte Borsten, Spitzen und Pfriemen, nahm die Lampe, stellte sie auf den Tisch und langte das Evangelium vom Bord.

Er wollte das Buch an der Stelle aufschlagen, wo er gestern ein Stück Saffianleder als Lesezeichen eingelegt hatte, das Buch öffnete sich aber an einer anderen Stelle. Und als Aw­djeitsch beim Aufschlagen war, fiel ihm der gestrige Traum ein. Und als er gerade daran dachte, hörte er plötzlich ein Geräusch, als wenn sich jemand hinter ihm rührte und ginge. Awdjeitsch drehte sich um und sah: da stehen wirklich Leute in der dunklen Ecke - stehen Leute da; er kann aber nicht erkennen, wer sie sind. Und eine Stimme flüstert ihm ins Ohr:

„Martin! aber Martin! hast du mich nicht erkannt?“ - „Wen“, sagte Awdjeitsch. „Mich“, sagte die Stimme. „Ich bin es ja.“

Und aus der dunklen Ecke trat Stjepanytsch, lächelte und verging wie eine Wolke ... „Und das bin ich“, sagte eine Stimme - und aus der dunklen Ecke trat ein Weib mit einem Kinde, und das Weib lachte und das Kind lächelte, und sie verschwanden ebenfalls. „Und das bin ich“, sagte eine Stimme. Und die Alte und der Junge traten aus der dunklen Ecke hervor, und die Frau lächelte, und der Junge lachte, und auch sie verschwanden.

Und Awdjeitsch wurde fröhlich ums Herz. Er bekreuzigte sich, setzte die Brille auf und las im Evangelium an der Stelle, wo es aufgeschlagen war. Und oben auf der Seite las er:

Denn Ich war hungrig, und ihr habt Mich gespeist;

Ich war durstig, und ihr habt Mich getränkt;

Ich war ein Fremdling, und ihr habt Mich beherbergt ...

Und unten auf der Seite las er noch:

Was ihr einem dieser Meiner geringsten Brüder getan habt,

das habt ihr Mir getan (Mt 25).

Und Awdjeitsch begriff, daß der Traum ihn nicht betrogen, daß eben an diesem Tage sein Heiland zu ihm gekommen war, und daß gerade er ihn empfangen hatte (Leo Tolstoi).

 

Zwei Männer

[Vergleich der Noahgeschichte mit zwei Männern in Argentinien, die vom Hochwasser des Parana bedroht werden]

Als der Wolkenbruch, den sich der argentinische Himmel damals im Februar leistete, ein Ende gefunden hatte, stand das ganze Land unter Wasser. Und unter Wasser standen die Hoffnungen des Pflanzers von Santa Sabina. Wo ein saftgrünes Vermögen in Gestalt von endlosen Teefeldern mit mannshohen Yerbabüschen gestanden hatte, dehnte sich morgens ein endloses Meer. Der Farmer war vernichtet, das wußte er. Er saß auf einer Maiskiste neben seinem Haus und zählte die fetten Blasen, die an seine Schuhe trieben und dort zerplatzten. Das Maisfeld glich einem See. Der Rancho des Peons war darin verschwunden. Sein Schilfdach trieb im Strom davon, eine nickende Straußenleiche vor sich herschiebend.

Der Peon hatte sich zu seinem Herrn geflüchtet und saß neben ihm. Er war ein Indio, der mit breitem, eisernem Gesicht ins Leere starrte. Seine Frau war ertrunken, als sie sich losriß, um ihre Hände zur Madonna zu erheben. Der Peon hatte drei Blasen gezählt. Ihre Hand hatte die letzte Blase zerschlagen.

Der Farmer hatte seine Frau in der Stadt. Sie würde vergeblich auf seinen Schritt vor der Tür warten. Denn der Farmer gab sich noch eine Nacht. Es ist unter Männern Brauch, daß man sich in gewissen Lagen die letzte Zigarette teilt. Der Farmer, im Begriff nach des Mannes Art zu handeln, wurde von seinem Peon unterbrochen. „Herr!“ rief der Indio, „der Parana! Der Strom kommt ...!“

Er hatte recht. Man hörte in der Ferne ein furchtbares Donnern. Der Parana, angeschwollen von Wasser und Wind, brach in die Teeprovinzen ein. Parana, das heißt der größte Strom Argentiniens. Dieses Donnern war das Todesurteil für die Männer von Santa Sabina. Sie verstanden sich auf diese Sprache, die Männer. Sie hatten tausendmal dem Tod ins Auge gesehen. Sie hatten das Weiße im Auge des Pumas gesehen und der Korallenschlange ins kaltstrahlende Gesicht. Sie hatten dem Jaguar gegenübergestanden und der großen Kobra, die sich blähte. Sie hatten alle diese Begegnungen für sich entschieden, denn ihr Auge war kalt, und gelassen ihre Hand.

Jetzt aber halfen keine Patronen und kein scharfes Auge. Dieser Feind hier, das Wasser, war bösartig wie hundert Schlangen, die heranzischten, und todesdurstig wie der größte Puma auf dem Ast. Man konnte das Wasser schlagen, es wuchs. Man konnte hineinschießen, es griff an. Es biß nicht, es stach nicht, das Wasser, es suchte sich nur eine Stelle am Mann, seinen Mund, um ihn anzufüllen, bis Blasen aus der Lunge quollen. Das Wasser war gelb und lautlos. Und man sah vor Regen den Himmel nicht.

Auf einer kleinen Insel, halb unsichtbar in der triefenden Finsternis, saß der Farmer mit seinem Peon vor seinem Haus. Dann kam der große Parana. Er kam nicht mit Pauken und Posaunen. Nein, man merkte ihn gar nicht.

Aber plötzlich stand der Schuh des Farmers im Wasser. Er zog ihn zurück. Aber nach einer Weile stand der Schuh wieder im Wasser, weiß der Teufel ... Und wenn man die Maiskisten zurücksetzte, so mußte man sie bald noch ein wenig zurücksetzen, denn kein Mann sitzt gern im Wasser. Das war alles, aber das war der Parana.

Gegen Abend fiel das Hühnerhaus um. Man hörte das halberstickte Kreischen der Vögel, dann war es wieder still. Später zischte es plötzlich im Wohnhaus auf, denn das Wasser war in den Herd gedrungen.

Als es dunkel wurde, standen der Farmer und Peon bereits bis zum Bauch im Wasser. Sie kletterten auf das Schilfdach. Dort auf dem Gipfel saßen sie schweigend, dunkle Schatten in der dunkelsten aller Nächte, indes Töpfe und Kästen aus den Häusern hinausschwammen. Ein Stuhl stieß unten das Glasfenster in Scherben. Das Wasser rauschte. Die Blasen platzten. Ein totes Huhn schwamm im Kreise vor der Haustür. Als das Wasser das Dach erreicht hatte, stieß es die Hausmauern nachlässig um. Das Dach stürzte von den gebrochenen Pfosten, schaukelte und krachte, dann drehte es sich um sich selbst und trieb in die rauschende Finsternis hinaus.

Das Dach ging einen langen Weg. Es fuhr kreisend zu Tal. Es trieb am Rande der großen Urwälder vorbei. Es segelte durch eine Herde von Rindern, die mit himmelwärts gestreckten Beinen totenstill auf dem wirbelnden Wasser trieben. Glotzäugige Fische schossen vor dem Schatten des Daches davon. Schwarze Aasgeier trieben, traubenweise an ein Pferd gekrallt, den Strom hinab. Sie blickten mordlustigen Auges herüber ...Blüten, Möbel und Leichen vereinigten sich zu einem Zug des Todes, der talwärts fuhr, einem undurchsichtigen Ende entgegen.

Gegen Morgen richtete sich der Farmer auf und befahl seinem Peon, nicht einzuschlafen. Der Indio verwunderte sich über die harte Stimme seines Herrn. Er wäre bedenkenlos dem Farmer um die Erde gefolgt. Er war Indio und wußte, was ein Mann ist. Aber er wußte auch, daß ein Mann ein schweres Gewicht hat. Wenn nur ein Mann auf dem Dach sitzt, so hält es natürlich länger, nicht wahr, als wenn es unter dem schweren Gewicht zweier Männer auseinanderbricht und versinkt. Und dann gute Nacht ...

Er glaubte nicht, daß der Farmer gutwillig das Dach verlassen würde, aber man konnte ihn hinunterkippen, denn es ging hier um Leben und Tod. Das dachte der Indio, und er rückte näher. Sein Gesicht war steinern, es troff von Regen. Das Dach würde auf keinen Fall mehr bis zum Morgen schwimmen. Jetzt schon brachen einzelne Bündel ab und schwammen nebenher. Die Männer mitten auf dem furchtbaren Strom wußten nicht, wo sie waren. Dichter Nebel fuhr mit ihnen. Ringsum das Wasser schien stillzustehen. Fuhren sie im Kreis? Sie wußten es nicht. Sie sahen sich an.

Da folgte der Farmer dem Brauch aller Männer, zog seine letzte Zigarette, brach sie in zwei Teile und bot dem Indio eines an. Sie rissen das Papier ab und kauten den Tabak, da sie kein Feuer hatten. Er ist ein guter Kamerad, dachte der Peon. Es hat keinen Zweck. Es soll alles seinen Weg gehen. Als er den würzigen Geschmack des Tabaks fühlte, wurde aus der Feindschaft langsam ein Gefühl der Treue.

Was willst du? Der Peon hatte seine Frau verloren und sein Kind. Sie hatte die letzte Blase ihres Atems mit ihrer Hand zerschlagen. Er hatte nichts mehr, was ihn zu leben verlockte. Das Schilfdach sank immer tiefer. Wenn er selbst ins Wasser sprang, hielt das Dach vielleicht noch und trug seinen Herrn bis zum Morgen. Der Dienst ist aus, adios, Senor! Der Peon kletterte über den Giebel bis an den Rand des Daches, als er plötzlich im dunklen Wasser Kal­mane rauschen sah, Jaquaures, die ihn aufmerksam anstarrten. Zum erstemal verzog der Indio sein Gesicht, dann hielt er den Atem an und sprang. Aber er wurde im selben Moment von seinem Herrn gehalten, der ihn wieder aus dem Wasser zog und seinen Peon zornglühend anschrie. Kreideweiß, mit rotgeränderten Augen und triefenden Haaren, beugte sich der Farmer über ihn, nannte ihn den Vater allen Unsinns und rüttelte ihn. Dann befahl er ihm, seinen Platz einzunehmen und den Mut nicht zu verlieren, verdammt noch mal ...!

Gegen Morgen trieben sie an Land, sprangen über Baumäste und warteten stundenlang, bis sie ins Trockene kamen. Sie klopften den Boden mit Stöcken nach Schlangen ab, und ehe sie sich zum Schlafen in das Maisfeld legten, sagte der Farmer: „Morgen gehen wir zurück und fangen wieder an.“ „Bueno“, sagte der Indio. Der Regen hörte auf (Günter Weisenborn).

 

[Vergleichen mit 1. Mose 7,17-23. Es gibt Ähnlichkeiten. In der biblischen Geschichte wird aber etwas erzählt, was über dieses Bild hinausgeht. Kapitel 8,1-2 lesen. Inwiefern können die Erfahrungen der beiden Männer zugleich auch Erfahrungen mit Gott sein (Gott gedachte — Gott kümmert sich usw.)? Die Parallele zu der Geschichte der zwei Männer ist die, daß es hier wie dort zu einem guten Ende kommt. Vers 20a: „Noah aber baute dem Herrn einen Altar!“ Diese Aussagen vergleichen wir mit dem vorletzten Satz der Geschichte: „Morgen gehen wir zurück und fangen wieder an.“

 

Wie von dem alten biblischen Text, so läßt sich auch von der modernen Geschichte Gottes Nähe und Hilfe ablesen. Sie hilft den Menschen in beiden Geschichten zu einem mutigen Neuanfang, auch wenn nur der Glaubende seinen Dank gegen Gott zum Ausdruck bringt].

 

 

Alles für die Familie

[Ein biederer Ehemann wird zum Einbrecher, um für die Familie zu sorgen]

Nach dem Vorfall in jener Nacht ließ ich mich bei Federicos Familie nicht mehr sehen. Ich muß schon sagen, ich war ganz fassungslos. Worüber? Daß ein tüchtiger Facharbeiter, Vater von zwei Töchtern, ein Mann wie er, groß, stark, ruhig, heiter, bei dessen bloßem Anblick man schon Vertrauen faßte, ein Doppelleben geführt haben soll.

Und was für ein Doppelleben: Tagsüber war er Mechaniker und nachts Dieb. Tagsüber war er mit mir und den anderen zusammen oder in der Familie mit Frau und Töchtern; nachts soll er mit einer Verbrecherbande in einem gestohlenen Wagen herumgefahren sein und innerhalb von zwei Jahren sieben bis acht Geschäfte ausgeraubt haben, wie es heißt. Ehrlich, fleißig und tüchtig am Tage; Gauner bei Nacht, mit einem schwarzen Tuch vor dem Gesicht, dem Brecheisen in der Tasche und der Pistole im Gürtel.

Wahrhaftig, hätte ich nicht sein Bild in den Zeitungen gesehen, eins dieser Bilder, wie sie im Gefängnis gemacht werden, ohne Kragen und Krawatte, mit vorgestrecktem Kinn und aufgerissenen Augen - ich hätte es nie und nimmer geglaubt. Kurz, ich war nicht völlig überzeugt. Und deshalb - teils, weil ich mich so sehr wunderte, daß ich die Hoffnung nicht ganz aufgab, es sei vielleicht doch nicht wahr, teils, weil es mich nicht nur fassungslos machte, sondern geradezu beleidigte - ging ich nicht zu seiner Familie, was ich bei jedem andern Unglücksfall selbstverständlich getan hätte.

Meine Frau war es, die mich dann herum bekam. Ich wollte also nicht hin und sagte: „Federico hätte mir das nicht antun dürfen. Wie konnte er mir zwei Jahre lang verheimlichen, daß er ein Doppelleben führte!“ Darauf meine Frau: „Und wenn er es dir gesagt hätte, was hättest du getan?“ - „Wie meinst du das?“ - „Was hättest du getan? Hättest du ihn angezeigt?“ - Na hör mal, bin ich ein Spitzel?“ „Also, da siehst du es“, sagte meine Frau triumphierend, „wenn er es dir gesagt hätte, hättest du ihn nicht ins Gefängnis gebracht. Jetzt aber, wo er im Gefängnis sitzt, verurteilst du ihn. Merkst du nicht, wie du dir widersprichst?“ Ich begann mich unsicher zu fühlen, und sie fügte hinzu: „Geh hin. Außerdem tust du ein gutes Werk.“ Der letzte Grund schien mir der Beste zu sein, und deshalb entschloß ich mich, hinzugehen.

Zufällig war am nächsten Tag das Fest des heiligen Giuseppe, und Federicos Frau hieß Giuseppina. In der Bar unten in unserem Haus kaufte ich zwanzig Stückchen Cremegebäck, und dann ging ich zur Straßenbahn.

Ich wohne in der Via Giulia und Federico in einem neuen Mietshaus in der Gegend von San Paolo. Ich saß in der Bahn, das Päckchen mit dem Gebäck auf den Knien, und dachte noch einmal über Federico nach. Ich verstand es wirklich nicht. Vor allem gelang es mir nicht, die Tatsache, daß Federico ein so guter Vater und zärtlicher Ehemann war, mit der anderen Tatsache zu vereinbaren, daß er nachts unterwegs gewesen sein sollte, um die Schaufenster der Geschäfte auszuplündern. Verdammt noch mal, dachte ich, man ist es oder man ist es nicht; und wer ein guter Familienvater ist, müßte logischerweise auch ein anständiger Mensch sein. Falls er das nicht ist, so. bedeutete das, daß er an nichts glaubt; aber wie bringt er es dann fertig, ein guter Familienvater zu sein? Inzwischen fuhr die Bahn den Lungotevere entlang. Am Bahnhof von Ostia stieg ich aus und nahm den Omnibus nach San Paolo.

Das Haus, in dem Federico wohnte, war nicht weit vom Tiber entfernt und stand inmitten einer Gruppe gleicher, ganz neuer Häuser, die mit ihren vorspringenden Balkonen wie Kommoden mit lauter offenen Schubladen aussahen. Für San Giuseppe war es ein schöner Tag: ein leuchtendblauer Himmel voller Sonne; Kinder liefen in den grünen Gärten umher und spielten Ball; die Wäschestücke, die auf allen Balkonen zum Trocknen aufgehängt waren, flatterten im Frühlingswind wie Fahnen.

Als ich die Treppe hinaufstieg, mußte ich an den armen Federico denken, der an einem Tag wie heute, statt im Schoße der Familie zu sein, in Regina Coeli saß, hinter Eisengittern. Ich kam zum Treppenabsatz und läutete. Das größere der Mädchen, Lucetta, öffnete mir. Es war wie immer sehr sauber, in frischgebügeltem Kleidchen, weißen Strümpfen und geputzten schwarzen Schuhen. Ich fragte: „Ist die Mama da?“ Sofort antwortete mir eine aggressive, schleppende Stimme: „Jaja, die Mama ist da. Hier ist die Mama.“

Ich schaute auf und war überrascht, denn fast hätte ich Giuseppina nicht mehr wiedererkannt, so hatte sie sich verändert. Das Gesicht, das früher rund und voll gewesen war, schien jetzt in die Länge gezogen und plattgedrückt, die Augen, die tief in den eingefallenen Höhlen lagen, hatten einen seltsamen Glanz, wie zwei Dochte verlöschender Kerzen, die einen letzten Lichtschein werfen, bevor sie im Wachs ertrinken. Ihr Haar war aufgelöst und bedeckte die Wangen, und Kleid wie Haare schienen leblos an ihr zu hängen. Obendrein ließ die Art, wie sie sich an den Türpfosten der Küche lehnte, die Schultern zurück und den Leib vorgestreckt, darauf schließen, daß sie auch noch schwanger war.

Ich sagte verlegen: „Giuseppina, heute ist San Giuseppe, herzliche Glückwünsche! Ich hab dir auch ein paar Süßigkeiten mitgebracht.“ - „Danke, danke. Für mich gibt es keine Feste und keine Heiligen mehr. Komm hier herein. Und du geh in die Küche und putz den Salat.“ Mißmutig schob sie das Kind in die Küche; mich führte sie in das Eßzimmer, das sie auch als Wohnzimmer verwendeten.

Das Licht im Zimmer war sehr stark, da das Fenster keine Gardinen hatte und über den Tiber hinweg direkt in den Himmel blickte. Geblendet setzte ich mich neben sie und legte das Päckchen mit den Süßigkeiten auf den Tisch. Zuerst sagten wir beide nichts; ich schaute sie an, und sie sah zum Fenster hinaus. Endlich sagte ich: „Hast du ihn besucht?“ Schnell wie eine Viper drehte sie sich um: „Ja, ich bin dort gewesen, ja.“ - „Und wie ging es ihm?" - „Es ging ihm gut, vom Standpunkt derjenigen aus gesehen, die ihn lieber tot sehen möchten, ja, es ging ihm gut.“

Wieder sah ich sie an; sie schien mir etwas exaltiert. Jetzt trommelte sie mit den Fingern auf den Tisch. Ich fragte weiter: „Und wann machen sie ihm den Prozeß?“ Mit lauter und entrüsteter Stimme antwortete sie: „Ach, wer weiß! Aber die ihm übelwollen, die brauchen keine Angst zu haben ... Sie werden ihn verurteilen, bestimmt werden sie ihn zu vielen Jahren Zuchthaus verurteilen, da brauchen die gar keine Angst zu haben.“

Ich fragte: „Und was sagt er?“ Sie hob die Schultern. „Was soll er schon sagen. Er sitzt und wartet auf den Prozeß, das ist alles.“ Ich nahm an, sie habe mich nicht verstanden. „Nein, ich meine, wie er das Vorgefallene erklärt?“

Ihr Blick streifte mich. „Was soll er da erklären. Er sagt, es sei ein Verhängnis gewesen: Wenn ihr Wagen nicht wegen einer Pfütze ins Rutschen gekommen und gegen einen Baum gefahren wäre, hätte man sie nicht erwischt.“ Zum ersten Male kam mir in den Sinn, daß Giuseppina vielleicht die Komplizin ihres Mannes war und die ganze Zeit gewußt hatte, daß Federico sich nachts in einen Gangster verwandelte.

Beunruhigt fragte ich: „Aber du - wußtest du, daß er .. , ich meine, daß er nachts unterwegs war, um diese Sachen zu machen?“ Sie schaute mich mit aufgerissenen Augen an. „Nein, ich wußten es nicht! Aber ich will dir mal was sagen: Hätte ich es gewußt, dann hätte ich zu ihm gesagt: Das machst du gut, nur weiter so und immer noch mehr. Das hätte ich ihm gesagt!“

Ich war sehr unangenehm berührt. Ich sagte: „Das sind aber doch Dinge, zu denen man wirklich niemanden ermutigen sollte.“

Sie fiel mir ins Wort, mit weinerlicher Stimme: „Ach, Alfred, du kannst dir nicht vorstellen, was ich durchgemacht habe - auf der ganzen Welt gibt es keine unglücklichere Frau als mich!“' Verlegen sagte ich: „Nun, das versteht man ja ...“. "

Doch sie geriet plötzlich in Wut: „Nicht das geringste versteht man. Man versteht gar nichts! Ich war so glücklich; und jetzt bin ich hinuntergestürzt in das schwärzeste Unglück. Warum, frage ich, aus welchem Grunde?“

Diesmal blieb ich still: Ich wußte den Grund, doch ich dachte, es sei besser, das nicht auszusprechen. Sie fuhr fort: „Ich habe Federico geliebt, und Federico hat mich geliebt. Und wir beide haben die Kinder geliebt. Und er hat dafür gesorgt, daß es uns an nichts fehlte, er dachte nur an uns, wirklich, er tat alles für die Familie.“

Ich sagte verlegen: „Nun ja, natürlich, die Familie, das ist eine wichtige und schöne Sache.“

Sie schrie: „Ja, aber unsere Familie war nicht wie andere Familien, Alfred. Sie war eine besondere Familie. So eine Familie hat es nie gegeben und wird es auch nie wieder geben. Ach ja, das kann man schon sagen, Alfredo, eine Familie wie unsere, in der sich alle so lieben, gibt es auf der ganzen Welt nicht mehr.“

Sie schwieg eine Weile und sah aus dem Fenster, das voller Himmel war; als sie merkte, daß ich kein Sterbenswörtchen sagte, fuhr sie fort: „Man kann sich nicht vorstellen, wie gut dieser Mann ist. An manchen Abenden, hier an diesem Tisch, nachdem ich die Kinder zu Bett gebracht hatte, machte er Pläne für die Zukunft. Nicht ein einziges Mal sprach er von sich selber, immer dachte er nur an die Familie. Er sagte beispielsweise“ - und unwillkürlich bekam sie eine weiche Stimme, während ihr Mund fast die Form eines Herzens annahm, um seine Worte wiederzugeben -, „er sagte: ,Jetzt haben wir das Motorrad: aber wenn weiter alles gut geht, werden wir uns bald einen kleinen, Wagen kaufen. Denn. du weißt doch, wie gut es für dich und die Kinder ist, wenn ihr nach Ostia oder nach Fregene fahren könnt, um gesunde Luft zu atmen, meinetwegen jeden Tag! Ach, wo findet man noch einen Mann wie Federico, Alfredo? Ich frage dich!“

Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich plötzlich in Zorn geriet; vielleicht, weil ich mir überlegte, woher, er das Geld genommen hätte, um einen Kleinwagen zu kaufen. Ich sagte trocken: „Gut, Giuseppina, es ist verständlich, du liebst deinen Mann. Du mußt aber schließlich zugeben ...“ - „Was?“ - „Daß er ein Dieb ist.“

Hätte ich das doch nicht gesagt. Mit hervorquellenden Augen und gesträubten Haaren schleuderte sie mir entgegen: „Nicht einmal sprechen darfst du über Federico! Wehe dir, wenn du noch einmal von ihm. sprichst!“ - „Aber ich ...“ - „Du darfst nicht mal von ihm sprechen, du bist es nicht wert, du bist es nicht wert, den Boden unter seinen Füßen zu küssen!“

Ich war sprachlos. Ohne mich anzusehen, redete sie in die Luft: „Federico ist ein Mann, wie es keinen zweiten auf der Welt gibt, ja, das ist er! Nein, nein, nein, niemand darf über Federico auch nur sprechen, nur ich kann sagen, was er ist: ein Heiliger.“

Verblüfft rief ich aus: „Aber Giuseppina! Du weißt doch wohl, was ein Heiliger ist!“ Und sie immer exaltierter: „Sicher, weiß ich das, ich habe ja zwölf Jahre mit einem gelebt, Federico ist ein Heiliger.“

Ich dachte: Ein Heiliger mit der Maschinenpistole im Arm und dem Brecheisen in der Tasche. Aber ich sagte nichts, um sie nicht noch weiter zu reizen. Jetzt weinte sie, und sie schluckte ihre Tränen, da sie den Kopf gesenkt hielt und auf den Tisch blickte. Plötzlich schrie sie mit so schriller Stimme, daß ich zusammenfuhr: „Und jetzt haben sie ihn mir genommen, sie haben ihn ins Gefängnis gesperrt, sie haben ihn mir entrissen, haben ihn seinen Kindern entrissen, sie haben eine Familie zerstört - und warum das alles? Ich fragte: Warum?“

Ich sagte: „Aber du weißt doch, warum, Giuseppina ...“ Und sie: „Natürlich weiß ich es: um Böses zu tun, um alles das, was gut und schön ist, zu zerstören, um zu verhindern, daß wir glücklich sind:  „Vielleicht gibt es auch noch andere Gründe.“ „Nein, es gibt keine anderen Gründe! Der Neid ist der Grund, der Neid. Oh, ich fühle, daß ich nie mehr so glücklich sein werde, wie ich es während der letzten Jahre mit Federico war.“

Nach diesen Worten fing sie wieder an zu weinen, und da ich nicht wußte, was ich sagen sollte, schlug ich vor: „Giuseppina, iß doch ein bißchen von dem Gebäck, das versüßt dir den Mund.“ Sie schüttelte den Kopf: „Das wird nichts nützen, mein Mund wird von jetzt an bitter bleiben. Trotzdem danke, Alfredo ... du bist gut, du hast etwas von Federico, du bist vielleicht der einzige, der Federico verstehen kann, weil du ihm ähnlich bist.“

Ich konnte nichts tun, als undeutlich zu widersprechen: „Ich bin allerdings kein Heiliger.“ Doch sie hörte mich nicht; sie war dabei, das Päckchen mit dem Gebäck zu öffnen. Sie nahm ein Stück und fing an zu essen. Dabei hielt sie den Kopf gesenkt und schaute mit einem Ausdruck von Trauer und Erstaunen zu Boden. Ein Rest gelber Creme blieb in ihrem Mundwinkel zurück, doch sie bemerkte es nicht. Dann putzte sie sich die Nase, und als sie das Taschentuch vom Gesicht nahm, war der Rest verschwunden.     

Ich stand auf und sagte: „Gut, Giuseppina, ich gehe. Wir sehen uns wieder ...“. Sie erhob sich und folgte mir wortlos in den Korridor, und beim Abschied fragte sie mich mit angstvoller Unruhe: „Was meinst du, werden sie ihn mir verurteilen?“ - „Nun ja, sie müssen wohl, ich glaube, ja.“

„Da haben wir die Gerechtigkeit“, schrie sie, während ich mich anschickte, die Treppen hinunterzugehen, „eine schöne Gerechtigkeit ist das! Die Leute, die eine Familie Hungers sterben lassen, gehen draußen spazieren. Er, der für die Familie sorgte, muß hinein. Und dann? Nichts mehr, nichts! Muß er dann nicht mehr für die Familie sorgen?“ Diesmal antwortete ich ihr nicht. Rasch ging ich die Treppe hinunter (Alberto Moravia).

 

 

Die letzte Schicht

[Rentner findet eine neue Aufgabe, indem er sich um einen Jungen kümmert]

Dies war also meine letzte Schicht. Frühschicht wie die ganze Woche. ,Na denn - mach's gut, alter Junge!“ sagte der Meister und klopfte mir auf die Schulter. Patenter Kerl, der Meister, ich mag ihn gern. Er ist noch drei Jahre älter als ich. Merkwürdig, diesmal ärgerte ich mich fast darüber. Zum ersten Male. Man sieht ihm seine fast Siebzig nicht an. Mir auch nicht - das nebenbei. Aber das Herz! Das Herz will nicht mehr.

Komisches Gefühl, so am Werk vorbeizugehen mit der letzten Lohntüte in der Tasche. Die Maschinen summen hören und selbst nicht mehr dahinter stehen. Einundvierzig Jahre sind eine lange Zeit. Da gehst du hin, einundvierzig Jahre lang, Tag für Tag - und keine Maschine bleibt stehen, wenn du nicht mehr kommst. Als wärst du nie dagewesen.

Ich solle mir eine kleine Arbeit suchen, rieten die Kumpels mir. Keine richtige Arbeit, mehr eine Beschäftigung. Das bekomme einem besser als das plötzliche Nichtstun. Die hatten gut reden! Eine Beschäftigung, sagten sie, vielleicht Zeitungen austragen oder Pförtnerdienst irgendwo. Aber sie rechneten nicht mit meinem Herzen. Irgendwann kommt so ein Anfall, ganz plötzlich, wie aus heiterem Himmel sozusagen, und dann falle ich aus. Aber man kann nicht so mir nichts dir nichts wegbleiben, wenn man Zeitungen austragen oder Pförtner sein soll. Nein, das darf man nicht.

Es war Mittag, als ich das Werk verließ, hoher Mittag. Die nächste Schicht trat an, und ich dachte so bei mir: zu denen wirst du nun nie mehr gehören. Sonne lag über der Stadt; die Luft war so leicht und rein wie selten. Ich hatte keinen Mantel an. Ich fror nicht; aber es war mir auch nicht zu warm. In den Bäumen raschelten die roten und braunen und gelben Blätter.

Ich ging nicht nach Hause. Ich weiß nicht warum. Anna wartete nicht auf mich. Sie wollte noch einiges einkaufen und dann zum Friseur gehen, hatte sie gesagt. Ich glaube nicht, daß es so nötig war. Ich glaube eher, daß sie Angst hatte, wie ich - vor dem Augenblick, da ich in der Tür stehen würde und sagen: „So. Ja, so. Da bin ich. Da hast du mich.“

Wir fürchteten uns beide davor. Seltsam ist das. Da hat man sich immer liebgehabt, all die Jahre hindurch. Sie ist ein guter Mensch, die Anna. Früher, als wir noch ganz jung waren, da haben wir es uns oft ausgemalt, wie es sein würde, wenn wir einmal ganz füreinander dasein würden. Wir träumten gern ein bißchen, die Anna und ich. Wer tut das nicht, wenn er jung ist und die Nachtigallen schluchzen im Mai? Jetzt sind die Nachtigallen still und die Blüten verwelkt. Durch die Nebel sickert der Herbst.

Ich ging ein Stück am Fluß entlang. Ich tat es gern. Oft, wenn die Sonne schien, ging ich diesen Weg. Es war ein bißchen weiter; aber was hatte das zu sagen? Es tat gut, den herben Geruch des Wassers zu schmecken, wenn die Lungen noch voller Werkstaub waren. Aber nun würde ich nie wieder den Staub des Werks in meine Lungen ziehen; ich würde jeden Morgen zum Fluß gehen können und dort mit anderen Opas auf einer Bank sitzen und klönen. Ach ja, als ich so ging, war der Tag mit einemmal gar nicht mehr golden. Die Sonne ärgerte mich; denn es war nichts mehr da, das sie hätte hinwegtragen können.

Nur meine Lohntüte, die letzte, war voll. Alles andere blieb leer: die Uferstraße zur späten Mittagszeit, die Luft in ihrer gläsernen Durchsichtigkeit, in der nicht einmal mehr die Gerüche von Staub und Wasser hingen, der ganze Tag - alles oder irgendetwas war leer geworden.

Vielleicht war es mein Leben.

Ich hatte nur einmal solche unheimliche Leere erlebt: damals, als die Nachricht von unserem Jungen kam. Auch damals war unser Leben plötzlich leer geworden. Aber wir lebten es weiter. Ich hatte meine Arbeit und Anna die ihre, und immer wieder war etwas da, etwas Freundliches oder Feindliches, und rief uns an.

Heute rief nichts nach mir. Abgeschrieben, vorbei. Niemand, nichts wartet auf mich. Nicht einmal Anna. Sie war so feige wie ich. Nur die Kastanien purzelten raschelnd von den Bäumen am Ufer und sprangen platzend auf. Ihre braunglänzenden Früchte kullerten auf Fahrbahn und Fußweg. Einige rollten in den Fluß. Er trug sie leise und plätschernd mit sich zu Tal.

Eine traf mich am Hinterkopf. Beinahe hätte ich aufgeschrien. Sie war nicht vom Baum gefallen. Ich weiß nicht, war es ein guter Wurf oder ein schlechter. Ich schimpfte nicht. Ich wandte mich nur um.

Da stand er, auf der andern Straßenseite: ein Rotzig, wie man die Kerle in unserer Stadt nennt. Kein schönes Wort, so ein bißchen derb, wie es sich hierzulande gehört. In Berlin gibt es Gören, und anderswo werden sie andere Namen haben. Er sah aus, wie so ein Lümmel aussehen muß: rötliches, wirres Haar, Sommersprossen und schmutzige Finger. Er grinste mich an.

„Na, Opa, Krach mit Oma jehabt? Sieht aus, als wär' ihm 'ne Laus över de Leber jekrabbelt!“

Ich hätte ihn ohrfeigen mögen. So ein Rotzig! Aber dazu war er zu weit weg. Dazu war er zu jung und ich zu alt. Ich hätte ihn nie erreicht. Ich rieb mir den Hinterkopf und ging auf ihn zu. Er lief nicht weg. Breitbeinig stand er da und wartete auf mich. Dabei blitzten seine Augen über die Fahrbahn hin, als müßte er mich jeden Augenblick vor einem hereinbrechenden Unglück retten.

Dann stand er vor mir und ich vor ihm. Er sah mich an. Wie er mich ansah! Ich kann es nicht sagen, wie. „Was meinst du wohl, was dein Vater dazu sagt, wenn er hört, wie du hier alten Leuten Kastanien an den Kopf schnippst?“ Er lachte. Aber wie er lachte!

„Min Vadder! Mensch, Opa, wenn ich wüßte, wo auf der Welt min Vadder 'rumwirbelt, ha! Un min Modder - jeh' man in die Altstadt, in so'n paar schöne Kneipe, da findste se bestimmt irjendwo! Wat min Modder is, Opa, die is man froh, wenn ich se bloß in Ruh' loß, dat se jehn kann, wohin se will.“ Er hatte so schnoddrig und frech angefangen, daß ich ihm am liebsten wieder eine geklebt hätte.

Aber jetzt, als er mich wieder ansah, erschrak ich plötzlich vor seinem Gesicht. Warum ich erschrak? Wenn ich das sagen könnte! Aber ich wußte jetzt etwas anderes: wie er mich angesehen hatte. Dieser Blick, dieser nicht freche, nicht ängstliche Blick - ich kannte ihn; ich kannte ihn nur zu gut. Mein Junge sah mich an! Sah mich an in diesem schmutzigen, rothaarigen Rotzigen, den ich kaum anzurühren wagte. Aber seine Augen. seine Augen sahen mit einem mal wie die Augen meines Emil aus.

„Jung', haste dein' Schulaufgaben schon?“ fragte ich und wußte nicht, warum. „Wat denkste denn, Opa? An so'n scheen' Herbstdag! Keen Spur, Alder!“ Er hatte seinen halbzerfledderten, schmuddeligen Schulranzen noch auf dem Rücken. „Und Mittagessen haste wohl auch noch nicht?“ - „Ooch, ja, ich han so'n bißje wat jejesse uf'n Markt vorhin ... Ich han do so ne Mann, weeste, der jitt mer schon mal wat ab.“

Ich weiß nicht, wie ich dazu kam, ihn mit heimzunehmen. Ich weiß nicht, wie er dazu kam, mit mir zu gehen. Er wunderte sich nur erst und meinte, ich wolle ihn nach Hause bringen, weil er nämlich ganz in unserer Nähe wohnt. Aber ich hatte ihn nie zuvor gesehen. Wer kennt schon alle Leute von „um die Ecke“, selbst wenn er an die vierzig Jahre in der Straße wohnt?

Er ging mit mir. Er wusch sich dann die Hände und sogar das Gesicht; er strich sich seine struppige Mähne zurecht, während ich Spiegeleier und Bratkartoffeln für uns zurechtbruzzelte.

Wir aßen zusammen, und dann spülten wir. Er konnte ganz geschickt abtrocknen, wenn auch manchmal doch ein paar Tropfen hängenblieben. Ich räumte die Teller in den Schrank und stellte die Pfanne weg. Er wischte den Tisch sauber, und dann machten wir Schularbeiten.

Ja, es stimmt schon, wir machten Schularbeiten. Der Junge staunte, was so ein alter Hase noch alles weiß, und ich staunte auch. Dreisatzrechnungen, eine Niederschrift über das Himalaja­gebirge. Mit den neuen Ländernamen und Grenzen kam ich nicht mehr zurecht; aber das erklärte er mir rasch.

Zuletzt kam noch ein Aufsatz. Das ging schon schlechter. Er kaute am Federhalter; aber mir schien, als wollte er mir doch zeigen, was er alles konnte. Wenn ich ihm helfen wollte, sah er mich nur wieder an mit diesem rätselhaft fremden und doch so vertrauten Grinsen: ein wenig überlegen und ein wenig unsicher zugleich - was für ein Junge!

Nee, Opa, haste jedacht! So schreibt doch heut' keen Mensch mehr, so'n altmodisch' Jequassel -..“. Seltsam, ich ärgerte mich gar nicht über den Kerl, obgleich er nicht gerade höflich war. Höflich? Nein, ganz gewiß nicht! Gut erzogen? Von Erziehung keine Spur! Aber nach den Schularbeiten - der Aufsatz war nachlässig und fehlerhaft niedergeschmiert; aber das schien ihn nicht im geringsten zu stören - nach den Schularbeiten sah er sich noch ein bißchen in unserer Wohnung um.

„Zeig mich mal, wo ihr euer' Kohlen habt!“ sagte er und hatte schon den Eimer in der Hand. „Ich kann dat besser als du, Opa!“ Es half nichts; ich mußte ihm den Kohlenkeller zeigen, und er schleppte keuchend drei Eimer voll herauf. „Das reicht ja bis übermorgen!“ mußte ich lachen. „Macht nix“, sagte er, „denn kommste morje wenigstens nit uf den Jedanke, selbst welche zu hole'.“

Dann musterte er die Goldfische im Aquarium und plauderte noch ein bißchen mit Hansi unserm Wellensittich. Dann warf er mit einem Schwung den Tornister auf den Rücken. „Ich jeh' jetzt noch'n bißche raus, Opa. Haste wat zu besorje?“ Ich hatte nichts zu besorgen. Anna wollte ja einkaufen. „Na denn, mach's jut, Opa! Un daß du mir nit de Kohle aus'm Keller schleppst, morje, verstehste! Det is' nit jut für et Herz.“ Er grinste wieder. „Von weje de Bratkartoffle. War'n prima - Klasse!“ Damit hatte er die Tür schon in der Hand. Ehe er die Treppe hinunterpolterte, drehte er sich noch mal um. „Na denn danke schön, Opa - für dat jute Esse un ...“

Er sprach nicht weiter. Aber er ging auch nicht. Er sah mich nur wieder an. Mit diesem Blick!

„Willst du morgen wieder Schularbeiten bei mir machen?“fragte ich. Da strahlte es auf in seinen Augen. Solange ich lebe, werde ich dieses Strahlen nicht vergessen. „Bist 'n Engel, Opa!“

Ich dachte schon, jetzt gibt er mir auf der Stelle einen Kuß. Aber das tat er denn doch nicht.

„Na, 'n Engel sieht wohl bißchen anders aus!“ lachte ich. Da kniff er plötzlich die Augen zusammen. „Hm - Opa, wat meenste, wat die Oma wohl dazu sagt?“ Ach so, die Anna! Fast hatte ich sie vergessen. Aber was sollte sie wohl sagen?

„Komm man ruhig, Jung'!“ Er stürmte ins Freie.

 

Als ich vor Emils Bildern in der Stube stand, vor dem Soldaten- und vor dem Kinderbild, kam Anna. Sie schnupperte in der Luft. Ich lachte. „Spiegelei mit Bratkartoffeln“, sagte ich, und sie wurde ein wenig rot und verlegen wie einst als junges Mädchen.

„Sieh mal einer an, was du auf deine alten Tage noch lernst!“ Ich kicherte wieder. „Ich hatte sogar Besuch", sagte ich, „-und morgen wird er wiederkommen.“ Während ich Anna erzählte, schien draußen die Sonne. Sie hatte zwar die ganze Zeit geschienen; aber jetzt erst spürte ich es. Und mit einemmal freute ich mich daran.

Anna sagte: „Wie schön!“ Und es klang beinah wie damals, als ich die Stelle bei Weber & Co. gefunden hatte, kurz bevor der Emil geboren wurde. Und dann gingen wir noch ein bißchen an den Fluß, setzten uns auf eine Bank, sahen den spielenden Wellen zu, wie wir das als junge Leute so gern getan hatten, und hielten uns an den Händen, bis es kühl wurde und wir nach Hause gingen. „Morgen kommt er wieder“, sagte ich zu Anna, und sie wußte, wen ich meinte.

Plötzlich entdeckte ich ihn mitten in einer Horde johlender und tobender Gassenjungen. Er war nicht besser und nicht schlechter als die andern. Wahrscheinlich wäre mein Emil nicht so wild gewesen, damals. Ich wollte ihm pfeifen, wie ich das manchmal mit meinem Emil getan hatte vor vielen Jahren. Aber Anna hielt mich zurück.

In diesem Augenblick schien er mich ebenfalls entdeckt zu haben. Ich dachte, er winkt uns jetzt. Aber blitzschnell verschwand er hinter der nächsten Ecke. Soll einer sich auskennen bei diesen Kerlen! Aber ich weiß nicht, ob er vor mir verschwand. Denn gleichzeitig tauchte aus einer Nebengasse ein unbeschreiblich aufgedonnertes Frauenzimmer auf, und eine keifende Stimme rief: „Emil! Emil!“

Die ganze Meute war wie vom Erdboden verschluckt. Da fiel mir ein, daß ich ihn nicht einmal nach seinem Namen gefragt hatte. „Morgen kommt er wieder“, sagte ich zu Anna, und ich weiß nicht, warum ich auf einmal den Arm um sie legte; „freust du dich, Mutter?“ Ich wußte gar nicht, wie schön Anna noch immer ist, wenn sie lächelt. Die Abendsonne verwan­delte ihr weites Haar, daß es aussah wie das Gold ihrer Mädchenjahre. Die Abendsonne ... Auf einmal begriff ich, daß auch der Abend schön sein kann. Ich hatte es oft bemerkt. Aber jetzt erst wußte ich es (Wilma Klevinghaus).

 

 

Ich freue mich für Sie!

[Frau trägt ihr drittes Kind doch noch aus]

Frau Hadwig legte den Brief ihres Mannes beiseite. Er war zu einem Studienaufenthalt in die Sowjetunion gefahren und schrieb ganz erfüllt von den Eindrücken der letzten Wochen in Leningrad. Die Stadt an der Newa mit ihren vielen Kanälen und Brücken, den hellen Nächten des herannahenden Sommers hatte es ihm angetan. Er bedauerte sehr, sie nicht bei sich zu haben.

Bei diesem Satz hatte Frau Hadwig mit den Tränen kämpfen müssen. Es war nicht nur die große Entfernung - sie fühlte sich allein gelassen in einem Augenblick, wo sie ihn sehr nötig hatte. Und vor anderthalb Monaten konnte sie ihn nicht zurückerwarten. Die Ahnung, die sie seit sechs Wochen beunruhigte, fand sich bestätigt. Sie erwartete ein Kind. Das war der Grund für ihre Apathie und das leichte Schwindelgefühl. Sie wußte, daß das Ungeborene gerade am Anfang viel Kraft beanspruchte.

Was sie aber zutiefst erschreckte, war die Tatsache, daß sie diesmal keine Bereitschaft hatte, das kleine Wesen anzunehmen und auszutragen. Die beiden anderen Kinder waren schon schulpflichtig. Die Umstellung auf einen Säugling, der den Ablauf des Tages bestimmte, schien ihr ungeheuer. Sie würde ihre Tätigkeit als Sekretärin wenigstens vorübergehend aufgeben müssen. Die Zweieinhalbzimmerwohnung würde für die Familie viel zu klein sein. Ein Umzug drohte. In ihrer Vorstellung häuften sich die Schwierigkeiten zu einer unüberwindlichen Hürde.

Vorgestern hatte sie das Gespräch mit ihrer Freundin endgültig aus der Fassung gebracht. Jutta war wie immer fröhlich und mit verschmitztem Lächeln hereingekommen und hatte ihre Freundin in trübseliger Verfassung vorgefunden. Bald kannte sie die Ursache und versuchte, sie aufzumuntern: „Du nimmst alles gleich so tragisch! Ich an deiner Stelle würde das Kind nicht austragen. Da die Möglichkeit besteht, die Schwangerschaft zu unterbrechen, würde ich Gebrauch davon machen.“

„Aber Jutta, ist das dein Ernst?“ - „Ja doch. Ein Kind, an dem man keine Freude hat, sollte man rechtzeitig aus der Welt schaffen. Im embryonalen Zustand lebt es doch noch ganz unbewußt. Es tut mir leid, daß du so unmodern bist und dir das Leben unnütz schwer machst. Du mußt dir eine sachlichere Einstellung zur Liebe und zur Mutterschaft zulegen.“

Damit war das Gespräch beendet. Es war ein Stachel zurückgeblieben, und ihr Herz schwankte zwischen Zweifel und Hoffnung, von ihrem Zustand wieder freizukommen. Heute war sie beim Arzt gewesen. Er wollte ihrem Wunsch entsprechen und war bereit, ihr ein Bett in der gynäkologischen Klinik frei zu halten. Hedwig trat ans Fenster und öffnete es weit. Der Duft blühender Sträucher und Bäume wehte herein. Im Garten lärmten die Vögel. Doch die junge Frau empfand keine Freude. Ihre Gedanken kreisten immer um das gleiche.

Es klingelte. Sie ging öffnen und war richtig erschrocken, daß ihre Schwiegermutter in der Tür stand. Sie hatte ein gutes Verhältnis zu ihr, aber jetzt konnte sie sie nicht brauchen. Hedwig war sehr blaß. .,Mutter, du?“, sagte sie lustlos. Der Eintretenden blieb das Erschrecken nicht verborgen. „Was ist mit dir? Ist etwas mit Herbert?“ - „Nein, alles bestens. Ich habe heute Post bekommen. Ich bin nur überrascht über den plötzlichen Besuch.“

Hadwig versuchte nicht, ihren Unmut zu verbergen. Sie hatte immer eine gewisse Scheu vor der Überlegenheit der Älteren, und dieses Mal war ihre Unsicherheit besonders groß. Schweigend gab sie ihr einen Teil der Briefe und war fest entschlossen, nichts von ihrem inneren Konflikt preiszugeben.

Frau“ Gertrud freute sich sichtlich über die guten Nachrichten und fragte dann: „Wie lange muß Herbert noch bleiben?“ - „Schätzungsweise noch sechs Wochen.“ - „Das ist lange bei deiner jetzigen Verfassung!“ - „Was meinst du damit?“ Die Schwiegermutter faltete die Bogen zusammen und blickte Hedwig an. „Ich habe das Gefühl, daß du guter Hoffnung bist. Es kann natürlich auch ein Irrtum sein. Eigentlich bin ich gekommen, um nach dir zu sehen. Du hast mir in der letzten Zeit nicht gefallen.“

Jetzt war es vorbei mit Hadwigs Fassung. Sie fiel in einen Sessel und schluchzte. „Ja, ich bin guter Hoffnung, wie man das in alter Zeit so schön nannte. Aber für mich ist es keine Hoffnung, sondern ein Kreuz. Ich will das Kind nicht austragen.“ Es war merkwürdig, mit welcher Gelassenheit die alte Frau den Ausbruch hinnahm. Nichts von Ungeduld oder Empörung. Nur die Augen blickten ernst. „Und warum nicht?“, fragte sie. „Weil ein drittes Kind unser bisheriges Leben verändern würde. Ich müßte mit aller Mühsal von vorn anfangen.“

„Das ist mir klar. Aber dafür wird der Familie ein neuer Mensch geschenkt. Ist das nichts?“ -

„Ich weiß nicht. Ich bin jedenfalls sehr unglücklich. Du kannst mich nicht verstehen. Du hast dich auf alle Kinder gefreut und warst die geborene Mutter.“ - „Woher weißt du das?“ entgegnete Frau Gertrud. „Ich war damals auch jung, und für die Mutterschaft muß man erst reif werden. Man ist es als junger Mensch nur ganz selten. Aber etwas anderes: Du liebst doch deinen Mann?“

 „Und ob!“ - „Du weißt, daß Herbert das vierte Kind ist. Damals war Krieg. Mein Mann stand im Felde. Dann die Bombennächte. Fast jede Nacht mußte ich mit meinen drei kleinen Kindern in den Luftschutzkeller. Damals war ich sehr elend. Mein Hausarzt, ein gewissenhafter und verständnisvoller Mensch, fürchtete für meine Gesundheit. Jene Tage nach der Konsultation gehören zu den schwersten meines Lebens. Ich trug allein die Verantwortung für das Ungeborene, für die ganze Familie. Trotzdem konnte ich mich nicht zu diesem Schritt entschließen. Ich hatte einerseits Furcht vor dem Eingriff, zum andern betrachtete ich das kleine Wesen als ein Stück meines Lebens, das ich nun freiwillig hergeben sollte. Wie oft habe ich dafür gedankt, daß ich damals die Kraft zum Durchstehen hatte. Kannst du dir vorstellen, daß es Herbert nicht geben würde?“

Hadwig war sehr still geworden. Sie betrachtete plötzlich die Schwiegermutter mit anderen Augen, mit einer Bewunderung, die sie sich nicht eingestehen wollte. Diese saß da, den inneren Blick in die Vergangenheit gerichtet. Das üppige, schlohweiße Haar umrahmte ihr schmales Gesicht. Die Augen waren voller Verstehen.

„Weiß Herbert etwas davon?“ fragte sie. „Nein, noch nicht.“ - „Schreib ihm doch. Ich glaube schon, daß er sich über die Nachricht freuen wird und dir Mut macht.“ Hadwig sah sie verwundert an: „Warum glaubst du das?“ - „Er hat es mir vor Jahren gesagt. Er wünschte sich noch ein drittes Kind, wollte es dir aber nicht zumuten.“ - „Hat er das wirklich gesagt?“

Die alte Frau nickte. Dann sorgte sie dafür, daß Hadwig sich hinlegte. Sie deckte ihre Schwiegertochter zu und beredete sie, ein wenig zu schlafen.

Hadwig lag ganz still. Sie hatte nach langer Zeit wieder das Gefühl einer Entspannung, die in Schlaf überging. Wie von fern hörte sie, daß die Kinder nach Hause kamen und von der Großmutter zur Ruhe gemahnt wurden. Sie hörte noch ihr Plantschen im Bad, und sie hatte das Gefühl, selbst noch ein Kind zu sein und für nichts verantwortlich. Am nächsten Morgen rief sie in der Klinik an. Schwester Hilde, eine Bekannte, meldete sich. Frau Hadwig bat sie, Dr. Bimber zu benachrichtigen, daß sie es sich anders überlegt hätte und das Bett nicht beanspruchen würde. Schwester Hildes Stimme klang fröhlich, als sie sagte: „Ich freue mich für Sie!“                                                                                    (Margarete Schultz, Heiligenstadt).

 

Die heldenmütige Frau Beruria

[Kinder sind nur von Gott geliehen]

Vom Geiste seines Lehrers Akiba beseelt, führte auch Meir den Wahlspruch: „Was Gott tut, ist nur zum Guten!“ Selbst den Tod nannte er „gut“, weil er den Menschen in ein besseres Leben einführe; schon darum dürfe der Mensch sich gegen Gottes Ratschluß nicht auflehnen. Diese seine Lehre lebte seine schöne und hochgelehrte Frau Beruria. An einem Sabbat Nachmittag, als der Rabbi wieder in seinem Lehrhaus das Wort der Lehre austeilte, war in sein Haus der Tod eingekehrt und raffte erbarmungslos die beiden hoffnungsvollen Söhne hinweg. Mit zitternden Händen breitete die fromme Mutter das Totentuch über das Sterbebett ihrer Kinder. Aber dann ging sie aufgerichteten Hauptes, als ob nichts vorgefallen wäre, in das angrenzende Gemach, die Heimkehr des ahnungslosen Gatten zu erwarten.

Als dieser kam und nach den Kindern fragte, äußerte auch sie ihr Befremden über deren Fortbleiben, beruhigte ihn aber und meinte, sie würden wohl nach Kinderart auf dem Heimweg sich verweilt haben. Dann unterhielt sie das Gespräch über mancherlei bis zum Ausgang des Sabbats hin und erzählte unter anderem wie beiläufig, daß ein Mann, der ihr vor Tagen kostbare Juwelen aufzubewahren gegeben habe„ sie plötzlich von ihr zurückverlangt hätte.

„So gib sie ihm doch zurück“, sprach der Gatte, „wie kannst du es mit deinem Gewissen vereinbaren, ein dir anvertrautes Unterpfand seinem Eigentümer vorzuenthalten?“ - „Das habe ich auch getan“, erwiderte die tapfere Frau. Und was tat sie nun? Sie nahm ihren Mann bei der Hand und führte ihn in die Kammer, wo die Leichen der Kinder aufgebahrt lagen: „Hier sind die uns anvertrauten Pfande, die nun der Eigentümer zurückverlangt hat.“

Und als bei diesem Anblick der erschütterte Vater bitterlich zu weinen anfing, erinnerte Beruria ihn an seine Lehre von der ewigen Güte Gottes auch im Dunkel der Menschenwege, und beide zusammen sprachen in der Einheit des Geistes und des Herzens wie einst Hiob: „Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen, der Name des Herrn sei gepriesen!“ Und dann, nach einer Weile, fuhr der Rabbi fort: „Und dreimal mehr sei er gepriesen, denn er hat mir ein tugendhaftes Weib beschieden, das mein Trost in diesem Unglück ist.“

Auf Beruria ist das Wort des Weisen anzuwenden: „Die Frau ist dem Manne eine Gehilfin, wenn er es verdient.“ Und er verdiente es.                          (Aus Palästinas Legendenschatz)

 

 

Die Löffel

[Der Himmel ist, wenn Menschen sich gegenseitig füttern]

Ein frommer Mensch kommt zu Gott und bittet: „Herr, ich möchte die Hölle sehen und den Himmel.“- „Nimm Elia als Führer“, spricht Gott, „er wird dir beide zeigen.“ Der Prophet führt den Frommen in einen großen Raum. Ringsum sitzen Menschen, die große Löffel mit langen Stielen in den Händen haben. In der Mitte des Raumes steht auf einem Feuer ein Topf mit einem köstlichen Gericht.

Alle in der Runde schöpfen mit ihren langen Löffeln aus dem Topf. Trotzdem sehen sie mager aus, blaß und elend. Kein Wunder: Ihre Löffel sind viel zu lang. Sie können sie nicht zum Mund führen, das herrliche Essen nicht genießen. „Welch seltsamer Raum war denn das?“, fragt der Mensch beim Hinausgehen. Elia antwortet: „Die Hölle:“

Sie betreten einen anderen Raum. Alles ist genauso wie im ersten. Ringsum Menschen mit langem Löffeln. Inder Mitte auf einem Feuer kochend ein Topf mit einem köstlichen Gericht. Alle schöpfen mit ihren langen Löffeln aus dem Topf. Die Menschen hier sehen gesund aus, gut genährt und glücklich. Der Besucher wundert sich und schaut genau hin. Da sieht er, wie die Menschen sich gegenseitig die Löffel in den Mund schieben. Sie geben einander zu essen. Einer füttert den anderen. Und der Mensch weiß: Das ist der Himmel (Russisches Märchen).

 

 

Die Äpfel der Versöhnung

[Junge fährt Äpfel von der Apothekersfrau zur Arztfrau und versöhnt dadurch beide]

Ich war vier Jahre alt und hatte von den Großeltern zum Geburtstag einen Schubkarren bekommen, auf den ich mächtig stolz war. Er war außen gelb gestrichen und innen rot, und wenn er genügend beladen war, knarrte sogar das Rad richtig, und ich erzielte auf dem holprigen Pflaster unseres Städtchens damit einen Lärm, der mein Herz erfreute.

So zog ich denn oft tatendurstig aus mit meinem Fahrzeug und suchte nach geeigneter Last. Steine lagen nicht genügend lose herum, und als ich versuchte, einen aus dem Straßenpflaster zu lösen, war ein Schutzmann mit großem Säbel vorbeigekommen und hatte sich furchterregend geräuspert. Meine kleine Schwester aber, die ein Jahr alt war und ganz gut in den Schubkarren gepaßt hätte, wenn man die Karre in der Mitte ein wenig zusammenbog, sträubte sich brüllend gegen die Verladung. Es war also wirklich nicht leicht, außer den seltenen Einkäufen für meine Mutter, für mein junges Fuhrunternehmen Fracht zu bekommen.

Bei meinen Streifzügen kam ich oft am Doktorhaus vorbei. Da lag auf der Terrasse fast immer, in einem Liegestuhl und in Decken gehüllt, die Doktorsfrau. Ich fragte sie einmal, warum sie immer so daliege. Sie sagte, daß sie krank sei. Das war wohl nur ein paar Wochen lang, aber in meinem Kinderherzen schien es mir wie ein ganzes Leben, und ich hätte großes Mitleid mit ihr, zumal sie weder etwas zum Spielen noch zum Essen hatte, was das Kranksein erst lohnend macht.

Ein Stück weiter war die Apotheke. Dort schloß sich an das Haus eine hohe Gartenmauer an mit einer kleinen grünen Pforte. Der Garten war voller Apfelbäume, und an den hohen Zweigen hingen große rotbäckige Äpfel. Leider hingen sie sehr hoch, und selten war die grüne Pforte offen. Die Frau Apotheker kannte ich gut, sie kam manchmal aus der Tür der Apotheke und schenkte mir Lakritzen.

An einem Morgen war die Gartenpforte sperrangelweit geöffnet. Der junge Mann aus der Apotheke stellte eine Leiter an den größten Baum, dann kamen die Frau Apotheker und das Mädchen mit großen Körben. „Nun, kleiner Mann, willst du mit Äpfel pflücken?“ wurde ich gefragt. „Nein, aber einfahren“, sagte ich und wies stolz auf meinen Schubkarren. „Ja, darf ich?“ Die Frau Apotheker erlaubte es und lachte.

Dann ging sie wieder ins Haus. Das Mädchen hielt dem jungen Mann die Leiter und nahm den Pflückkorb an, den er von Zeit zu Zeit an einem Strick herunterließ. Dann füllte sie die beiden großen Körbe und meinen Karren, und wir zogen hintereinander aus der Gartenpforte und um die Apotheke nach dem Hauseingang, wo uns die Frau Apotheker in einer Kammer zu ebener Erde die Äpfel abnahm und auf Holzgestelle legte. Ich war sehr stolz auf meine Tätigkeit.

Allmählich aber wurde es mir langweilig, immer zu warten, bis die beiden großen Körbe voll waren, denn mein Kasten war viel rascher beladen. Also fuhr ich beim drittenmal, kaum daß ich meine Last beisammen hatte, auf eigene Faust durchs Pförtchen. Die Äpfel mit ihren roten Backen nahmen sich wunderschön aus in meinem bunten Karren.

Auf einmal mußte ich an die arme kranke Frau denken, die nichts zum Spielen hatte, und ich bog statt links zum Hauseingang der Apotheke nach rechts zum Doktorhaus ab. Die Tür zu dem schmalen Vorgarten war nur angelehnt. Ich schob meinen Karren bis zu der niedrigen Terrasse. Die Kranke lag da und schlief. Vorsichtig legte ich meine Äpfel in zwei Reihen auf einen Gartenstuhl neben ihr und schob den leeren Karren ganz leise wieder fort.

Im Apfelgarten lachte das Mädchen mit dem jungen Mann, der von der Leiter herabgestiegen war, und die beiden grollen Körbe standen voll neben ihnen. Sie achteten nicht darauf, daß ich gleich noch einmal die schönsten Äpfel aus beiden Körben auf meinen Schubkarren lud. Als ich das zweite Mal zu der Kranken kam, schlief sie immer noch. Ich legte die zweiten Äpfel zu den ersten, daß fast der ganze Stuhl belegt war, und dann ordnete ich alles noch einmal um, weil es so schöner aussah. Darüber erwachte die Schläferin. Sie fragte mich erstaunt, wo die Äpfel herkämen. „Von Frau Apotheker!“ sagte ich, was in einem weiten Sinne ja auch stimmte. Da machte die Doktorsfrau so sonderbare Augen, wurde rot im Gesicht und fragte mich so dringend, ob sie wirklich von dort seien, daß mir der Rückzug geraten schien, wobei ich zur Bekräftigung noch einmal heftig nickte. Auf der Straße draußen fiel mir ein, daß ich nun genug geholt hätte, und ich schob meinen leeren Karren nach Hause.

Nach Tagen oder Wochen - ich hatte die Äpfel längst vergessen - besuchte uns die Frau Doktor, die nun nicht mehr krank war; sie war sehr nett zu mir, gab mir Schokolade und dankte mir noch für die Äpfel, die ich aus der Apotheke zu ihr gefahren. Es war mir peinlich, an meinen Schubkarren erinnert zu werden, denn er lebte schon nicht mehr.

Erst später, als ich größer war, erfuhr ich, was ich damals angerichtet hatte. Es war ein langer böser Streit zwischen dem Doktor und dem Apotheker gewesen, was in einer kleinen Stadt besonders schlimm ist. Sie hätten sich schließlich auch ganz gern versöhnt, nur konnte sich keiner zum ersten Schritt entschließen, und keiner erlaubte ihn seiner Frau, bis die ungewollte großartige Apfelspende die Bresche schlug.

Dafür mußte denn doch, sobald sie genesen war, die Doktorsfrau einen Dankeschön-Besuch abstatten. Und die gute Frau Apotheker war klug genug, nicht gleich den guten Willen zu verleugnen, der ihr zugeschrieben wurde. Erst bei wieder gefestigter Freundschaft verriet sie den Sachverhalt, und so kam ich zu Dank und Schokolade. „Kinder haben eine größere Gerechtigkeit“, sagte die Frau Doktor. Ich weiß es noch heute. Und ich wunderte mich sehr, weil ich glaubte, etwas Unrechtes getan zu haben  (Wolfgang Zenker)

 

 

Zu viel Geld

[Junge hat Mühe, 20 Mark auszugeben]

Ich war neun Jahre alt, als mich zum ersten und zum letzten Male in meinem Leben der Besitz einer Geldsumme zur Verzweiflung brachte, weil ich nicht damit fertigwerden konnte. Mit meiner Schwester Elfriede war ich vorübergehend bei drei Großtanten untergebracht. Ich fürchtete die drei Tanten, weil ich von ihnen erzogen wurde und trotz aller Mühe immer alles falsch machte. An Elfriede war nichts zu erziehen, sie war rundherum musterhaft und unentwegt ehrenamtlich tätig. In der Schule durfte sie die Landkarten aufhängen, ausgestopfte Tiere in den Zeichensaal bringen und der Klassenlehrerin die Hefte nach Hause tragen.

Elfriede und ich hatten unsere Sparschweine von daheim mitgenommen. Unter kleinen und kleinsten Münzen beherbergte mein Sparschwein einen zusammengefalteten Zwanzigmarkschein. Ein großzügiger Onkel hatte ihn mir geschenkt, als ich mir zu Weihnachten ein Flugzeug gewünscht hatte. Als die Sparschweine voll waren, wurden sie zu meiner Empörung und Enttäuschung von den Tanten beschlagnahmt, um uns für den Inhalt später einmal etwas Nützliches anzuschaffen.

Ich sah mich vor die unerhörte Aufgabe gestellt, mein eigenes Geld stehlen zu müssen. Heimlich angelte ich mit einer Haarnadel den Zwanzigmarkschein aus dem Schwein. Nachmittags verführte ich Elfriede dazu, mit mir zu kommen, um das Geld zu verprassen. Zwar war ich von Elfriedes Vertrauenswürdigkeit nicht überzeugt, aber das gemeinsame Exil hatte sie meinem Empfinden nähergebracht und mich ihr gegenüber leichtfertig werden lassen. Eine dumpfe Ahnung warnte mich, Elfriede den Diebstahl an mir selber einzugestehen, und ich erzählte ihr eine sehr schöne Geschichte von einem Schulrat, der mit einer gläsernen Kutsche in den Schulhof gefahren war und mir das Geld gegeben hatte, ich solle es mit meiner Schwester verbrauchen.

Es war natürlich dumm von mir, gerade Elfriede an meinem Abenteuer teilnehmen zu lassen. Vielleicht fühlte ich mich gesichert, wenn ich sie mitschuldig machte. Vielleicht reizte mich, die erhöhte Gefahr, die mir durch sie entstehen mußte. Vielleicht trieb mich ein Dämon, die ewig Artige in das Gewirr dunkler Sünden zu verstricken und das Erhabene in den Staub zu ziehen. Vielleicht wählte ich Elfriede auch nur, weil ich zufällig kein anderes Kind zur Verfügung hatte.

Elfriede war ein Jahr älter als ich, aber der Besitz der zwanzig Mark gab mir vorübergehende Überlegenheit. Zuerst führte ich Elfriede an eine Limonadenbude, wo es Flaschen mit roten, gelben, grünen Getränken gab. Wir tranken sämtliche Farben. Elfriedes moralische Widerstandskraft war gebrochen, meine Unternehmungsgier riß sie mit. Der Verschluß der Selter­wasserflasche bestand aus einer kleinen gläsernen Kugel. Schon oft hatte ich vergebens versucht, diese Kugel aus der Flasche zu entfernen.

Ich wünschte mir sehnlichst gerade diese Glaskugel. In meinem Limonadenrausch kaufte ich eine Flasche, um sie mitzunehmen. Unter Herzklopfen und mit den Gefühlen eines Mörders, der heimlich eine Leiche beiseite schafft, zerschmetterte ich die Flasche an einer Bordschwelle. Ich hatte die Kugel. Welche Wunder ich mir von ihr erhoffte, wußte ich nicht. Wahrscheinlich gar keine. Die Kugel war Wunder an sich. Aus ihrem gläsernen Gefängnis hatte ich sie befreit, einen gläsernen Körper ihretwegen gewaltsam ermordet. Es hatte mich Überwindung gekostet, denn alles irdisch Vorhandene lebte für mich. Einem Blatt Papier glaubte ich wehzutun, wenn ich es zerriß.

Dem Zauber der Kugel gesellte sich der Zauber des Geldes. Ich hatte gefürchtet, der Zwanzigmarkschein hätte für die Orgie an der Limonadenbude nicht gereicht. Noch nie hatte ich eine Flasche Limonade allein trinken dürfen und sie immer für etwas sehr Teures und Kostbares gehalten. Furchtsam hatte ich den Schein dem Verkäufer hingehalten, und der hatte mir einen überwältigenden Haufen von Scheinen und Münzen zurückgegeben.

Ich ging mit Elfriede zu einem Eiswagen. Wir lebten aus dem Vollen und legten uns keinerlei Einschränkungen auf. Wie oft hatte ich geträumt, einmal so viel Eis essen zu dürfen, wie ich wollte und konnte. Elfriede übertraf noch meine beachtliche Leistungsfähigkeit. Sie fraß verbissen und schien seelisch weder abgelenkt noch erregt. Wieder zahlte ich mit einem Schein, und wieder bekam ich Geld zurück. Abermals hatte das Geld sich vermehrt.

Ich kaufte Salmiakstangen, Himbeerbonbons, saure Drops, zwanzig Hauchbildchen und mehrere Rollen Pfefferminzpastillen. Das Geld wurde nicht weniger. Im Gegenteil. Das Taschentuch, in das ich es gesammelt hatte, platzte fast vor lauter Münzen. Elfriede wurde schlapp

und weinerlich, und mich beschlich das Gefühl, unter einem Fluch zu leben.

Auf dem Rummelplatz fuhr ich mit Elfriede Schiffschaukel und Karussell. Nach dem fünften Male mußte sich Elfriede übergeben. Sie wollte nach Hause. Das ging nicht. Erst mußte das Geld alle sein. Ich sah keine Möglichkeit, so viel Geld zu Hause zu verbergen. Unauffällig versuchte ich, einige Münzen zu verlieren. Elfriede merkte es und sammelte sie trotz ihres hinfälligen Zustandes wieder auf. „Geld wirft man nicht fort“, tadelte sie nicht zu Unrecht, „wir wollen es den Tanten geben.“

Damit war ich nicht einverstanden. Hätte ich das Geld offiziell verbrauchen dürfen, würde ich Goldfische, Rollschuhe oder einen Wellensittich erstanden haben. So aber konnte ich das nicht. Krampfhaft überlegte ich, auf welche Weise sich das Geld noch verjubeln ließe. Mir fiel nichts ein. Ich muß eine spärliche Phantasie gehabt haben. Soweit sie überhaupt vorhanden war, wurde sie auch noch durch Elfriede gelähmt.

Ich kam auf den vernünftigen Gedanken, das Geld einem Bettler zu schenken. Dagegen konnte Elfriede nichts haben. Noch zu jeder Zeit bisher hatte es Bettler gegeben in Hülle und Rille. Jetzt, wo ich dringend einen brauchte, fand ich keinen. Vergeblich schleifte ich Elfriede eine halbe Stunde lang durch die Stadt. Ich erwog den Plan, in eine Konditorei zu gehen, traute mich aber nicht, aus Angst, dort vielleicht verhaftet zu werden. Aus einem Automaten zog ich zehn Päckchen gebrannte Mandeln. Die zehn Groschen machten mich nicht merklich ärmer. Außerdem war ich jetzt auch noch verpflichtet, den Haufen gebrannter Mandeln runterzu­würgen. Elfriedes Beistand war nichts wert.

Übrigens hätten wir längst zu Hause sein müssen. Unsere Verspätung würde eine verschärfte Kontrolle bedeuten. Vorübergehend spielte ich mit dem Gedanken, das Geld unter einem Baum zu vergraben, aber ich hatte keinen Spaten oder ähnliches und wußte auch keinen passenden Baum in der Nähe. Das Geld in einen einsamen Hausflur oder in einen Briefkasten zu werfen, duldete Elfriede nicht. Der einzige Vorschlag, den sie beisteuerte, war, das Geld mit Hilfe der Tanten in neue Sparschweine zu stopfen. Am liebsten hätte ich sie verprügelt, aber ich hoffte immer noch, sie zu dauerndem Schweigen überreden zu können. Zuletzt entschloß ich mich, das Geld bei der Obstfrau in unserer Straße abzuladen. Ich hatte keineswegs das Gefühl, der Frau damit einen Gefallen zu tun. Ich hoffte nur, sie würde mir vielleicht ein Opfer bringen und das Geld nehmen, denn sie war immer nett zu mir gewesen.

Ich entleerte mein Taschentuch auf dem Ladentisch der Obstfrau und verschwand schuldbewußt, eilig und ohne Erklärung. Vor der Tür würgte Elfriede an einer gebrannten Mandel, die sie aus Versehen unzerkaut verschluckt hatte.

Eine halbe Stunde später hatte Elfriede den Tanten eine lückenlose Darstellung meiner Delikte gegeben, soweit sie ihr bekannt waren, und vergoß Tränen der Reue über ihr eigenes strafbares Verhalten. Da ich selbst im Augenblick nicht mehr genau wußte, was wahr und was gelogen war, schwieg ich. Die Geschichte von dem segenspendenden Schulrat in der gläsernen Kutsche wollten die Tanten nicht glauben. Schließlich erschien auch noch die Obstfrau, um zu erfahren, was sie für das Geld liefern sollte, das ich ohne weitere Anweisung gebracht hatte.

Sie war der Meinung, ich wäre im Auftrag der Tanten zu ihr gekommen. Zu spät fiel mir ein, daß ich von dem Geld eine Fahrkarte hätte kaufen können, um nach Haus zu meiner Mutter zu fahren. Das Geld hat mir mein beleidigendes Verhalten bis zum heutigen Tage nicht verziehen. Ich habe nie mehr zuviel gehabt, aber sehr oft zuwenig. Und das ist auch nicht schön  (Irmgard Keun).

 

 

Im Wartezimmer

[Frau ist erleichtert, daß es bei ihrem Mann nur der Blinddarm war]

Sie sitzt im Wartezimmer und hält ihren alten schwarzen Schirm so fest in der Faust, daß die braunen Knöchel ganz weiß werden. Dabei blickt sie unverwandt auf das große gerahmte Bild neben dem Fenster, auf das rahmgelbe Weizenfeld mit dem roten Mohn und den blauen Korn­blumen am Rain. Und ihre Lippen bewegen sich kaum merklich in immerwährendem Ge­stam­mel, in einem Gebet, das über die Anfangsworte nicht hinauskommt und dennoch das dringlichste, das innigste ihres ganzen Lebens ist. „Mein Gott, tu mir das nicht an! Barmherziger Gott, tu mir das nicht an!“

..Hübsches Bild“, sagt der junge Mann mit dem geschienten Unterarm, der schon vor ihr im Wartezimmer saß. „So recht beruhigend, das Korn und die Blumen, nicht wahr? Wo die Leute hier doch meistens Angst haben.“ - „Ja, ja“, nickt sie, ohne die Augen von dem Bild zu lassen, „ja, da haben Sie recht.“ Sie fährt mit dem Taschentuch einmal rasch über die Stirn, packt ihren großen baumwollnen Schirm wieder fester und bewegt von neuem lautlos den Mund: ,,Allmächtiger Gott, tu mir das nicht an.“

Später kommen noch mehr Leute herein, ein junges Mädchen, eine Frau mit einem Kopfverband, ein blasses Schulkind. Sie setzen sich, nehmen eine Zeitschrift vom Tisch oder sprechen gedämpften Tones miteinander. Sie scheinen sich schon zu kennen. „Die Frau Wegener im Vierbettzimmer ist gestern gestorben, wissen Sie schon?“ - „Ach nein, die Frau Wegener! Sie war ja auch nur Haut und Knochen.“

Die Frau blickt auf das gemalte Weizenfeld, das gelb und üppig unter einem tintenblauen Himmel auf und nieder zu wogen scheint, auf und nieder, auf und nieder. „Mein Gott, mein Gott, tu mir das nicht an ... !“ Einundvierzig Jahre sind sie nun verheiratet, und es ist nicht immer eitel Sonnenschein bei ihnen gewesen. Besonders in der letzten Zeit. Sie hat über dies und jenes gebrummt, hat ihn kurzgehalten und auch manchmal kräftig losgeschimpft, wenn er so lange draußen herumhantierte bei seinen Stallhasen. So waren der guten Worte allmählich weniger, der scharfen und galligen dagegen immer mehr geworden - wie das eben so geht in einundvierzig Jahren. Die Liebe bleibt nicht so lange jung und heiß. Sorgen kommen, die tägliche Mühsal, die kleinen, gewöhnlichen Dinge und dazwischen hin und wieder auch ein schwerer Schlag.

Die Kinder sind nun aus dem Haus. Sie, die Eltern, sind wieder allein wie im Anfang, nur vier Jahrzehnte älter, gebeugt und etwas müde von aller Arbeit. Und die Liebe, die junge von ehe­mals, war mit gealtert, mit verblüht, war unansehnlich und grau geworden wie der alte, aus der Mode gekommene Schirm.

So hatte es denn hier und da einen mürrischen Blick gegeben, ein verdrossenes Schweigen, ein Türenschlagen, ein paar grobe Worte, gröber und härter, als gut war für sie beide. Es hätte behutsamer und milder sein können so manches Mal. Erst gestern Abend wieder, als sie ihn zum Nachtessen rief und er nicht gleich hereinkam von seinen Hasenställen, da hätte sie ihn nicht so anfahren sollen: „Ist das ein Kreuz mit dir, wirst noch rein närrisch mit dem Viehzeug. Das frißt Tag und Nacht und bringt nichts ein.“ Dabei mußte sie ja doch im Stillen zugeben, daß die Tiere eine ganz gute Hilfe waren zur Rente.

Zuviel Liebe macht blind, sagt man immer, aber zuwenig Liebe macht obendrein noch ungerecht und taub. Sonst hätte sie gestern Abend sehen und hören müssen, daß ihm nicht gut war. Sie hätte es nicht erst beim Zubettgehen merken dürfen, daß er sich krümmte vor Schmerzen und Übelkeit.

Jetzt ist ihr das Schelten denn freilich vergangen, aller Ärger, alle Verdrießlichkeit dazu. Nur die Angst ist geblieben und immerzu noch gewachsen, die schreckliche Angst, daß er sterben müsse; daß er auf einmal nicht mehr da sein werde, ihr Franz! Oh, diese Angst, dieses plötzliche Begreifen, wie nebensächlich doch alles war, woran sie sich gestoßen und geärgert hatte, wie klein und erbärmlich, nicht eines Wortes noch eines Gedankens wert. Dagegen wie kostbar, wie unersetzlich das andere: daß er nur da war, lebte, daß sie beieinander bleiben durften in Eintracht und Frieden. ..Mein Gott, tu mir das nicht an ... !“

Seit das weiße Auto mit dem roten Kreuz ihn aufnahm, kann sie nichts anderes mehr denken, ihr Mann, auf der Trage liegend, mit zerwühlten Haaren, weiß wie die Leinentücher, die so scharf nach Karbol und Äther rochen…Kommen Sie morgen früh wieder“, sagte der Doktor, während die Sanitäter ihren Franz durch die große Glastür davonfuhren, „morgen früh kann ich Ihnen Auskunft geben.“ Und nun sitzt sie hier, hält den alten Schirm fest wie einen Rettungsbalken und starrt auf das gemalte Weizenfeld. „Barmherziger Gott, tu mir das nicht an!“

Der junge Mann mit dem Schienenverband ist schon hereingerufen worden. Die Frau und das Mädchen unterhalten sich immer noch über Frau Wegener.

„Das ist nun schon die Zweite in dieser Woche. Bei beiden soll es Krebs gewesen sein.“ -

„Tu mir das nicht an, mein Gott ...“. Sie blickt auf das Bild, und ihr dünner, faltiger Mund ist ganz verkrampft von dem stimmlosen Gewisper. Ihre Lider brennen, denn sie hat kein Auge geschlossen in dieser Nacht, da Gott sie erkennen ließ, daß die Liebe zwar staubig und müde geworden, aber doch nicht gestorben ist.

Nein, im Gegenteil, sie ist nur tief hinabgesunken, tief hinabgewachsen in das alte Herz. Die Jahre haben ihre Runzeln darübergelegt, die Mühsal ihre Schwielen. Jetzt aber in der Angst und Ohnmacht dieser Nacht brach das alles auf, blätterte ab wie die rauhe, schrundige Schale von einer reifen Frucht. Und nun soll alles vorüber sein und nichts mehr gutzumachen?

„Tu mir das nicht an, mein Gott!“

Als der Arzt sie ruft, greift sie zitternd nach ihrer Tasche und stolpert beinah über den Schirm.

„Nun, Frau Nachmann, keine Sorge. Wir haben den Blinddarm herausgenommen, den Störenfried. War aber auch hohe Zeit!“ Sie behält diese wenigen Worte im Gedächtnis, so genau und sicher wie den Tag ihrer Trauung und die Namen der Kinder. Sie wird sie noch oft wiederholen und weitererzählen.

Fast andächtig, als sei sie in der Kirche, betritt sie nachher den Krankensaal, und an des Alten Bett sitzt sie so schüchtern und befangen, als seien die letzten einundvierzig Jahre nicht schon vergangen, sondern stünden erst vor der Tür, die guten, die schweren, die gesegneten Jahre.

„Nur einen Augenblick!“ hatte die Schwester gesagt, und so erhebt sie sich bald wieder, berührt unbeholfen die knotige Hand auf der Decke und wappnet sich von neuem mit Tasche und Schirm.

„Bis morgen, Vater, muß jetzt bloß rasch nach Hause, die Hasen füttern!“ Gescheiteres fällt ihr im Augenblick nicht ein. Es scheint, daß harte Worte immer rascher zur Hand sind als die sanften und heilenden. Fortan aber, und das gelobt sie sich auf dem Heimweg wohl hundertmal, fortan sollen Milde und Freundlichkeit ihr ganz geläufig werden   (Herta Grandt).

 

 

 

 

Wenn ...

Wenn ich groß bin,

werde ich auch Kosmonaut,

sagte der Junge.

Wenn ich groß bin, möchte ich viele Kinder haben,

sagte das Mädchen.

Wenn ich das Examen hinter mir habe, will ich froh sein,

sagte der Student.

Wenn ich wieder gesund bin, sieht sich alles anders an,

sagte der Kranke.

Wenn meine Mutter noch lebte, könnte ich sie um Rat fragen, sagte die junge Frau.

Wenn ich noch zehn Jahre jünger wäre, könnte ich die Aufgabe übernehmen,

sagte der Ingenieur.

Wenn ich Rentner bin, habe ich Zeit für mein Hobby,

sagte der Berufstätige.

Wenn ich Urlaub habe, will ich mich richtig erholen,

sagte der Abteilungsleiter.

Wenn ich nur wüßte, was ich tun soll,

sagte der Ratlose.

Wenn es einen Gott gäbe, dürfte es nicht so viel Leid geben,

sagte der Zweifler.

Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet,

will ich mich von euch finden lassen,

spricht Gott.                                                                                      (Hans-Georg Haberecht)

 

 

Und er ging zu ihnen           

[Pfarrer holt die Männer, die vor der Kirche stehen]

Der Pfarrer war alt geworden. Schlohweiß und gebeugt. Denn der Herzensboden, auf dem seine Gemeinde wuchs, war steinig. Was die guten Früchte anging, die er tragen sollte, so war recht wenig davon zu sehen, es sei denn, das Auge des lieben Gottes hätte mehr entdeckt, als der Blick des Pfarrers wahrnahm. Doch möchte ich den guten Leuten sowenig unrecht tun, wie ich sie zu verteidigen gedenke. Denn einige von ihnen kannte ich recht gut. Und da mir auch der Pfarrer bei mancher Gelegenheit etwas nähergekommen war, glaube ich sagen zu dürfen, daß die Schuld an den zweifellos vielen Unseligkeiten sich nicht allein auf einer Seite türmte. Wobei ich versichere, daß ich weder dem Hirten noch der Herde die Schuld des bösen Willens unterschieben kann. Sie paßten ganz einfach nicht zueinander.

Schließlich war es soweit. Der Pfarrer war müde geworden. Vergrämt bat er seinen Bischof, das Amt von ihm zu nehmen. Ein Neuer trat an seine Stelle. Dessen Wesen setzte sich ein bißchen anders zusammen als das seines Vorgängers, und er hatte das große Gottesgeschenk, die einzelnen recht anzusprechen; weshalb er bald als volkstümlich galt und allgemeine Beliebtheit genoß - obwohl er es den Leuten keineswegs leichter machte als der alte Pfarrer.

 

Von da an ereigneten sich Dinge in der Gemeinde, an die man zuvor im Traum nicht zu denken gewagt hätte. Um nur eines davon zu berichten: Wenn der frühere Pfarrer predigte, konnte er fest darauf zählen, daß seine Zuhörer zu neunzig Prozent Zuhörerinnen waren. Die Hauptmacht der Männer stand bis nach der Predigt an der Mauer gegenüber der Kirche und geruhte erst dann, sich im Portalgang unter dem Kirchturm einzufinden, wenn die Opfermesse begann. Sooft der alte Pfarrer von der Kanzel darüber wetterte, traf sein Donner die Verkehrten, denn die Gemeinten waren - wie gesagt - außer Reichweite. Das war ungeschriebenes Gesetz und unabänderlich. - Der Neue kam und studierte dieses Gesetz sehr gründlich. Doch am Ende seiner Studien hatte er keineswegs, wie man erwarten sollte, die Gewitterpredigt beieinander. Nein, er lächelte nur. Dieses Lächeln war aber so undurchdringlich wie eine Wolkenwand, hinter der sich Unabsehbares zusammenbraut. Und tatsächlich, eines schönen Sonntagmorgens blitzte es. Doch anders, als es bei anderen blitzt. Daran werden die Männer zeitlebens denken.

Die Glocken hatten ausgeläutet, und der Pfarrer schritt mit dem Weihwasserwedel zum Asperges (Austeilung des Weihwassers vor Beginn des Gottesdienstes) durchs Kirchenschiff.

Hinten angelangt, vergaß er die übliche Kehrtwendung und wies den Küster an, das Portal weit aufzusperren. Der Küster zog ein verstörtes Gesicht. Doch Pfarrer ist Pfarrer. Und dann gingen Pfarrer und Küster würdigen Schrittes bis zur Stadtmauer hinüber, wo mehr denn zwei Dutzend Männer liebend gern in den Erdboden versunken wären. Der Pfarrer übersah ihre Verlegenheit.

Er lächelte sein bekanntes Lächeln, besprühte die im bildhaftesten Sinne des Worts Abständigen und erklärte mit entwaffnender Selbstverständlichkeit: „Wenn ihr nicht zu mir kommt, dann komme ich eben zu euch.“ - Sagte es, kehrte um und zog, von über zwei Dutzend reuiger Sünder gefolgt, wieder ins Gotteshaus ein. Von da an betrug der Anteil der Predigthörerinnen nur noch sechzig Prozent.

Als man dem früheren Pfarrer bei gelegentlichem Besuch davon erzählte, schüttelte er verständnislos den Kopf und meinte, im Dorf sei ein Wunder geschehen. Dieser vermeintlichen Wunder gab es manche. Und wer ihr Geheimnis ergründen wollte, brauchte nur auf das Aufleuchten der Augen zu achten, wenn in der Gemeinde der Name dieses Priesters genannt wurde, der zu den Menschen ging, um ihnen die Liebe Christi zu bringen  (Erwin Kleine).

 

 

Der Läufer

[Junge kann Wettlauf nicht gewinnen und stolpert deshalb absichtlich]

Er kam herein wie einer, dem alles, was er sich vorgenommen hatte, gelungen war; aber um seine Mundwinkel lag ein Zug leichter Bitterkeit, den er mir, der ich sein Gesicht kannte wie keines sonst, nicht verheimlichen konnte. „Wie war es“, fragte ich nur so nebenher. „Gut“, sagte er und setzte sich.

Ich blickte ihm ins Gesicht. Er schwieg, versuchte zu lächeln. Dann sah ich sein Knie. Er hatte das Taschentuch um das Knie gebunden. Die Ränder des Taschentuches hatten rote Flecken. „Laß sehen“, sagte ich und löste das Taschentuch von seinem Knie. Er biß die Zähne zusammen. „Tut es sehr weh?“ - „Es geht“, sagte er, „nicht besonders.“ - „Bist du gestürzt?“ - „Ja!“ - „Vor oder hinter dem Ziel?“ - „Vorher!“- „Ach so!“

Ich zog einen zweiten Stuhl heran, hob seine Beine hoch und legte sie behutsam auf den Stuhl. „Ich werde es mit Jod einreiben“, sagte ich. „Aber das wird ein bißchen weh tun. Hältst du das aus?“ Er nickte. Ich hatte das Jod geholt. Die Tinktur roch stark und verbreitete eine Art Krankenhausatmosphäre im Zimmer. Ich hatte den Pinsel in die Flasche getaucht. „Noch nicht“, bat er. „Gut“, sagte ich und stellte die Flasche auf den Tisch.

„Weißt du“, sagte er, „wenn ich nicht gestürzt wäre, hätte ich es geschafft!“ - „Glaubst du?“ - „Bestimmt. Der, der gewonnen hat, kann niemals solche Zeit auf hundert Meter laufen wie ich!“ - „Und woran hat es gelegen?“ - „.Am Start. Weißt du, mein Herz klopft mir immer im Halse, wenn ich im Startloch kniee und darauf warte, daß es endlich losgehen soll!“ - „Er hat eben die besseren Nerven gehabt“, sagte ich. Er schwieg.

Ich nahm die Jodflasche vom Tisch. „Wollen wir?“ - „Nein, noch nicht“, sagte er. Und nach einer Weile: „Hauptsächlich ist es ja wegen der Urkunde. Ich hatte schon einen Platz dafür!“ -„Wo denn?“ - „Über deinem Schreibtisch!“ „Kleiner“, sagte ich, „wenn es deswegen ist, mach dir nichts draus. Ich weiß, daß du ein großartiger Läufer bist!“ - „Aber wenn ich gewonnen hätte, hätte ich eine Urkunde bekommen und wäre der beste Läufer aller Elfjährigen unserer Schule!“ - „Das stimmt schon“, sagte ich, „aber im Augenblick ist es wichtiger, daß dein Knie wieder in Ordnung komm!“

„Weißt du“, sagte er, „bevor es losging, da haben sie mich schon als Sieger gesehen, und alle standen um mich herum, klopften mir auf die Schultern und wollten meine Freunde sein!“ -„Und nachher?“ - „Sie dachten, ich würde heulen?“ „Das haben sie von dir gedacht“ - „Ja, aber ich habe gelächelt, und dann habe ich so vor mich hin gepfiffen!“ - „Gepfiffen, das war gut, das war schon viel, schon beinahe alles?“ - „Wie meinst du das?“ - „Ich finde, du hast dich großartig benommen!“ - „Wirklich?“ - Bestimmt, und jetzt wollen wir uns endlich um das verletzte Knie kümmern, nicht wahr?“

„Gleich?“ Er wehrte mit beiden Händen ab. Ich sah ein verdächtiges Zucken um seinen Mund. Ich blickte zur Seite, rührte in der Jodflasche herum und tat so, als ob das im Augenblick das Wichtigste von der Welt sei.

„Weißt du“, sagte er leise, stockend, „ich bin gar nicht gestürzt, der andere war nämlich schneller als ich. Es war einfach nicht zu schaffen, und da tat ich so, als ob ich ins Stolpern geraten wäre, und fiel hin!“

„Bitte, halt das Bein ganz locker. Ich werde jetzt Jod auf dein Knie streichen. Das wird sicher sehr weh tun. Wenn du weinen mußt, wein ruhig. Glaub mir, ich habe schon Männer gesehen, die dabei geweint haben?“ Ich sah, daß die ersten Tränen bereits über sein Gesicht liefen. Ich mußte mich beeilen, das zerschlagene Knie einzureiben (Erich Junge).

 

 

Halte dich an mich

[Junge stiehlt Brot im Kriegsgefangenenlager, aber der Bestohlene gibt ihm noch etwas von seiner Ration ab]

Als wir im Mai 1945 gesammelt und in langen Lastwagenkolonnen in ein großes Lager gebracht wurden, waren die meisten zuversichtlich, bald nach Hause zu kommen. Als jedoch die Tage wie rieselnder Sand sich zu Wochen häuften, wurde dieses Hoffen bei vielen verschüttet. Die erste Zeit standen wir, so nahe es erlaubt war, am Zaun - und dahinter blühten die Pfingstrosen, und die Menschen gruben in den Schrebergärten. Später wehte der Wind Schwaden von Korngeruch durch das Lager, in dem Männer, deren Zahl zur Bevölkerung einer mittleren Stadt ausgereicht hätte, sich in ihren mit den Händen gegrabenen Löchern vor der Glut der endlosen Tage und vor den kalten Nächten zu schützen suchten. Wer noch Zigaretten hatte, rauchte sie, so heimlich es ging, wenn er rücksichtsvoll war. Aber verhindern konnte er nicht, daß der gierigen Blicke aus den Nachbarlöchern ständig mehr wurden. In einem waren schon alle gleichgestellt: im Durst. Dann folgte der Hunger.

Als die Erntewagen fuhren, rollten wir in offenen Güterzügen durch das Neckartal in ein neues Lager, in dem es Zelte gab. Mir waren die Gesichter fremd im Waggon. Aber auch unter solchen niederdrückenden Zwangsgemeinschaften tauchten immer wieder Gesichter auf, die naherückten. Ich kam mit einem Älteren ins Gespräch. Er stand neben mir. Er hieß Konrad und hatte ein fast viereckiges Gesicht. Weil mir seine Augen gefielen, störte es mich bald nicht mehr, daß er in regelmäßigem Abstand die Luft durch die etwas vorstehenden Zähne einsog. Auch war es mir angenehm, daß er fast so ruhig war wie ich. Seinem Alter nach hätte er mein Vater sein können.

Während der vielstündigen Fahrt standen wir dichtgedrängt und begannen, uns aneinander zu lehnen. Konrad sprach wenig, erzählte aber doch manches Persönliche. Vom Beruf Postangestellter, hatte er seinen Dienst in einer Feldpoststelle getan. Er hatte spät geheiratet, und es wirkte auf mich, der ich noch sehr jung war, komisch, wie er in einer für sein Alter ungewöhnlichen Hingabe vom Glück seiner Ehe sprach. Seinen dreijährigen Sohn hatte er nur kurz nach der Geburt gesehen. Schließlich meinte er noch: „Im letzten Lager sind die Pfingstrosen verblüht, im nächsten werden die Christrosen verblühen. Aber halte dich nur an mich, wir werden es schon schaffen!“ Er sagte das wie alles leise, fast flüsternd. Er hatte eine Halsverletzung aus dem ersten Weltkrieg.

Als wir zum Marsch in das Lager antraten, spielte er seine väterliche Rolle so vortrefflich, daß ich gar nicht dazu kam, mich nach ihm umzusehen. Er war immer da, schob mich, hielt mich, rief mich, bis wir unter einem der langen Dachzelte standen, die Reihe neben Reihe an einem Hang errichtet waren. Ein schmaler Laufgang teilte jedes Zelt. Zu beiden Seiten lagen je zwan­zig Mann auf frischem Klee, auf dessen dünner Schicht man wie auf dem Erdboden schlief. Doch war der Geruch des welkenden Klees in den ersten Tagen eine gute Hilfe, in den Schlaf zu sinken und allein zu sein, sehr weit fort. Die ersten Fröste waren gekommen. Die Kälte erwies sich als eine gute Verbündete des Hungers. Wir schliefen zu dritt unter den Decken. Es war so eng, daß wir uns nur gemeinsam drehen konnten. Aber wir froren nicht. Dennoch war ich bedrückt. Sich in äußerer Raumnot genügend inneren Raum zu schaffen, vermögen nur wenige.

Im Laufe der Monate war Konrad immer stiller geworden. Ich hatte den Eindruck, daß er die meiste Zeit vor sich hin träumte. Seine gleichbleibende Sanftmut begann mich zu stören. Ich stieß mich besonders daran, wenn er mich in meiner Niedergeschlagenheit aufmuntern wollte. Brauste ich dann auf, strich er mir über den Kopf und sagte nichts. Das ärgerte mich noch mehr. Ich wollte nicht wie ein Kind behandelt sein.

Ich zog mich zurück und dämmerte vor mich hin, und je winterlicher es wurde, umso schmerzlicher quälten mich die Gedanken an zu Hause. Ich sah die Fichten verschneit und die runden Buchsbäume vor dem Haus und hörte an der Hoftoreiche den Buntspecht klopfen. An den Stufen schlug ich den Schnee von den Schuhen. Ich trat in die Wohnstube. Der Hund erhob sich von seinem Ofenplatz und kam langsam auf mich zu.

Die Vorstellung vom Augenblick des Schneeabschlagens bis zum Eintritt in das Zimmer konnte ich in ständiger Wiederholung so stark erleben, daß mein Lebendigsein dort zu sein schien, wo der Körper nicht war. Umso ernüchternder wurde dann das Erwachen, wenn wir, noch in der Finsternis des Morgens, bei Kerzenlicht unsere Suppe erhielten und die Zeitdecke innen dick mit glitzerndem Reif überzogen war. Am Abend wurde das Brot ausgegeben, das manche sehr verspielt in viele kleine Scheiben zerteilten, um die Einbildung einer größeren Menge zu haben; andere wieder verschlangen den Kanten in einem Stück; wieder andere hoben sich etwas auf, um eine Reserve zu haben.

An einem Dezembertage wurden Freiwillige für eine Arbeit außerhalb des Lagers gesucht. Konrad meldete sich als einer der ersten. Er wollte mich überreden mitzukommen, doch ich blieb. Mein Gereiztsein ihm gegenüber war so weit gediehen, daß ich dachte: Er hofft ja nur, sich irgendeinen Vorteil zu verschaffen.

Es war dunkel, als sie zurückkamen. Konrad kniete sich auf seinen Platz neben mich, sah mich an wie Sankt Nikolaus und der Weihnachtsmann in einem, öffnete behutsam den Mantel und drückte mir einen Fichtenzweig in die Hand. „So, nun feiern wir Advent“, sagte er, „fast wie zu Hause!“ Das klang ohne jede Ironie. Mich rührte diese Geste, ich bedankte mich. „Du mußt das Stück in die Kerze halten, das riecht gut.“

Ich tat es, und die Tränen waren mir selten so nahe wie in diesem Augenblick, als ich die verknisternden Nadeln roch. Dabei bemerkte ich, wie Konrad - unruhig in seinen Sachen wühlend - den Kopf schüttelte und mit seiner heiseren Stimme flüsterte: „Das ist unmöglich, einfach ausgeschlossen“!“ Auf meine Frage nach dem Grund seines nervösen Suchens in den wenigen Habseligkeiten schwieg er und sah mich nur an. Ich wußte nicht, war das Traurigkeit in seinen Augen oder Entsetzen über etwas Ungeheuerliches. Mit angezogenen Beinen saß er dann und starrte vor sich hin. Ich wiederholte meine Frage.

Da beugte er sich nahe zu mir und raunte mir fast ins Ohr: „Sage nichts, aber mein Brot ist weg. das ich mir aufgehoben hatte!“ Ich weiß nicht, welche Regung zuerst in mir aufkam. Am meisten tat er mir wohl leid, wie er so neben mir saß, obgleich es mir unbegreiflich war, wie man sich von dieser Ration noch etwas zurücklegen konnte. Zugleich aber überkam mich ein leises Grauen. Das war der erste Diebstahl, den ich hinter dem Stacheldraht erlebte. Konrad beschwor mich: „Halte den Mund, sage nichts!“ Ich antwortete: „Nein“, und ich bemerkte den doppelten Sinn dieses Neins. Da wußte ich, daß ich es sagen würde.

Ich wartete, bis Konrad das Zelt verlassen hatte. Dann ging ich zum Zeitältesten, erzählte es ihm und deutete ihm auch meine Vermutung an. Ich bat ihn, mit dem Bestohlenen nicht darüber zu reden, weil ich unsere Freundschaft nicht aufs Spiel setzen wollte. Sie war mir plötzlich wieder wichtig. Später beobachtete ich, wie der Zeltälteste mit verschiedenen sprach. Ich legte mich früher als gewöhnlich hin. Mir war es nicht ganz wohl in meiner Haut. Ich rollte mich allein in meine Decke und sagte etwas von Kopfschmerzen.

Ich erwachte von einem furchtbaren Geschrei. Zwischendurch hörte ich Konrads Stimme: „Was ist denn los? Seid ihr verrückt geworden?“ Ich wußte, was los war. Ein Schütteln durchlief meinen Körper. Das war die Justiz der Gefangenen, die ich später noch mehrmals erlebte. Aber nie wieder habe ich etwas dazu beigetragen. Ich weiß nicht, wie lange sie noch auf den Jungen eingeschlagen hätten, wenn sich Konrad nicht dazwischen geworfen und mit überstürzender und immer brüchiger werdender Stimme Einhalt geboten hätte. Die erregten Sachwalter des Prügelrechtes ließen schimpfend von ihrem Opfer ab: „Erschlagen müßte man dich, du Lump, Kameraden bestehlen, pfui Teufel!“

Das ganze Zelt war wach. Verschlafene Gesichter sahen schräg aus den Decken. Stimmen schwirrten durcheinander. Rufe nach Ruhe wurden laut. Konrad verschaffte sich mühsam Gehör: „Legt euch hin und schlaft. Ich mache das mit dem allein ab!“ Allmählich wurde es wieder still. Nur das leise Schluchzen des Geprügelten hörte ich noch lange Zeit, bis er sich in den Schlaf geweint zu haben schien. Er war Konrads übernächster Nachbar.

Konrad sagte kein Wort zu mir. Mir bangte vor dem Morgen. Er kann ja nicht stillschweigend, ohne Vorwurf, darüber hinweggehen, zumal er wissen muß, daß nur ich das eingerührt haben konnte. Schlaflos lag ich da. Mich fror. Da wendete er sich zu mir: „Wir wollen die Decken übereinanderlegen. Du frierst doch!“

Am Morgen war es wie immer. Nur der Junge lag auf seinem Platz, von allen unbeach­tet. Sein Kindergesicht schien noch kleiner geworden über Nacht. Als abends bei Kerzenlicht das Brot ausgegeben wurde, sah ich, wie Konrad seinen Kanten zerbrach und die eine Hälfte dem Jungen auf die Decke schob und auf dessen entsetzte Augen hin sagte: .,Iß, es ist gut!“ (Gotfried  Unterdörfer).

 

 

Der unsichtbare Nachbar

[Ein Fremder winkt einem Jungen aus dem Zug und macht ihn dadurch glücklich]

Der Nachtportier hob bedauernd die Schultern: „Das ist die einzige Möglichkeit“, sagte er, „zu so später Stunde werden Sie nirgendwo ein Einzelzimmer bekommen. Es steht Ihnen natürlich frei, in anderen Hotels nachzufragen, aber ich kann Ihnen schon jetzt sagen, daß wir, wenn Sie ohne Ergebnis zurückehren, nicht mehr in der Lage sein werden, Ihnen zu dienen. Das freie Bett in dem Doppelzimmer, das Sie - ich weiß nicht aus welchen Gründen - nicht nehmen wollen, wird dann auch einen Müden gefunden haben!“

„Gut“', sagte Herr Schwamm, „ich nehme des Bett. Nur, wie Sie vielleicht verstehen werden, möchte ich wohl wissen, mit wem ich das Zimmer zu teilen habe. Nicht aus Vorsicht; gewiß nicht: denn ich habe nichts zu fürchten« Ist mein Partner - Leute, mit denen man eine Nacht im gleichen Zimmer verbringt, könnte man doch Partner nennen - schon im Hause?
„ - „Ja, er ist da und schläft!“ - „Er schläft?“ wiederholte Schwamm nachdenklich und ließ sich dann die Anmeldeformulare geben, füllte sie gewissenhaft aus und reichte sie dem

Nachtportier zurück: Als Schwamm zu seinem Zimmer hinaufging, hatte er ein merkwürdiges Gefühl; es war ihm zumute, als müßte er in einen Brunnen hinabspringen, dessen Boden nicht zu sehn war und der in der Dunkelheit mancherlei Geheimnisse bereithalten mochte. Unwillkürlich verlangsamte er seine Schritte, als er sich dem Zimmer näherte und hielt den Atem an in der Hoffnung, Geräusche zu hören. Er beugte sich sogar zum Schlüsselloch hinab. Das Zimmer war dunkel. Als er jemand die Treppe heraufkommen hörte, drückte er schnell die Klinke und trat ein.

Das Zimmer war tatsächlich dunkel. Er schloß die Tür und tastete klopfenden Herzens nach dem Lichtschalter. Plötzlich hielt er in seiner Bewegung inne: Neben ihm, wo also die Betten stehen mußten, sagte jemand mit einer dunklen, aber auch energischen Stimme: „Bitte, machen Sie kein Licht! Sie würden mir einen Gefallen erweisen, wenn Sie das Zimmer dunkel ließen!“

„Haben Sie auf mich gewartet?“ fragte Schwamm erschreckt. Auf diese Frage erhielt er keine Antwort. Stattdessen sagte der Fremde: „Stolpern Sie nicht über meine Krücken, und seien Sie vorsichtig, daß Sie nicht über meinen Koffer fallen, der ungefähr in der Mitte des Zimmers steht. Ich werde Sie sicher zu Ihrem Bett dirigieren. Gehen Sie drei Schritte an der Wand entlang, dann wenden Sie sich nach links, und wieder nach drei Schritten werden Sie den Bettpfosten berühren können!“

Auf diese Weise erreichte Schwamm sein Bett, entkleidete Sieh und schlüpfte unter die Decke. Er hörte die Atemzüge des anderen und spürte, daß er vorerst nicht würde einschlafen können.

„Übrigens“, sagte Schwamm zögernd nach einer Weile, „mein Name ist Schwamm“ - „So“, sagte der andere. „Sind Sie zu einem Kongreß hergekommen?“ - „Nein, und Sie?“ - „Auch nicht!“- „Geschäftlich?“ - „Das kann man nicht sagen!“ -„Ich habe wahrscheinlich den merkwürdigsten Grund, den je ein Mensch hatte, um in die Stadt zu fahren“, sagte Schwamm. „Wollen Sie in der Stadt Selbstmord begehen?“ fragte der andere. „Nein“, sagte Schwamm, „sehe ich so aus?“ - „Ich weiß nicht, wie Sie aussehen“, sagte der andere, „es ist dunkel!“ Schwamm erklärte: „Ich habe einen Sohn, Herr ...(der andere nannte seinen Namen nicht), einen kleinen Lausejungen, und seinetwegen bin ich hierhergefahren!“ -„Ist er im Krankenhaus?“ - „Wieso denn? Er ist gesund; ein bißchen blaß, das mag sein, aber ein guter Schüler. Aber ich wollte Ihnen den Grund nennen, warum ich hier bin, hier bei Ihnen, in diesem Zimmer. Wie ich schon sagte, hängt das mit meinem Jungen zusammen. Er ist äußerst sensibel, mimosenhaft, reagiert bereits, wenn ein Schatten auf ihn fällt!“

„Also ist er doch im Krankenhaus?“ - „Nein“, rief Schwamm, „ich sagte Ihnen schon, daß er gesund ist, wohlauf in jeder Hinsicht, bis jetzt jedenfalls. Aber er ist gefährdet, dieser kleine Bengel hat ein Glas-Seelchen, und darum ist er bedroht. „Warum begeht er nicht Selbstmord?“ fragt der andere. „Aber hören Sie ein Kind wie er. Wie kommen Sie darauf? Nein, mein Junge ist aus folgenden Gründen gefährdet: Jeden Morgen, wenn er zur Schule geht - er geht übrigens immer allein dorthin -, jeden Morgen muß er vor einer Schranke stehenbleiben und warten, bis der Frühzug vorbei ist. Er steht dann da, der kleine Kerl, und winkt, winkt heftig und freundlich und verzweifelt!“ - „Ja, und?“ - „Dann geht er in die Schule, und wenn er nach Hause kommt, ist er verstört und manchmal weint er auch. Er ist nicht imstande, seine Schularbeiten richtig zu machen, er mag nicht spielen und nicht sprechen. Das geht nun schon seit Monaten so, jeden lieben Tag. Der Junge geht mir kaputt, er verwelkt mir unter meinen Blicken!“- „Aber warum denn nur?“

„Sehen Sie“, sagte Schwamm, „das ist so merkwürdig: Der Junge winkt, und wie er zu Tode betrübt feststellt, winkt ihm keiner der Reisenden zurück. Und das nimmt er sich so zu Herzen, daß wir, meine Frau und ich, die größten Befürchtungen haben. Er winkt, und keiner winkt zu zück. Natürlich kann man die Reisenden nicht dazu zwingen, und es wäre absurd, ihnen Vorschriften zu machen, aber ....“

„Und. Sie, Herr Schwamm, wollen nun dem Elend Ihres Jungen ein Ende machen, indem Sie morgen den Frühzug nehmen und dem Kleinen zuwinken?“ - „So ist es, Herr. „Mich“, sagte der Fremde, „gehen Kinder nichts an. Ich hasse sie und weiche ihnen aus, denn ihretwegen habe ich - wenn man's genau nimmt - meine Frau verloren. Sie ist bei ihrer ersten Geburt gestorben!“

„Wie furchtbar“, sagte Herr Schwamm und stützte sich im Bett auf. Dann spürte er auf einmal, daß er jetzt würde einschlafen können.

Der andere fragte: „Sie fahren nach Kurzbach, nicht wahr?“ - „Ja!“- „Und kommen Ihnen keine Bedenken bei Ihrem Vorhaben? Offener gesagt: Sie schämen sich nicht, Ihren Jungen zu betrügen? Denn was. Sie da vorhaben -Sie müssen es zugeben - ist doch ein glatter Betrug, eine Hintergehung!“

Schwamm war ganz aufgebracht: „Was erlauben Sie sich, ich bitte Sie, wie kommen Sie dazu?“ Er ließ sich fallen, zog die Decke über den Kopf und schlief, zumal der andere auch nicht mehr sprach, rasch ein.

Als er am nächsten Morgen erwachte, stellte er fest, daß er sich allein im Zimmer befand. Er blickte, auf die Uhr und erschrak: bis zum Morgenzug blieben noch fünf Minuten, es war ausgeschlossen, daß er ihn noch erreichten

Am Nachmittag - er konnte es sich nicht leisten, noch eine Nacht in der Stadt zu bleiben - kam er niedergeschlagen und enttäuscht nach Hause. Sein Junge öffnete ihm die Tür, Feuer des Glücks in den Augen, ausgelassen und munter. Er warf sich ihm entgegen, hämmerte mit den kleinen Fäusten gegen seine Schenkel und rief: „Einer hat gewinkt, Vati, einer hat ganz

Lange und ganz doll gewinkt!“ - „Mit einem Stock?“ fragte Schwamm. „Ja, und zuletzt hat er sein Taschentuch an den Stock gebunden und es so lange aus dem Fenster gehalten, bis ich es nicht mehr sehen konnte!“    (Siegfried Lenz).

 

 

Das wandernde Brot

[Jeder schenkt ein Stück Brot weiter, bis es wieder bei dem Ersten ankommt]

Als der Geheime Medizinalrat Professor Breitenbach in S. gestorben war, gingen seine drei Söhne, selbst schon reife Männer, an das traurige und wehmütige Geschäft, den Nachlaß ihres Vaters, getreu seinem letzten Willen, unter sich zu verteilen. Es waren alte, handgeschnitzte Eichenmöbel, schwere Teppiche, kostbare Gemälde. Und dann war da eine Vitrine, ein schmaler, hoher Glasschrank mit geschliffenen Scheiben. In diesem Schrank, den der Medizinalrat bei Lebzeiten wie ein Heiligtum hütete, waren kleine Kostbarkeiten und seltsame Erinnerungsstücke aufbewahrt. Behutsam nahmen die Brüder den Inhalt heraus.

Plötzlich stutzten sie. Einer von ihnen hatte ein merkwürdiges Gebilde entdeckt, einen grauen, verschrumpften, knochenharten Klumpen. Vorsichtig nahm er es heraus im Glauben, eine besondere Kostbarkeit in Händen zu haben. Doch wie groß war das Erstaunen, als man erkannte, daß es sich um nichts anderes handelte als um ein vertrocknetes Stück Brot. Ratlos sahen sie einander an. Ahnend, daß der Vater nichts aufbewahrt hätte, was nicht von besonderem Wert für ihn gewesen wäre, begannen sie lange herumzurätseln.

Endlich befragten sie die alte Haushälterin. Die brauchte sich nicht lange zu besinnen: In den Hungersjahren nach dem Weltkrieg hatte der alte Herr einmal schwerkrank darniedergelegen. Zu der akuten Erkrankung war ein allgemeiner Erschöpfungszustand getreten, so daß die Ärzte bedenklich die Stirn runzelten, etwas von kräftiger Kost murmelten und dann resigniert die Achseln zuckten. Damals hatte ein Bekannter ein halbes Brot geschickt mit dem Wunsch, der Medizinalrat möge es getrost essen, damit er ein wenig zu Kräften komme.

Zu dieser Zeit habe aber im Nachbarhaus die kleine Tochter des Lehrers krank gelegen, und der Medizinalrat hat verschmäht, das Brot selbst zu essen, sondern es den Lehrersleuten hinübergeschickt. „Was liegt an mir altem Mann“, habe er dazu gesagt, „das junge Leben dort braucht es nötiger!“ Wie sich aber später herausstellte, hatte auch die Lehrersfrau das Brot nicht behalten wollen, sondern an die alte Witwe weitergegeben, die in einer Dachstube ein Notquartier gefunden hatte.

Aber auch damit war die seltsame Reise des Brotes nicht zu Ende. Die Alte mochte ebenfalls nichts davon essen und trug es zu ihrer Tochter, die nicht weit von ihr mit ihren beiden Kindern in einer kümmerlichen Kellerwohnung Zuflucht gefunden hatte. Die hingegen erinnerte sich daran, daß ein paar Häuser weiter der alte Medizinalrat krank lag, der einen ihrer Buben kürzlich in schwerer Krankheit behandelt hatte, ohne etwas dafür zu fordern.

„Nun ist die Gelegenheit da“, so dachte sie, „daß ich mich bei dem freundlichen alten Herrn bedanke!“ Sprach's, nahm das halbe Brot unter den Arm und ging damit zur Wohnung des Medizinalrates. „Wir haben es sogleich wiedererkannt“, schloß die Haushälterin, „an der Marke, die auf dem Boden des Brotes klebte und ein buntes Bildchen zeigte!“ Als der Medizinalrat sein eigenes Stück Brot wieder in Händen hielt, war er sehr erschüttert und sagte: „Solange noch die Liebe unter uns ist, die ihr letztes Stück Brot teilt, solange habe ich keine Furcht um uns alle!“

Das Brot hat er nicht gegessen. Vielmehr sagte er zu mir: „Wir wollen es gut aufheben, und wenn wir einmal kleinmütig werden wollen, dann müssen wir es anschauen. Dieses Brot hat viele Menschen satt gemacht, ohne daß ein einziger davon gegessen hätte. Es ist wie ein heiliges Brot, das zum sichtbaren Willen Gottes wurde und zum Beweis dafür, daß sein Wort auf guten Boden gefallen ist!“ Damals legte der Medizinalrat das Brot in die Vitrine, und ich weiß, daß er es oft angeschaut hat.

Als die Haushälterin geendet hatte, schwiegen die Brüder lange Zeit. Endlich sagte der Älteste: „Ich denke, wir sollten das Brot unter uns aufteilen. Ein jeder mag ein Stück davon nehmen und aufbewahren zum Andenken an unseren Vater und zur Erinnerung an jene verborgene Kraft, die den Menschen auch in der bittersten Notzeit, als jeder an jedem zu verzweifeln drohte, das Wort vom Brotbrechen lebendig erhielt und so zum Hüter wurde des Wortes von der Liebe zum anderen.“

 

           

Das Beichtgeheimnis

[Beichte im Betrieb beim Vorgesetzten]

Seit den letzten schönen Tagen im Spätherbst, an denen wir in den Mittagspausen auf meiner Bank aus Kistenbrettern hinter der Werkhalle saßen, sehe ich Sebastian nur noch selten. Wir essen dann gemeinsam, und wenn er gerade einmal vorbeikommt, verplaudern wir ein paar Minuten im Büro.

Ich vertrete mir vor dem Fenster ein bißchen die Beine und sehe Sebastian über den Hof gehen. Wenig später betritt er würdigen Schrittes mein Zimmer. Er läßt sich auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch nieder, schlägt die Beine übereinander und sieht mich herausfordernd an.

Sebastian hat sich gemausert: vom Hilfsarbeiter, der nur Späne kehrte und Transportkarren schob, zum Gabelstaplerfahrer. Vor kurzem habe ich gehört, er wolle auch noch die Kranfahrerprüfung ablegen. Sebastian ist außerdem Brigadeleiter der Transportbrigade in Halle II und kassiert in seiner Abteilung die Gewerkschaftsbeiträge.

„Kollege Kaderleiter“, sagte er, und ich winke ab. „Ich weiß, du bist nur Sachbearbeiter, aber ich nehme an, du wirst es eines Tages genauso machen wie ich: die Qualifizierungsleiter Sprosse um Sprosse erklimmen. Du wirst im Zimmer nebenan landen, und ich muß mir dann die Finger waschen, mit deiner Sekretärin einen Termin ausmachen und einen Schlips umbinden, bevor ich dich besuchen kann!“ „Kollege“, entgegnete ich, „Leitungskader haben immer ein offenes Ohr für die Leute mit dreckigen Fingern!“

Sebastian holt tief Luft. „Junge, ich habe die Nase voll. Unsere Brigade hat doch eine Patenklasse, die 9 b in der ...!“- „Hast du mir schon erzählt“, sage ich. „Ja. Und die 9b hat morgen Vollversammlung mit Elternaktiv und Rechenschaftsbericht, und so weiter. Die Brigade hat eine Einladung bekommen, das heißt, man hat sie an mich geschickt. Ob du's glaubst oder nicht: Es läßt sich keiner breitschlagen, da mal hinzugehen. Fred und Karl-Heinz haben Probe im Blasorchester. Franz will zu irgendeinem Bekannten, ein Ferkel kaufen. Stell dir vor, der will ein Schwein großziehen und hat gar keinen Stall. Der bindet das Vieh bestimmt auf dem Balkon an. Die beiden Stifte kann ich nicht hinschicken, die sind ja selber erst aus der Schule." „Du hast doch eine Dame in der Brigade“, sage ich. „Warum müssen alles die Männer machen?“

„Das Weib das?“ fährt Sebastian hoch. „Helga stellt sich auf die Hinterbeine und sagt, sie könne nicht reden, und deshalb gehe sie nicht hin. Keiner hat gesagt, daß sie vor der Patenklasse eine Rede halten soll. Man braucht sich doch bloß für die Einladung zu bedanken und den Laden mal anzugucken. Nein - sie stellt sich stur. Aber ich werde der Bande was husten. Ich will auch mal Feierabend haben. Immer auf Lehrgängen herumhocken - und das nun auch noch. Ich pfeife auf die Patenklasse, wenn ich mich allein darum kümmern muß!“ Ohne eine Antwort abzuwarten steht Sebastian auf, rückt den Stuhl an seinen Platz, tippt an die Mütze und geht.

Ich sehe Sebastian beim Mittagessen wieder. Er macht einen zerknirschten Eindruck, redet kaum mit mir. Nach der Pause versuche ich ihn anzurufen, weil er seine beiden Lehrlinge in die Kaderabteilung schicken soll. Er sei nicht da, wird mir gesagt. Ich verlange Helga zu sprechen. Sie sei mit Sebastian weggegangen.

Kurz vor Arbeitsschluß besucht mich Sebastian schon wieder. Er sieht noch ernster aus als beim Mittagessen. „Ich komme mir vor wie ein Beichtvater“, sagt er. „Die Helga ist ein armes Luder. Sie hat mir so einiges von sich erzählt. Ihr Mann ist bei der Armee, und Helga versorgt ihre kranke Schwiegermutter. Die hat ein Haus, da wohnen die jungen Leute mit drin. Und die Schwiegermutter ...“. Ich unterbreche Sebastian. „Beichtgeheimnis, mein Freund! Normalerweise darfst du nicht mal der Polizei was erzählen.“

Sebastian sieht mich aus den Augenwinkeln an. „Daß du mir die Klappe hältst“, sagt er. „Ich will nicht, daß die anderen sich über Helga die Mäuler zerreißen. Jedenfalls schreibt die Schwiegermutter blödsinnige Briefe an ihren Sohn, Helga würde fremdgehen und solchen Käse. Wenn wir mal Brigadeversammlung haben, macht die Alte bei ihr zu Hause einen Mordsskandal. Helgas Mann glaubt offensichtlich seiner Mutter mehr als seiner Frau.“ „Nun bist du fertig“, sagte ich. „Ich lasse uns schnell einen Kaffee machen.“

 „Dich juckt sowas wohl nicht?“ fragt Sebastian. „Den ganzen Tag wühlst du in den Akten. Für dich ist der Arbeiter doch nur ein Stück Papier, das nach Alter, Beruf, Lohngruppe und Geschlecht in die Kartei einsortiert wird. Ich bin an der Basis, Kollege, ich schlage mich mit den Problemen meiner Mitmenschen herum!“ „Ein richtiger Schläger bist du.“- „Laß das bitte.“

„Mit welchem Erfolg schlägst du dich?“ - „Erfolg! Erfolg! Danach fragt doch keiner“, erwidert er böse. „Das ist doch unfair von der Alten. Die Schwiegertochter pflegt sie, und zum Dank dafür ...“. „Und zum Dank dafür gehst du nun in die Klassenversammlung, weil wegen Orchesterprobe, Ferkel, Minderjährigkeit und Schwiegermutter kein anderer gehen kann.“

„Du sagst es, Kollege Kaderleiter.“

Sebastian verläßt mich wieder, eine Wolke schlechten Tabakrauches hinterlassend. Ich weiß zwar, daß ihm jetzt wohler ist, weil er sich bei mir ein wenig abreagiert hat. Aber mich hat er ein bißchen beschämt. Er nimmt alles so ernst, wie es ist.

Ich rufe noch einmal in Halle II an, man holt ihn ans Telefon. „Hör mal, Sebastian“, sage ich, „wenn ich nun in die Klassenversammlung gehe. Ich bin zwar nicht in deiner Brigade, aber du könntest mich ja delegieren.“ - „Nein, nein“, sagt er, „jeder muß für seine eigenen Leute geradestehen“, und hängt ab. Ich halte für einen Moment den Hörer unentschlossen in der Hand, dann drücke ich auf die Gabel. Ich will zu Hause anrufen, daß ich heute später komme, wegen Überstunden   (Ulrich Drechsel)

 

 

Der kluge Nachbar oder Die drei Siebe    

Zu meinem Nachbarn kam einer, der sagte: „Hör, Feichten, ich muß dir erzählen, was dein Freund Kunz über dich ... !“

Mein Nachbar unterbrach: „Bevor du es mir erzählst, verrate mir, ob du das, was du mir erzählen willst, durch die drei Siebe geseiht hast.“ -„Durch welche drei Siebe?“ „Zuerst durch das Sieb der Wahrheit“, sagte mein Nachbar, „hast du geprüft, ob es wahr ist, was du mir erzählen willst?“ -„Nein. Ich hörte es nur. Man hat es mir erzählt!“

Der Nachbar nickte: „Dann hast du es sicher durch das zweite Sieb geseiht, durch das Sieb der Freude. Sicher ist das, was du mir erzählen willst, auch wenn es nicht wahr sein sollte, gut für mich und es macht mir Freude?“ - „Freude wird es dir kaum machen, Feichten!“

„Wenn es mir auch keine Freude macht, dann wird es wohl durch das dritte Sieb gelaufen sein, durch das Sieb der Nützlichkeit. Ist das, was du mir erzählen willst, mir dienlich und von Nutzen?“ - „Nein. Keineswegs.“ - Da sprach mein Nachbar: „„Wenn das, was du mir erzählen willst, weder wahr, noch erfreulich, noch nützlich ist, so behalte es für dich! Und vergiß es bald!“   (Jo Hanns Rösler nach Sokrates)

 

 

Wer ist der Verräter?          

Personen:

O'Connor: herrisch energisch, überlegen, unbedingter Mann der Tat, entschlossener Organisator.

Mac     : geht an der Krücke, ist vom Leiden gezeichnet, durch Verzicht auf eigenes Glück zu überlegener Ruhe gekommen.

Kelly    : impulsiv, fahrig, nervös, sehr beweglich, daher auch zweideutig wirkend. Schnell aufgeregt und dann aufbrausend.

Gwynn : der Jüngste der Vier. Zart, aber nicht weichlich. Vom schweren Schicksalen gehärtet, aber nicht verhärtet. Nach innen lauschend, von innen glühend.

 

Ein Büroraum. Im Hintergrund ein Fenster, rechts eine Tür und an der rechten Wand ein Telefon. Links ein Ofen. Ein kleiner Tisch, Stühle.

Mac und Gwynn sitzen am Ofen, Kelly läuft unruhig auf und ab, raucht dabei eine Zigarette.

Kelly (auf seine Uhr sehend): Fünf Uhr 17. Auf fünf Uhr hat er uns bestellt. Begreife nicht, wo er bleibt.

Mac : Er wird schon kommen.

Kelly : Warum ist er noch nicht da? Wieso läßt er uns hier warten ? Was bildet er sich eigentlich ein? Er befiehlt, und wir haben zu springen, was? Weshalb bestellt er uns überhaupt her? Es war doch ausdrücklich abgemacht, wir sollten nicht eher wieder zusammenkommen, bis….

Mac     : Sprich das nicht aus!

Kelly  : Es ist kein Mensch im Haus. Alle Büros sind geschlossen. Wir sind ganz allein.

Gwynn : Vielleicht hat sich die Lage geändert.

Kelly : Seit 750 Jahren ist die Lage gleich: Die Engländer sind die Herren, wir Iren die Knechte? Und wer dagegen angeht, wird erschossen oder gehängt oder kommt ins Zuchthaus.

Gwynn : Die neuen Verhandlungen in London sind noch nicht abgeschlossen.

Kelly : Sie verhandeln in London, - ja zum Schein. Hast du schon einmal einen Engländer gesehen, der nachgibt? Glaubst du, daß sie jemals in Indien nachgeben oder in Persien? Aber ehe der Gouverneur morgen begriffen hat, daß w i r nicht nachgeben, ist er tot.

Mac     : Vielleicht hat sich doch irgendetwas geändert.

Kelly  : Ich sage euch, da ändert sich nichts! Zehn Uhr 35 hält sein Wagen morgen vor der Akademie, der Gouverneur steigt aus, und in dem Augenblick, wo er die Säulenhalle betritt, schießen wir ihn nieder.

Mac     : Du sollst das nicht aussprechen!

Kelly  : Ich sage dir doch, es ist kein Mensch hier im Haus

Gwynn : Es kommt jemand die Treppe herauf.

Kelly (bleibt stehen, lauscht) Gwynn und Mac (lauschen)

Mac     : Das ist O'Connor (Die Tür wird energisch geöffnet. O'Connor tritt ein. Er wirft einen scharfen Blick auf die drei)

O'Connor: Alle da? Gut. Im letzten Augenblick hat mich Pat noch aufgehalten.

Kelly      : Was ist los, O'Connor?

O'Connor: Ich muß mit euch reden. Setz dich, Kelly.

Kelly      : Ob ich sitze oder stehe, das ist wohl meine Sache!

O'Connor (nimmt einen Stuhl in die Hand): Ich setze mich doch auch.

Gwynn   : Setz dich zu uns, O'Connor. Der Ofen ist noch warm.

O'Connor: Nein, ich setze mich hierher. (Er setzt sich so, daß er zwischen den dreien und der Tür sitzt)

Kelly    : Was soll das heißen? Das sieht ja so aus, als ob du uns den Weg zur Tür verlegen willst?!

O'Connor: Vielleicht habe ich meine Gründe dafür.

Kelly    : Und das laßt ihr euch gefallen?! O'Connor , ich sage dir: du bist unerträglich. Wir haben dich auf ein Jahr zum Leiter des Aktionskomitees gewählt, und das Jahr ist noch nicht um - gut. Aber wir sind nicht dazu da, daß du deine Launen an uns ausläßt! Du bestellst uns auf fünf Uhr her, und du selbst kommst, wann es dir beliebt -

O'Connor: Ich habe gesagt, daß Pat mich aufgehalten hat.

Kelly      : Ja, das habe ich gehört, aber davon, daß du dich entschuldigt

hättest, habe ich nichts gehört. Das hast du wohl auch nicht nötig, wie?

O'Connor: Kelly - (heftig). Ich bin noch nicht fertig, O'Connor. Das letzte Mal wird einstimmig beschlossen, daß wir erst nach dem Attentat wieder zusammen kommen, damit uns keiner vorher zusammen sieht - und dann als wäre das nichts, befiehlst du uns wieder alle hierher! Was soll denn das?

O'Connor: Du hast hier nicht zu fragen, sondern ich!

Kelly      : Das ist doch kein Verhör!

O'Connor: Es i s t ein Verhör!

Kelly (aufbegehrend) : Ein Verhör?!

Mac       : Laßt die Streiterei bis nach dem Attentat.

O'Connor: Das Attentat findet nicht statt.

Alle drei: Was ?

O'Connor: Der Gouverneur hat seinen Besuch bei der Akademie abgesagt.

Kelly      : Auf einmal?

Mac       : Und der Grund?

O'Connor: Das Attentat ist verraten.

Mac, Kelly: Verraten -?!

Gwynn    : Wer sagt das?

O'Connor : Hull hat mich angerufen.

Mac        : O'Connor, von dem Attentat haben nur wir vier gewußt und Hull!

O'Connor: Ganz richtig. Einer von uns ist ein Verräter. Einer von uns hat den Engländern das Attentat verpfiffen. Einer von uns hat die anderen an den Galgen geliefert.

Kelly      : Bist du wahnsinnig?! Weißt du überhaupt, was du sagst? Sieben Jahre habe ich im Zuchthaus gesessen für unsere Sache - sieben Jahre in Einzelhaft - Mac haben sie zum Krüppel geschossen, für unsere Sache - und Gwynn - jeder weiß, wie das mit Gwynn ist: und da soll einer von uns die Sache verraten?! Du hast dir für das Attentat die Vier ausgesucht auf die du dich unbedingt verlassen kannst - und jetzt sagst du, einer von uns hat die anderen verraten?! Das bringt kein Fenier fertig, O'Connor!

O'Connor: Einer hat es fertiggebracht

Mac       : Aber wer denn, wer?!

O‘Connor: Das stelle ich jetzt fest - und ich frage euch: Was geschieht mit dem Verräter?

Kelly (außer sich): Er geht nicht mehr lebend durch diese Tür.

Mac       : Er ist ein toter Mann.

Gwynn   : Ja. Das ist er - ein toter Mann.

O'Connor: Zum Tode verurteilt - einstimmig.

Kelly      : Aber wer ist es denn?! Wer bringt es fertig, seinen verschworenen Kameraden den Henkern auszuliefern?

O'Connor: Hull hat mich angerufen. Er wußte nicht, wer es ist - vielmehr: als er anrief, wußte er noch nicht, wer es ist -

Kelly       : Und wenn es Hull selber ist?

O‘Connor: Würde er mich angerufen haben? Dann hätte er uns ungewarnt verhaften lassen.

Mac       : Das ist richtig.

Gwynn  : Hull kann es nicht sein.

 

O'Connor: Der Mann, der uns verraten hat, sitzt hier in diesem Zimmer. (Schweigen) Kelly, warst du es?

Kelly    : Bei allen Heiligen, nein!

O'Connor: Mac, warst du es?

Mac     : Nein, O'Connor, ich war es nicht.

O'Connor: Gwynn, warst du es ?

Gwynn : Das ist meine Antwort, O'Connor: Mei en Vater haben sie an der Kirchhofsmauer von Lullamore erschossen und meine vier Brüder, einen nach dem anderen. Als meine Mutter starb, war das ihr letztes Wort ,Vergiß sie nie, die weiße Mauer von Lullamore!'

O'Connor: Du bist entlastet, Gwynn.

Kelly      : Und wer sagt denn, daß du es nicht selber warst, O'Connor?

O'Connor: Ich gebe zu, daß ich mich rechtfertigen muß wie jeder von uns Aber wenn ich euch an die Engländer verraten hätte, dann hätte ich wohl nicht so offen die Karten auf den Tisch gelegt.

Mac       : Das ist richtig.

Kelly      : O'Connor, ich bitt' dich! Das muß doch ganz anders liegen. Weshalb sollte das denn einer von uns verraten haben?!

Mac       : Ja ,O'Connor - weshalb denn?

Gwynn  : Weshalb -weshalb  

O'Connor: Weshalb? Vielleicht hat ihn die Angst gepackt plötzlich, die Angst vor dem Galgen. Die Wahrscheinlichkeit, daß wir nach dem Attentat davon kamen, war sehr gering. Mac (abwägend): Aus Angst? Meinst du wirklich aus Angst?

O'Connor: Vielleicht haben sie ihm Geld geboten -

Kelly (verächtlich): Geld - !

O'Connor: Vielleicht haben sie ihm sehr viel Geld geboten -

Gwynn    : Was denkst du denn von uns, O'Connor, wenn du meinst einer von uns könnte für Geld -

O'Connor: Es schert mich nicht, warum er's getan hat! Daß er's getan hat, steht fest - und daß er ein Lump ist, ohne Herz, ohne Hirn - - - nur Jauche im Schädel.

Kelly      : Hull war es nicht, und Gwynn war es nicht, und O'Connor war es nicht - wer bleibt denn dann noch übrig?

Mac     : Du und ich.

O'Connor: Ja - Mac und Kelly.

Kelly (zu Mac): Willst du damit sagen, daß ich der Verräter bin?

Mac     : Das sagst du selber - nicht ich.

Gwynn : Still doch - still doch! (Er ist aufgesprungen, zeigt nach der Tür. Alle lauschen)

O'Connor: Es ist jemand draußen.

Kelly (flüsternd): Polizei! Der Hund hat uns alle geliefert (Es klopft an der Tür)

Mac       : Wenn das die Polizei ist, sind wir erledigt.

Gwynn  : Machen wir auf?

O'Connor: Keiner verläßt seinen Platz! Wenn es die Polizei ist, dann wird der Verräter ihr die Tür aufmachen, damit er bei ihnen sicher ist. Wer die Tür aufmacht, bestimme ich!

(Es klopft wieder. O'Connor sieht von einem zum andern) Gwynn mach auf!

Gwynn (zögert einen Augenblick, atmet dann tief auf und geht. Er öffnet - im Türrahmen steht der Hausbesorger, einen Eimer in der Hand)

Kelly (bricht in hemmungsloses Gelächter aus)

Hausbesorger: Entschuldigen sie vielmals, meine Herren. Ich will nur die Kohleneimer füllen. Wenn ihrer leer ist, nehm' ich ihn gleich mit. Erst war mir so, als ob hier noch gesprochen wurde, aber wie ich dann horchte, war alles still.

O'Connor: Nehmen Sie den Eimer mit und setzen Sie ihn nachher vor die Tür. Wir wollen nicht gestört werden.

Hausbesorger: Jawohl ja. Jawohl ja. Entschuldigen sie nur vielmals, meine Herren. Und einen angenehmen Sonntag allerseits (Er geht ab, die Tür schließt sich)

Mac     : Wir müssen zu einem Ende kommen ,O'Connor.

Kelly    :Wir können doch nicht die ganze Nacht hier sitzen.

O'Connor (unerbittlich): Ich gehe nicht, ehe ich nicht weiß, woran ich bin. Ich gehe nicht, ehe ich nicht das Urteil vollstreckt habe (Er holt einen Revolver aus der Tasche und wiegt ihn in der Hand).

Kelly : Wir sind in einer Sackgasse, O'Connor. Das mußt du doch einsehen! Wir kommen so nicht weiter.

Mac  : Hör mal, O'Connor - wenn nun der Hull einfach einer falschen Nachricht aufgesessen ist?

Kelly : Donnerwetter -

Mac  : Wir wissen doch, wie das immer hin und her geht! Wenn das überhaupt nur ein Versuchsballon der Polizei ist?

Kelly : Natürlich , natürlich! Da hat sich ein Spitzel was ausgedacht und Hull ist darauf 'reingefallen.

O'Connor: Ist Hull der Mann, der eine Nachricht weitergibt, ohne sich zu vergewissern, daß sie stimmt?

Gwynn : Nein, das macht er nicht.

O'Connor: Und weshalb hat der Gouverneur seinen Besuch abgesagt?

Mac  :    Das allerdings -

O'Connor: Ich finde es merkwürdig, daß ihr beide versucht, die Sache auf Hull abzuschieben, Gibt es hier am Ende zwei Verräter?!

Kelly    :(schreit): O'Connor!!

Mac (ruhig): Man muß alle Möglichkeiten durchdenken, O'Connor.

Kelly    : Und man wird hier noch verrückt! Ich ersticke hier (Er springt auf, rennt zum Fenster)

O'Connor (zu den anderen, leise): Achtung! (Sie spannen auf das, was Kelly tut. O'Connor hält den Revolver schußbereit)

Kelly (öffnet das Fenster, beugt sich hinaus, holt tief Luft. Dann, wie er das Fenster schließen will, macht er eine Bewegung, als ob er seinen Zigarrenstummel hinauswerfen wolle)

O'Connor: Halt!

Kelly (wendet sich jäh): Ach so, du denkst, ich werfe einen glühenden Zigarrenstummel in den Hof, und das ist das verabredete Zeichen? Nicht schlecht, gar nicht schlecht - aber bitte sehr: meine Zigarre ist schon längst aus.

O'Connor: Geht in Ordnung, Kelly. Aber es ist am besten, hier bleibt jeder auf seinem Platz, bis die Sache klar ist

Kelly (setzt sich wieder)

Mac     : Ich mache einen Vorschlag, O'Connor. Ich nehme es dabei auf mich, daß ich mich damit in ein schiefes Licht setze.

O'Connor: Sag nur, was du zu sagen hast.

Kelly    : Wir müssen ja schließlich weiterkommen.

Mac     : Wer der Verräter ist, Mac oder ich, das kommt nicht klar. Ich meine, wir sollten dem Schuldigen eine Chance geben.

Gwynn : Eine Chance? Was hat er noch für eine Chance?

Mac     : Ich meine eine Frist. Er soll sich selbst melden, und dann soll er einfach gehen. Er soll durch die Türe da gehen und auch noch unten zum Haus hinaus - bis auf die Straße soll er sicher sein. Aber dann soll er sich hüten ,je wieder einem von uns zu begegnen.

Gwynn : Das ist vielleicht gar nicht schlecht.

Kelly    : Ja. Er hat einen Vorsprung, und wir sind sicher.

O'Connor: Nein, das sind wir nicht. Wer sagt uns denn, was er schon alles verraten hat - alle unsere Namen und alle Adressen?!

Mac     : Aber dann hätten die Hunde doch schon zugepackt?

O'Connor: Sie stehen vielleicht unten - sie warten nur darauf, daß wir aus dem Haus kommen!

Kelly    : Mach ein Ende, O'Connor, mach ein Ende! Ich halte das nicht mehr aus.

O'Connor: Wenn ihr's so wollt, gut! Ich gebe dem Kerl drei Minuten. Ich gebe ihm mein Wort, daß er dies Haus lebend verlassen kann - aber er soll sagen: Ich war es!

Kelly    : Damit wir wissen, woran wir sind!

Mac     Drei Minuten! (Alle, bis auf Gwynn, nehmen ihre Taschenuhr in die Hand oder sehen auf die Armbanduhr)

O'Connor: Jetzt!

Gwynn (schließt die Augen)

Kelly    : Es ist schrecklich, wie lange eine Minute ist, wenn das Leben daran hängt.

O'Connor: Eine Minute ist um.

Mac     : Ich meine, der kleine Zeiger rast - als ob er wüßte, daß es ums Leben geht.

O'Connor: Zwei Minuten sind um.

Gwynn  : Am Kirchturm von Lullamore war keine Uhr -

O'Connor: Drei Minuten - die Frist sind um.

Kelly (außer sich): Wir bringen es nicht heraus.

Mac     : Es gibt keinen Beweis!

Kelly    : Das ist es! Wir haben keinen Beweis!

(Das Telefon klingelt. Alle fahren zusammen. O'Connor legt den Revolver auf das Tischchen und geht an das Telefon)

O'Connor: Hier Miller - (dann zu den andern) Es ist Hull! Die anderen: Hull -

O'Connor:(mit erschrecktem Ton): Was?! Wer, sagst du?!

Kelly    : Hull sagt ihm, wer es war -

O'Connor (hängt ein. Bleibt am Telefon. Von da, ganz langsam): Hull hat ihn entdeckt. Er hat mir den Namen gesagt.

Gwynn : Jetzt - (er verbirgt sein Gesicht in den Händen)

Mac (sieht es und stürzt, seine Krücke im Stich lassend, zum Tischchen. Sein hopsendes Hinken hat etwas Gespenstisches. Er reißt den Revolver hoch): Hände hoch! Es geht ums Leben! Der Erste, der mir zu nahe kommt, ist ein toter Mann!

Gwynn : Mac -

Kelly  : Mac -

O'Connor: Ruhe! Es war nicht Hull, der anrief. Es war Pat. Ich hatte mit ihm genau abgemacht, wann er anrufen sollte. Es war ein Trick, und er ist geglückt. (Auf Mac zeigend) Da steht der Verräter!

Gwynn : Mac - Mac -

Mac     : Was liegt an mir! Gebt mir meine Krücke! Laßt mich hier raus - oder ich schieße euch alle über den Haufen!

O'Connor: Schieß doch! Sie ist ja nicht geladen!! Aber die hier -

(er reißt eine zweite Pistole aus der Tasche)

Gwynn(verzweifelt): Mac - -

(von draußen dumpfer Lärm, aber weiter weg)

Kelly    : Vorsicht, O'Connor! Was geht uns dieser Lump an! Da ist was los auf der Straße -

O'Connor :(horcht, hält aber immer noch den Revolver auf Mac gerichtet) Als ob die Straße voller Menschen wäre -

Kelly    : Und es schreit einer - nein, da schreien mehr als einer -

Gwynn : Zeitungsjungen - (Die Tür geht auf, der Hausbesorger eilig herein, ein Blatt Papier in der Hand)

Hausbesorger: Entschuldigen sie vielmals, meine Herren - Sie wollten ja nicht gestört sein - -aber das hier, das hier -!!

Auf der Straße fallen sich wildfremde Menschen um den Hals - es soll illuminiert werden -

[Der Schluß fehlt leider, aber offenbar geht es darum, daß England von sich aus die Auseinandersetzung beendet hat und den Iren die Freiheit gibt]    (Herbert Kranz)..

 

Wieviel Erde braucht der Mensch?

 (Pachom, ein unersättlicher russischer Bauer, hat von einem Kaufmann gehört, daß man bei den Baschkiren billig Land kaufen kann).

Pachom erkundigte sich, wie man zu den Baschkiren käme, und kaum war der Kaufmann fortgefahren, so rüstete er selbst sich zur Reise. Das Haus vertraute er seiner Frau an, einen Knecht nahm er mit auf den Weg. Sie fuhren zur Stadt, kauften eine Kiste Tee, Geschenke, Wein - alles, wie der Kaufmann gesagt hatte. Sie fuhren und fuhren und legten etwa 500 Werst zurück. Am siebenten Tage langten sie im Baschkirenlager an und fanden alles so, wie der Kaufmann es geschildert hatte.

Kaum hatten die Baschkiren Pachom erblickt, als sie aus ihren Zelten heraus eilten und den Fremden umringten. Es fand sich ein Dolmetsch. Pachom sagte ihm, daß er des Landes wegen hergekommen sei. Die Baschkiren freuten sich, faßten Pachom bei den Händen, führten ihn in ein schönes Zelt, setzten ihn auf Teppiche und weiche Daunenpolster, ließen sich rings um ihn im Kreise nieder und bewirteten ihn mit Kumys und Tee. Sie schlachteten auch einen Hammel und setzten dem Gast das Fleisch vor. Pachom holte die Geschenke ans dem Wagen und verteilte sie unter die Baschkiren ; er bedachte jeden einzelnen mit einer Gabe und mit

Tee. Die Baschkiren waren voller Freude. Sie schwatzten und schwatzten miteinander und ließen dann den Dolmetsch sprechen.

„Sie lassen dir sagen“, erklärte der Dolmetsch, „daß sie dich liebgewonnen haben und daß bei uns die Sitte besteht, dem Gast jegliches Vergnügen zu bereiten und ihm für seine Geschenke durch Gegengeschenke zu danken. Du hast uns reich bedacht ; jetzt sag uns, was dir bei uns am besten gefällt, auf daß wir dies geben!“

„Am besten gefällt mir euer Land“, erwiderte Pachom. „Bei uns herrscht Mangel an Land, und der Boden ist bereits erschöpft. Ihr aber habt viel Land, und es ist so fruchtbar, wie ich noch nie welches gesehen!“

Der Dolmetsch übersetzte Pachoms Worte. Die Baschkiren sprachen eifrig untereinander. Pachom versteht nicht, was sie sagen, aber er sieht, daß sie lustig sind : sie schreien und lachen. Dann verstummen sie und blicken Pachom an, und der Dolmetsch spricht: „Sie lassen dir sagen, daß es sie freuen wird, dir zum Dank für deine Geschenke so viel Land zu geben als du nur haben willst. Zeig' nur mit der Hand, welches Land es sein soll, und es wird dein sein!“

Die Baschkiren sprachen wieder durcheinander und gerieten in Streit. Pachom fragte, weshalb sie stritten, und der Dolmetsch antwortete: „Die einen sagen, man müsse wegen des Landes den Ältesten fragen, man dürfe ohne ihn nichts entscheiden, und die andern meinen, es gehe auch ohne ihn!“

So streiten die Baschkiren hin und her; da kommt plötzlich ein Mann in einer Fuchsmütze gegangen. Alle verstummen und erheben sich, und der Dolmetsch sagt: „Das ist der Älteste selbst!“

Pachom holte sogleich den besten Schlafrock und überreichte ihn den Ältesten, dazu noch fünf Pfund Tee. Der Älteste nahm die Geschenke an und setzte sich auf den ersten Platz. Die Baschkiren begannen sich sofort etwas zu erzählen. Der Älteste hörte aufmerksam zu, gab ein Zeichen, daß sie schweigen sollten und sagte zu Pachom auf russisch: „Warum nicht, das läßt sich machen. Nimm, was dir gefällt. Land ist genug da!“

„Wie soll ich denn nehmen, was mir gefällt?“ denkt Pachom. „Das das muß doch irgendwie festgesetzt werden, sonst sagen sie erst: Es gehört dir, und nehmen mir's später wieder fort!“

„Ich danke euch für die guten Worte“, sprach er. „Ihr habt Land in Menge, ich aber brauche nur wenig. Ich muß nur wissen, welches Stück mir gehören soll. Man wird es doch irgendwie abmessen und festsetzen müssen. Denn sonst - Gott ist Herr über Leben und Tod - ihr guten Leute gebt mir’s, eure Kinder aber nehmen's vielleicht wieder zurück!“ „Du hast recht“, erwiderte der Älteste, „ man kann das festsetzen!“

Pachom begann wieder: „Ich hab' gehört, daß ein Kaufmann bei euch gewesen ist; dem habt ihr auch Land geschenkt, habt ihm aber einen Kaufbrief gegeben. Macht's mit mir ebenso!“

Der Älteste verstand alles. „Das läßt sich wohl machen,“ sagte er, „wir haben auch einen Schreiber, wir werden in die Stadt fahren und alles verschreiben und besiegeln!“

„Und wie wird der Preis sein?“ fragte Pachom. „Wir haben nur einen Preis : 1000 Rubel für den Tag!“ Pachom verstand nicht:“ Was ist das für ein Maß: ein Tag? „ fragte er. „Wieviel Morgen sind darin?`“

 „Das verstehen wir nicht zu berechnen“, erwiderte der Älteste, „wir verkaufen nach dem Tage: Wieviel Land du an einem Tage umgehen kannst, soviel gehört dir, und der Preis dafür ist 1000 Rubel!“

Pachom staunte. „Ja aber - „ meinte er , „an einem Tage kann man doch sehr viel Land umgehen!“ Der Älteste lachte. „Dann gehört's eben dir!“ sagte er , „nur eine Bedingung : Wenn du nicht am selben Tage an den Ort zurückkommst, von dem du ausgegangen bist, so ist dein Geld verfallen!“

„Und wie wird die Strecke, die ich zurücklege, bezeichnet“, fragte Pachom. „Wir stellen uns dort auf, von wo du dir das Land wählst. Wir bleiben stehen, du aber marschierst drauf los und umgehst ein Stück Land. Du nimmst eine Hacke mit, und wo es dir notwendig erscheint, machst du ein Zeichen. An den Ecken grab' kleine Gruben, wirf Rasenstücke auf. Wir ziehen dann von Grube zu Grube mit dem Pfluge eine Furche. Nimm den Bogen so Groß du willst, nur komm vor Sonnenuntergang zu der Stelle zurück, von welcher du ausgegangen bist. Alles Land, das du auf diese Weise umkreisen kannst, ist dein!“

Pachom freute sich. Man beschloß, früh morgens aufzubrechen. Es wurde noch eine Weile geschwatzt, Kumys getrunken, Hammelfleisch gegessen, Tee eingeschenkt, bis die Nacht herankam. Da betteten die Baschkiren ihren Gast auf weichen Pfühlen und gingen auseinander. Man verabredete, am nächsten Morgen in der Frühdämmerung zusammenzukommen und sich noch vor Sonnenaufgang an Ort und Stelle zu begeben.

Pachom liegt auf den weichen Daunenkissen und kann nicht schlafen, muß immer wieder an das Land denken. „ Ich will schon ein tüchtiges Stück erwischen!“ sagt er sich, „so gegen fünfzig Werst werde ich doch wohl an einem Tage umgehen! Der Tag ist jetzt lang wie ein Jahr. In fünfzig Werst aber steckt schon was drin! Das schlechtere Land werd' ich verkaufen oder den Bauern überlassen, das bessere wähle ich für mich selbst und mach' mich darauf ansässig. Ich schaffe mir zwei Ochsengespanne an und nehme mindestens zwei Knechte auf. Ein halbes Hundert Morgen bebaue ich, auf dem übrigen Lande lasse ich mein Vieh weiden.“

Die ganze Nacht konnte Pachom nicht schlafen, erst kurz vor der Morgendämmerung schlum­merte er ein. Eine Weile später fährt er plötzlich auf, blickt sich um und sieht durch die offene Tür den Morgen schimmern. „Man muß die Leute wecken“, sagt er sich, „es ist Zeit, aufzubrechen.“ Und Pachom stand auf, weckte seinen im Wagen schlafenden Knecht, befahl ihm, anzuspannen, und ging die Baschkiren wecken.

„ Es ist Zeit, in die Steppe zu fahren“, ruft er, „ und das Land abzumessen!“ Die Baschkiren standen auf und versammelten sich. Auch der Älteste kam. Wieder begannen sie, Kumys zu trinken, und wollten Pachom mit Tee bewirten, aber er hatte keine Geduld zum Warten.

„ Wenn gefahren werden soll, so fahren wir gleich“, sagte er, „ es ist Zeit !“

Die Baschkiren beeilten sich ; einige von ihnen bestiegen ihre Pferde, andere setzten sich in ihre Wagen, und man fuhr ab. Pachom saß mit seinem Knecht in seinem eigenen Wagen und hatte eine Hacke mitgenommen. Sie kamen in die Steppe, als das erste Morgenrot sich am Himmel zeigte. Auf einer kleinen Anhöhe, einem Schichan, wie die Baschkiren sagen, wurde Halt gemacht. Man stieg von den Pferden und kletterte aus den Wagen. Alle traten zu einer Gruppe zusammen.

Der Älteste schritt auf Pachom zu und deutete mit der Hand in die Steppe. „ So weit dein Auge reicht, ist das Land unser“ sagte er, „nun wähle, welches Stück du haben willst!“ Pachoms Augen strahlten: ringsumher Neuland, flach wie ein Handteller, schwarz wie Mohnsamen, wo aber eine kleine Vertiefung ist, wächst mannshohes Gras verschiedener Art.

Der Älteste nahm die Fuchsmütze ab und legte sie auf die Erde. „Das soll das Merkzeichen sein“, sagte er, „ von hier gehe aus, hierher komm' zurück. So viel Land du umgehst, soll dir gehören!“ Pachom zog das Geld hervor, legte es auf die Mütze, warf den langen Rock ab, so daß er nur die Weste anbehielt, zog den Gürtel fester um den Leib, reckte sich, schob ein Säckchen mit Brot zwischen Hemd und Weste, hing ein Fläschchen mit Wasser an den Gurt, zog die Stiefelschäfte hoch, nahm die Hacke aus den Händen des Arbeiters und stand nun zum Abmarsch bereit da.

Er überlegte, welche Richtung er einschlagen sollte überall war's schön. „Es ist einerlei“», dachte er, „ ich gehe halt dem Aufgang der Sonne zu!“ Er stellte sich mit dem Gesicht gen Osten, reckte und streckte sich und wartete, daß die Sonne am Himmelsrande auftauche. „Keinen Augenblick will ich verlieren“, denkt er, „ in der Morgenfrische geht sich's auch leichter.“

Kaum zeigte sich der Rand der Sonnenscheibe am Horizonte, als Pachom die Hacke über die Schulter warf und in die Steppe hinauswanderte. Er ging weder langsam noch schnell. Als er etwa eine Werst gegangen war, blieb er stehen, grub ein kleines Loch und legte Rasenstückchen übereinander, um die Stelle deutlicher zu kennzeichnen. Dann ging er weiter. Er geriet immer mehr in Bewegung und machte schnellere Schritte. Nachdem er eine Zeitlang gegangen war, grub er das zweite Loch.

Pachom blickte sich um. Deutlich sah er den sonnigen Hügel und die Leute darauf ; die Eisen an den Wagenrädern glänzten im Sonnenschein. Pachom vermutete, daß er ungefähr fünf Werst gegangen sei. Ihm war warm geworden. Er zog die Weste aus, warf sie über die Schulter und schritt wieder vorwärts. Bald wurde es heiß. Pachom blickte zur Sonne auf : es war Zeit zum Frühstück.

„Eine Tagwache ist vorüber“, denkt Pachom, „aber der Tag hat ihrer vier. Noch ist's zu früh zum Einbiegen. Nur will ich mir die Stiefel ausziehen. „Er setzte sich, zog die Stiefel aus, hing sie an den Gürtel und ging weiter. Das Gehen war jetzt leicht. „Noch fünf Werst ungefähr will ich gehen“ denkt Pachom, „dann biege ich nach links ein. Hier ist der Boden gar so gut, es wäre schade, ihn aufzugeben. „Und je weiter er kam, um so besser wurde das Land. So ging er denn immer noch schnurstracks vorwärts. Als er sich umblickte, konnte er den Hügel kaum noch sehen. Die Leute bewegten sich darauf wie Ameisen und die Räder glänzten kaum mehr.

„Na“», denkt Pachom, „ in dieser Richtung ist es jetzt genug, - ich muß einbiegen Und wie ich in Schweiß geraten bin! Muß etwas trinken!“ Er blieb stehen, grub ein etwas größeres Loch, türmte die Rasenstücke aufeinander, band die Wasserflasche vom Gürtel, trank und bog im rechten Winkel nach links ein. Er ging und ging, das Gras wurde höher und die Hitze nahm zu.

Pachom begann zu ermüden. Er blickt zur Sonne auf: schon Mittagszeit. „Na“, denkt er, „dann muß man sich erholen!“ Er bleibt stehen, setzt sich nieder, ißt ein wenig Brot und trinkt Wasser dazu, wagt aber nicht, sich zu legen. „Wenn ich mich jetzt ausstrecke“, sagt er sich, „schlafe ich ein!“Er saß ein Weilchen still und ging dann wieder weiter. Anfangs fiel ihm das Gehen leicht, denn das Essen hatte ihn gestärkt. Aber es war schon gar so heiß und die Schläfrigkeit nahm ihm bald alle Kraft. Trotzdem ging er Vorwärts und immer vorwärts und dachte dabei : „Eine Stunde Leiden - ein Leben lang Freuden!“

So legte er denn auch in dieser Richtung eine große Strecke zurück. Schon wollte er wieder nach links einbiegen, als er an eine feuchte Talsenkung geriet, um die ihm leid war: Hier mußte der Flachs so gut gedeihen! Wieder ging er geradaus. Als er an der Talsenkung vorüber war, grub er das Merkloch und machte den zweiten Winkel. Er blickte zum Hügel hinüber: Der war in heißen Dunst gehüllt und nur undeutlich zu sehen; die Leute darauf bewegten sich wie im Nebel. „So“, denkt Pachom, „die Längsseite ist gemacht, - die nächste muß kürzer werden!“

Schneller noch als bisher schritt Pachom an der dritten Seite dahin. Die Sonne neigte sich bereits der Vesperzeit zu, und er hatte erst kaum zwei Werst von der dritten Seite zurückgelegt. Und bis ans Ziel waren es immer noch mindestens fünfzehn Werst. „Nein“, denkt Pachom, „wenn mein Landbesitz auch schief wird, ich muß schleunigst geradeaus marschieren. Ich brauche ja nichts Überflüssiges - und das Stück ist ohnedies groß genug!“ Schnell grub er das Loch und wandte sich dann direkt dem Hügel zu.

Pachom geht schnurstracks auf den Hügel zu, aber das Gehen fällt ihm schon schwer. Er ist in Schweiß gebadet, die nackten Füße sind zerschnitten und zerschunden, und die Beine knicken ihm ein. Er möchte gern ausruhen, doch es darf nicht sein, sonst kann er vor Sonnenuntergang das Ziel nicht erreichen. Die Sonne wartet nicht, sie sinkt tiefer und tiefer.

„Ach“, denkt er, „ hab' ich mich nicht am Ende geirrt und einen zu großen Bogen gemacht. Wie, wenn ich nicht zur Zeit hinkomme?“

Er blickt vorwärts zum Hügel hin und dann hinauf zur Sonne: Bis zum Ziel ist's noch weit, die Sonne aber ist nicht mehr fern vom Horizonte. Pachom eilt vorwärts, und so schwer es ihm fällt, so geht er doch schneller und immer schneller. Er geht und geht, - das Ziel rückt nicht näher. Da setzt er sich in Trab. Die Weste, die Stiefel, die Flasche, die Mütze hat er fortgeworfen, nur die Hacke hält er noch, um sich auf sie zu stützen.

„O weh!“ denkt er wieder, „ ich hab' zu viel begehrt und hab' dadurch alles verdorben, ich komme vor Sonnenuntergang nicht hin!“ Die Angst benimmt ihm den Atem; er rennt vorwärts, Hemd und Hosen kleben an seinem schweißtriefenden Körper, die Kehle ist ihm ausgetrocknet. In seiner Brust arbeitet es wie mit Schmiedebälgen und sein Herz klopft wie ein Hammer; die Füße versagen den Dienst, als gehörten sie gar nicht zu seinem Körper. Ihm wird angst und bange und der Gedanke kommt ihm, er könnte vor Überanstrengung sterben. Er fürchtet zu sterben, kann aber trotzdem nicht haltmachen.

„Soweit bin ich gelaufen“, sagt er sich, „wenn ich jetzt stehen bleibe, nennen sie mich einen Dummkopf!“

Er läuft und läuft. Nun ist er ganz nahe und hört: Die Baschkiren quieken und kreischen ihm entgegen, und ihr Geschrei läßt sein Herz noch heftiger schlagen. Er nimmt seine letzte Kraft zusammen. Die Sonne nähert sich bereits dem Himmelsrande, sie ist. in Nebel gehüllt, Groß und blutigrot. Gleich, gleich wird sie untergehen. Aber auch das Ziel ist nicht mehr fern. Pachom sieht schon, wie die Leute auf dem Hügel ihm winken, ihn durch Zeichen antreiben. Er sieht die Fuchsmütze und auf ihr das Geld; er sieht auch den Ältesten, der am Boden sitzt.

Pachom blickt zur Sonne empor: sie berührt schon die Erde, der untere Rand ist bereits verschwunden und sie bildet nur noch einen Bogen über dem Rande.

Pachom nimmt alle Kraft zusammen, vornübergebeugt rennt er vorwärts, so daß die Füße dem Oberkörper kaum folgen können. Er erreicht den Hügel - plötzlich wird's dunkel. Er blickt sich um: Die Sonne ist bereits untergegangen! Pachom stöhnt auf : „Vergebens war alle Mühe!“ denkt er und will stehen bleiben, da hört er, daß die Baschkiren ihm immer noch zurufen. Und es fällt ihm ein, daß es ihm wohl nur so scheint, als sei die Sonne schon untergegangen, daß man sie vorn Hügel aus aber wahrscheinlich noch sieht. Er schöpft tief Atem und stürmt den Hügel hinauf. Oben ist's noch hell. Pachom erreicht den Gipfel, sieht die Mütze und davor den Ältesten, der sich mit beiden Händen den Bauch hält und dröhnend lacht. Pachom stöhnt laut auf, stolpert und stürzt zu Boden, mit den ausgestreckten Händen die Mütze berührend.

„Ei, du wackerer Bursche!“ ruft der Älteste, „du hast dir viel Land erobert! „

Pachoms Knecht läuft herbei, um seinem Herrn aufzuhelfen, der aber liegt tot da und aus seinem Munde rieselt Blut. Die Baschkiren schnalzten zum Zeichen des Mitleids mit den Zungen. Der Knecht hob die Hacke auf und grub ein Grab, genau so lang, als der Tote von Kopf bis zu den Füssen war - drei Ellen - und begrub seinen Herrn (nach einer Novelle von Leo Tolstoj)

 

Lieber Hoppelpoppel - wo bist du?

[Mann verschenkt den Stoffhund an einen fremden kleinen Jungen, obwohl er ihn für das eigene Kind braucht]

Es war einmal ein kleiner Junge, der hieß Thomas. Dem hatten seine Großeltern zum ersten Weihnachtsfest einen kleinen Hund aus schwarzem Plüsch geschenkt, mit Hängeohren und frechen braunen Augen, eine Art Dackeltier, aber auf Rädern. Und da die Achsen dieser Räder nicht im Mittelpunkt saßen, sondern seitlich, hoppelte und wogte das schwarze Stoffgeschöpf auf und nieder, als haste es wild und über alle Kraft imaginären Hasen nach. Darum taufte der Vater den Hund „Hoppelpoppel“, und als Thomas etwas älter geworden war und sprechen konnte, genehmigte auch er diesen Namen. Er liebte den Hund sehr, immer mußte er bei ihm sein, auch im Schlaf durfte er ihn nicht verlassen, und er wachte sehr genau darüber, daß die Eltern nicht nur ihrem Sohn, sondern auch dem Hoppelpoppel gute Nacht sagten. Es war eben eine richtige Liebe.

Nun geschah es, daß Toms Eltern an einen neuen Wohnsitz verzogen, weit, weit weg. Der kleine Thomas blieb während der Umzugstage bei der guten Tante .„Kunjä“, und mit ihm natürlich Hoppelpoppel - wie hätte Tom sonst bei Tante Kunjä schlafen können? Nach einer Weile war es dann so weit: Tante Kunjä fuhr mit Tom und dem Hund nach dem neuen Häuschen. Auf dem Bahnhof erwartete sie der Vater, und der kleine Tom war so selig und verlegen über dies Wiedersehen, daß er schnurstracks seinen Kopf durch des Vaters Beine steckte und so den abfahrenden Zug betrachtete.

Dann gingen die drei Hand in Hand durch den Wald zur Mummi ins neue Häuschen, und da kam plötzlich ein Augenblick. da Tante Kunjä angedonnert stehen blieb: „O Gott, habe ich nun doch den Hoppelpoppel in der Bahn liegengelassen!“ Der Vater machte rasch eine Kopfbewegung und sagte: „Still! Still! Hier hat der ‚Herr' so viel neue Eindrücke, daß er ‚ihn' einfach vergißt.“

Tom sagte noch gar nichts. Er marschierte stramm auf seinen Beinchen zwischen den beiden Großen und sah die herrlich hohen Bäume mit den Pieksenadeln an. Dann kam ein Zwinger mit einem Hund. und nun stand die Mummi unten auf einer Treppe und hielt die Arme weit auf. Sie gingen durch eine große Tür auf einen weiten Balkon. und plötzlich war da unten ein langes, langes Wasser, und ein Dampfer kam um die Waldecke, und ein Kahn, zwei Kähne, viele Kähne ...

Es wurde Abend, und der kleine Junge mußte ins Bett. Er war müde und selig aufgeregt, aber als ihn die Mutter über die Bettleiter hob, sagte er: .,Hoppelpoppel“. Der Vater sagte ernst: „Hoppelpoppel fährt mit der Puffbahn, Thomas. Hoppelpoppel kommt morgen.“ Das Kind sah seine Eltern fragend an, erst sagte es nichts, als aber dann das Licht ausgemacht wurde, bat es wieder, dringend: „Hoppelpoppel!“

„Thomas muß jetzt schlafen“, sagte die Mutter streng und machte die Tür von außen zu. Die Eltern standen atemlos und lauschten. Nein. kein Gebrüll, kein Weinen, sondern Stille.

„Er wird sich beruhigen“, sagte Mummi. „Aber besser ist doch. du gehst morgen zur Bahn und machst eine Verlustanzeige.“ - „Schön“, sagte der Mann. „Obgleich es keinen Zweck hat. Denn der Zug fährt weiter nach Polen, und die werden uns gerade einen Hoppelpoppel zurückschicken!“

Am nächsten Morgen machte der Vater seine Verlustanzeige, dann kam der Nachmittagsschlaf - aber nein, es kam kein Nachmittagsschlaf. „Hoppelpoppel!“ - „Hoppelpoppel kommt bald!“ -„Nun! Gleich!“- „Thomas muß schlafen!“ Gebrüll, Wut, Trostlosigkeit. Jammer, nur kein Schlaf. Und am Abend dasselbe. Das neue Häuserehen und das viele Wasser und der Garten und der Hund im Zwinger und die vielen Dampfer - alles nichts! Hoppelpoppel, lieber Hoppelpoppel - wo bist du? Hoppelpoppel. ein alberner. schwarzer Stoffhund, war eine finstere Wolke am Himmel. Nach drei Tagen überhing sie alles!

„Also ich fahre morgen nach Berlin und kaufe einen neuen Hoppelpoppel“, sagte der Vater zur Mummi. „Vielleicht kriegst du solch einen gar nicht?“ - „Soll das, bitte, hier so weitergehen?“ Der Vater fuhr also, und schließlich fand er auch seinen Stoffhund, er fand genau den Hoppelpoppel. Er war lange umhergelaufen. er hatte viel Fahrgeld ausgegeben, aber: Heute Nacht wird Tom endlich wieder ruhig schlafen.

Der Vater war so glücklich über den kleinen Hund, am liebsten hätte er aller Welt Gutes getan. Da war im Abteil ein Kind, es war natürlich kein Kind wie der Thomas, nein, sondern ein dunkles, blasses Kind. es war ein meckriges Kind, es war ein schwieriges, störendes Kind, aber es war ein Kind ... Es saßen noch zwei Herren im Abteil, das hielt den Vater nicht ab: Er machte Kuckuck mit dem Kind, er lenkte es ab, er half der Mutter. so gut er konnte, aber es verschlug nichts, es blieb ein schwieriges Kind.

Der Vater nahm aus dem Netz das kleine braune Paket, das Kind sah zu. Er schnürte langsam das Paket auf, das Kind sah genau hin. Was da wohl drin ist? Er faltete das Papier auf, ließ ein bißchen sehen. mehr ... „Hoppelpoppel“, sagte der Vater ernst. „Wauwau“, antwortete das Kind selig.

Es wurde nun doch eine sehr gute Bahnfahrt. Siehe. der dicke brummige Herr in der Ecke war ein rechter Großvater, er zog den Hoppelpoppel auf der leeren Bank zu sich hin. Hoppelpoppel hoppelte. Der Vater zog ihn am Schwanz zurück. Das Kind jauchzte. Manchmal ging eine kleine Sorgenwolke über des Vaters Herz. „Wie weit fahren Sie?“ „Bis Neu-Bentschen. Und Sie?“„Oh, ich muß viel früher raus. Ihr Junge wird ja den Hund bis dahin über haben.“

„Das weiß ich nicht", sagte die Frau. „Wenn er was liebt, dann liebt er es auch richtig.“

„Na, eine Weile fahren wir ja auch noch“, sagte der Vater nachdenklich und ließ den Hund bellen. Der Vater kramte das braune Papier wieder vor und den Bindfaden: „Nun paß auf, jetzt geht Hoppelpoppel schlafen.“

Das Kind sah aufmerksam zu, aber dann, als der Hund im Papier verschwand, fing es an zu weinen. „Hoppäpoppä“, sagte es klagend. Alle redeten auf das Kind ein, das Kind weinte stärker, der Vater sagte: „Ich brauche ihn ja schließlich nicht eingepackt mitzunehmen, er kann ihn ja noch den Augenblick halten ...“. Das Kind nahm den Hoppelpoppel in den Arm, es lächelte, es lächelte - lieber Himmel! es war doch ein sehr ähnliches Kind ...

Der Zug fuhr langsamer, der Zug hielt. „Nun gib dem Onkel den Hoppelpoppel.“ Das Kind

hielt den Hund fest. „Willst du wohl artig sein, gibst du - „. „Aussteigen!“ „Du sollst den Hund loslassen!“ - „Gib mir doch den Wauwau, bitte, bitte? Ich habe auch einen kleinen Jungen ...“- „Sie wollen noch 'raus? Bitte, beeilen!“

Alles ging durcheinander, das Kind weinte schmerzlich, der Schaffner schimpfte. Eine Hand (es war die Hand der Mutter) riß an der klammemden Kinderhand, das Weinen wurde lauter. Der Vater stand draußen mit seinem Hoppelpoppel, er dachte verwirrt: Wenn er was liebt, dann liebt er es auch richtig. Der Zug fuhr an, der Vater riß die Tür wieder auf, warf den Hund ins Abteil. Der Zug fuhr schneller, am Fenster waren Mutter und Kind zu sehen, das Kind hielt den Hoppelpoppel

Der Mann ging langsam durch den dunklen Wald nach Haus, er hatte es nicht eilig. Wenn er zu Haus ankommen würde, würde sein Junge gerade ins Bett gebracht werden, er würde sehnsüchtig betteln: Hoppelpoppel! Der Mann bereute nicht, der Mann schalt sich nicht, er war nur traurig. Irgendetwas war nicht in Ordnung auf dieser Welt. irgendetwas stimmte nicht: Dem einen geben, daß der andere weint?

Der Mann schloß die Tür auf, oben krähte der Tom. Der Mann ging langsam und leise die Treppe hinauf, er hing leise den Mantel fort, er zog seine Hausschuhe an ... schließlich mußte er doch die Tür aufmachen ... Da aß sein kleiner Sohn am Tischchen den Haferbrei. und auf dem Tischchen stand der Hoppelpoppel! Der Hoppelpoppel mit einem langen, langen Zettel am Hals. „Sieh nur, Mann“, sagte die Mummi. Auf dem Zettel standen viele bahnamtliche Vermerke, aber da stand auch: Zbaszyn (Bentschen). Kleine schwazze Hund, särr biee. Reißt ...“ - „Kleine schwarze Hund, särr biese ...“, sagte der Vater langsam. Komisch: Plötzlich war die Welt wieder in Ordnung  (Hans Fallada).

 

 

Sors und Georg

[Junge gibt dem Kameraden Unkrautsamen für einen Blumenstrauß für dessen Mutter]

Eines Morgens war der Platz neben Georg besetzt. In der Bank saß ein kleiner, scheuer Knabe mit rotem Haare. Er nannte sich Sors. Das sollte Schorsch heißen, denn er konnte kein „sch“ sprechen. Georg war beleidigt; der Neue mißbrauchte seinen Namen. Georg mochte diesen Sors vom ersten Augenblick an nicht leiden.

Es schien, Sors sei das unglücklichste Menschenkind, das man sich denken konnte. Von allem möglichen Leid war ihm ein Teil aufgeladen worden: dieser Sprachfehler, der rostrote. filzige Haarbelag, die kurzen, krummen Beine! Auch sein Kopf war schwach. Sors war kein guter Schüler, das zeigte sich bald.

Einzig sein Herz schien schön und gut. Vielleicht war Sors sogar glücklich; ganz gewiß war er zufrieden und ließ sich nicht betrüben durch die Neckereien der Kameraden, die an ihm genug zu spotten fanden. Er lächelte, wenn sie über ihn lachten. Zu alledem kam hinzu, daß Sors keinen Vater und zu Hause stets eine kränkelnde Mutter hatte.

Dies wußte Georg, und Sors tat ihm leid; dennoch verachtete er den kleinen Wicht und war oft versucht, ihn zu quälen. Aber Georg war weder herzlos noch ungezogen; er gab sich Mühe, den stillen Kleinen zu übersehen, und wich ihm aus.

Einmal, ein einziges Mal, konnte er nicht widerstehen, der Kröte, die seinen Namen entehrte, einen Streich zu spielen. Georgs Eltern wohnten in einem schönen Haus. vor dessen Fenstern ein öffentlicher Park lag. Eines Tages flog ein Vogel auf den Schreibtisch von Georgs Vater. Es war ein Distelfink. Er blutete an der Schnabelwurzel. Der Vater setzte den Vogel in einen Bauer, und Georg wurde angewiesen, drüben im Park Samen von den Stauden zu lesen. Um den Abfallhaufen des Gärtners wuchsen genug Disteln und anderes sämendes Gestäud.

Als der Junge mit der vollen Tüte zurückkam, war der Fink schon verendet. Georg verwahrte die Futtersämchen in seiner Schlafkammer als Andenken an den kurzen Besuch, und vielleicht hoffte er, es fliege ihm bald wieder ein hungriger Vogel zu.

Das war Anfang des letzten Winters gewesen; nun war der Frühling bald vorbei. Georg wurde an die Samentüte erinnert, als er sah, wie der rote Sors von einem Schulausflug im Taschentuch Ackererde heimtrug. „Was hast du im Sinn, Rostfleck?“ fragte er den Kleinen. „Man darf keine Erde stehlen! Ich zeige dich an!“ Sors erschrak; er hatte geglaubt, die Erde gehöre allen Menschen. „Sag, was willst du damit“, fuhr ihn Georg an. „Kochen und auftischen, was?“ Georg vertrug es nicht, wenn einer so still und scheu und gar zu dumm war. Sors traute dem großen Georg nichts Arges zu und gestand, daß er eine Überraschung für die kranke Mutter vorbereitete. Er werde ein Kistchen mit Erde füllen und darin Blumen pflanzen zu ihrem Geburtstag.

„Hast du denn Pflanzen?“ fragte Georg. Jetzt dachte er an seinen Unkrautsamen, und er versprach dem arglosen Sors. ihn mit schönem Blumensamen zu beschenken. Am nächsten Tag brachte er vom Unkrautsamen eine bunte Tüte voll in die Schule, und Sors bedankte sich froh.

Georg konnte das Geheimnis nicht für sich behalten: Er machte einige Kameraden zu Vertrauten. Sie lobten den Streich, und ihre Schadenfreude übertönte sein Gewissen.

Der rote Sors berichtete nun täglich von seinen Gärtnerkünsten. Es machte ihn glücklich, mit dem großen Georg etwas Heimliches gemein zu haben. Er erzählte ihm flüsternd, das Kist­chen stehe auf der Hauszinne und er pflege die Pflänzchen ganz im geheimen, ohne daß die bettlägerige Mutter etwas davon wisse. Er meldete, wie hoch seine Pfleglinge gediehen waren, beschrieb ihre Formen und wie die einen bedächtig wüchsen, die anderen munter emporschössen und sich entfalteten. Georg hielt bei diesen Berichten das Lachen zurück, die eingeweihten Kameraden kicherten; aber ganz wohl war ihnen nicht, wenn sie den gutmütigen Eifer des glücklichen Sors bedachten.

Eines Tages beschrieb Sors seinen winzigen Kistengarten in einem Aufsatz; der Lehrer ließ die Arbeit durch Sors vorlesen. Georg errötete. als ihn ein anerkennender Blick des Lehrers traf. Sors hatte nämlich nicht verschwiegen, daß sein „Freund Georg“ ihm den Samen zu den wunderbaren Blumen geschenkt habe.

„Woher weißt du, daß es wunderbare Blumen sind?“ fragte Georg den kleinen Sors. Als sie allein waren. „Vielleicht ist es ja nur Unkraut!“ Sors sah den Kameraden ungläubig und mit lachenden Augen an, als wisse er, daß ein solcher Betrug unmöglich sei. Und nach einigen Tagen berichtete er, es habe sich die erste Blütenknospe gebildet, und er rechne, der Blütenflor öffne sich eben zur rechten Zeit: auf den Geburtstag der Mutter.

Georg hatte seitdem keinen ungetrübten Tag mehr. Es reute ihn, die Gutgläubigkeit des armen Kerlchens mißbraucht zu haben, und er hätte ihm und der kranken Mutter gern die Enttäuschung erspart. Jedoch Sors war unvermindert voller erwartender Freude und erzählte begeistert von der werdenden Pracht seines Treibbeetes im Kistchen.

..Wie sehen sie aus, deine Prachtblumen?“ fragte Georg. „Gelb, blau und alle Farben, und auch grün, grün am meisten“, sagte Sors strahlend. „Duften sie auch?“ - „Oh, herrlich, wie neue Seife.“ - „Bringst mir einmal eine in die Schule?“ - „Freilich, aber erst nach dem Geburtstag, gelt?“

„So zeichne mir jetzt eine: Ich möchte wissen, wie sie aussehen und heißen“, bat Georg.

Sors zeichnete große Blüten auf das Löschblatt. Aber Georg konnte sie nicht erkennen. „Einfach schön“, lobte Sors, „sie wird Freude dran haben, kannst ruhig sein.!“

Georg wurde daraus nicht klug. Was war geschehen? Er hatte dem Rostfleck Unkrautsamen gegeben, und daraus sollten nun Prunkblumen geworden sein? Ein Wunder? Oder war das etwa kein Unkrautsamen gewesen, was er für jenen Distelfinken im Park gerupft hatte? Nicht gemeine Sternmiere, Gras, Lattich und Disteln? Doch wohl nicht Phlox und Nelken, Petunien und Astern?

„Wann hat sie Geburtstag?“ - „Morgen, das Kistchen ist ein einziger Garten. ein Strauß! Sie hat gar nichts gemerkt. Am Abend hol ich's von der Zinne und stelle es am Morgen neben ihr Bett. Du mußt sie dann besuchen, nach vier Uhr. Ich lade dich ein. Dann darf sie für eine halbe Stunde aufstehen. Die Blumen sind ja eigentlich von dir!“

Es war Georg gar nicht recht, daß ihm am Nachmittag nach Schulschluß einige Kameraden folgten, als er Sors begleitete. Er hatte heimlich ein Markstück aus seiner Sparbüchse geschüttelt und wollte es der armen, enttäuschten Frau zustecken und damit Verzeihung für seinen Streich erkaufen. Zwar hatte Sors erzählt, die Mutter sei fast aus dem Häuschen geraten vor Freude über das Blumenkistchen. Aber Georg dachte, sie habe die Freude sicherlich geheuchelt, um ihren Jungen nicht zu enttäuschen; sie werde sich doch wohl von Unkraut nicht zu Tränen rühren lassen.

Die Kameraden warteten unten: Georg tat, als freue er sich wie sie auf den Spaß: Unkraut als Festbukett! Er stieg mit bedrücktem Herzen die vielen Treppen hinauf. Droben saß die kranke Frau unterm schrägen Fenster. Georg sah zuerst die kleine Kiste auf dem Tisch und errötete. Es war wirklich nur blühendes Unkraut darin: eine Flockenblume, Taubnesseln, Lattich, Gras, winzige blaue Katzenaugen und Disteln.

Die kleine Frau gab ihm gerührt beide harten Hände, dankte ihm und betastete dann sorgfältig die Blütchen in dem üppigen Gewucher der kleinen Kiste. „Mir ist, die Wiese sei zu mir gekommen“, sagte sie. „Buben, ihr habt mir eine große Freude gemacht.“

Georg sah beschämt an ihr vorbei. Bevor er wegging, legte er, ohne daß es die beiden anderen sahen, die Mark neben den kleinen Unkrautgarten. An der Holzwand des Kistchens stand in Schablonenschrift „Bleichsoda“.

Als er die Treppe hinunterging, war sein Kopf verwirrt, und er sah ständig das Wort „Bleichsoda“ vor sich. Er war traurig und wußte nicht warum; es war doch so gut ausgegangen! Unten warteten die Kameraden vor der Haustür. Georg stahl sich zur hinteren Tür hinaus und machte sich durch den Hof davon. Ihm war jetzt nicht zum Lachen (Traugott Vogel).

                                                                                                      

 

Der kleine Prinz, Kapitel XXI

[Man sieht nur mit dem Herzen gut]

 „Guten Tag“, sagte der Fuchs. „Guten Tag“, antwortet höflich der kleine Prinz, der sich umdrehte, aber nichts sah. „Ich bin da“, sagte die Stimme, „unter dem Apfelbaum ...!“ - „Wer bist du?“ sagte der kleine Prinz. „Du bist sehr hübsch!“ - „Ich bin ein Fuchs“, sagte der Fuchs.

„Komm und spiel' mit mir“, schlug ihm der kleine Prinz vor. „Ich bin so traurig!“ - „Ich kann nicht mit dir spielen“, sagte der Fuchs. „Ich bin noch nicht gezähmt!“ - „Ach. Verzeihung!“ sagte der kleine Prinz.

Aber nach einiger Überlegung fügte er hinzu: „Was bedeutet das: ‚zähmen'?“ - „Du bist nicht von hier“, sagte der Fuchs. „Was suchst du?“ - „Ich suche die Menschen“, sagte der kleine Prinz.. „Was bedeutet ‚zähmen'?“ „Die Menschen“, sagte der Fuchs, „die haben Gewehre und schießen. Das ist sehr lästig. Sie ziehen auch Hühner auf. Das ist ihr einziges Interesse. Du suchst Hühner?“ - „Nein“, sagte der kleine Prinz, „ich suche Freunde. Was heißt ‚zähmen'?“

„Das ist eine in Vergessenheit geratene Sache“. sagte der Fuchs. „Es bedeutet: sich‚ vertraut machen'!“

 „Vertraut machen?“ - „Gewiß“, sagte der Fuchs. .,Du bist für mich noch nichts als ein kleiner Knabe, der hunderttausend kleinen Knaben völlig gleicht. Ich brauche dich nicht, und du brauchst mich ebensowenig. Ich bin für dich nur ein Fuchs, der hunderttausend Füchsen gleicht. Aber wenn du mich zähmst, werden wir einander brauchen. Du wirst für mich einzig sein in der Welt. Ich werde für dich einzig sein in der Welt!“

„Ich beginne zu verstehen“, sagte der kleine Prinz. „Es gibt eine Blume ... ich glaube, sie hat mich gezähmt!“ - „Das ist möglich“, sagte der Fuchs. „Man trifft auf der Erde alle möglichen Dinge!“ -„Oh, das ist nicht auf der Erde“, sagte der kleine Prinz.

Der Fuchs schien sehr aufgeregt: „Auf einem anderen Planeten?“ - „Ja.“- „Gibt es Jäger auf diesem Planeten?“- „Nein!“ - „Das ist interessant! Und Hühner?“ - „Nein.“ - „Nichts ist vollkommen!“ seufzte der Fuchs.

Aber der Fuchs kam auf seinen Gedanken zurück: „Mein Leben ist eintönig. Ich jage Hühner. die Menschen jagen mich. Alle Hühner gleichen einander, und alle Menschen gleichen einander. Ich langweile mich also ein wenig. Aber wenn du mich zähmst, wird mein Leben wie durchsonnt sein. Ich werde den Klang deines Schrittes kennen, der sich von allen anderen unterscheidet. Die anderen Schritte jagen mich unter die Erde. Der deine wird mich wie Musik aus dem Bau locken. Und dann schau! Du siehst da drüben die Weizenfelder? Ich esse kein Brot. Für mich ist der Weizen zwecklos. Die Weizenfelder erinnern mich an nichts. Und das ist traurig. Aber du hast weizenblondes Haar. Oh. es wird wunderbar sein, wenn du mich einmal gezähmt hast. Das Gold der Weizenfelder wird mich an dich erinnern. Und ich werde das Rauschen des Windes im Getreide liebgewinnen ...“.

Der Fuchs verstummte und schaute den Prinzen lange an: „Bitte ... zähme mich!“ sagte er.

„Ich möchte wohl“, antwortete der kleine Prinz, „aber ich habe nicht viel Zeit. Ich muß Freunde finden und viele Dinge kennenlernen.“ - „Man kennt nur die Dinge, die man zähmt“, sagte der Fuchs. „Die Menschen haben keine Zeit mehr, irgendetwas kennenzulernen. Sie kaufen sich alles fertig in den Geschäften. Aber da es keine Kaufläden für Freunde gibt, haben die Leute keine Freunde mehr. Wenn du einen Freund willst, so zähme mich!“

„Was muß ich da tun?“ fragte der kleine Prinz. „Du mußt sehr geduldig sein“, antwortete der Fuchs. „Du setzt dich zuerst ein wenig abseits von mir ins Gras. Ich werde dich so verstohlen, so aus dem Augenwinkel anschauen, und du wirst nichts sagen. Die Sprache ist die Quelle der Mißverständnisse. Aber jeden Tag wirst du dich ein bißchen näher setzen können!“

Am nächsten Morgen kam der kleine Prinz zurück. „Es wäre besser gewesen, du wärst zur selben Stunde wiedergekommen“, sagte der Fuchs. „Wenn du zum Beispiel um vier Uhr nachmittags kommst, kann ich um drei Uhr anfangen, glücklich zu sein. Je mehr die Zeit vergeht, umso glücklicher werde ich mich fühlen. Um vier Uhr werde ich mich schon aufregen und beunruhigen; ich werde erfahren, wie teuer das Glück ist. Wenn du aber irgendwann kommst, kann ich nie wissen, wann mein Herz da sein soll ... Es muß feste Bräuche geben.“

„Was heißt ‚fester Brauch'?“ sagte der kleine Prinz.

„Auch etwas in Vergessenheit Geratenes“, sagte der Fuchs. „Es ist das, was einen Tag vom anderen unterscheidet, eine Stunde von den anderen Stunden. Es gibt zum Beispiel einen Brauch bei meinen Jägern. Sie tanzen am Donnerstag mit den Mädchen des Dorfes. Daher ist der Donnerstag der wunderbare Tag. Ich gehe bis zum Weinberg spazieren. Wenn die Jäger irgendwann einmal zum Tanze gingen, wären die Tage alle gleich, und ich hätte niemals Ferien.“

So machte denn der kleine Prinz den Fuchs mit sich vertraut. Und als die Stunde des Abschieds nahe war: „Ach!“ sagte der Fuchs, „ich werde weinen.“ - „Das ist deine Schuld“, sagte der kleine Prinz, „ich wünschte mir nichts Übles, aber du hast gewollt, daß ich dich zähme!"“- „Gewiß“, sagte der Fuchs. „Aber nun wirst du weinen!“ sagte der kleine Prinz. „Bestimmt“, sagte der Fuchs. „So hast du also nichts gewonnen!“

„Ich habe“, sagte der Fuchs, „die Farbe des Weizens gewonnen!“ Dann fügte er hinzu: „Geh die Rosen wieder anschauen. Du wirst begreifen, daß die deine einzig ist in der Welt. Du wirst wiederkommen und mir Adieu sagen, und ich werde dir ein Geheimnis schenken!“

Der kleine Prinz ging. die Rosen wiederzusehen: „Ihr gleicht meiner Rose gar nicht, ihr seid doch nichts“, sagte er zu ihnen. „Niemand hat sich euch vertraut gemacht, und auch ihr habt euch niemandem vertraut gemacht. Ihr seid, wie mein Fuchs war. Der war nichts als ein Fuchs wie hunderttausend andere. Aber ich habe ihn zu meinem Freund gemacht, und jetzt ist er einzig in der Welt!“

Und die Rosen waren sehr beschämt. „Ihr seid schön, aber ihr seid leer“, sagte er noch. „Man kann für euch nicht sterben. Gewiß, ein Irgendwer, der vorübergeht, könnte glauben, meine Rose ähnle euch. Aber in sich selbst ist sie wichtiger als ihr alle. da sie es ist, die ich begossen habe. Da sie es ist, die ich unter den Glassturz gestellt habe. Da sie es ist, die ich mit dem Wandschirm geschützt habe. Da sie es ist, deren Raupen ich getötet habe (außer den zwei oder drei um der Schmetterlinge willen). Da sie es ist, die ich sagen oder sich rühmen gehört habe oder auch manchmal schweigen, da es meine Rose ist!“

Und er kam zum Fuchs zurück: „Adieu“. sagte er ... „Adieu“, sagte der Fuchs. „Hier mein Geheimnis. Es ist ganz einfach: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar!“

„Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“, wiederholte der kleine Prinz, um es sich zu merken. „Die Zeit, die du für deine Rose verloren hast, sie macht deine Rose so wichtig!“ -

„Die Zeit, die ich für meine Rose verloren habe“, sagte der kleine Prinz, um es sich zu merken.

„Die Menschen haben diese Wahrheit vergessen“, sagte der Fuchs. „Aber du darfst sie nicht vergessen. Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast. Du bist für deine Rose verantwortlich ...!“ Ich bin für meine Rose verantwortlich ...“, wiederholte der kleine Prinz, um es sich zu merken  (Antoine de Saint-Exupery).

 

 

Meine liebe Not mit dem Rowdy

[Junge muß auf seinen kleinen Bruder aufpassen]

„Du wirst doch mal auf deinen Bruder aufpassen können!“ so höre ich das nun jeden Tag. Es ist zum Verrücktwerden. Manchmal wünschte ich ihn mir auf den Mond. Denn auf Jens aufpassen ist schlimmer, als einen Sack Flöhe hüten. Mir fällt da immer die Geschichte von Hans Huckebein von Wilhelm Busch ein. Dieser verrückte Rabe macht auch nur Blödsinn. Jens tut alles, was er nicht tun soll. Oder er tut nichts, was er tun soll. Es ist zum Verzweifeln. Aber einer muß ihn ja erziehen, was soll sonst aus ihm werden?

Bei anderen ist Jens die reine Unschuld und tut, als wenn er nicht bis drei zählen könnte. Aber wenn ich mit ihm fertigwerden muß, dann geht alles drunter und drüber. Wenn es mir dann mal reicht und ich ihm eine Nuß gebe, dann petzt er. Und wer kriegt wieder das Fett ab? Ich. „Du bist der Große, du wirst doch wohl auf Jens aufpassen können!“

Und das sieht dann so aus: Wenn Mama Frühschicht oder Nachtschicht hat, muß ich eine halbe Stunde eher aufstehen und Jens in den Kindergarten bringen, ehe ich zur Schule gehe. Hat Mama Nachmittagsschicht. muß ich ihn aus dem Kindergarten holen. Gewiß, das reißt mich nicht um; aber ich bin dadurch immer angehängt, kann mir nie etwas Richtiges vornehmen. Das reinster Kindermädchen, dauernd habe ich ihn aufgehalst. Ich weiß kaum noch, wofür ich meine Fußballschuhe habe.

Manchmal wünschte ich mir, überhaupt keinen Bruder zu haben. Wenigstens nicht einen. der mir dauernd an den Fersen klebt. Dann überlege ich mir, daß ich es wahrscheinlich genauso machen würde, wenn ich einen um etliche Jahre älteren Bruder hätte. „Du wirst wohl mal auf deinen Bruder aufpassen können!“ Ja, sie haben gut reden. Papa ist auf Montage und die ganze Woche nicht da, und wenn er nach Hause kommt, ist alles eitel Sonnenschein bei dem Geldlohn. Zu mir jedoch heißt es: „Du bist der Ältere!“ und „Der Klügere gibt nach!“ Sie merken in den paar Stunden gar nicht, daß Jens auf dem besten Wege ist, ein Rowdy zu werden, wenn er es nicht vielleicht schon ist. Und manchmal denke ich: Nur allein deine Erziehung kann ihn davor retten, auf die schiefe Bahn zu kommen.

Am schlimmsten ist, daß man mit Jens nicht richtig spielen kann. Dauernd will er etwas anderes. Erst will er Indianer spielen. Dann stelle ich alles auf, wie er es haben will. Kaum bin ich fertig, da schmeißt er alles um und will was Neues. Es ist zum Auswachsen!

Doch manchmal hat er auch seine guten Seiten und entschädigt mich für vieles. Das sind die Stunden, in denen ich ihm Märchen vorlesen muß. Dann sitzt er auf meinen Beinen, legt einen Arm um meinen Hals und sieht mich an mit seinen großen, runden schwarzen Augen. Er verhält sich ganz still, und kaum bin ich mit einem Märchen am Ende, bettelt er: „Noch eins lesen! Noch eines!“, und ich lese solange, bis mir die Beine einschlafen und ich beim Aufstehen wie ein Betrunkener wanke.

Jener Freitag war ein wunderschöner Tag. wenigstens dem Wetter nach. Sonst aber wage ich nicht, an ihn zu denken. In der Schule fiel die Mathestunde aus, weil ein Lehrer erkrankt war, und wir durften eher nach Hause gehen. Nun lag der Kindergarten gleich am Weg. und ich dachte: Holst Jens gleich ab, dann brauchst du nachher nicht noch einmal loszumarschieren. „Ein artiger Junge“, sagte die Kindergärtnerin, und Jens blickte unschuldsvoll wie ein Lamm. Aber auf der Straße passierte es. Jens reißt sich von meiner Hand los, ich muß ihn am Kragen packen. Ich gebe zu, ich war etwas unsanft. Aber was hilft's.

Dann kommt Jens auf den Gedanken, auf einem Bein zu hüpfen. Ich sollte mitmachen. Warum, das habe ich gleich darauf gemerkt. Kaum hüpfe ich auf einem Bein, schmeißt er mich um, dann lacht er mich aus und rennt davon. Was sollte ich machen? Nichts wie hinterher. Und als ich ihn hatte, habe ich ihn tüchtig gebeutelt. Jens heult und sieht sich hilfesuchend nach Passanten um.

Da mischt sich auch schon ein Mann ein, und wer kriegt wieder alles ab? ich. „Wenn du meiner wärst! Sich an so einem Kleinen zu vergreifen!“ wiederholt er in einem fort. Als der Mann endlich weitergeht, streckt ihm Jens auch noch die Zunge raus. Aber das sieht der Mann nicht, sondern wie ich Jens ermahne. Da droht er noch einmal: „Laß ja den Kleinen in Ruhe!“

Zu Hause habe ich für Jens eine Schnitte gemacht und noch Himbeersirup mit Selters, weil er das so gerne trinkt, und dann an die Arbeit. Jens hat auf dem Hof mit dem Ball gespielt, und ich habe für Mama den Fußboden gewischt. Ganz schön beeilt habe ich mich. Fast war ich damit fertig und freute mich schon, daß ich noch ein wenig lesen kann.

Da riß Jens die Tür auf, rief: „Tor!“ und schoß den Ball ab, und ich bekam den Ball nicht zu fangen, und der Ball rollte bis in die äußerste Ecke und knallte gegen einen Stuhl und lief zurück. Der Ball hinterließ eine Dreckspur. und ein Teil meiner Arbeit war zunichte gemacht.

Mir platzte der Kragen. und ich war so in Rage, und ehe ich mich versah und ehe Jens sich versah, hatte ich ihm eine geklebt. Er stieß den Wassereimer um. und die Brühe lief durchs Zimmer.

Dann schrie er, er wolle mich nicht mehr sehen, heulte und heulte und schrie immerfort, daß er mich nicht mehr sehen wolle, und er ginge nun in den Kindergarten und käme nie wieder.

„Geh doch!“ rief ich aufgebracht. „Geh! Geh mir aus den Augen!“ Ich hörte sein Flennen die ganze Treppe hinab, und dann, während ich aufwischte, war es sehr still. Als sei über mich eine große Glasglocke gestülpt worden. Ich hörte nur mein Herz schlagen, und meinen Atem hörte ich, einen tiefen, schnellen Atem, wie bei einem Menschen, dem die Luft knapp wird.

 

Ich war dann endlich fertig, und es begann mir schon leid zu tun, daß ich mich hatte hinreißen lassen, als Schritte die Treppe herauf kamen, eilige Schritte. Und im nächsten Augenblick platzte eine Frau ins Zimmer, das Gesicht rot wie eine Runkelrübe. „Um Himmels willen, wo ist denn deine Mutter?“ Sie keuchte schwer. „Dein Bruder ...!“ Ich weiß nicht mehr, wie schnell ich die Treppe hin- untergerast bin. Erst habe ich überall im Hof gesucht. und dann bin ich auf die Straße gerannt. An der Ecke stehen eine Menge Leute zusammen. Ich frage nach einem kleinen Jungen, aber den hat man gerade ins Krankenhaus gebracht. „Das war wohl dein Bruder? Du konntest wohl nicht besser aufpassen?“ Mit zittern so sehr die Knie. daß ich das alles gar nicht richtig höre.

Am Sonntag ist Besuchszeit. Alle stehen wir um das weiße Bett herum. Papa wirft mir finstere Blicke zu und spricht von Verantwortung. Er hat gut reden, dachte ich. Was weiß er denn von uns? Die paar Stunden, die er zu Hause ist. Besuchszeit wie im Krankenhaus.

Am Mittwoch ging ich allein zu Jens. Papa ist wieder unterwegs, und Mama hat Schicht.

„Ach, mußtest du denn über die Straße laufen, ohne nach links und rechts zu sehen, alter Rowdy“" sagte ich und knuffte ihn ans Kinn. Er war gegen einen Mopedfahrer gerannt und hatte dabei Prellungen und Hautabschürfungen abbekommen. Es hätte auch schlimmer ausgehen können. Ich wage nicht, daran zu denken.

„Schwester Silvia gibt mir immer Himbeersirup“, vertraut Jens mir an. „Sie liest mir auch Märchen vor!“ O ja. er wurde von den Schwestern verwöhnt. Das gefiel ihm natürlich. „Ich habe dir auch Himbeersirup mitgebracht“, sagte ich und stellte die Flasche auf das Nachtschränkchen. Und dann zog ich noch ein Bilderbuch hervor, und Blumen hatte ich auch mit. Und auf dem Herweg war ich bei der Post drangewesen und hatte Briefmarken gekauft, zwei Sätze. mit wunderschönen Kakteen drauf. Ich zeigte sie Jens. und er wollte sie gleich haben, und ich gab ihm schweren Herzens den Satz. Den hat Jens, wie ich später erfuhr, Schwester Silvia geschenkt. Jetzt aber wollte er auch den anderen Satz. „Geht nicht“, sagte ich und steckte die Marken in die Aktentasche zurück. Dann ging ich eine Vase und Wasser für die Blumen holen, verabschiedete mich von Jens, und ich sah: der Schalk saß ihm schon wieder in den Augen.

Als ich nach Hause kam, war der eine Satz dieser wunderschönen Briefmarken zusammengeklebt von einem kleinen Schwupp Himbeersirup, den kein anderer als Jens über die Marken gegossen hatte. Da wußte ich, daß er sich wieder auf dem Weg der Besserung befand, wie es so schön heißt, und daß ich noch viel Arbeit mit ihm haben werde, damit er ein ordentlicher Mensch wird und kein Rowdy                                        (nach Siegfried Weinhold).

 

 

Des Kaisers neue Kleider

Vor vielen, vielen Jahren lebte einmal ein Kaiser, der so über die Maßen viel von schönen, neuen Kleidern hielt. daß er all sein Geld ausgab, um nur immer recht geputzt zu sein. Er küm­merte sich nicht um seine Soldaten, machte sich nichts aus Komödie und Spazierfahrten. als nur um seine neuen Kleider zu zeigen. Er hatte einen Rock für jede Stunde des Tages, und wenn man sonst von einem Könige sagt, er ist im Rate, so sagte man hier immer: „Der Kaiser ist in der Garderobe!“

In der großen Stadt, in welcher er wohnte, ging es lustig her, täglich kamen viele Fremde an. Und einmal kamen auch zwei Betrüger; die gaben sich für Weber aus und sagten, sie könnten ein Zeug weben, so schön, wie man's sich nur wünschen kann. Nicht allein Farben und Muster wären von ungewöhnlicher Schönheit, sondern die Kleider, welche man aus diesem Zeuge machte, hätten die wunderbare Eigenschaft, daß sie für jedermann unsichtbar wären, der entweder nicht für sein Amt paßte oder auch unaussprechlich dumm wäre.

„Das sind ja prächtige Kleider“. dachte der Kaiser, „wenn ich die anhabe, so kann ich ja leicht die Dummen von den Klugen unterscheiden und auch dahinter kommen, welche Leute in meinem Reiche für ihr Amt untauglich sind! Ja, das Zeug muß gleich für mich gewebt werden!“ Und er gab den beiden Betrügern viel Geld als Vorschuß, damit sie ungesäumt ihre Arbeit beginnen möchten.

Sie stellten also zwei Webstühle auf, taten, als wenn sie arbeiteten, aber hatten nicht einen Faden auf der Spule. Mir nichts, dir nichts verlangten sie die feinste Seide und das prächtigste Gold, das steckten sie aber in ihre eigene Tasche und arbeiteten mit leeren Webstühlen bis in die späte Nacht hinein.

„Ich möchte wohl wissen, wie weit sie mit dem Zeuge sind!“ dachte der Kaiser, aber es war ihm ordentlich ein bißchen wunderlich ums Herz. wenn er daran dachte, daß ein Dummer oder zu seinem Amte Untauglicher es nicht sehen könnte; nun meinte er zwar, für sich selbst brauchte er nicht bange zu sein, aber er wollte doch lieber erst jemanden hinschicken, ehe er selbst zusähe, wie es sich machte. Alle Menschen in der ganzen Stadt wußten, welche wun­derbare Eigenschaft das Zeug hatte, und alle waren begierig zu sehen, wie unbrauchbar oder dumm ihr Nachbar wäre.

„Ich will meinen alten, ehrlichen Minister zu den Webern senden!“ dachte der Kaiser, „der kann am besten sehen, wie das Zeug sich ausnimmt; denn er hat Verstand, und niemand führt sein Amt besser als er!“

Nun ging der brave, alte Minister in den Saal, wo die Betrüger saßen und an leeren Stühlen arbeiteten. „Hilf Himmel!“ dachte der alte Minister und riß die Augen auf, „ich kann ja nicht das mindeste sehen!“ Aber er sagte niemand etwas davon.

Beide Betrüger baten, er möge die Gewogenheit haben. näherzutreten, und fragten ihn, ob das Muster nicht schön, die Farben nicht prächtig wären. Sie zeigten dabei auf den leeren Webstuhl, und der arme, alte Minister riß noch immer die Augen auf, aber sehen konnte er nichts, denn es war nichts da. „Herr Gott!“ dachte er, „sollte ich dumm sein? Das hätte ich nimmer geglaubt, und das darf keine Seele erfahren. Oder sollte ich nicht zu meinem Amte taugen? Nein, ich darf's nicht sagen, daß ich das Zeug nicht sehen kann!“

„Nun, Sie sagen ja nichts?“ sagte der eine von den Webern. „Oh, es ist wundervoll! Ganz allerliebst!“ sagte der alte Minister und sah durch seine Brille, „dieses Muster, diese Farben! Ja, ich werde dem Kaiser berichten, daß es mir ganz außerordentlich gefällt!“

„Nun, das freut uns!“ sagten beide Weber und nannten die Farben mit Namen und beschrieben das seltsame Muster. Der alte Minister hörte genau zu, um dasselbe sagen zu können, wenn er zum Kaiser käme. Und das tat er auch.

Nun verlangten die Betrüger mehr Geld, mehr Seide und Gold, um es zur Weberei zu gebrauchen. Das steckten sie alles in ihre Taschen, auf den Webstuhl kam nicht ein Faden. aber sie fuhren fort, nach wie vor an den leeren Stühlen zu weben.

Der Kaiser sandte bald noch einen andern ehrlichen Beamten hin, um nachzusehen, wie es mit dem Gewebe stände und ob das Zeug nicht bald fertig wäre. Es ging dem Manne ebenso wie dem anderen, er sah und sah, aber weil nichts außer dem leeren Webstuhl da war, so konnte er auch nichts sehen. „Na, ist das nicht ein prächtiges Stück Zeug?“ fragten die beiden Betrüger und zeigten und erklärten das schöne Muster, das gar nicht da war.

„Dumm bin ich nicht!“ dachte der Mann, „mein gutes Amt muß also für mich nicht ganz paßlich sein! Das wäre lächerlich genug, aber so etwas muß man sich nicht merken lassen!“ Er lobte also das Zeug, welches er nicht sah, und versicherte ihnen seine Freude über die prächtigen Farben und das schöne Muster! „Ja, es ist ganz allerliebst!“ sagte er zum Kaiser.

Alle Leute in der Stadt sprachen von dem prächtigen Zeuge. Nun wollte der Kaiser es selbst besehen, während es noch auf dem Webstuhl war. Mit einer ganzen Schar auserlesener Männer, unter denen sich auch die beiden ehrlichen, alten Beamten befanden, die es schon besehen hatten, ging er zu den beiden listigen Betrügern, die nun aus allen Kräften webten, aber ohne Spule und ohne Faden.

„Nun, ist es nicht prachtvoll?“ sagten die beiden ehrlichen Beamten. „Wollen Euer Majestät nur sehen, welches Muster, welche Farben!“ Und dabei zeigten sie auf den leeren Webstuhl, denn sie glaubten, die andern könnten gewiß das Zeug sehen.

„Was zum Henker!“ dachte der Kaiser, „ich sehe nichts! Das ist ja schrecklich! Bin ich dumm? Tauge ich nicht zum Kaiser? Das wäre das Entsetzlichste, was mir begegnen könnte!“ - „Oh, es ist sehr schön!“ sagte der Kaiser. „und hat meinen allerhöchsten Beifall!“ und er nickte zufrieden und betrachtete den leeren Webstuhl. Daß er nichts sehen könnte, mochte er nicht sagen. Das ganze Gefolge, welches er bei sich hatte, sah und sah. aber sie konnten nicht mehr als alle andern heraussehen. Gleichwohl sagten sie, wie der Kaiser: „Oh, wie ist das schön!“ und rieten ihm, diese neuen, prächtigen Kleider bei der bevorstehenden großen Prozession zum ersten Male anzuziehen. „Es ist prachtvoll! allerliebst, ausgezeichnet!“ so ging's von Mund zu Mund, und alle waren von Herzen mit dem Gewebe zufrieden. Der Kaiser gab jedem der beiden Betrüger ein Ritterkreuz im Knopfloch zu tragen und verlieh ihnen den Rang und Titel von Weberjunkern.

Die ganze Nacht, welche dem Tage der Prozession voranging, saßen die Betrüger bei ihrer Arbeit und hatten sechzehn Lichte angezündet. Man konnte sehen, sie hatten alle Hände voll zu tun, um des Kaisers neue Kleider fertig zu bekommen. Sie taten, als nähmen sie das Zeug vom Webstuhl, schnitten mit großen Scheren in die Luft, nähten mit Nadeln ohne Zwirn und sagten zuletzt: „So, nun sind die Kleider fertig!“

Der Kaiser kam selbst mit seinen vornehmsten Kavalieren dorthin, und beide Betrüger hoben einen Arm in die Höhe, als ob sie etwas hielten, und sagten : „Sich da, das sind die Beinkleider! Das ist der Rock! Hier ist der Mantel!“ und so weiter. „Es ist so leicht, wie Spinngewebe! Man könnte glauben, man hätte gar nichts auf dem Leibe, aber das ist gerade das Schöne daran!“

„.Ja!“ sagten alle Kavaliere, aber schon konnten sie nichts, denn es war nichts da. „Wollen Eure kaiserliche Majestät allergnädigst geruhen, Ihre Kleider abzulegen!“ sagten die Betrüger. „so wollen wir Ihnen die neuen dort vor jenem großen Spiegel anlegen!“ Der Kaiser legte alle seine Kleider ab, und die Betrüger stellten sich, als legten sie ihm jedes Stück von den neuen an, und der Kaiser drehte und wandte sich vor dem Spiegel herum. „Gott, wie kleiden sie ihn schön! Wie trefflich sitzen sie!“ sagten alle zusammen. „Welches Muster! welche Farben. das ist ein kostbarer Anzug!“

„Draußen steht man mit dem Thronhimmel, der bei der Prozession über Eurer Majestät getragen werden soll!“ sagte der Oberzeremonienmeister. „Gut, ich bin bereit!“ sagte der Kaiser. „Sitzt es nicht gut?“ und noch einmal wandte er sich vor dem Spiegel rundherum, denn es sollte scheinen, als betrachtete er recht genau seinen Anzug.

Die Kammerherren, welche die Schleppe tragen sollten, tappten mit den Händen an der Erde herum, als wollten sie die Schleppe aufnehmen, und gingen mit vorgestreckten Armen, als trügen sie etwas. Daß sie aber nichts sehen konnten, durften sie sich nicht merken lassen. So ging der Kaiser in Prozession unter dem schönen Thronhimmel. Und alle Menschen auf den Straßen und in den Fenstern riefen: „Himmel, wie sind des Kaisers neue Kleider wundervoll schön! Welch eine prächtige Schleppe hat er am Mantel! Wie sitzt das Zeug unvergleichlich!“ Niemand wollte sich merken lassen, daß er nichts sähe, denn dann wäre er ja dumm oder untauglich für sein Amt gewesen. So viel Glück hatte noch keines von des Kaisers Kleidern gemacht.

„Aber er hat ja gar nichts an!“ sagte ein kleines Kind. „Herr Gott. hört die Stimme der Unschuld!“ sagte der Vater, und einer flüsterte dem andern zu. was das Kind gesagt hätte.

„Aber er hat ja gar nichts an!“ rief zuletzt das ganze Volk. Das ärgerte den Kaiser, denn es kam ihm vor, als hätten sie recht, aber er dachte: „Die Prozession muß ich nun wohl aushalten!“ Und die Kammerherren gingen und trugen die Schleppe, die gar nicht da war (Hans Christian Andersen).

 

 

Kleiner Mann - was tun?

Abends, wenn ich munter bin, soll ich schlafen gehen.

Morgens, wenn ich müde bin. hab' ich aufzustehen.

Und so wie der Tag beginnt, geht er meistens weiter.

Wenn die andern fröhlich sind, bin ich gar nicht heiter.

Daß ich in der Schule schlafe, finden Lehrer schlecht.

Wenn ich aber munter tobe, ist es auch nicht recht.

Hilfsbereit zu sein, verlangt man. Doch im Unterricht

schwachen Schülern vorzusagen. das erlaubt man nicht.

Von den Nachbarn abzuschreiben, hat man mir verboten.

Wenn ich aber Fehler mache, krieg' ich schlechte Noten.

Fröhlich soll ich sein und singen. Wenn ich's aber tue -

und in Mathe fröhlich singe, schreit der Lehrer: Ruhe!

Meine Eltern sagen dauernd: Kind, du ißt zu schlecht!

Es' ich aber Süßigkeiten. ist es auch nicht recht.

Was ich mache, mach' ich falsch. und weiß nicht warum.

Sind die andern - oder bin ich etwa selber dumm?  (Peter Ensikat)

                                                                                                               

 

Semjons Leidensweg

[Bewohner einer Erziehungsanstalt soll Geld aus der Stadt holen]

Schere betrieb seine Sache mit Energie. Die Frühjahrsaussaat führte er nach der Sechs-Felder-Fruchtfolge durch und verstand es, diesen Plan zu einem wirklichen Erlebnis für die Zöglinge zu machen. Auf dem Felde, im Pferdestall, im Schweinekoben, in den Schlafräumen oder auch nur auf der Straße, auf der Fähre, in meiner Stube oder im Speisesaal - stets bildete sich um ihn ein landwirtschaftliches Praktikum.

Nicht immer nahmen die Jungen seine Anordnungen ohne Widerspruch entgegen. und Schere lehnte es auch nie ab, eine sachliche Entgegnung anzuhören: freundlich und trocken legte er in knappen Worten seine Argumente dar und schloß dann, jeden Widerspruch ausschließend: „Machen Sie es so, wie ich gesagt habe!“

Nach wie vor verbrachte er den ganzen Tag in angestrengter Arbeit, doch ohne Hast, nach wie vor war es schwer, mit ihm Schritt zu halten. Und doch konnte er zwei, drei Stunden geduldig vor einem Futtertrog stehen oder fünf Stunden hinter der Sämaschine einhergehen, auch alle zehn Minuten im Schweinestall erscheinen und den Schweinewärtern mit höflichen und hartnäckigen Fragen zusetzen. „Wann haben Sie den Ferkeln Kleie gegeben? Haben Sie auch nicht vergessen, es aufzuschreiben? Haben Sie es so aufgeschrieben, wie ich es Ihnen gezeigt habe? Haben Sie alles fürs Bad vorbereitet?“

Bei den Zöglingen bildete sich zu Schere ein Verhältnis zurückhaltender Begeisterung heraus. Für sie war es selbstverständlich, daß „unser Schere“ nur deshalb ein so famoser Kerl war, weil er zu uns gehörte, und daß er sich in jeder anderen Stelle nicht so auszeichnen würde. Diese Begeisterung äußerte sich in einer stillschweigenden Anerkennung seiner Autorität und in endlosen Gesprächen über das, was er gesagt hatte, über seine Manier, seine Unnahbarkeit und Kenntnisse ...

Schere hatte aber auch noch andere Fähigkeiten. Er verstand es, herrenloses Gut aufzuspüren, mit Wechseln umzugehen, überhaupt Kredite aufzunehmen. Daher tauchten in der Kolonie neue Wurzelschneider, Eggen. Sämaschinen, Zuchteber und sogar Kühe auf. Drei Kühe, man stelle sich das vor! Es begann nach Milch zu riechen. Die Kolonie wurde von einer richtigen Passion für die Landwirtschaft ergriffen. Nur die Jungen. die schon etwas in den Werkstätten gelernt hatten, zeigten wenig Interesse für die Feldarbeit. Auf dem Platz hinter der Schmiede hatte Schere Frühbeete angelegt, und in der Tischlerei wurden dazu Rahmen gefertigt. In der zweiten Kolonie wurde die Anlage von Frühbeeten in größtem Ausmaß betrieben.

Anfang Februar. unsere Passion für die Landwirtschaft hatte gerade den Höhepunkt erreicht, besuchte Karabanow die Kolonie. Die Jungen begrüßten ihn begeistert, umarmten und küßten ihn.

( Semjon Karabanow war in der Zeit der Konterrevolution Anfang der zwanziger Jahre als Bandit in die Kolonie eingewiesen worden. Der intelligente und bei den Zöglingen beliebte Junge geriet in den Einfluß von Mitjagin, einem unverbesserlichen Dieb. Beide organisierten Einbrüche und Raubzüge. Als Mitjagin aus der Kolonie verwiesen wird, findet sich bei ihm ein Revolver, der eigentlich Karabanow gehört. Im Zorn verläßt auch er die Kolonie und lebt bei seinem Vater.).

Mit Mühe befreite er sich von ihnen und kam zu mir: „Ich bin nur vorbeigekommen, um zu sehen, wie es Ihnen geht!“ Lächelnde und frohe Gesichter schauten in mein Arbeitszimmer: Zöglinge, Erzieher, Wäscherinnen.

„Oh, sieh da, Semjon! Guten Tag!“Semjon schlenderte bis zum Abend in der Kolonie umher und war auch auf dem Trepkeschen Gut. Traurig und wortkarg kam er abends zu mir. „Erzähle doch, Semjon, wie es dir geht!“ - „Ja, wie soll es mir gehen ... ich bin beim Vater.!“ Und wo ist Mitjagin?“ - „Soll ihn der Teufel holen! Ich habe mich von ihm getrennt. Ich glaube, er ist nach Moskau gefahren!“ - Und wie ist es beim Vater?“ - „Wie es so ist bei den Bauern. Vater ist noch rüstig ... meinen Bruder haben sie umgebracht ...!“. Wie kam das?“ - „Mein Bruder war Partisan, Petjura-Leute haben ihn erschlagen - in der Stadt auf der Straße!“ (Petjura - Führer einer konterrevolutionären Bewegung in der Ukraine).

„Und was willst du nun? Willst du beim Vater bleiben?“ -„Nein, beim Vater möcht ich nicht bleiben ... ich weiß nicht ..!“ Er machte eine unentschlossene Bewegung und rückte näher an mich heran. „Wissen Sie was, Anton Semjonowitsch?“ platzte er plötzlich heraus. „wie wäre es, wenn ich in der Kolonie bliebe - wie?“ Er warf mir schnell einen Blick zu und ließ dann den Kopf bis auf die Knie sinken.

Ich sagte ihm einfach froh: „Ja, warum nicht? Natürlich. Wir werden uns alle freuen!“ Semjon sprang vom Stuhl auf und zitterte vor verhaltener heißer Leidenschaft.

„Ich kann nicht - verstehen Sie - ich kann nicht! In den ersten Tagen ging es noch, aber dann - nun, ich kann einfach nicht! Ich gehe, arbeite. und wenn ich dann beim Mittagessen ... an alles denke, manchmal hätte ich am liebsten geheult ... Ich sag's Ihnen: Ich hänge so an der Kolonie - hab's selbst nicht gewußt; ich dachte, das gibt sich wieder, und dann: Na. gehst mal hin und schaust nach. Aber nun, wie ich herkam und sah, was hier alles los ist ... es ist ja so gut hier bei Ihnen . und Ihr Schere . .!“

„Nun, nimm's dir doch nicht so zu Herzen“, sagte ich. „Du hättest gleich kommen sollen. Warum sich erst so quälen?“ - „Das dachte ich auch, aber wenn ich an all die Gemeinheiten dachte, wie frech wir uns gegen Sie benommen haben, so ...!“ Er winkte mit der Hand ab und schwieg.

„Schon gut“,. sagte ich. „Laß das ruhen.!“ Semjon hob vorsichtig den Kopf. „Nur, vielleicht denken Sie wieder, vielleicht denken Sie, daß ich kokettiere, wie Sie früher manchmal sagten ... es ist wirklich nicht so. Oh. wenn Sie wüßten, was ich alles gelernt habe. Sagen Sie mir offen, vertrauen Sie mir?“ „Ja, ich vertraue dir", sagte ich ernst.

„Nein, sagen Sie die Wahrheit. vertrauen Sie mir wirklich?“ - „Geh zum Teufel“, sagte ich lachend. „Ich hoffe doch; daß die alten Geschichten nicht wieder vorkommen?“ „Sehen Sie. Sie trauen mir doch nicht ganz ..!“

„Es hat keinen Sinn, sich aufzuregen. Semjon. Ich vertraue jedem Menschen, nur dem einen mehr, dem anderen weniger: dem einen für einen Fünfer, dem anderen für einen Zehner!“ - „Und für wieviel vertrauen Sie mir?“ - „Dir, für hundert Rubel!“ - .Und ich ... ich glaube Ihnen überhaupt nichts“, fuhr Semjon hoch. „Nun hör mal einer an!“ - „Na, das macht nichts, ich werde es Ihnen noch beweisen!“ Damit ging er in den Schlafsaal.

Vom ersten Tage an wurde er Scheres rechte Hand. Er hatte eine ausgesprochen landwirtschaftliche Ader, wußte viel, und vieles lag ihm im Blut. „vom Großvater und Urgroßvater“ ererbte Steppenerfahrung. Gleichzeitig nahm er begierig die modernen Methoden der Landwirtschaft auf, die Schönheit und Planmäßigkeit der modernen landwirtschaftlichen Technik.

Semjon ließ keinen Blick von Schere und war bemüht, ihm zu beweisen, daß auch er die Müdigkeit überwinden konnte und fähig war, pausenlos zu arbeiten. Nur Scheres Ruhe konnte er nicht erwerben, er war immer aufgeregt; immer brodelte es in ihm - entweder vor Entrüstung, vor Begeisterung oder vor närrischer Freude.

Nach etwa zwei Wochen rief ich Semjon zu mir und sagte ihm einfach: „Hier ist eine Vollmacht. Du holst vom Finanzamt fünfhundert Rubel!“ Semjon sperrte Mund und Nase auf, wurde bleich und grau, dann sagte er unbeholfen: „Fünfhundert Rubel? Und?“ - „Und weiter nichts“, sagte ich und sah dabei in den Tischkasten. „Das Geld bringst du mir!“ - „Soll ich reiten?“ - „Natürlich. Hier, für jeden Fall einen Revolver!“

Ich gab Semjon denselben Revolver, den ich im Herbst Mitjagin aus dem Hosenbund gezogen hatte, mit denselben drei Patronen. Mechanisch nahm Karabanow den Revolver in die Hand, sah ihn scheu an, schob ihn mit einer schnellen Bewegung in die Tasche und verließ ohne ein Wort zu sagen das Zimmer. Zehn Minuten später hörte ich das Klappern der Hufe auf dem Pflaster: An meinem Fenster flog in vollem Galopp ein Reiter vorbei.

Gegen Abend kam Semjon in mein Zimmer, straff gegürtet, in dem kurzen Schafpelz des Schmieds, schlank, gutaussehend, aber finster. Schweigend legte er ein Päckchen Banknoten und den Revolver auf den Tisch.

Ich nahm das Päckchen und fragte im gleichgültigsten Ton, dessen ich fähig war: „Hast du gezählt?“ - „Ja!“ Nachlässig warf ich das Päckchen in den Tischkasten. „Danke für deine Mühe. Geh jetzt essen!“ Karabanow schob den Gürtel seines Pelzes von links nach rechts, ging im Zimmer einige Male hin und her und sagte schließlich leise: „Gut!“ Und ging hinaus.

 

Es vergingen zwei Wochen. Wenn wir uns begegneten, grüßte Semjon etwas düster, als habe er eine Scheu vor mir. Ebenso düster nahm er meinen neuen Befehl entgegen. „Reit in die Stadt und hol zweitausend Rubel!“ Als er den Browning in die Tasche steckte, sah er mich lange und vorwurfsvoll an. Dann sagte er, jedes Wort unterstreichend: „Zweitausend? Und wenn ich das Geld nicht bringe?“ Ich sprang auf und brüllte ihn an: „Bitte keine idiotischen Reden! Wenn du einen Auftrag erhältst, geh und führ ihn aus! Hier gibt es keine psychopathischen Auftritte!“

Karabanow zuckte die Achseln und flüsterte unbestimmt: „Na. schön ...!“ Als er das Geld brachte, sagte er: „Zählen Sie nach!“ - „Wozu?“ - Zählen Sie nach, ich bitte Sie darum!“ - „Aber du hast es doch gezählt!“ - „Ich sage Ihnen, zählen Sie nach!“ - „Laß mich in Ruhe!“

Er griff sich nach dem Hals. als ob ihn etwas würge, dann riß er an seinem Kragen und schwankte. „Sie wollen mich verhöhnen. Es ist unmöglich, daß Sie mir soviel vertrauen. Das gibt es nicht! Hören Sie, das gibt es nicht! Sie riskieren absichtlich - ich weiß es… absichtlich!“

Ihm ging der Atem aus, und er setzte sich auf den Stuhl. „Für deinen Dienst muß ich teuer zahlen!“ - „Womit zahlen?“ sprang Semjon auf. „Nun, daß ich mir deine Hysterie anhören muß!“ Semjon hielt sich am Fensterbrett und brüllte: „Anton Semjonowitsch!“ - „Was ist dir?“ Ich war doch etwas erschrocken. „Wenn Sie wüßten - wenn Sie nur wüßten! Ich ritt und dachte: ‚Wenn es doch einen Gott gäbe, wenn Gott doch jemand schicken wollte, mich im Wald zu überfallen ... Und wenn es zehn wären oder sonst wieviel' ... Ich weiß nicht, ich hätte geschossen, gebissen und gerissen wie ein Hund, bis sie mich umgebracht hätten. Und wissen Sie, dabei hätte ich fast geheult ... Ich wußte doch, daß Sie hier sitzen und denken: ,Bringt er es. oder bringt er es nicht?' Sie haben doch riskiert, nicht wahr?“

„Du bist ein komischer Kauz, Semjon. Geld bedeutet immer Risiko. Geld ohne Risiko in die Kolonie zu bringen ist unmöglich. Aber ich halte es so: Wenn du das Geld holst, dann ist das Risiko nicht so groß. Du bist jung, kräftig, reitest ausgezeichnet und kannst allen Banditen davonlaufen. Aber mich würden sie leicht kriegen!“

Froh kniff Semjon ein Auge zu. „Oh, sind Sie aber schlau. Anton Semjonowitsdi!“ - „Wozu hätt ich es nötig, schlau zu sein? Jetzt weißt du, wie das Geld geholt wird, und wirst es auch weiter holen. Mit Schlauheit hat das nichts zu tun. Ich fürchte nichts, denn ich weiß, du bist genauso ehrlich wie ich. Ich wußte es auch früher schon, hast du's den nicht gemerkt?“ -„Nein, ich dachte, Sie wüßten es nicht“, sagte Semjon, ging aus dem Zimmer und brüllte, daß es in der ganzen Kolonie zu hören war: „_Adler flogen über steile Höhen ...!“ (leicht gekürzt nach Anton S. Makarenko).

 

 

Fahrerflucht

 „Ich habe nicht auf die neue Breite geachtet", dachte Ellebracht. „Nur deswegen ist es so gekommen!“ Der hemdsärmelige Mann hob die rechte Hand vom Lenkrad ab und wischte sich hastig über die Brust. Als er die Hand zurücklegte, spürte er, daß sie noch immer schweißig war, so schweißig. wie sein Gesicht und sein Körper. Schweißig vor Angst.

„Nur wegen der Breite ist alles gekommen“, dachte der Mann wieder. Er dachte es hastig. Er dachte es so, wie man stammelt. „Die Breite des Wagens, diese neue, unbekannte Breite. Ich hätte das bedenken sollen!“

Jäh drückte der Fuß Ellebrachts auf die Bremse. Der Wagen kreischte und stand. Eine Handbreit vor dem Rotlicht, das vor dem Eisenbahnübergang warnte. „Fehlte gerade noch!“ dachte Ellebracht. „Fehlte gerade noch, daß ich nun wegen einer so geringen Sache wie Überfahren des Stopplichts von der Polizei bemerkt werde. Das wäre entsetzlich. Nach der Sache von vorhin ...!“

Mit hohlem Heulen raste ein D-Zug vorbei. Ein paar zerrissene Lichtreflexe, ein Stuckern, ein verwehter Pfiff. Die Ampel klickte auf Grün um. Ellebracht ließ seinen Wagen nach vorn schießen. Als er aufgeregt den Schalthebel in den dritten Gang hineinstieß, hatte er die Kupplung zu nachlässig betätigt. Im Getriebe knirschte es häßlich.

Bei dem Geräusch bekam Ellebracht einen üblen Geschmack auf der Zunge. „Hört sich an wie vorhin“, dachte er. „Hört sich an wie vorhin, als ich die Breite des Wagens nicht richtig eingeschätzt hatte. Dadurch ist es passiert. Aber das wäre jedem so gegangen. Bis gestern hatte ich den Volkswagen gefahren. Immer nur den Volkswagen, sechs Jahre lang. Und heute morgen zum ersten Mal diesen breiten Straßenkreuzer. Mit dem VW wäre ich an dem Radfahrer glatt vorbeigekommen. Aber so ...“. „Fahr langsamer“, kommandierte Ellebracht sich selbst. „Schließlich passiert ein neues Unglück in den nächsten Minuten. Jetzt, wo du bald bei Karin bist und den Kindern!“

Karin und die Kinder. Ellebrachts Schläfen pochten. Er versuchte sich zu beruhigen: „Du mußtest weg von der Unfallstelle, gerade wegen Karin und der Kinder. Denn was wird, wenn du vor Gericht und ins Gefängnis mußt? Die vier Glas Bier, die du während der Konferenz getrunken hast, hätten bei der Blutprobe für deine Schuld gezeugt, und dann? Der Aufstieg deines Geschäfts wäre abgeknickt worden. Nicht etwa darum, weil man etwas Ehrenrühriges in deinem Unfall gesehen hätte. Wie hatte doch der Geschäftsführer von Walterscheid & Co gesagt, als er die alte Frau auf dem Zebrastreifen verletzt hatte? Kavaliersdelikt! Nein, nicht vor der Schädigung meines Rufes fürchte ich mich.

Aber die vier oder sechs Wochen, die ich vielleicht im Gefängnis sitzen muß, die verderben mir das Konzept! Während der Zeit schickt die Konkurrenz ganze Vertreterkolonnen in meinen Bezirk und würgt mich ab. Und was dann? Wie wird es dann mit diesem Wagen? Und mit dem neuen Haus? Und was sagt Ursula, die wir aufs Pensionat in die Schweiz schicken wollten?"

„Du hast richtig gehandelt!“ sagte Ellebracht jetzt laut, und er verstärkte den Druck auf das Gaspedal. „Du hast so gehandelt, wie man es als Familienvater von dir erwartet!“ „Verdammte Rotlichter!“ dachte Ellebracht weiter und brachte den Wagen zum Stehen. „Ich will nach Hause. Ich kann erst ruhig durchatmen. wenn der Wagen in der Garage steht und ich bei der Familie bin!“

„Und wann ist der Mann mit dem Fahrrad bei seiner Familie? Der Mann, der mit ausgebreiteten Armen wie ein Kreuz am Straßenrand gelegen hat? Der Mann, der nur ein wenig den Kopf herumdrehte - du hast es im Rückspiegel deutlich gesehen -, als du den bereits abgestoppten Wagen wieder anfahren ließest, weil dir die wahnsinnige Angst vor den Folgen dieses Unfalls im Nacken saß? Du, wann ist dieser Mann bei seiner Familie?"

„Jetzt werde bloß nicht sentimental!“ dachte Ellebracht. „Jetzt werd bloß nicht dramatisch! Bist doch ein nüchterner Geschäftsmann!“ Ellebracht sah stur nach vorn und erschrak. Da war ein Kreuz. Ein Kreuz an seinem Wagen. So ein Kreuz, wie es der Mann vorhin gewesen war.

Ellebracht versuchte zu grinsen. „Kriege dich bloß wieder ein“, dachte er. „Du siehst doch, was es ist. Das war mal das Firmenzeichen auf der Kühlerhaube. Es ist von dem Zusammenprall mit dem Fahrrad abgeknickt worden und hat sich zu einem Kreuz verbogen!“

Ellebracht konnte sich nicht helfen. Er mußte immerfort auf dieses Kreuz starren. „Ich steige aus“, dachte er. „Ich steige aus und biege das Ding wieder zurecht!“ Schon tastete seine Hand zum Türgriff, als er zusammenzuckte. Am Kreuz schillerte es, verstärkt durch das Licht der Signalampel.

„Ich muß nach Hause!“ stöhnte Ellebracht und schwitzte noch mehr. „Wann kommt denn endlich Grün?“ Die feuchten Finger zuckten zum Hemdkragen, versuchten den Knopf hinter der Krawatte zu lösen. Aber der Perlmutterknopf entglitt einige Male dem Zugriff. Grün. Der Schwitzende riß einfach den Hemdkragen auf und fuhr an. „Das Kreuz macht mich verrückt“, dachte er. kann das nicht mehr sehen! Und wie der Mann dalag. Ob man ihn jetzt schon gefunden hat? Ob er schon so kalt und starr ist wie das Kreuz vor mir?“

Ellebracht stoppte. Diesmal war kein Rotlicht da. Nichts. Nur das Kreuz. Nur das Kreuz, das einen riesigen Schatten warf in den Wagen hinein. Nur das Kreuz, das vor dem Hintergrund des Scheinwerferlichtes stand. „Ich kann so nicht nach Hause!“ flüsterte der Schwitzende. „Ich kann so nicht zu Karin und den Kindern zurück. Ich kann so zu niemanden zurück!“

Ein anderer Wagen überholte Ellebracht. Eine grelle Hupe schmerzte. „Ich kann das Kreuz nicht zurechtbiegen und dabei in das Blut greifen. Ich bringe das nicht fertig. Ich kann nicht eher zu irgendeinem zurück, bis ich bei dem Mann gewesen bin!“

Ellebracht spürte, wie seine Hände trocken wurden und sich fest um das Lenkrad legten. Ohne Mühe wendete der Mann den schweren Wagen und jagte die Straße zurück. Wieder die Signale, die Bahnübergänge, jetzt die Abbiegung, die Waldstraße.

Ein paar Steine schepperten gegen den Kotflügel. Ellebracht verlangsamte die Fahrt, und seine Augen durchdrangen mit den Scheinwerfern das Dunkel.

Da war der Haufen von verbogenem Blech und Stahl. Und da lag das menschliche Kreuz.

Als Ellebracht schon den Fuß auf der Erde hatte, sprang ihn wieder die Angst an. Aber dann schlug er die Tür hinter sich zu und rief. Jetzt kniete Ellebracht neben dem Verletzten und drehte ihn behutsam in das Scheinwerferlicht des Wagens.

Der blutende Mann schlug die Augen auf und griff zuerst wie abwehrend in das Gesicht Ellebrachts. Dann sagte der Verletzte: „Sie haben - angehalten. Danke !“ - „Ich habe nicht ... Ich - bin, ich bin nur zurückgekommen“, sagte Ellebracht  (Joseph Reding).

 

 

Dieteldatsch

[Barmherziger Samariter]

Ich will Dir eine Geschichte erzählen. Und am Ende werde ich fragen: Wer hat richtig gehandelt? Die Marion, der Michael, die Sabine oder der kleine Dieter, genannt Dieteldatsch. Na, ich denke. Dieteldatsch können wir gleich streichen. Er ist nämlich an dieser Geschichte schuld. Und wir müßten ihm sehr böse sein, wenn er nicht so klein wäre. An einem kalten, feuchten Märzsonntag ist er aus dem Dorf gelaufen. Und dann immer so im Straßengraben gepatscht! Schneematsch und Schlamm sind hoch aufgespritzt. Und Dieteldatsch hat gequiekt vor Vergnügen. Und sich bekleckert, na, das kannst Du Dir vorstellen. Schließlich aber wurde es ihm langweilig, das Spritzen und Quietschen. Es war ja keiner da, der es sehen und hören konnte. Und dann schmerzten ihm die Füße, und kalt war es ihm auch.

Da kuschelte sich Dieteldatsch im Straßengraben zusammen. Doch wurde es ihm nicht wärmer, sondern die Feuchtigkeit kroch in seinen Sachen hoch. Und nun hockte und winselte er: „Muttiiii, Muttiiiiii!“

Aber die Mutter hatte noch gar nicht gemerkt, daß Dieter weggelaufen war. Nun aber kam eine Rettung aus dem Nachbardorf. Sie hieß Sabine und wollte in den Kindergottesdienst. Ein bißchen spät war es freilich schon. Und Sabine hatte ihren besten Mantel an, das wollen wir nicht vergessen. Dieteldatsch verstummte, als er das Mädchen kommen sah. Und dadurch gelang es Sabine so zu tun, als sähe sie den kleinen, frierenden Schmutzfinken nicht. Sie guckte tatsächlich nicht richtig hin. Und außerdem hatte sie es ja eilig! Und als Dieteldatsch zu heulen anfing. setzten gerade die Kirchenglocken ein. Nun mußte sich das Mädchen noch mehr beeilen. Ja, was sollen wir zu Sabine sagen? Sie hatte die gute Absicht, in den Kindergottesdienst zu gehen, und dieser Dieteldatsch hätte ja nicht wegzulaufen brauchen! Doch sehen wir erst einmal weiter:

Nun näherte sich (und zwar aus Dieteldatschs Dorf) die Marion mit einem dicken Papierwickel in der Hand. Darin steckten, vor der Kälte geschützt, zarte Alpenveilchen. Marions Großmutter feierte nämlich an diesem Sonntag Geburtstag. Diesmal machte sich Dieteldatsch sofort bemerkbar. Marion blieb stehen, schnappte nach Luft und schimpfte: .,Wie siehst du denn aus. du Ferkel! Was hast du denn überhaupt hier zu suchen? Wart nur, wenn ich heute Abend heimkomme, erzähle ich alles deiner Mutter! Scher dich nach Hause! Ich habe jetzt keine Zeit für dich. Meine Großmutter wartet auf mich. Wenn ich nicht komme, macht sie sich Sorgen!“' Und mit diesen Worten ging Marion weiter. Hat sie recht? Läßt man eine Großmutter warten. weil ein kleines Ferkel im Straßengraben hockt?

Ich weiß nicht recht. Jedenfalls war dem Dieteldatsch so jämmerlich zumute, daß er noch mehr in sich zusammenkroch. Und um ein Haar hätte ihn Michael wirklich nicht gesehen. Dieser hatte gerade den großen Gang eingeschaltet und wollte aufs Dorf zu brausen. stolz über sein neues Fahrrad. Endlich war der Winter gewichen, und man konnte sich sehen lassen! Michael erblickte das jammernde Häufchen und bremste. Und wenn Du denkst, nun habe auch er seine Rede angefangen und den Ausreißer bedroht, so täuschst Du Dich. Und wenn Du meinst, Michael sei mit dem Lausbengel verwandt oder verschwägert gewesen, so bist Du in einem Irrtum befangen. Nichts dergleichen!

Er bremste, stieg ab, packte den Dieteldatsch und hob ihn auf seinen Esel, Unsinn, auf sein Fahrrad natürlich. Wie komme ich nur auf den Esel? Und weil er spürte. daß der Kleine zitterte, zog er seinen Anorak aus und stülpte ihn über den Schmutzfinken. Ja, das tat er und fuhr los und brachte den Dieteldatsch zu seinen Eltern. Das war das Ende

Und nun frage ich Dich: Wer hat richtig gehandelt? So, daß Jesus sagen könnte: Mach es genau so! Ja. das frage ich Dich!   (Joachim Schöne).             

 

Die toten Augen

[Junge bestiehlt einen blinden Drehorgelspieler, der aber doch sehen kann]

„Als ich so ein Knirps von sechs Jahren war, lebte bei uns im Dorfe noch der Blinde. So nannten sie ihn hier alle. Er besaß keinen anderen Namen. Und wenn er ihn je gehabt hatte, so hatte ihn sein trübes Schicksal längst ausgelöscht. Ich war sogar weitläufig mit ihm verwandt. So sagte es mir eines Tages die Mutter, als sie mich zu ihm schickte. Ich sollte ihm nämlich etwas zur Hand gehen. wenn er am Nachmittag die Drehorgel durch das Dorf, gelegentlich auch in der Nachbarschaft umher schob.

Ja, dies sollte ich also, und ich tat es, ehrlich gesagt, nicht ungern. Denn die Drehorgel übte eine merkwürdige Anziehungskraft auf mich aus. Besonders im Herbst, wenn die Luft ganz still stand und das Laub geisterhaft auf die Erde herabschwebte - ohne jeden Laut. Da war es mir immer so bitter und so süß zugleich ums Herz, daß ich hätte losheulen können, und wußte doch nicht, warum und weshalb.

Als meine Mutter mich zum erstenmal zu dem Blinden schickte, sagte sie: „Adrien“, sagte sie, „du mußt nicht denken, daß alle Blinden gute Menschen wären. Ihr wißt ja, meine Mutter, Gott hab sie selig, stammte von den Inseln, und die Inselleute haben alle ein Guckloch durch den Vorhang, durch das sehen sie etwas mehr als wir anderen. So war das auch bei meiner Mutter!“ Darum sagte sie das von den Blinden.

„Es gibt solche und solche, Adrien,“ sagte sie zu mir. Welche, die haben stechende Augen, daß man sich richtig vor ihnen fürchten könnte. Sie sind voll böser Verzweiflung und am liebsten stächen sie sogar der lieben Sonne die Augen aus; eben weil sie selber blind sind. Mit denen mache dir nicht zu schaffen, Adrien,“ sagte sie.

Und dann sagte sie: „Es gibt aber auch welche, die haben den lauschenden Blick -, wundere dich darüber nicht, Adrien, aber passe gut auf, wenn dir einer von ihnen begegnet. Du erkennst sie schon daran. wie sie immer den Kopf ein wenig zur Seite neigen, so als lauschten sie auf jemanden, der ihnen den grauen Vorhang vor den Augen wegziehen solle. Sie sind ganz demütig von Erwartung. Die mußt du liebhaben, Adrien, und ihnen helfen. Und weil der Blinde einer von diesen ist, darum schicke ich dich zu ihm,“ sagte sie und gab mir einen Kuß. was sie sonst nie tat.

Ja. und dann bin ich also hingegangen und habe ihn überallhin begleitet, wenn er mit seiner Drehorgel herumzog. Ich sehe ihn noch heute deutlich vor mir, wie er die Leier drehte, barhäuptig, den verwitterten Kopf seitlich auf die Schulter gelegt, vor sich den alten kurzkrempigen Hut, in den die Sous hineinklapperten. Auf den ersten Blick merkte man gar nicht, daß er blind war.

Es dauerte nicht lange, so wußte ich alle Melodien auswendig, die auf den Walzen waren, und manchmal sang ich sogar mit, weil ich damals noch eine klare Stimme hatte. Dann hoben die Weiber ihre Schürzen gegen die Augen, und die Sous flossen noch reichlicher als sonst. So war es, genauso, wie ich euch sage.

Aber einmal kam ein böser Tag für mich, ich muß etwa zehn Jahre alt gewesen sein. Wir hatten eine gute Ernte von Sous eingebracht, denn der Fischfang um diese Zeit war nicht schlecht. Bisher hatte ich nie an die Geldmünzen gedacht. Abends gab mir der Blinde immer einige in Papier gewickelt mit, damit ich sie der Mutter zu Hause abgäbe, die sie in meine Sparbüchse steckte.

Aber an jenem Tag, von dem ich gerade spreche, fiel mein Blick zum erstenmal begehrlich auf die blinkende Menge von Sous, die sich vor mir in der Mütze häuften. Wenn du nur einen oder zwei davon hättest, dachte ich und fühlte, wie mir richtig die Hitze in die Backen schlug, dann könntest du dir bei dem Krämer eine kleine Tüte Bonbons kaufen, Zitronenbonbons, die sich so angenehm kühl auf die Zunge legten und den Durst löschten.

Es war auch ein verdammt heißer Tag, an dem die ausgedörrte Erde wie ein Backofen brannte, so daß man die nackten Füße kaum lange auf einem Fleck stehen lassen konnte; es schien, als sengte einem die Haut und das Fleisch von den Knochen! Vielleicht war es eben diese teuflische Hitze, die mich auf den dummen Gedanken brachte, der Blinde würde es ja nicht sehen, wenn ich ihm eine Kleinigkeit aus der Mütze stahl, die wie immer oben auf der Drehorgel lag. Dabei klopfte mir das Herz so bangig laut, daß ich meinte, es würde mich ihm verraten.

Aber nachdem es einmal soweit mit mir gekommen, ging ich ganz raffiniert vor, wirklich wie ein hartgesottener Bösewicht. Denn wenn man erst in der Brandung steckt, dann kommt man nicht so leicht mehr heraus. Die folgende Welle schlägt einen immer wieder zurück. Na ja, so ähnlich erging es mir jetzt auch; ich steckte schon in der nächsten Sekunde bis zum Hals drin.

Und da habe ich den Blinden erst genau beobachtet. Seine Augen flößten mir Angst ein. Weil - weil sie gar nicht so aussahen, als wären sie richtig blind.

Es ist ja keine Kleinigkeit, jemanden direkt unter seinen Augen zu bestehlen. Aber sie blickten so starr vor sich ins Leere, daß ich bald wieder Mut faßte. Ich fühlte, wie ich innerlich triumphierte. Und fast hätte ich laut herausgelacht. So schlau, so überlegen kam ich mir vor dem Blinden vor. Halt, dachte ich, um ihn zu täuschen, werde ich erst recht mitsingen, wenn er jetzt die nächste Walze einstellt. Und dann werde ich den Moment abpassen, wenn gerade eine Wolke die blendende Sonne verdeckt . . .

Ich sang so laut und übermütig, wie ich nur konnte, und als ich mich mit einem blitzschnellen Blick überzeugt hatte, daß gerade niemand aus dem Fenster guckte und daß zur rechten Zeit der Teufel die Wolke vor die Sonne geschoben hatte, - griff ich mit zitternder Hand in die Mütze und stahl zwei Sous aus ihr, ohne auch nur einen Atemzug lang mit dem Singsang aufzuhören. Dann sah ich wieder schnell auf den Blinden.

Er hatte nichts gemerkt. stellte ich mit hämischer Befriedigung fest, obwohl - aber das eigenartige Zucken auf seinem Gesicht kam sicher von der Fliege, die sich immer wieder lästig auf seine stoppligen Backen zu setzen versuchte. Ich steckte die gestohlenen Sous frech in meine Hosentasche. Ihr könnt euch denken, daß ich immer unverschämter wurde, da es mir einmal so gut gelungen war. Selbst die grelle Sonne scheute ich nicht mehr. Aber niemals nahm ich mehr als einen oder zwei Sous aus seiner Mütze .. .

Ja, so ging es dann also die Jahre fort, bis ich aus der Schule kam. Meine Mutter gab mich in die Lehre zu guten Leuten, eine Tagereise von unserem Dorf entfernt. Und eines Nachmittags ging ich noch einmal zu dem Blinden, um ich von ihm zu verabschieden. Er saß gerade in seinem Vorgärtchen, das vor dem kleinen Haus lag und das er so sehr liebte. In jedem Frühjahr machte es meine Mutter für ihn zurecht, und sie pflanzte viele Blumen darin.

Die Hauptsache war, daß sie stark und wohlriechend dufteten, denn der Blinde hatte sein eigenes Jahr, und er unterschied die wechselnden Zeiten nur nach dem verschiedenen Duft der Blumen, die in seinem Garten wuchsen. Er hatte darin eine kleine Bank und einen rohgezimmerten Holztisch, und wenn es irgendwie anging, verbrachte er dort seine Stunden, bis tief in den Herbst hinein. Erst wenn die Winterstürme kamen, kroch er in die Stube und hockte dicht am Herd, und es war dann immer so still um ihn. als läge er schon im Grab.

Aber an jenem Nachmittag saß er schon wieder im Garten, in seinen schäbigen zerflickten Mantel gehüllt, denn es war ein prächtiger Vorfrühlingstag. „Es riecht schon nach Frühling, Adrien“, rief er mir zu, als er meine Schritte hörte. Er konnte wahrhaftig alle Leute im Dorf an ihrem Schritt unterscheiden.

Vor ihm auf dem Tisch lag ein alter vergilbter Brief, den ich gut kannte. Er hatte ihn schon im Herbst bekommen; von seinem Sohn, der nach Amerika gegangen war und nur alle Jubeljahre einmal nach Hause schrieb. Den hütete er wie ein Heiligtum, und ich hatte ihn schon des öftern vorlesen müssen, langsam und mit Betonung, beinahe wie ein Gedicht. Aber wenn auch keiner da war, der ihn lesen konnte; legte er ihn gern vor sich auf den Tisch, und seine schmalen Finger strichen dann tastend darüber hin.

Wie gesagt, auch an jenem Nachmittag lag er wieder vor ihm, und ich weiß nicht, wie es kam -, als ich ihm die Hand reichte, flog das Blatt plötzlich vom Tisch auf ! Gewiß war es ein jäher, kühler Windstoß, wie er an Vorfrühlingstagen noch oft von der See heraufwehte. Der hob das federleichte Blatt empor und ließ es einen Augenblick lang dicht vor dem Gesicht des Blinden hin und her flattern. Ehe ich noch selber zufassen konnte, hatte er schon beide Hände ausgestreckt - ganz ähnlich, wie es unsere Frauen tun, wenn sie auf eine Motte Jagd machen - und hatte das wirbelnde Ding zwischen den Handflächen wieder eingefangen.

Ich war furchtbar erschrocken. „Wie, kannst du denn etwas sehen?“ fragte ich bestürzt und erinnerte mich, wie ein ertappter Verbrecher, sogleich an die gestohlenen Sous. „Wie, kannst du denn sehen -?“ wiederholte ich stockend und konnte es nicht verhindern, daß mir die Stim­me zitterte. Ich hatte auf einmal ein sehr schlechtes Gewissen.

Es dauerte eine ganze Weile, bevor der Blinde antwortete. Während er das Papier auf dem Tisch glättete, hatte er mir wieder den Kopf zugewendet. Er hielt ihn wie stets ein wenig zur Seite geneigt, und ich mußte an die Worte der Mutter denken, denn es sah genauso aus, als lausche er auf etwas. Mir wurde abwechselnd heiß und kalt, und ich trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Am liebsten hätte ich mich davongestohlen, aber das traute ich mich nun nicht mehr.

Ja, erwiderte er schließlich ruhig, in der Nähe sähe er noch immer etwas wie einen Schatten. „Donnerwetter“, entfuhr es mir, „dann - dann hast du doch …!“Ich starrte ihn entgeistert an. er Blinde nickte, ohne seine Haltung zu verändern. „Aber warum hast du dann all die Jahre nicht, gesagt?“ schrie ich, zwischen Furcht und Wut hin- und hergerissen. Ich war regelrecht empört. Heute kommt es mir komisch vor, daß ich zu allem auch noch so empört tat. So - als wäre nicht ich, sondern der Blinde an meiner Untreue schuld. Aber der wirkliche Grund war, daß ich mich so schrecklich vor ihm schämte, so, als stünde ich jetzt nackend vor ihm, obwohl er doch . . . aber nein, in diesem Augenblick war er alles weniger als blind. Ich weiß nicht, ob ihr das begreift …!“ „Warum hast du das getan?“ sagte ich wieder und kämpfte mit den Tränen.

Der Blinde antwortete auch diesmal lange nicht. Immer noch schien es, als lausche er auf irgendetwas. Und das Schlimmste war, ich bemerkte weder Zorn noch Verachtung auf seinem Gesicht. Er war ganz demütig, stellte ich wider Willen fest. Endlich sagte er sehr leise: „Ich bitte dich um Verzeihung, Adrien!“ Mir stockte der Atem; ich glaubte, nicht recht gehört zu haben. „Du bittest mich -? Aber ich - ich war es doch -", und nun heulte ich wie ein Schloßhund los. Hätte er mir doch den Krückstock auf dem Buckel zerhaun!

„Nein, weine nur nicht“, sagte er stattdessen wieder, „ich hätte es besser nicht tun sollen. Weine doch nicht so, Adrien. Ich habe nur immer gedacht, ich könnte dir eine Lehre für dein Leben mitgeben. Deshalb nur habe ich so lange gewartet, denn ich habe diese Stunde kommen sehen!“ - „Was für eine Lehre denn?“ schluchzte ich kleinlaut und spürte doch schon, wie sich die Neugier in mir regte. Nun, wie so ein Junge in diesem Alter eben ist.

Er tastete nach meiner Hand. „Du hast gemeint, weil ich schwieg, darum hätte ich nichts gemerkt. Du hast es am Ende genauso gemacht, wie es die Menschen alle machen. Gott hat tote Augen, sagen sie leichtfertig. Und sie lachen und treiben es immer ärger in der Welt. Gott hat tote Augen, so plärren es bereits die kleinen Kinder auf der Gasse. Aber nein, Gott kann wohl alles sehen und doch schweigen, so wie ich - der Blinde - geschwiegen habe, bis auf diese Stunde. Und Gott hat auch seine Stunde, verlaß dich darauf. Sie kommt, so wahr ich hier sitze und du meine Hand fühlen kannst. Was geschehen ist, das bleibt unter uns. Davon weiß nicht einmal deine Mutter, keiner außer uns beiden. Aber du solltest es dir wohl zur Lehre dienen lassen. Und ich denke - vergib mir Adrien, wenn ich gefehlt habe - aber ich denke doch, dies wird nicht die schlechteste Lehre gewesen sein .. ."    (gekürzt nach Karl Hüllweck).

 

 

Daniel der Gerechte

[Schuldirektor will einem Prüfling helfen, weil er gerecht sein will]

Solange es dunkel war, konnte die Frau, die neben ihm lag, sein Gesicht nicht sehen, und so war alles leichter zu ertragen. Sie redete seit einer Stunde auf ihn ein, und es war nicht anstrengend, immer wieder „ja“ oder „ja, natürlich“ oder „ja, du hast recht“ zu sagen. Es war seine Frau, die neben ihm lag, aber wenn er an sie dachte, dachte er immer: die Frau. Sie war sogar schön, und es gab Leute, die ihn um sie beneideten, und er hätte Grund zur Eifersucht gehabt - aber er war nicht eifersüchtig: Er war froh, daß die Dunkelheit ihm den Anblick ihres Gesichtes verbarg und es ihm erlaubte, sein Gesicht entspannt zu lassen; es gab nichts Anstrengenderes, als den ganzen Tag, solange Licht war, ein Gesicht aufzusetzen, und das Gesicht, das er am Tage zeigte, war ein aufgesetztes Gesicht.

„Wenn Uli nicht durchkommt“, sagte sie, „gibt's eine Katastrophe. Marie würde es nicht ertragen, du weißt ja, was sie alles durchgemacht hat. Nicht wahr?“ - „Ja, natürlich“, sagte er, „ich weiß es!“

„Sie hat trockenes Brot essen müssen, sie hat - es ist eigentlich unverständlich, wie sie es hat ertragen können - sie hat wochenlang in Betten gelegen, die nicht bezogen waren, und als sie Uli bekam, war Erich noch als vermißt gemeldet. Wenn das Kind die Aufnahmeprüfung nicht besteht: ich weiß nicht, was passiert. Hab ich recht?“ „Ja, du hast recht“, sagte er. „Sieh zu, daß du den Jungen siehst, bevor er die Klasse betritt, in der die Prüfung stattfindet - sag ihm ein paar nette Worte. Du wirst tun, was du kannst wie?“- „Ja“, sagte er.

An einem Frühlingstag vor dreißig Jahren war er selbst in die Stadt gekommen, um die Aufnahmeprüfung zu machen: rot war an diesem Abend das Sonnenlicht über die Straße gefallen, in der seine Tante wohnte, und dem Elfjährigen schien es, als kippe jemand Glut über die Dächer hin, und in Hunderten von Fenstern lag dieses Rot wie glühendes Metall.

Später, als sie beim Essen saßen, lag grünliche Dunkelheit in den Fensterhöhlen, für die halbe Stunde, in der die Frauen zögern, Licht anzuknipsen. Auch die Tante zögerte, und als sie am Schalter drehte, schien es, als habe sie das Signal für viele hundert Frauen gegeben: aus allen Fenstern stach plötzlich das gelbe Licht in die grüne Dunkelheit; wie harte Früchte mit langen gelben Stacheln hingen die Lichter in der Nacht. „Wirst du es schaffen?“ fragte die Tante, und der Onkel, der mit der Zeitung in der Hand am Fenster saß, schüttelte den Kopf, als halte er diese Frage für beleidigend.

Dann machte die Tante sein Bett auf der Küchenbank zurecht, eine Steppdecke war die Unterlage, der Onkel gab sein Oberbett, die Tante ein Kopfkissen her. „Bald wirst du ja dein eigenes Bettzeug hierhaben“, sagte die Tante, „und nun schlaf gut. Gute Nacht!“ - „Gute Nacht“, sagte er, und die Tante löschte das Licht und ging ins Schlafzimmer.

Der Onkel blieb und versuchte so zu tun, als suche er etwas; über das Gesicht des Jungen hinweg tasteten seine Hände zur Fensterbank hin, und die Hände, die nach Beize und Schellack rochen, kamen von der Fensterbank zurück und tasteten wieder über sein Gesicht; bleiern lag die Schüchternheit des Onkels in der Luft, und ohne gesagt zu haben, was er sagen wollte, verschwand er im Schlafzimmer.

„Ich werde es schaffen“, dachte der Junge, als er allein war, und er sah die Mutter vor sich, die jetzt zu Hause strickend am Herd saß, hin und wieder die Hände in den Schoßsinken ließ und ein Stoßgebet ausatmete zu einem der Heiligen hin, die sie verehrte: Judas Thaddäus - oder war für ihn, den Bauernjungen, der in die Stadt aufs Gymnasium sollte, Don Bosco zuständig? „Es gibt Dinge, die einfach nicht geschehen dürfen“, sagte die Frau neben ihm, und da sie auf Antwort zu warten schien, sagte er müde „ja“ und stellte verzweifelt fest, daß es dämmerte; der Tag kam und brachte ihm die schwerste aller Pflichten: sein Gesicht aufzusetzen.

„Nein“, dachte er, „es geschehen genug Dinge, die nicht geschehen dürften: Damals, im Dunkeln auf der Küchenbank, vor dreißig Jahren, war er so zuversichtlich gewesen: Er dachte an die Rechenaufgabe, dachte an den Aufsatz, und er war sicher, daß alles gut werden würde. Sicher würde das Aufsatzthema heißen: „Ein merkwürdiges Erlebnis“, und er wußte genau, was er beschreiben würde: den Besuch in der Anstalt, wo Onkel Thomas untergebracht war: grün-weiß gestreifte Stühle im Sprechzimmer, und der Onkel Thomas. der - was man auch immer zu ihm sagte - nur den einen Satz sprach: „Wenn es nur Gerechtigkeit auf dieser Welt gäbe!“

„Ich habe dir einen schönen roten Pullover gestrickt“, sagte seine Mutter, „du mochtest doch rote Sachen immer so gern!“ - „Wenn es nur Gerechtigkeit auf dieser Welt gäbe!“ Sie sprachen übers Wetter, über Kühe und ein wenig über Politik, und immer sagte Thomas nur den einen Satz: „Wenn es nur Gerechtigkeit auf dieser Welt gäbe!“ Und später, als sie durch den grüngetünchten Flur zurückgingen, sah er am Fenster einen schmalen Mann mit hängenden Schultern, der stumm in den Garten hinausblickte.

 

Kurz bevor sie die Pforte passierten, kam ein sehr freundlicher, liebenswürdig lächelnder Mann auf sie zu und sagte: „Madame, bitte vergessen Sie nicht. mich mit Majestät anzureden“, und die Mutter sagte leise zu dem Mann: „Majestät!“ Und als sie an der Straßenbahnstation standen, hatte er noch einmal zu dem grünen Haus, das zwischen den Bäumen verborgen lag, hingeblickt, den Mann mit den hängenden Schultern am Fenster gesehen, und ein Lachen klang durch den Garten hin, als zerschneide jemand Blech mit einer stumpfen Schere.

„Dein Kaffee wird kalt“, sagte die Frau, die seine Frau war, „und iß doch wenigstens eine Kleinigkeit." Er nahm die Kaffeetasse an den Mund und aß eine Kleinigkeit.

„Ich weiß nicht“, sagte die Frau und legte ihre Hand auf seine Schulter, „Ich weiß, daß du wieder über deine Gerechtigkeit nachgrübelst, aber kann es ungerecht sein, einem Kind ein wenig zu helfen? Du magst doch Uli?“- „Ja“, sagte er, und dieses Ja war aufrichtig: Er mochte Uli. Der Junge war zart, freundlich und auf seine Weise intelligent, aber es würde eine Qual für ihn sein, das Gymnasium zu besuchen: mit vielen Nachhilfestunden, angefeuert von einer ehrgeizigen Mutter, unter großen Anstrengungen und mit viel Fürsprache würde er immer nur ein mittelmäßiger Schüler sein. Er würde immer die Last eines Lebens, eines Anspruchs tragen müssen, der ihm nicht gemäß war.

„Du versprichst mir, etwas für Uli zu tun, nicht wahr?“ - „Ja“, sagte er, „ich werde etwas für ihn tun“, und er küßte das schöne Gesicht seiner Frau und verließ das Haus. Er ging langsam, steckte sich eine Zigarette in den Mund, lieb das aufgesetzte Gesicht fallen und genoß die Entspannung, sein eigenes Gesicht auf der Haut zu spüren. Er betrachtete es im Schaufenster eines Pelzladens; zwischen einem grauen Seehundfell und einer gefleckten Tigerhaut sah er sein Gesicht auf dem schwarzen Samt, mit dem die Auslage verkleidet war: das blasse, ein wenig gedunsene Gesicht eines Mannes um die Mitte Vierzig - das Gesicht eines Skeptikers, eines Zynikers vielleicht; weißlich kräuselte sich der Zigarettenqualm um das blasse gedunsene Gesicht herum. Alfred, sein Freund, der vor einem Jahr gestorben war, hatte immer gesagt: .Du bist nie über einige Ressentiments hinweggekommen - und alles, was du tust, ist zu sehr von Emotion bestimmt!“"

Alfred hatte das Beste gemeint, er hatte sogar etwas Richtiges sagen wollen. Aber mit Worten konnte man einen Menschen nie fassen, und für ihn stand fest, daß Ressentiments eines der billigsten, eins der bequemsten Worte war. Damals, vor dreißig Jahren, auf der Bank in der Küche der Tante, hatte er gedacht: Einen solchen Aufsatz wird keiner schreiben; ein so merkwürdiges Erlebnis hat bestimmt keiner gehabt, und bevor er einschlief, dachte er andere Dinge: Auf dieser Bank würde er neun Jahre lang schlafen, auf diesem Tisch seine Schulaufgaben machen, neun Jahre lang, und diese Ewigkeit hindurch würde die Mutter zu Hause am Herd sitzen, stricken und Stoßgebete ausatmen.

Im Zimmer nebenan hörte er Onkel und Tante miteinander sprechen, und aus dem Gemurmel wurde nur ein Wort deutlich, sein Name: „Daniel“. Sie sprachen also über ihn, und obwohl er sie nicht verstand, wußte er, daß sie gut über ihn sprachen. Sie mochten ihn, sie selbst hatten keine Kinder. Und dann befiel ihn plötzlich Angst: In zwei Jahren schon, dachte er beklommen, wird diese Bank zu kurz für mich - wo werde ich dann schlafen? Für einige Minuten beunruhigte ihn diese Vorstellung sehr, dann aber dachte er: Zwei Jahre, wie unendlich viel Zeit ist das; viel Dunkelheit, die sich Tag um Tag erhellen würde, und er fiel ganz plötzlich in das Stückchen Dunkelheit, das vor ihm lag: die Nacht vor der Prüfung, und im Traum verfolgte ihn das Bild, das zwischen Büfett und Fenster an der Wand hing: Männer mit grimmigen Gesichtern standen vor einem Fabriktor, und einer hielt eine ausgefranste rote Fahne in der Hand, und im Traum las das Kind deutlich, was es im Halbdunkel nur langsam hatte entziffern können: Streik.

Er trennte sich von seinem Gesicht, das blaß und eindringlich zwischen dem Seehundfell und der gefleckten Tigerhaut im Schaufenster hing, wie mit Silberstift auf schwarzes Tuch gezeichnet; er trennte sich zögernd, denn er sah das Kind, das er einmal gewesen war, hinter diesem Gesicht.

„Streik“, hatte dreizehn Jahre später der Schulrat zu ihm gesagt, „Streik halten Sie das für ein Aufsatzthema, das man Primanern geben sollte?“ Er hatte das Thema nicht gegeben, und das Bild hing damals, 1934, längst nicht mehr an der Wand in der Küche des Onkels.

Es blieb noch die Möglichkeit, Onkel Thomas in der Anstalt zu besuchen, auf einem der grüngestreiften Stühle zu sitzen, Zigarren zu rauchen und Thomas zuzuhören, der auf eine Litanei zu antworten schien, die nur er allein hörte: lauschend saß Thomas da - aber er lauschte nicht auf das, was die Besucher ihm erzählten -, er lauschte dem Klagegesang eines verborgenen Chores, der in den Kulissen dieser Welt versteckt eine Litanei herunterbetete, auf die es nur eine Antwort gab, Thomas' Antwort: „Wenn es nur Gerechtigkeit auf dieser Welt gäbe!“

Der Mann, der, immer am Fenster stehend, in den Garten blickte, hatte sich eines Tages - so mager war er geworden - durch das Gitter zwängen und in den Garten stürzen können: sein blechernes Lachen war über ihm selbst zusammengestürzt.

Aber die Majestät lebte noch, und Heemke hatte nie versäumt, auf ihn zuzugehen und ihm lächelnd zuzuflüstern: „Majestät!“ -„Diese Typen werden steinalt“, sagte der Wärter zu ihm, „den schmeißt so leicht nichts um!“ Aber sieben Jahre später lebte die Majestät nicht mehr, und auch Thomas war tot: Sie waren ermordet worden, und der Chor, der in den Kulissen der Welt versteckt seine Litanei her­unter­betete, dieser Chor wartete vergebens auf die Antwort, die nur Thomas ihm geben konnte.

Heemke betrat die Straße, in der die Schule lag, und erschrak, als er die vielen Prüflinge sah: mit Müttern, mit Vätern standen sie herum, und sie alle umgab jene unechte aufgeregte Heiterkeit, die vor Prüfungen wie eine Krankheit über die Menschen fällt: verzweifelte Heiterkeit lag wie Schminke auf den Gesichtern der Mütter, verzweifelte Gleichgültigkeit auf denen der Väter.

Ihm aber fiel ein Junge auf, der allein abseits auf der Schwelle eines zerstörten Hauses saß. Heemke blieb stehen und spürte, daß Schrecken in ihm hochstieg wie Feuchtigkeit in einem Schwamm: Vorsicht, dachte er, wenn ich nicht achtgebe, werde ich eines Tages dort sitzen, wo Onkel Thomas saß, und vielleicht werde ich denselben Spruch sagen. Das Kind, das auf der Türschwelle saß, glich ihm selbst, wie er sich dreißig Jahre jünger in Erinnerung hatte, so sehr, daß es ihm schien, als fielen die dreißig Jahre von ihm ab wie Staub, den man von einer Statue herunterpustet. Lärm, Lachen - die Sonne schien auf feuchte Dächer, von denen der Schnee weggeschmolzen war, und nur in den Schatten der Ruinen hatte sich der Schnee gehalten.

Der Onkel hatte ihn damals viel zu früh hierhergebracht. Sie waren mit der Straßenbahn über die Brücke gefahren, hatten kein Wort miteinander gesprochen, und während er auf die schwarzen Strümpfe des Jungen blickte, dachte er: Schüchternheit ist eine Krankheit, die man heilen sollte, wie man Keuchhusten heilt. Die Schüchternheit des Onkels damals, seine eigene dazu, hatte ihm die Luft abgeschnürt. Stumm, mit dem roten Schal um den Hals, die Kaffeeflasche in der rechten Rocktasche, so hatte der Onkel in der leeren Straße neben ihm gestanden, halte plötzlich etwas von „Arbeit gehen“ gemurmelt und war weggegangen, und er hatte sich auf eine Türschwelle gesetzt. Gemüsekarren rollten übers Pflaster, ein Bäckerjunge kam mit dem Brötchenkorb vorbei, und ein Mädchen ging mit einer Milchkanne von Haus zu Haus

und hinterließ auf jeder Schwelle eine kleine bläuliche Milchspur - sehr vornehm waren ihm die Häuser vorgekommen, in denen keiner zu wohnen schien, und jetzt noch konnte er an den Ruinen die gelbe Farbe sehen, die ihm damals so vornehm vorgekommen war. „Guten Morgen, Herr Direktor“, sagte jemand, der an ihm vorbeiging. Er nickte flüchtig, und er wußte, daß der Kollege drinnen sagen würde: „Der Alte spinnt wieder.!“

„Ich habe drei Möglichkeiten“, dachte er, „ich kann in das Kind fallen, das dort auf der Türschwelle sitzt, ich kann der Mann mit dem blassen, gedunsenen Gesicht bleiben, und ich kann Onkel Thomas werden!“ Die am wenigsten verlockende Möglichkeit war die, er selbst zu bleiben, die schwere Last, das auf gesetzte Gesicht zu tragen - nicht sehr verlockend war die, das Kind zu sein: Bücher, die er liebte, die er haßte, am Küchentisch verschlungen, gefressen hatte er sie, und es blieb jede Woche der Kampf ums Papier, um Kladden, die er mit Notizen, mit Berechnungen, mit Aufsatzproben füllte; jede Woche dreißig Pfennig, um die er kämpfen mußte, bis es dem Lehrer einfiel, aus uralten Schulheften, die im Keller der Schule lagen, ihn die leeren Seiten herausreißen zu lassen; aber er riß auch die heraus, die nur einseitig beschrieben waren, und nähte sie sich zu Hause mit schwarzem Zwirn zu dicken Heften zusammen - und jetzt schickte er jedes Jahr Blumen für das Grab des Lehrers ins Dorf.

„Niemand“, dachte er, „hat je erfahren, was es mich gekostet hat, kein Mensch, außer Alfred vielleicht, aber Alfred hatte nur ein sehr dummes Wort dazu gesagt, das Wort: „Ressentiment“. Es ist sinnlos, darüber zu sprechen, es irgendjemand zu erklären - am wenigsten würde die es verstehen, die mit ihrem schönen Gesicht immer neben mir im Bett liegt!“

Noch zögerte er für ein paar Augenblicke, in denen die Vergangenheit über ihm lag: Am verlockendsten war es, den Part von Onkel Thomas zu übernehmen, nur immer die eine, einzige Antwort auf die Litanei herunterzubeten, die der Chor in den Kulissen absang.

Nein, nicht wieder dieses Kind sein, es ist zu schwer: Welcher Junge trägt in der heutigen Zeit noch schwarze Strümpfe? Die mittlere Lösung war es, der Mann mit dem blassen gedunsenen Gesicht zu bleiben, und er hatte immer die mittleren Lösungen vorgezogen. Er ging auf den Jungen zu, und als sein Schatten über das Kind fiel, blickte es auf und sah ihn ängstlich an. „Wie heißt du?“ fragte Heemke. Der Junge stand hastig auf, und aus seinem geröteten Gesicht kam die Antwort: „Wierzek.“ - „Buchstabiere es mir, bitte“, sagte Heemke und zückte sein Notizbuch, und das Kind buchstabierte langsam: „W-i-e-r-z-e-k.“ - „Und wo kommst du her?“ - Aus Wollersheim“, sagte das Kind.

Gott sei Dank, dachte Heemke, ist er nicht aus meinem Heimatdorf und trägt nicht meinen Namen - ist nicht eins der Kinder von meinen vielen Vettern. „Und wo wirst du hier in der Stadt wohnen?“ - „Bei meiner Tante“, sagte Wierzek. „Schön“, sagte Heemke, „es wird schon gut gehen mit der Prüfung. Du hast gute Zeugnisse und eine gute Beurteilung von deinem Lehrer, nicht wahr?“ - „Ja, ich hatte immer gute Zeugnisse!“ - „Mach dir keine Angst“, sagte Heemke, „es wird schon klappen, du wirst…“. Er stockte, weil das, was Alfred „Emotion und Ressentiment“ genannt hätte, ihm die Kehle zuschnürte. „Erkälte dich nicht auf den kalten Steinen“, sagte er leise, wandte sich plötzlich ab und betrat die Schule durch die Hausmeisterwohnung, weil er Uli und Ulis Mutter ausweichen wollte.

Hinter dem Vorhang des Flurfensters verborgen, blickte er noch einmal auf die Kinder und ihre Eltern, die draußen warteten, und wie jedes Jahr an diesem Tag befiel ihn Schwermut: in den Gesichtern dieser Zehnjährigen glaubte er eine niederdrückende Zukunft zu lesen. Sie drängten sich vor dem Schultor wie eine Herde vor dem Stall: zwei oder drei von diesen siebzig Kindern würden mehr als mittelmäßig sein, und alle anderen würden nur den Hintergrund abgeben. Alfreds Zynismus ist tief in mich eingedrungen, dachte er, und blickte hilfesuchend zu dem kleinen Wierzek hin, der sich doch wieder gesetzt hatte und mit gesenktem Kopf zu brüten schien.

Ich habe mir damals eine schlimme Erkältung geholt, dachte Heemke. Dieses Kind wird bestehen, und wenn ich, wenn ich, - wenn ich, was? Ressentiment und Emotion, mein lieber Alfred, das sind nicht die Worte, die ausdrücken, was mich erfüllt.

Er ging ins Lehrerzimmer und begrüßte die Kollegen, die auf ihn gewartet hatten, und er sagte zum Hausmeister, der ihm den Mantel abnahm: „Lassen Sie die Kinder jetzt herein!“ An den Gesichtern der Kollegen konnte er ablesen, wie merkwürdig er sich benommen hatte. „Vielleicht“, dachte er, „habe ich eine halbe Stunde dort draußen auf der Straße gestanden und den kleinen Wierzek betrachtet“, und er blickte ängstlich auf die Uhr; aber es war erst vier Minuten nach acht.

„Meine Herren“, sagte er laut, „bedenken Sie, daß für manche dieser Kinder die Prüfung, der sie unterzogen werden, schwerwiegender und folgenreicher ist, als für einige von Ihnen in fünfzehn Jahren das Doktorexamen sein wird!“ Sie warteten auf mehr, und die, die ihn kannten, warteten auf das Wort, das er bei jeder Gelegenheit so gern sagte, auf das Wort „Gerechtigkeit“. Aber er sagte nichts mehr, wandte sich nur mit leiser Stimme an einen der Kollegen und fragte: „Wie heißt das Aufsatzthema für die Prüflinge?“ - „Ein merkwürdiges Erlebnis!“

Heemke blieb allein im Lehrerzimmer zurück.

Seine Sorge damals, daß die Küchenbank in zwei Jahren für ihn zu kurz sein würde, war überflüssig gewesen, denn er hatte die Aufnahmeprüfung nicht bestanden, obwohl das Aufsatzthema „Ein merkwürdiges Erlebnis“ hieß. Bis zu dem Augenblick, wo sie in die Schule eingelassen wurden, hatte er sich an seiner Zuversicht festgehalten, aber die Zuversicht war, als er die Schule betrat, dahingeschmolzen gewesen.

Als er den Aufsatz niederschreiben wollte, versuchte er vergebens, sich an Onkel Thomas festzuhalten. Thomas war plötzlich sehr nahe, zu nahe, als daß er über ihn einen Aufsatz hätte schreiben können; er schrieb die Überschrift hin „Ein merkwürdiges Erlebnis“, darunter schrieb er: „Wenn es nur Gerechtigkeit auf der Welt gäbe!“ - und er schrieb Gerechtigkeit statt des zweiten e mit ä, weil er sich dumpf daran erinnerte, daß alle Worte einen Stamm haben. und es schien ihm, als sei der Stamm von Gerechtigkeit Rache.

Mehr als zehn Jahre hatte er gebraucht, um, wenn er an Gerechtigkeit dachte, nicht an Rache zu denken.

Das schlimmste von diesen zehn Jahren war das Jahr nach der nichtbestandenen Prüfung gewesen; die, von denen man wegging in ein Leben hinein, das nur scheinbar ein besseres war, konnten ebenso hart sein wie die, die nichts ahnten und nichts wußten und denen ein Telefongespräch des Vaters ersparte, was sie selbst Monate des Schmerzes und der Anstrengung kostete; ein Lächeln der Mutter, ein Händedruck, sonntags nach der Messe gewechselt, und ein schnell hingeworfenes Wort: das war die Gerechtigkeit der Welt - und das andere, das er immer gewollt, aber nie erreicht hatte, war das, nach dem Onkel Thomas so heftig verlangt hatte. Der Wunsch, das zu erreichen, hatte ihm den Spitznamen „Daniel, der Gerechte“ eingebracht. Er erschrak, als die Tür aufging und der Hausmeister Ulis Mutter einließ.

„Marie“, sagte er, „was - warum - !“ -„Daniel“, sagte sie, „ ich..!“ Aber er unterbrach sie und sagte: „Ich habe keine Zeit, nicht eine Sekunde - nein“, sagte er heftig, und er verließ sein Zimmer und stieg zum ersten Stock hinauf: Hier oben hin drang der Lärm der wartenden Mütter nur gedämpft. Er trat an das Fenster, das zum Hof hin lag, steckte eine Zigarette in den Mund, vergaß aber, sie anzuzünden.

Dreißig Jahre habe ich gebraucht, um über alles hinwegzukommen und um eine Vorstellung von dem zu erlangen, was ich will. Ich habe die Rache aus meiner Gerechtigkeit entfernt; ich verdiene mein Geld, ich setze mein hartes Gesicht auf, und die meisten glauben, daß ich damit an meinem Ziel sei: Aber ich bin noch nicht am Ziel; jetzt erst starte ich - aber das harte Gesicht kann ich jetzt absetzen und wegtun, wie man einen Hut wegtut, der ausgedient hat; ich werde ein anderes Gesicht haben, vielleicht mein eigenes ...

Er würde Wierzeck dieses Jahr ersparen; kein Kind wollte er dem ausgesetzt wissen, dem er ausgesetzt gewesen war, kein Kind, am wenigsten aber dieses - dem er begegnet war wie sich selbst  (Heinrich Böll).

 

 

Nachts schlafen die Ratten doch

[Junge will auf einem Trümmergrundstück die Ratten vertreiben, damit sie seinen toten Bruder nicht anfressen]

Das hohle Fenster in der vereinsamten Mauer gähnte blaurot voll früher Abendsonne. Staub­gewölke flimmerte zwischen den steilgereckten Schornsteinresten. Die Schuttwüste döste.

Er hatte die Augen zu. Mit einmal wurde es noch dunkler. Er merkte, daß jemand gekommen war und nun vor ihm stand, dunkel, leise. „Jetzt haben sie mich!“ dachte er. Aber als er ein bißchen blinzelte, sah er nur zwei etwas ärmlich behoste Beine. Die standen ziemlich krumm vor ihm, daß er zwischen ihnen hindurchsehen konnte. Er riskierte ein kleines Geblinzel an den Hosenbeinen hoch und erkannte einen älteren Mann. Der hatte ein Messer und einen Korb in der Hand. Und etwas Erde an den Fingerspitzen.

„Du schläfst hier wohl, was?“ fragte der Mann und sah von oben auf das Haargestrüpp herunter. Jürgen blinzelte zwischen den Beinen des Mannes hindurch in die Sonne und sagte: „Nein, ich schlafe nicht. Ich muß hier aufpassen!“ Der Mann nickte: „So, dafür hast du wohl den großen Stock da?“- „Ja“, antwortete Jürgen mutig und hielt den Stock fest. „Worauf paßt du denn auf?“ - „Das kann ich nicht sagen!“ Er hielt die Hände fest um den Stock.

„Wohl auf Geld, was?“ Der Mann setzte den Korb ab und wischte das Messer an seinem Hosenboden hin und her. „Nein, auf Geld überhaupt nicht“, sagte Jürgen verächtlich. „Auf etwas ganz anderes!“ - „Na, was denn?“ -„Ich kann es nicht sagen. Was anderes eben!“ - „Na, denn nicht. Dann sage ich dir natürlich auch nicht, was ich hier im Korb habe!“ Der Mann stieß mit dem Fuß an den Korb und klappte das Messer zu. „Pah, kann mir denken, was in dem Korb ist“, meinte Jürgen geringschätzig, „Kaninchenfutter!“ „Donnerwetter, ja!“ sagte der Mann verwundert, „bist ja ein fixer Kerl. Wie alt bist du denn?“ - „Neun!“

„Oha“, denk mal an, „neun also. Dann weißt du ja auch, wieviel drei mal neun sind, wie?“

Klar, sagte Jürgen und um Zeit zu gewinnen, sagte er noch: „Das ist ja ganz leicht!“ Und er sah durch die Beine des Mannes hindurch. „Dreimal neun, nicht?“ fragte er noch mal, „siebenundzwanzig. Das wußte ich gleich!“ - „Stimmt“, sagte der Mann, „und genau soviel Kaninchen habe ich!“

Jürgen machte einen runden Mund: „Siebenundzwanzig?“ -„Du kannst sie sehen. Viele sind noch ganz jung. Willst du?“ - „Ich kann doch nicht. Ich muß doch aufpassen“, sagte Jürgen unsicher. „Immerzu?“ fragte der Mann, „nachts auch?“ - „Nachts auch. Immerzu. Immer!“ Jürgen sah an den krummen Beinen hoch. „Seit Sonnabend schon“ flüsterte er. „Aber gehst du denn gar nicht nach Hause? Du mußt doch essen!“ Jürgen hob einen Stein hoch. Da lag ein halbes Brot. Und eine Blechschachtel. „Du rauchst?“ fragte der Mann, „hast du denn eine Pfeife?“

Jürgen faßte seinen Stock fest an und sagte zaghaft: „Ich drehe. Pfeife mag ich nicht!“ - „Schade“, der Mann bückte sich zu seinem Korb: „Die Kaninchen hättest du ruhig mal ansehen können. Vor allem die Jungen. Vielleicht hättest du dir eines ausgesucht. Aber du kannst ja hier nicht weg!“ - „Nein“, sagte Jürgen traurig, „nein nein!“

Der Mann nahm den Korb hoch und richtete sich auf. „Na ja, wenn du hierbleiben mußt - schade!“ Und er drehte sich um. „Wenn du mich nicht verrätst“, sagte Jürgen da schnell, „es ist wegen der Ratten!“ Die krummen Beine kamen einen Schritt zurück: „Wegen der Ratten?“ - „Ja, die essen doch von Toten. Von Menschen. Da leben sie doch von!“ - „Wer sagt das?“ - „Unser Lehrer!“ - „Und du paßt nun auf die Ratten auf?“ fragte der Mann. „Auf die doch nicht!“

Und dann sagte er ganz leise: „ein Bruder, der liegt nämlich da unten!“ Da. Jürgen zeigte mit den Stock auf die zusammengesackten Mauern. Unser Haus kriegte eine Bombe. Mit einmal war das Licht weg im Keller. Und er auch. Wir haben noch gerufen. Er war viel kleiner als ich. Erst vier. Er muß hier ja noch sein. Er ist doch viel kleiner als ich!“

Der Mann sah von oben auf das Haargestrüpp. Aber dann sagte er plötzlich: „Ja, hat euer Lehrer euch denn nicht gesagt, daß die Ratten nachts schlafen?“- „Nein“, flüsterte Jürgen und sah mit einmal ganz müde aus, das hat er nicht gesagt. „Na, sagte der Mann, das ist aber ein Lehrer, wenn er das nicht mal weiß. Nachts schlafen die Ratten doch. Nachts kannst du ruhig nach Hause gehen. Nachts schlafen sie immer. Wenn es dunkel wird, schon!“

Jürgen machte mit seinem Stock kleine Kuhlen in den Schutt. Lauter kleine Betten sind das, dachte er, alles kleine Betten. Da sagte der Mann (und seine krummen Beine waren ganz unruhig dabei): „Weißt du was? Jetzt füttere ich schnell meine Kaninchen, und wenn es dunkel wird, hole ich dich ab. Vielleicht kann ich eins mitbringen. Ein kleines oder, was meinst du?“

Jürgen machte kleine Kuhlen in den Schutt. Lauter kleine Kaninchen. Weiße. graue, weißgraue. „Ich weiß nicht“, sagte er leise und sah auf die krummen Beine, „wenn sie wirklich nachts schlafen!“

Der Mann stieg über die Mauerreste weg auf die Straße. „Natürlich“, sagte er von da, „euer Lehrer soll einpacken, wenn er das nicht mal weiß!“ Da stand Jürgen auf und fragte: „Wenn ich eins kriegen kann? Ein weißes vielleicht?“ - „Ich will mal versuchen“, rief der Mann schon im Weggehen, „aber du mußt hier solange warten. Ich gehe dann mit dir nach Hause, weißt du? Ich muß deinem Vater doch sagen, wie so ein Kaninchenstall gebaut wird. Denn das müßt ihr ja wissen!“

„Ja“, rief Jürgen, „ich warte. Ich muß ja noch aufpassen, bis es dunkel wird. Ich warte bestimmt!“ Und er rief: „Wir haben auch noch Bretter zu Hause. Kistenbretter“, rief er. Aber das hörte der Mann schon nicht mehr. Er lief mit seinen krummen Beinen auf die Sonne zu. Die war schon rot vom Abend und Jürgen konnte sehen, wie sie durch die Beine hindurch­schien, so krumm waren sie. Und der Korb schwenkte aufgeregt hin und her. Kaninchenfutter war da drin. Grünes Kaninchenfutter, das war etwas grau vom Schutt  (Wolfgang Borchert)

 

 

Die Nachbarn           

[Streit, bis einer das Kind des Nachbarn rettet]

Sieler war schon in dem Dorf aufgewachsen. Bartel, sein Nachbar, hatte sich erst später hier angesiedelt. Sie lebten friedlich nebeneinander. Sieler war ein tüchtiger Imker. Er hatte am Ende seines Gartens ein Bienenhaus mit sechzehn Völkern stehen. Von dem Erlös des Honigs kaufte er Kleidung und Schuhe für sich und die Familie. In einem Jahr war die Tracht so gut, daß er eine kleine Reise zu Verwandten davon bestreiten konnte.

Bartel sah, was für Vorteile mit der Imkerei verbunden waren. Er bekam Lust, auch damit anzufangen. So bat er den Nachbarn um Rat. Sieler half ihm bei der Aufstellung des Bienenhauses, zeigte ihm, wie man die Kästen einrichten müsse, wie man die Schwärme einfängt und die Winterfütterung vornimmt. Bald hatte Bartel auch einen ansehnlichen Bienenstand. Anfangs lieh er sich die Honigschleuder vom Nachbarn. Später kaufte er sich eine eigene.

Als Sieler im Winter krank wurde, fütterte Bartel für ihn die Bienen mit. Wenn er in die Stadt fuhr und Besorgungen machte, kaufte er für den Nachbarn ein, was der brauchte. So half einer dem anderen, und die Frauen taten desgleichen.

Es war an einem Maiabend. Bartel hatte seinen Garten umgegraben, geharkt, die Wege ausgetreten, danach mit seiner Frau Bohnen gelegt und alles angegossen. Jetzt holte er den Klotz und das Beil aus dem Stall und fing an, Holz für den Winter zu spalten. Er wollte den Rest des Tageslichtes noch ausnützen.

Klingend sprangen die Holzstücke auseinander, manche fielen neben dem Klotz nieder und bildeten allmählich einen Haufen, andere flogen in die Luft und fielen ein ganzes Stück entfernt zu Boden.

„Geht weg!“ rief Bartel den Kindern zu, die auf dem Hof Verstecken spielten. Es war schon fast dunkel geworden. Jetzt lag ein großes Aststück auf dem Klotz. Er griff die Axt mit beiden Händen und hieb mit aller Wucht darauf. Ein Scheit flog krachend gegen die Stallwand, ein zweites traf Willi Sieler, den Siebenjährigen, an den Kopf. Heulend lief er zu seinem Vater. Die Stirn blutete. Sieler trat aus dem Haus. Er fragte Bartel, ob er sich nicht besser vorsehen könne. „Ich habe ihnen gesagt“, schalt Bartel, „daß sie weggehen sollen. Sie hören ja nicht!“ - „Du bist unvernünftig“, sagte Sieler, „Kinder sind Kinder. Es hätte das Auge treffen können!“

Bartel knurrte etwas vor sich hin, das Sieler nicht verstand.

Die Mutter wusch dem Jungen die Stirn, tat Zellstoff auf die Wunde und befestigte ihn mit einem Klebestreifen. „Er soll sein Holz hinter dem Stall hauen“, sagte Sieler, „nicht, wo die Kinder spielen. Ich habe es ihm schon oft genug gesagt!“ Am nächsten Tag kam Willi mit verbundenem Kopf aus der Schule. Der Lehrer hatte ihm einen richtigen Verband gemacht. „Sonst kommt Schmutz hinein“, hatte er gesagt.

Es war jetzt Mittagszeit. Die Bartelkinder spielten auf der Strafte mit einem Handwagen. Willi warf seine Schulmappe an den Zaun. „Setzt euch hinein!“ rief er. Er lief, den Wagen mit den Kindern hinter sich, um das Haus herum, über den Hof und wieder auf die Strafte. Immer schneller ging die Fahrt. Die Kinder jauchzten. Das Wägelchen rasselte und holperte. Als er um die Ecke von Bartels Stall kam, schlug das Gefährt um. Ein lautes Geschrei erhob sich.

Das kleinere der Kinder schien den Arm verstaucht zu haben. Es konnte ihn nicht bewegen. Bartel mußte es am Nachmittag in die Stadt bringen. Der Arzt sagte, der Arm sei gebrochen. Das Kind mußte im Krankenhaus bleiben.

Einige Tage später nahm Frau Sieler von dem selbstgebackenen Kuchen, tat Äpfel in eine Tüte und fuhr in die Stadt, das Kind besuchen. Als sie das Zimmer betrat, traf sie Bartel an.

Was sie hier wolle, fragte er, sie solle ihrer Wege gehen. Sie wollte etwas sagen, aber er wies ihr die Tür. Schließlich, als sie noch zögerte, faßte er sie am Arm und schob sie hinaus.

„Du hast recht“, sagte sie daheim zu ihrem Mann, „man kann mit ihm nicht in Frieden leben. Er hat mich hinausgeworfen!“ „Habe ich dir das nicht gleich gesagt“, antwortete er ärgerlich, „du hättest dich nicht so zu demütigen brauchen!“

Um die Heuernte kam die Mutter von Frau Sieler zu Besuch, Sie half in Haus und Garten. Sie erzählten ihr von dem Streit mit dem Nachbarn. „Ihr habt es falsch gemacht“, sagte sie. „Ihr hättet gleich hinübergehen und um Entschuldigung bitten sollen!“ „Hat er sich denn entschuldigt, als unserm Jungen das Holz an den Kopf flog?“ fragte Sieler. „Was er tut, ist seine Sache“, antwortete sie, „tut ihr, was das Eure ist!“ - „Aber sie weisen uns ab“, warf die junge Frau ein. „Man soll nicht gleich die Flinte ins Korn werfen!“

Frau Sieler dachte über die Worte der Mutter nach. Im Herzen gab sie ihr recht. Sie nahm sich vor, danach zu handeln. Aber sie hatte keine Macht über ihren Mann. Der nannte die Worte Weibergeschwätz. Die Kinder vertrugen sich schneller als die Erwachsenen. Sie spielten im Hof miteinander wie ehedem. Die Eltern hatten es ihnen verboten, aber sie konnten es auf die Dauer nicht hindern. Man wohnte zu nah beieinander.

Eines Tages hatten die Kinder in Bartels Stall einen „Laden“ aufgebaut. Willi Sieler war der Bäckermeister. Er hatte viele Kuchen aus Sand vor sich auf einem Brett stehen. Die andern Kinder kamen und kauften, bezahlten mit Kieselsteinen und gingen wieder.

Es war um die Stunde des Feierabends. Bartel kam von der Arbeit heim und ging an seinem Stall vorüber. Er sah den Nachbarsjungen. Am liebsten hätte er ihn gleich hinausgeprügelt. Aber er wollte sich nicht die Polizei auf den Hals holen. Er ging ins Haus, warf den Rock ab, schaute in die Küche und rief die Kinder zum Abendessen. Als sie nicht sofort kamen, tat er einen Pfiff aus dem Fenster. Sie wußten, was das bedeutete, liefen herbei, wuschen die Hände und setzten sich zu Tisch. Er komme, sagte Bartel, er wolle nur den Stall zuschließen. „Es hat dazu auch nach dem Essen Zeit“, sagte die Frau. Aber er achtete nicht darauf. Willi Sieler hörte die Schritte, bekam Angst und versteckte sich im Stall hinter einer Stellage. Bartel schloß den Stall zu und ging ins Haus zurück.

Der Junge schaute sich in dem dämmerigen Raum um. Er stieg die Leiter hinauf. Er prüfte das Fenster. Es ließ sich nicht öffnen. Allmählich wurde es dunkel. Er fing an, sich zu ängstigen. Der Stall lag nach dem Wald hinaus. Nach einer Weile hörte er seinen Namen rufen. Es war die Mutter, die ihn suchte. Er antwortete, aber der enge Raum erstickte seine Stimme. „Wenn er heimkommt, soll er sehen, was geschieht!“ schalt der Vater. „Du weißt nicht, wo er ist, und schiltst“, sagte die Frau, „wenn ihm nur nichts passiert ist!“

Eine Stunde verging eine zweite. Willi kam nicht. „Lieber Gott", sagte die Frau, „wo bleibt er nur." Sie lief durch das Dorf, zu Bekannten, bei denen der Junge aus und ein ging, und fragte nach ihm. Niemand wußte etwas.

Jetzt saß sie am Tisch und stützte den Kopf in die Hände. Sieler sprach kein Wort mehr.

Es war schon Mitternacht, als der Wächter vorüberging. Man kannte den Schritt. Er blieb stehen. Von irgendwoher hörte er eine Stimme, ein Gepolter, wie wenn jemand Holz gegen Holz schlägt. Er ging dem Ton nach. „Wer ist da?“ rief er vom Zaun her. Eine Knabenstimme antwortete. Der Wächter ging um das Gehöft herum und klopfte bei Bartel gegen die Fensterläden. Er solle den Stall aufschließen., sagte er. Bartel fuhr in die Hosen, kam heraus und schien auf. Wie der Bengel da hineingekommen sei, sagte er, wisse er nicht. Als der Wächter den Jungen heimbrachte, geriet Sieler in Wut. In der Nacht kam er nicht zur Ruhe. Wilde Gedanken jagten durch seinen Kopf. Spät schlief er ein.

Bartel hatte unten am See Fischreusen liegen. Er fuhr jeden Abend mit dem Rad dorthin. Das eine Bein war steif. Bergauf mußte er schieben. Bergab ging es wie der Wind. Es war ein gutes Stück bis zum See. Die Tage wurden schon kürzer. Wenn er heimkam, war es dunkel. Dann sah er den schmalen Radfahrweg zwischen den Bäumen nur wie einen blassen Streifen.

So war es auch heut. Die Räder spielten fast lautlos unter seinen Füßen, als er die Senke hinabfuhr. Plötzlich sah er etwas Dunkles vor sich auf dem Weg. Ein Sturz - er lag neben einem Baum. Der Schädel dröhnte ihm. Vergeblich versuchte er aufzustehen. Das Bein schmerzte. Er tastete vorsichtig über den Boden. Ein großer Stein nahm fast die Breite des Pfades ein. Bartel hätte schwören können, daß der Stein am Nachmittag noch nicht dort gelegen hatte. In einem Handwagen brachte man ihn heim.

Am Tag danach machte er der Polizei eine schriftliche Anzeige. Sieler wurde verhört. Er leugnete. Man konnte ihm nichts nachweisen. Am Nachmittag hatte ein Bauer Steine vom Feld gefahren. Konnte der Stein nicht vom Wagen gefallen sein?

Es wurde Herbst. Siel er arbeitete jetzt viel im Wald. Er bekam Holz dafür, mehr als er gebrauchen konnte. So beschloß er, davon zu verkaufen. Es gab mancherlei Anschaffungen. Das Dach mußte neu gedeckt werden. Man konnte das Geld gebrauchen. Das Holz lag geschichtet oben am Waldrand. Sieler fuhr hinauf und lud auf, soviel auf den Wagen ging. Es hatte an den Vortagen viel geregnet. Die Wege waren aufgeweicht. Der Wagen geriet in eine ausgewaschene Rinne, fiel zur Seite. Ein Rad brach. Man mußte das Holz wieder abladen.

Sieler warf die Kloben vom Wagen, als wollte er an jedem einzelnen seinen Zorn auslassen. Ihm wurde heiß bei der Arbeit. Über das Feld wehte ein kalter Wind. Die Nacht darauf hatte er Schmerzen. Am Morgen konnte er sich kaum bewegen. Dennoch machte er sich auf, das Holz hereinzuholen. Als er an den Platz kam, fand er statt der Kloben nur einen glimmenden Aschenhaufen. Wochenlang lag er krank. In seinen Fieberphantasien stieß er wilde Drohungen aus. Allmählich wurde er stiller.

Eines Morgens sagte er zu seiner Frau, er habe einen Traum gehabt. Er sei auf einer Wiese gegangen und habe ein totes Kind auf den Armen getragen. Es sei ein weiter Weg gewesen. Die Kräfte hätten ihm fast versagt. Am Eingang des Dorfes sei ihm ein Mann begegnet. Der habe auf das Kind gezeigt und dann ein Kreuz geschlagen. Er wisse nicht, was der Traum zu bedeuten habe. „Vielleicht wird Gott die Deutung geben“, sagte sie.

Von da an sprach Sieler nicht mehr von dem Streit mit dem Nachbarn. Der Winter ging schon zur Neige, als er das Bett verlassen konnte. Langsam ging er im Zimmer umher. Er machte den ersten Gang auf das Feld. Eines Tages ging er bis an den See hinunter.

Das Schilfrohr stand im abendlichen Schimmer. Es war ihm, als sähe er das alles zum ersten­mal: das Spiel der Insekten über dem Wasser, das Springen der Fische, die Spiegelung des Waldes. Er sah das Gebüsch und den Bootssteg dahinter. Und jetzt sah er, daß er nicht allein war. Ein Knabe saß am Steg und angelte. Eben zog er einen Fisch heraus. Dann wieder einen. Es war ein großer Fisch. Er zappelte gewaltig an der Leine. Der Knabe wollte ihn fassen,

dabei schlug er gegen das Gefäß mit dem Köder. Es rollte über den Rand des Stegs. Er wollte es halten, bekam das Übergewicht und stürzte ins Wasser. Der Kopf tauchte auf und verschwand wieder. Sieler war aufgesprungen. Die Knie zitterten ihm. Er lief zum See hinunter. Einen Augenblick stand er unschlüssig. Dann sprang er hinein. Er brachte den Bewußtlosen ans Land.

Wie er, den Jungen auf dem Arm, langsam den Weg zum Dorf ging, keuchend vor Anstrengung, kam ihm die Erinnerung an das nächtliche Gesicht. Er sah die kleine Gestalt, das nasse Haar - rostbraun wie das des Bartel. Er brachte das Kind zum Dorf hinauf, trug es beim Nachbarn durch die Tür und legte es auf das Bett. Eben schlug es die Augen auf. „Es fehlte nicht viel“, sagte Sieler. Er hielt sich am Türpfosten. Ihm wurde schwarz vor Augen. Langsam ging er zu seinem Hof hinüber.

Am nächsten Morgen hörte man, Sieler liege auf den Tod. Das erstemal seit langem ging Bartel zum Nachbarn. Leise klopfte er an die Tür. Nun stand er im Zimmer. Der Kranke starrte vor sich hin. Fieberröte stand in seinem Gesicht. Der Atem ging schwer. Jetzt sah er den Nachbarn stehn. Der trat an das Bett. „Ich danke dir“, sagte er.

Sieler schob den Kopf zu ihm herum: „Wie geht es dem Jungen?“ -„Es geht ihm gut!“

Der Kranke hustete ein paarmal. Er legte den Kopf zurück. Die Finger fuhren unruhig über die Bettdecke. „Bartel“, sagte er mit geschlossenen Augen, „ich bitte dich - verzeih mir - !“- „Ich habe wohl Ursache, dich darum zu bitten“, erwiderte der andere. Sieler streckte die heiße Hand dem Nachbarn entgegen. Der faßte sie und hielt sie fest.

Wochenlang schwebte der Kranke zwischen Tod und Leben. Bartel sah unterdes auf seinem Hof nach dem Rechten. Er fütterte die Bienen, kümmerte sich um das Vieh. Seine Frau nahm die Kinder der Nachbarin zu sich ins Haus. Eines Tages brachte er einen Zettel. „Wir haben ihn von der Försterei bekommen. Wir brauchen ihn nicht!“ Er legte den Holzschein auf das Bett des Kranken.

Als der Frühling kam, machte Bartel sich an die Arbeit und grub den Garten des Nachbarn um. „Er hat meinen Jungen gerettet“, sagte er. „Hätte er es nicht getan, er könnte längst wieder seine Arbeit tun. Ich muß ihm helfen!“ Und dann erschien Sieler das erstemal wieder im Garten. Zwischen den Gärten der Nachbarn hatte das Unkraut mannshoch gestanden. Niemand hatte sich darum gekümmert. Es hatte geblüht und Samen getragen und den Samen über das Land gestreut. Jetzt war die Wand verschwunden.

Drüben stand Bartel und grub das letzte Drittel seines Gartens. Nebel stiegen aus den aufgeworfenen Schollen. Er kam an den Zaun. „Bald werde ich es, will's Gott, selbst wieder anpacken können“, meinte Sieler. „Nur nicht zu früh!“

Sieler stand noch eine Weile und sah ihm zu. Bartel las die Peden aus, die Wurzeln und die Zasern, und warf sie auf den Weg. „Wenn man's ausreutet, solang es klein ist“, meinte Sieler, „hernach hat man die halbe Arbeit!“ - „Ja“, sagte Bartel. Drüben senkte sich der rote Sonnenball zum Horizont. Die ersten Tannenspitzen ragten eben in die Glut hinein. Es sah aus, als werde es am nächsten Tag gutes Wetter werden  (Werner Preuß).              

 

 

Die Waage der Baleks

[Großgrundbesitzer hat jahrelang die Pächter betrogen mit Hilfe einer falschen Waage]

In der Heimat meines Großvaters lebten die meisten Menschen von der Arbeit in den Flachsbrechen. Seit fünf Generationen atmeten sie den Staub ein, der den zerbrochenen Stengeln entsteigt, ließen sich langsam dahinmorden, geduldige und fröhliche Geschlechter, die Ziegenkäse aßen, Kartoffeln. manchmal ein Kaninchen schlachteten; abends spannen und strickten sie in ihren Stuben, sangen, tranken Pfefferminztee und waren glücklich. Tagsüber brachen sie den Flachs in altertümlichen Maschinen, schutzlos dem Staub preisgegeben und der Hitze, die den Trockenöfen entströmte.

Kamen die Kinder aus der Schule, mußten sie in die Wälder gehen und - je nach der Jahreszeit - Pilze sammeln und Kräuter: Waldmeister und Thymian, Kümmel und Pfefferminz, auch Fingerhut, und im Sommer, wenn sie das Heu von ihren mageren Wiesen geerntet hatten, sammelten sie die Heublumen. Einen Pfennig gab es fürs Kilo Heublumen, die in der Stadt in den Apotheken für zwanzig Pfennig das Kilo an nervöse Damen verkauft wurden. Kostbar waren die Pilze: sie brachten zwanzig Pfennig das Kilo und wurden in der Stadt in den Geschäften für eine Mark zwanzig gehandelt.

Die Wälder gehörten den Baleks, auch die Flachsbrechen, und die Baleks hatten im Heimatdorf meines Großvaters ein Schloß, und die Frau des Familienvorstandes jeweils hatte neben der Milchküche ein kleines Stübchen, in dem Pilze, Kräuter. Heublumen gewogen und bezahlt wurden.

Dort stand auf dem Tisch die große Waage der Baleks, ein altertümliches, verschnörkeltes, mit Goldbronze bemaltes Ding, vor dem die Großeltern meines Großvaters schon gestanden hatten, die Körbchen mit Pilzen. die Papiersäcke mit Heublumen in ihren schmutzigen Kinderhänden. gespannt zusehend, wieviel Gewichte Frau Balek auf die Waage werfen mußte, bis der pendelnde Zeiger genau auf dem schwarzen Strich stand, dieser dünnen Linie der Gerechtigkeit, die jedes Jahr neu gezogen werden mußte. Dann nahm Frau Balek das große Buch mit dem braunen Lederrücken, trug das Gewicht ein und zahlte das Geld aus.

Eines der Gesetze, die die Baleks dem Dorf gegeben hatten, hieß: Keiner darf eine Waage im Hause haben. Das Gesetz war schon so alt, daß keiner mehr darüber nachdachte, wann und warum es entstanden war, und es mußte geachtet werden, denn wer es brach, wurde aus den Flachsbrechen entlassen. Mein Großvater war der erste, der kühn genug war, die Gerechtigkeit der Baleks zu prüfen, die im Schloß wohnten, zwei Kutschen fuhren, die immer einem Jungen des Dorfes das Studium der Theologie im Prager Seminar bezahlten, bei denen der Pfarrer jeden Mittwoch zum Tarock war, denen der Bezirkshauptmann - das kaiserliche Wappen auf der Kutsche - zu Neujahr seinen Besuch abstattete, und denen der Kaiser zu Neujahr des Jahres 1900 den Adel verlieh.

Mein Großvater war fleißig und klug: Er kroch weiter in die Wälder hinein, als vor ihm die Kinder seiner Sippe gekrochen waren, er drang bis in das Dickicht vor, in dem der Sage nach Bilgan, der Riese, hausen sollte, der dort den Hort der Balderer bewacht. Aber mein Großvater hatte keine Furcht vor Bilgan: Er drang weit in das Dickicht vor, schon als Knabe, brachte große Beute an Pilzen mit, fand sogar Trüffeln. die Frau Balek mit dreißig Pfennig das Pfund berechnete.

Mein Großvater trug alles, was er den Baleks brachte. auf die Rückseite eines Kalenderblattes ein: jedes Pfund Pilze, jedes Gramm Thymian, und mit seiner Kinderschrift schrieb er rechts daneben, was er dafür bekommen hatte; jeden Pfennig kritzelte er hin, von seinem siebten bis zu seinem zwölften Jahr, und als er zwölf war, kam das Jahr 1900, und die Baleks schenkten jeder Familie im Dorf, weil der Kaiser sie geadelt hatte, ein Viertelpfund echten Kaffee, von dem, der aus Brasilien kommt; es gab auch Freibier und Tabak für die Männer, und im Schloß fand ein großes Fest statt: viele Kutschen standen in der Pappelallee, die vom Tor zum Schloß führt.

Aber am Tage vor dem Fest schon wurde der Kaffee ausgegeben in der kleinen Stube, in der seit fast hundert Jahren die Waage der Baleks stand, die jetzt Balek von Bilgan hießen, weil der Sage nach Bilgan, der Riese, dort ein großes Schloß gehabt haben soll, wo die Gebäude der Baleks stehen.

Mein Großvater hat mir oft erzählt, wie er nach der Schule dort hinging, um den Kaffee für vier Familien abzuholen: für die Cechs, die Weidlers, die Vohlas und für seine eigene, die Brüchers. Es war der Nachmittag vor Silvester: Die Stuben mußten geschmückt, es mußte gebacken werden, und man wollte nicht vier Jungen entbehren, jeden einzeln den Weg ins Schloß machen zu lassen, um ein Viertelpfund Kaffee zu holen.

Und so saß mein Großvater auf der kleinen, schmalen Holzbank im Stübchen, ließ sich von Gertrud, der Magd, die fertigen Achtelkilopakete Kaffee vorzählen, vier Stück, und blickte auf die Waage, auf deren linker Schale der Halbkilostein liegengeblieben war; Frau Balek von Bilgan war mit den Vorbereitungen fürs Fest beschäftigt. Und als Gertrud nun in das Glas mit den sauren Bonbons greifen wollte, um meinem Großvater eines zu geben, stellte sie fest, daß es leer war: es wurde jährlich einmal neu gefüllt, faßte ein Kilo von denen zu einer Mark.

Gertrud lachte, sagte: „Warte, ich hole die neuen“, und mein Großvater blieb mit den vier Achtelkilopaketen, die in der Fabrik verpackt und verklebt waren, vor der Waage stehen, auf der jemand den Halbkilostein liegengelassen hatte.

Und mein Großvater nahm die vier Kaffeepaketehen. legte sie auf die leere Waagschale. und sein Herz klopfte heftig, als er sah, wie der schwarze Zeiger der-Gerechtigkeit links neben dem Strich hängenblieb, die Schale mit dem Halbkilostein unten blieb und das halbe Kilo Kaffee ziemlich hoch in der Luft schwebte; sein Herz klopfte heftiger, als wenn er im Walde hinter einem Strauch gelegen, auf Bilgan, den Riesen, gewartet hätte, und er suchte aus seiner Tasche Kieselsteine, wie er sie immer bei sich trug, um mit der Schleuder nach den Spatzen zu schießen, die an den Kohlpflanzen seiner Mutter herumpickten - drei, vier, fünf Kieselsteine mußte er neben die vier Kaffeepakete legen, bis die Schale mit dem Halbkilostein sich hob und der Zeiger endlich scharf über dem schwarzen Strich lag.

Mein Großvater nahm den Kaffee von der Waage, wickelte die fünf Kieselsteine in sein Sacktuch, und als Gertrud mit der großen Kilotüte voll saurer Bonbons kam, die wieder für ein Jahr reichen mußten, um die Röte der Freude in die Gesichter der Kinder zu treiben, als Gertrud die Bonbons rasselnd ins Glas schüttete, stand der kleine blasse Bursche da. und nichts schien sich verändert zu haben. Mein Großvater nahm nur drei von den Paketen, und Gertrud blickte erstaunt und erschreckt auf den blassen Jungen, der den sauren Bonbon auf die Erde warf, ihm zertrat und sagte: „Ich will Frau Balek sprechen!“ - .,Balek von Bilgan, bitte“, sagte Gertrud. „Gut, Frau Balek von Bilgan“, aber Gertrud lachte ihn aus, und er ging im Dunkeln ins Dorf zurück, brachte den Cechs, den Weidlers, den Vohlas ihren Kaffee und gab vor, er müsse noch zum Pfarrer.

Aber er ging mit seinen fünf Kieselsteinen im Sacktuch in die dunkle Nacht. Er mußte weit gehen, bis er jemand fand, der eine Waage hatte, eine haben durfte. In den Dörfern Blaugau und Bernau hatte niemand eine, das wußte er. und er schritt durch sie hindurch, bis er nach zweistündigem Marsch in das kleine Städtchen Dielheim kam, wo der Apotheker Honig wohnte. Aus Honigs Haus kam der Geruch frischgebackener Pfannekuchen und Honigs Atem, als er dem verfrorenen Jungen öffnete, roch schon nach Punsch, und er hatte die nasse Zigarre zwischen seinen schmalen Lippen, hielt die kalten Hände des Jungen einen Augenblick fest und sagte: „Na, ist es schlimmer geworden mit der Lunge deines Vaters?“

„Nein, ich komme nicht um Medizin, ich wollte ...!“ Mein Großvater nestelte sein Sacktuch auf, nahm die fünf Kieselsteine heraus, hielt sie Honig hin und sagte: „Ich wollte das gewogen haben!“ Er blickte ängstlich in Honigs Gesicht, .aber als Honig nichts sagte, nicht zornig wurde, auch nicht fragte, sagte mein Großvater: „Es ist das, was an der Gerechtigkeit fehlt!“ und mein Großvater spürte jetzt, als er in die warme Stube kam, wie naß seine Füße waren. Der Schnee war durch die schlechten Schuhe gedrungen, und im Wald hatten die Zweige den Schnee über ihn geschüttelt, der jetzt schmolz, und er war müde und hungrig und fing plötzlich an zu weinen, weil ihm die vielen Pilze einfielen, die Kräuter, die Blumen, die auf der Waage gewogen worden waren, an der das Gewicht von fünf Kieselsteinen an der Gerechtigkeit fehlte.

Und als Honig den Kopf schüttelnd, die fünf Kieselsteine in der Hand, seine Frau rief, fielen meinem Großvater die Geschlechter seiner Eltern, seiner Großeltern ein, die alle ihre Pilze, ihre Blumen auf der Waage hatten wiegen lassen müssen, und es kam über ihn wie eine große Woge von Ungerechtigkeit, und er fing noch heftiger an zu weinen, setzte sich, ohne dazu aufgefordert zu sein: auf einen der Stühle in Honigs Stube, übersah den Pfannkuchen, die heiße Tasse Kaffee, die die gute und dicke Frau Honig ihm vorsetzte, und hörte erst auf zu weinen, als Honig selbst aus dem Laden vorne zurückkam und, die Kieselsteine in der Hand schüttelnd, leise zu seiner Frau sagte: „Fünfeinhalb Deka, genau!“

Mein Großvater ging die zwei Stunden durch den Wald zurück, ließ sich prügeln zu Hause, schwieg, als er nach dem Kaffee gefragt wurde, sagte kein Wort, rechnete den ganzen Abend an seinem Zettel herum, auf dem er alles notiert hatte, was er der jetzigen Frau Balek geliefert hatte, und als es Mitternacht schlug, vom Schloß die Böller zu hören waren, im ganzen Dorf das Geschrei, das Klappern der Rasseln erklang, als die Familie sich geküßt, sich umarmt hatte, sagte er in das folgende Schweigen des neuen Jahres hinein: „Baleks schulden mir achtzehn Mark und zweiunddreißig Pfennig!“ Und wieder dachte er an die vielen Kinder, die es im Dorf gab, dachte an seinen Bruder Fritz, der viele Pilze gesammelt hatte, an seine Schwester Ludmilla, dachte an die vielen hundert Kinder, die alle für die Baleks Pilze gesammelt hatten, Kräuter und Blumen, und er weinte diesmal nicht, sondern erzählte seinen Eltern. seinen Geschwistern von seiner Entdeckung.

Als die Baleks von Bilgan am Neujahrstage zum Hochamt in die Kirche kamen, das neue Wappen - einen Riesen, der unter einer Fichte kauert - schon in Blau und Gold auf ihrem Wagen, blickten sie in die harten und blassen Gesichter der Leute, die alle auf sie starrten. Sie hatten im Dorf Girlanden erwartet, am Morgen ein Ständchen, Hochrufe und Heilrufe, aber das Dorf war wie ausgestorben gewesen, als sie hindurchfuhren, und in der Kirche wandten sich die Gesichter der blassen Leute ihnen zu, stumm und feindlich, und als der Pfarrer auf die Kanzel stieg, um die Festpredigt zu halten, spürte er die Kälte der sonst so stillen und friedlichen Gesichter, und er stoppelte mühsam seine Predigt herunter und ging schweißtriefend zum Altar zurück.

Und als die Baleks von Bilgan nach der Messe die Kirche wieder verließen, gingen sie durch ein Spalier stummer, blasser Gesichter. Die junge Frau Balek von Bilgan aber blieb vorne bei den Kinderbänken stehen, suchte das Gesicht meines Großvaters, des kleinen blassen Franz Brücher, und fragte ihn in der Kirche: „Warum hast du den Kaffee für deine Mutter nicht mitgenommen?“ Und mein Großvater stand auf und sagte: „Weil Sie mir noch soviel Geld schulden wie fünf Kilo Kaffee kosten!“

Und er zog die fünf Kieselsteine aus seiner Tasche, hielt sie der jungen Frau hin und sagte: „So viel, fünfeinhalb Deka, fehlen auf ein halbes Kilo an Ihrer Gerechtigkeit“. Und noch ehe die Frau etwas sagen konnte, stimmten die Männer und Frauen in der Kirche das Lied an: „Gerechtigkeit der Erden, o Herr, hat Dich getötet .. !“

Während die Baleks in der Kirche waren, war Wilhelm Vohla, der Wilderer, in das kleine Stübchen eingedrungen, hatte die Waage gestohlen und das große, dicke, in Leder eingebundene Buch, in dem jedes Kilo Pilze, jedes Kilo Heublumen, alles eingetragen war, was von den Baleks im Dorf gekauft worden war, und den ganzen Nachmittag des Neujahrstages saßen die Männer des Dorfes in der Stube meiner Urgroßeltern und rechneten, rechneten elf Zehntel von allem, was gekauft worden.

Aber als sie schon viele tausend Taler errechnet hatten und noch immer nicht zu Ende waren, kamen die Gendarmen des Bezirkshauptmanns, drangen schießend und stechend in die Stube meines Urgroßvaters ein und holten mit Gewalt die Waage und das Buch heraus. Die Schwester meines Großvaters wurde getötet dabei, die kleine Ludmilla, ein paar Männer verletzt, und einer der Gendarmen wurde von Wilhelm Vohla, dem Wilderer, erstochen.

Es gab Aufruhr nicht nur in unserem Dorf, auch in Blaugau und Bernau, und fast eine Woche lang ruhte die Arbeit in den Flachsfabriken. Aber es kamen sehr viele Gendarmen, und die Männer und Frauen wurden mit Gefängnis bedroht, und die Baleks zwangen den Pfarrer, öffentlich in der Schule die Waage vorzuführen und zu beweisen, daß der Zeiger der Gerechtigkeit richtig auspendelte. Und die Männer und Frauen gingen wieder in die Flachsbrechen - aber niemand ging in die Schule, um den Pfarrer anzusehen: Er stand ganz allein da, hilflos und traurig mit seinen Gewichtssteinen, der Waage und den Kaffeetüten.

Und die Kinder sammelten wieder Pilze, sammelten wieder Thymian, Blumen und Fingerhut, aber jeden Sonntag wurde in der Kirche, sobald die Baleks sie betraten, das Lied angestimmt: „Gerechtigkeit der Erden, o Herr, hat Dich getötet“, bis der Bezirkshauptmann in allen Dörfern austrommeln ließ, das Singen dieses Liedes sei verboten.

Die Eltern meines Großvaters mußten das Dorf verlassen, das frische Grab ihrer kleinen Tochter, sie wurden Korbflechter, blieben an keinem Ort lange, weil sie es schmerzte, zuzusehen, wie in allen Orten das Pendel der Gerechtigkeit falsch ausschlug. Sie zogen hinter dem Wagen, der langsam über die Landstraße kroch, ihre magere Ziege mit, und wer an dem Wagen vorbeikam, konnte manchmal hören, wie drinnen gesungen wurde: „Gerechtigkeit der Erden, o Herr, hat Dich getötet“. Und wer ihnen zuhören wollte, konnte die Geschichte hören von den Baleks von Bilgan, an deren Gerechtigkeit ein Zehntel fehlte. Aber es hörte ihnen fast niemand zu      (aus: Heinrich Böll „So ward Abend und Morgen“)

 

 

Tom, der Zettelschneider

[Behinderter Junge wirft Zettel mit Bibelsprüchen aus dem Fenster]

Was macht der kleine Tom da oben im Dachzimmer? In seinem buntbezogenen Bett sitzt er, hält seine Schere in den verkrüppelten Händen und schneidet kleine Zettel aus altem Papier.

Wie arm sieht es um ihn her aus! Ach, er wohnt ja in dem Elendsviertel Londons. So dunkel und unordentlich sieht es überall in den erbärmlichen Häusern dort aus. Eben kommt eine ältere Frau aus der Stube, geht auf die braune Kommode zu, kramt darin und geht wieder heraus. Keinen Blick, kein Wort hat sie für das verkrüppelte Kind. Es ist seine Tante Granny. Sie hieße besser „Tante Garstig“, denn sie war immer mürrisch und garstig zu dem kleinen Tom.

Das Kind war schon als Krüppel auf die Welt gekommen und hatte früh Vater und Mutter verloren. Es wurde von der wunderlichen Tante aufgenommen, die tagtäglich ihr gutes Werk bereute.

So saß Tom krank, einsam und unbeachtet im Dachstübchen in seinem Bett. Nur selten gab sich jemand mit ihm ab. Oft dachte er an seine Mutter zurück, die ihn liebgehabt hatte, ganz besonders auch, weil er so hilflos war. Sie hatte ihm auch das Lesen und Schreiben beigebracht und ihm allerlei von der Welt draußen erzählt. Nur von einem wußte sie ihm nichts zu sagen: von Jesus.

Aber hin und wieder fand er etwas von ihm in einem Beiblatt der damaligen Londoner Zeitung. Sogar Worte aus der Bibel waren angeführt. Was mag wohl sonst noch alles in diesem Buch stehen? dachte Tom. Wenn ich doch eine Bibel hätte!

„Tante Granny“, sagte er eines Tages, „ich möchte so gern einmal eine Bibel haben und

Darin mehr von Jesus lesen!“ „Waas? Eine Bibel?“ Die sonst so mürrische Tante lachte laut auf. „Ha, ha! Sonst hast du keinen Wunsch, als ausgerechnet eine Bibel?“ Tom schnitten die Worte ins Herz, und er wagte nicht mehr, seiner Tante mit dieser Bitte zu kommen. Ein Tag nach dem anderen verging.

Da, an einem Aprilmorgen knarren die Treppenstufen unter eiligen Schritten. Tom horcht auf. „Hallo, hallo, Tom!“ ruft eine Jungenstimme von draußen. Die Tür wird aufgerissen. Jack, sein einziger Freund, stürmt herein und setzt sich gleich auf Toms Bett. Nachdem er sich ein wenig verschnauft hat, beginnt er feierlich: „Heute besuche ich dich zum letzten Mal, Tom. Ich verlasse London und fahre nach Südengland. Dort fange ich als Hotelboy an. - Sei nicht traurig, Tom! Ich habe dir auch etwas mitgebracht!“ Damit griff Jack in die Hosentasche und holte ein kleines Etwas heraus, das in braunes Papier eingehüllt war.

Tom wickelte es aus, und ein blanker Schilling rollte auf sein Bett. „Kauf dir dafür etwas, was du gerne magst, Tom,“ sagte Jack. „Oder soll ich dir etwas besorgen? Hast du einen Wunsch?“ - „Ja, kauf mir dafür eine Bibel, Jack!“ - „Eine Bibel?? Bist du denn nicht mehr ganz gescheit? Wie kommst du nur, darauf? Denkst du etwa, ich hätte meine Moneten für solch ein altmodisches dummes Buch zusammengehratzt?“

Tom sah seinen Freund mit ernsten bittenden Augen an. „Jack, du gehst weg von hier, ich habe dann niemand mehr, der mich besucht. Sieh, ich bin immer ganz allein. Ich möchte doch gerne wissen, wer dieser Jesus ist. Hast du mich nicht nach meinem Wunsch gefragt?“

„Eigentlich sollte ich ihn dir nicht erfüllen, denn ich will nicht schuld daran sein, wenn du überschnappst. Aber weil es für mich dein letzter Wunsch ist, will ich nicht so sein!“ Jack verabschiedete sich und ging. Es dauerte nicht lange, da erschien er wieder in der Dachkammer. „Hier hast du deinen Wälzer! Der Buchhändler hatte gerade noch so ein verstaubtes Exemplar in seinem Regal!“

Kaum hatte Jack die Tür wieder hinter sich geschlossen, da begann Tom zu lesen. Alles verstand er freilich nicht. Aber er fand Jesus darin. Das war ihm das Schönste, und das ergriff ihn. Tom forschte mit großem Eifer, daß er bald Bescheid wußte in seinem teuren Bibelbuch. Ja, er wußte nicht nur viel, sondern er glaubte auch an das, was die Heilige Schrift sagte. Alles, was er las, redete zu ihm, und Tom wurde von Herzen froh.

„Wie mach ich's nur, daß ich anderen Menschen weitersage, was ich in diesem Buch gefunden habe?“ fragte sich Tom. Er hatte verstanden: Das erwartet der Herr Jesus von mir. Aber er kam doch aus seinem Dachstübchen nicht heraus und sah keinen anderen Menschen als nur Tante Granny! „Lieber Herr Jesus“, betete er, „zeig du mir doch, wie ich es anfangen soll!“ Und der Herr zeigte es ihm.

Tom suchte in der ganzen Stube nach Papier. Und bald fand er hier und da ein Stückchen

So saß er denn in seinem Bett, schnitt Zettel und schrieb Bibelworte darauf. Dann faltete

er kleine Briefchen und schrieb als Anschrift: „An Vorübergehende“. Zum Glück hatte die eine Fensterscheibe ein kleines Loch. Da hindurch schob er seine geheimnisvolle Post. Lustig

flatterten Toms Botschaften hinunter auf die belebte Straße. Eins nach dem anderen schaukelte im Wind vor den Fußgängern her. Wie viele hatte Tom schon abgeschickt! Eine Antwort konnte er ja nicht erwarten, das wußte er. Dennoch wollte er beinahe den Mut verlieren. „Das liest ja doch keiner“, dachte Tom eines Tages verzagt. Jeden Morgen kommt der Straßenfeger und kehrt sie weg. Aber er hörte nicht auf, seine Zettel durch die Fensterscheibe zu schieben. Sogar Opfer brachte Tom für seine Mission. Er verzichtete auf seine spärliche Milch und erbat sich Papier von seiner Tante.

Eines Tages hörte er derbe Schritte auf der Treppe. Kommt da wohl ein Straßenkehrer, um sich über die Zettel zu beschweren? Energisch klopfte es an die Brettertür. „Herein“, stößt Tom ängstlich hervor, und in der Tür steht ein riesiger Mann. „Bist du der kleine Tom, der immer die Zettel aus dem Fenster wirft?“ Was sollte Tom sagen? Er mußte bekennen. Aber die erwartete Strafrede kam nicht. „Ich will mich bei dir bedanken, mein Junge!“ sagte der Fremde mit freundlicher Miene. „Durch dich habe ich den Weg zu Gott gefunden!“

Tom war starr vor Staunen.

Aber der Gast rückte einen Holzschemel an das Bett des Jungen und begann zu erzählen:

„Vor einiger Zeit ging ich an diesem Haus vorbei. Ich war verärgert. Es wollte etwas nicht klappen in meiner Viehwirtschaft. Wie ich so verdrießlich vor mich hinsah, merkte ich, daß etwas auf meinen Hut fiel. Ich dachte, es wäre ein Vogel gewesen. Ich nahm den Hut ab,

und da lag ein Zettel darauf. „An Vorübergehende“ hieß die Adresse. Ich faltete das Papier auseinander und las das Bibelwort: „Ich muß wirken die Werke des, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann!“ Mißmutig wie ich war, steckte ich den Zettel. in die Tasche.

Doch als ich dann im Zug saß, mußte ich immer wieder an dieses Bibelwort denken und es nochmal und nochmal lesen. Da begann es in mir zu reden und zu wirken. Schließlich konnte ich nicht mehr anders: Ich schenkte dem Herrn Jesus Christus mein Herz. Und jetzt bin ich gekommen und bitte dich, daß du mit mir betest!“

Der große Mann kniete vor dem Bett des Kindes nieder, und Tom betete laut. Der Fremde betete danach auch noch und dankte Gott mit großer Freude. Ehe er ging, sagte er: „Tom, du hast mir zum Besten verholfen! Nun will ich dir auch helfen. Möchtest du nicht in ein schönes Kinderheim? Dort hast du Freunde, gutes Essen und bessere Pflege!“

Tom überlegte. Das war freilich verlockend. Aber dann wußte er gleich, was er antworten sollte: „Ich danke Ihnen! Das wäre ja sehr schön, aber ich möchte lieber hierbleiben. Dort kann ich nicht mehr Zettel aus dem Fenster werfen. Und dann hat der Onkel Doktor auch gesagt, ich werde den Winter wohl nicht mehr überleben. Bald werde ich beim Herrn Jesus sein!“

„Jack, ich werde wenigstens dafür sorgen, daß dich täglich eine Pflegerin besucht und dir deine Milch bringt. Oder hast du sonst noch einen Wunsch?“ . - „Ja, wenn diese Pflegerin mir genügend Papier besorgen könnte?“ Beglückt fuhr der Mann nach Hause. Er war Gutsbesitzer und ließ eine Scheune zu einem großen Saal umbauen. Darin wurde nun Gottes Wort verkündigt.

Als der Winter kam, fielen keine Zettel mehr aus dem Fenster. Tom war daheim beim Herrn Jesus. Einen großen Schatz hatte er hinterlassen, das war seine Bibel, deren Ränder er mit vielen eigenen Gedanken beschrieben hatte. Der Sohn des Gutsbesitzers erbte sie und wurde dadurch zum Heiland geführt. Heute arbeitet er als Missionar in Afrika und verkündigt den Afrikanern den Herrn Jesus. So hat Toms Dienst reiche Frucht gebracht. Haben wir es nicht viel einfacher, wenn wir etwas für Jesus tun wollen, als solch ein armes, verkrüppeltes Kind?  (verfasser unbekannt)                                                                                         

 

 

In Windeln gewickelt

Behalten wird sie das Kind auf keinen Fall! - Mit diesem Entschluß hat sie an einem Maitage das Sprechzimmer der Ärztin verlassen. Unter dem gleichen Vorsatz auch ist sie vor Wochen in das Diakonissen-Krankenhaus gegangen, um sich zur Entbindung anzumelden. Jemand hat ihr verraten, die Kirche nähme Neugeborene, die ihren Müttern unerwünscht sind, an und sorge für Pflege und spätere Unterbringung. Das fromme Drum und Dran in solchem Hause müsse man freilich in Kauf nehmen. Seit einigen Stunden nun liegt sie in eben diesem Hause. Der vorwurfsvolle Blick der Diakonissen, den sie schon bei der Aufnahme erwartet hat, ist ihr bis jetzt nicht begegnet. Gähnend reckt sie sich unter der warmen Decke. Dann schaut sie durch das hohe Fenster den jagenden Wolken nach. Also hat man ihr sogar einen hübschen Fensterplatz gegönnt. Wie gütig!

Die beiden anderen Betten sind mit richtigen Ehefrauen belegt. Sie haben ihre Kinder schon und schlafen nun den Schlaf der Gerechten. Besonders der drüben an der Tür guckt die Wohlanständigkeit noch im Schlaf aus dem Gesicht. Und wie sehe ich dagegen aus? Sie fingert aus dem Beutel ihr Spiegelchen. Nicht übel! Nur die Fransen über der Stirn sind aus ihrer gepflegten Unordnung geraten. Bedächtig zupft sie daran und lächelt sich zufrieden zu. Keine Angst! Bei diesem Gesicht wird sich auch ein Mann zum Heiraten finden, sobald sie nur will. Schade zwar, daß sie den Meisterkurs verpaßt, der im Oktober begonnen hat. Aber auch damit eilt es nicht.

Nein, sie braucht sich nicht zu bedauern. Es wird alles weitergehen, wie es war, als wäre nichts gewesen. Die Kirche nimmt das Kind. Dies ist nun abgemacht. Gott sei Dank!

Leid tat ihr nur Karli. Er war drauf    und dran, sich scheiden zu lassen. Aber da hat sie ihm gehörig Bescheid gesagt. Eine Ehe will sie nicht kaputtmachen, wenigstens keine, an der Kinder hängen. Armer, dummer Karli! Ganz durcheinander hat sie ihn gebracht. Er tut ihr wirklich leid. Und leid tut ihr auch Tante Mami, nein, nicht „auch“, sondern viel mehr, ganz anders. Man darf gar nicht daran denken.

Wie sieht eigentlich das Wetter aus? Herrlich, so im Bett zu liegen und in die Wolken zu gucken! Der Mond kommt schon hervor, voll und rund - mein Gott, wirklich! - rund wie Tante Mamis Gesicht: mit dem Mittelscheitel über der Stirn und den Nudelhaaren hinter den Ohren; fehlt nur unter dem Kinn der blaue Wollschal. Hallo! Wo steckt denn das Taschentuch? Vielleicht hat sie es in den Morgenrock gesteckt. Übrigens kann man ja aufstehen und ein bißchen auf dem Gang herumbummeln.

Wütend zieht sie die Vorhänge zu. Dieser dämliche Mond! Nein, dämlich ist sie selber. Schließ­lich sieht er nur wie Tante Mami aus. Und von der soll mal einer sagen, sie hätte ein dämliches Gesicht! So ein gutes Gesicht gibt es überhaupt nicht wieder.

Der Gang wird gerade gebohnert. Vor dem Säuglingssaal will sie umkehren. Aber da tut sich die Tür auf, und zwei Schwesternschülerinnen schieben einen Rolltisch heraus, der mit einem Berg Windeln bepackt ist. Schnell wendet sie sich ab. Was ist denn nur los mit ihr? Windeln! Natürlich! Soll man ihr zuliebe die Säuglinge hier ohne Windeln liegenlassen?

Sie stützt sich auf das Fensterbrett. Da wartet wieder der Mond hinter den Zweigen und schaut sie an Tante Mami nickt ihr zu, „siehst du, Kindchen, das ist einmal für dich“, sagt sie und zieht aus der Dachbodennische etwas Verhülltes hervor, das auf vier hölzernen Rädern fährt. Und dann nehmen ihre Würstelfinger behutsam die Staubhülle ab, und ein Körbchen mit Windeln steht offen da, wie aus dem Schlaf gestört. „Siehst du, Kindchen“, flüstert Tante Mami, „das habe ich alles aufgehoben für dich. Zehn Jahre wartete ich und kriegte doch kein Kind. Da nahmen wir dich an. Dann starb Onkel Papi. Und seitdem habe ich nur dich. Siehst du, und wenn du einmal groß bist und hast einen guten Mann, und er schenkt dir ein Kind, dann bekommst du den Korb und die Windeln und die Jäckchen und die Gummiunterlage und alles. Denn für dich habe ich es nicht mehr gebraucht. Du warst schon sauber, als wir dich holten. Freust du dich?“
Nein, gefreut hat sie sich nicht. Das Herz hat ihr laut gepocht. Und Tante Mami sind die Tränen in den blauen Schal gelaufen. Sie hat der Tante einen Kuß gegeben, der salzig schmeckte, und ja gesagt. - Mein Gott, damals war sie fünfzehn Jahre. Sechs Jahre also ist es her. Im selben Jahr - es war das erste ihrer Lehrzeit im Damensalon- , da hat sie noch einmal vor dem Windelkerb gestanden, allein, mit den Fotos unter dem Hemd, die der Gehilfe ihr gab und die niemand sehen durfte. Sie hat sie in dem Windelkorb verstecken wollen. Aber ihre Hände haben ihr gezittert, als sie die Windeln aufdeckte, und ihr war, als wenn sie jemand tot mache, Tante Mami oder ein Kind, ein kleines. Da hat sie das Körbchen zugedeckt und die Bilder wieder mitgenommen und später verbrannt.

„Wollen sie nicht in ihr Zimmer gehen? Es ist zu kühl hier draußen!“Eine Schwester hat es ihr im Vorbeigehen zugerufen. Als sie ihr Zimmer betritt, wird der einen Mutter ihr Kind angelegt. Sie streift ihren Morgenrock ab und legt sich ins Bett.

Wenn nur erst alles vorüber wäre! Sicher kommen diese dummen Gedanken bloß von ihrem Zustand. Es läßt sich ja alles natürlich erklären. Nur nicht von Gefühlen unterkriegen. lassen! Fest bleiben! Behalten wird sie das Kind auf keinen Fall! Und wenn es das reine Wonnebaby wird - auf keinen Fall! Sie wird sich ihr Leben nicht verpfuschen lassen - auf keinen Fall. Sie ist jung und will etwas vom Leben heben - auf keinen Fall!

Und mag das Kind sie angucken wie Tante Mami - mit Augen und einem Mondgesicht wie Tante Mami - auf keinen Fall! Später hört sie ein Singen vor der Tür, aber sie nimmt es nicht auf. Gedankenlos ißt sie ihr Abendbrot. Nur schlafen! An nichts erinnert werden! Der neue Morgen bringt das Einerlei der Station. Schwestern kommen und gehen; eine Frau wischt den Fußboden; eine junge Ärztin fragt dieses und jenes, und man sagt „ja“ und „nein“ und denkt „Laß mich in Frieden!“

Jemand reicht ihr einen Brief, - ein Telegramm! Der Umschlag ist mehrfach beschrieben, korrigiert, nachgesandt! Sie reißt ihn auf. „Komme Heiligabend zu dir. Keine Umstände machen. Tante Mami!“

Immer wieder liest sie die Zeilen. Wenn Tante Mami wüßte, wo sie ist; was auf sie wartet! Sie darf es nicht erfahren - auf keinen Fall - auf keinen Fall! „Und wenn du einmal groß bist und hast einen guten Mann, und er schenkt dir ein Kind, dann…!“ Auf keinen Fall! Sie wirft sich den Morgenrock um und eilt die Treppe hinunter zur Aufnahme. „Ein Telegrammformular, bitte!“

Die Schwester gibt es ihr und einen Tinten-Stift dazu. „Besuch ausgeschlossen. Bin verreist. Brief folgt. Sei bitte nicht traurig, Steffi. Hier alles in Ordnung. Steffi!“ Schon nimmt die Schwester das Blatt entgegen, überfliegt es kurz und sagt, die Gebühr würde hier hinterlegt werden.

Steffi geht zur Tür und dreht sich noch einmal um. Aber die Schwester sieht ihr nicht nach; sie sitzt schon wieder an ihrem Karteikasten. Warum hat sie das Blatt nicht zurückgewiesen und gesagt, daß es doch eine Lüge ist? Nicht einmal ihr Blick verriet eine Frage oder gar ein Erschrecken. Umso besser! Man läßt sie in Ruhe. Besten Dank! Nun kann ja nichts schiefgehen.

Gegen Mittag setzen die Wehen ein. Ob das Telegramm schuld ist? Unsinn! Die Zeit ist ja schon fast überschritten. Im Kreißsaal begegnet sie dem Blick der Hebamme und erschrickt. Narkose ? Wenn es denn sein muß - Elf - zwölf - dreizehn - vierzehn - vierzehn - fünfzehn Mark und zwanzig - - zahlen! - Bitte, zahlen! - Kasse, bitte!“ Als sie aufwacht, liegt sie in ihrem Bett am Fenster. Ihre Nachbarin schläft. Sie richtet sich ein wenig auf.

„Hallo“, ruft sie leise hinüber zu der Frau an der Tür. „Ja, bitte?“ - „Was ist es denn? Ein Junge oder ein Mädchen?“ - „Ein Mädchen, wie ich hörte“, sagt die Frau. „So - ein Mädchen. Und hat die Schwester sonst nichts erzählt?“ - Nein“- „Aber wann kriege ich es denn zu sehen?“ - „Nun, sicher bald. Warten sie nur, bis die Schwester kommt. Dann wird man ihnen ihr Kind schon zeigen.“

Sie legt sich wieder zurück. Ein Mädchen, - das ist gut! Drei rosa Jäckchen liegen im Korb auf dem Boden. Unsinn! Sie behält es ja doch nicht. Es ist ja schon abgemacht. Sie sieht auf die Uhr ein Viertel nach sechs, „Wo bleibt denn das Abendbrot?“ fragt sie. „Abendbrot?“ lacht die andere. „Na, Sie sind gut! Es ist doch morgens! Übrigens haben wir heut Heiligabend.“

Heiligabend. Ob Tante Mami sehr traurig ist? - Ein Mädchen. Renate ist ein schöner Name. Wenn man sie fragt, wie es heißen soll. Wieso? Wird man sie denn fragen? Es gehört ihr doch gar nicht. Es ist ja schon abgemacht.

Die Schwester tritt mit dem Thermometer ein. „Guten Morgen°!“ Sie kommt zuerst zu ihr und winkt ihr mit dem Thermometer zu. „Ach, Schwester, sagen sie doch, warum ich in Narkose mußte. Bin ich gerissen?“ - „Nein, Fräulein. Es war nichts weiter. Fräulein Doktor wird es ihnen zur Visite sagen!“ -„Zur Visite? Kann ich vorher mein Kind sehen, Schwester?“ - „Nein“, antwortet die Schwester und öffnet schon die Tür. „Nein, die Neugeborenen müssen

doch auch versorgt werden!“

Nach dem Frühstück schläft sie wieder ein. Als sie erwacht, steht die Ärztin mit zwei Schwestern am ersten Bett. Endlich kommt man zu ihr. „Es war doch etwas schwierig“, sagt die Ärztin und lehnt sich an die Heizung. „Sie wollen das Kind nicht behalten?“ - „Nein. Aber sehen möchte ich es schon!“ Die Ärztin wendet sich der jüngeren Schwester zu. „Bringen sie das Kind, bitte!“ Sie zieht sich einen Stuhl ans Bett.

„Nun hören sie mir einmal ruhig zu“, bittet sie: „Geben sie sich keine Mühe, Fräulein Doktor! Ich nehme das Kind auf keinen Fall. Es ist schon abgemacht. Ich habe es nicht gewollt. Ich werde auch bezahlen!“

Geduldig wiederholt die Ärztin: „Bitte, jetzt lassen sie mich einmal sprechen. Sie werden das Kind nicht behalten. Ich weiß es. Es ist etwas anderes, was ich ihnen sagen muß. Gleich bekommen sie ihr Kind zu sehen. Nicht wahr, das wollten sie doch? Gut. Aber sie müssen es nicht sehen. Verstehen sie mich?“

Die Tür geht auf. Schnell winkt die Ärztin ab und wendet sich wieder der Mutter zu. Ein angstvoller Blick trifft. „Das Kind ist nicht gesund“", fährt die Ärztin fort und ergreift die Hand, die auf der Bettdecke hin und her irrt. „Das Kind hat eine Mißbildung“, sagt die Ärztin, eine Mißbildung der Mund- und Rachenhöhle. Aber beruhigen sie sich doch! Sie brauchen es nicht einmal zu sehen. Es wird ihnen auch nicht angelegt werden. Vorerst muß man es künstlich ernähren!“ - „Ich will es aber sehen“, verlangt die Mutter.

Die Stationsschwester, die am Fußende des Bettes steht, holt auf den Wink der Ärztin die andere Schwester herein. Man zeigt der Mutter das Kind. Sie preßt die Fäuste an die Schläfen und schluchzt auf. Mit zitternden Fingern streichelt sie über das Köpfchen und über die Stirn. Die Ärztin nickt der Schwester zu. Sie geht und trägt das Kind hinaus.

Das ist die Strafe, denkt sie, die Strafe! Aber sie läßt sich nicht bestrafen, auf keinen Fall - Wenn Tante Mami das wüßte! Doch sie weiß es nicht und wird es auch nie erfahren, auf keinen Fall! Nur, wenn sie hier wäre? Ob sie Vorwürfe machen würde? Ach nein, sie würde nur weinen und vielleicht das Kind nehmen wollen. Bestimmt!

Tante Mami würde das Kind nehmen. Aber nein, das könnte sie Tante Mami nicht antun, sie darf es nie und nimmer wissen! Auf keinen Fall! Und sie will auch das Kind nicht noch einmal sehen. Sie hat es gesehen, und nun Schluß! Es ist so abgemacht. Wenn sie nicht will, muß sie es nicht mehr sehen. Niemand kann sie dazu zwingen. Es ist nicht ihr Kind,. Jetzt ist alles vorbei und überstanden. Schlecht geträumt hat sie, weiter nichts. Ein paar Wochen weiter und sie steht wieder im Salon. Im Frühjahr meldet sie sich zum Meisterlehrgang, - Nicht einmal zu denken braucht sie an das Kind! „Bleiben Sie doch still liegen“, sagt die Frau vom Nebenbett. „Es schadet Ihnen, wenn sie sich immer so herumwerfen!“ Sie bemüht sich nun still zu liegen und an nichts zu denken.

Vom Gang her klingt ein Lied herein. Die Tür wird geöffnet. Mit brennenden Kerzen treten Schwestern und Schülerinnen ein und singen ein Weihnachtslied. Vom himmlischen Kind singen sie. Himmlisches Kind - denkt sie, und - Mißbildung der Mund- und Rachenhöhle. Die Schwestern gehen. Die Tür schließt sich. „Wollen sie nicht etwas lesen? Damit sie auf andere Gedanken kommen?“ fragt die Nachbarin und bietet ihr einen Stoß Zeitschriften an. - „Ja, danke!“

Die Nachtschwester tritt ein. Heut kommt also die Ablösung früher. Sie kennt die Nachtschwester schon. Ein. bißchen erinnert sie an Tante Mami. „Schwester Else, kann ich ein Schlafmittel haben?“ - „Versuchen sie erst einmal, so zu schlafen!“ - „Es wird nicht gehen!“ - „Mir tut es so leid“, sagt die Schwester Else und streicht ihr über das Haar, "um das Kind und um sie.!“ -„Um mich?“ fragt sie und lacht hart auf. „Tun sie doch nicht so, Schwester! Ihr denkt doch alle: das ist die gerechte Strafe für so eine, wie ich bin!“

Die Schwester setzt sich zu ihr. „Wer soll sie denn bestraft haben?“ fragt sie. „Ach, Schwester, machen sie keine Konfirmandenstunde mit mir! Sie wissen es ja selber, und sie glauben es wenigstens: euer Gott natürlich!“ - „Unser Gott? Der Gott der Diakonissen? - Ach, Kind, wenn es einen Gott gibt, so ist er wohl auch Ihr Gott!“ -„Richtig, Schwester: Wenn es einen gibt! Das ist es! Wenn es einen gibt, dann ist er nämlich auch ein Gott der Milchstraße, und da wird er sich gerade um eine kleine Friseuse kümmern!“

„Ja, doch!“ sagt die Schwester. „Um eine kleine Friseuse, gerade um die kümmert er sich, als sei sie sein einziges Kind!“- „Nein, Schwester! Wenn es einen Gott gibt, dann hat er mich in die Welt gesetzt und losrennen lassen wie aufgezogen. Aber gekümmert hat er sich um mich nicht. Jetzt hat es mich hingehauen. Aber ich stehe wieder auf. Darauf können sie sich verlassen! Ich stehe wieder auf auch ohne ihren Gott!“

 

Die Schwester sieht bekümmert vor sich hin, alt und müde Sie schüttelt den Kopf. „Das tut Gott nicht: losrennen lassen. Mit keinem Menschen tut er das. Jedem Kinde gibt er etwas mit, an das es sich halten kann, wenn die Versuchungen kommen!“ - „Schwester, wenn sie wüßten, was in einem Friseurladen los ist! Da kommen die Versuchungen gar nicht erst, Sie sitzen gleich drin, gucken aus jedem Spiegel, aus der Kasse, aus der Verkaufsvitrine!“

„Und eine Mutter haben sie nicht? - Auch keine Erinnerungen an irgendetwas Reines und Gutes? Ein liebes, kleines Geheimnis, an das sie sich hätten halten können?“ Trotzig schüttelt sie den Kopf. - „Du Lügnerin!“ schreit es in ihr. „Du hattest keine Mutter? War Tante Mami nicht mehr als eine Mütter?“

„Ach, Kind“, sagt die Schwester, „wenn es so um Sie steht, dann ist Gott selber ihnen so nah, wie kein Mensch es sein kann. Ich weiß schon, ihr jungen Leute wollt keine frommen Worte hören. Und auf eure Art habt ihr recht. Meint nur nicht, wir Älteren hätten nichts von euch gelernt oder wollten nichts von euch wissen! Aber glauben sie einer alten Schwestern Gott selber ist ihnen so nah, Kind, so nah, wie Windeln um ein Kleines!“ - „Windeln?“ fragt die junge Mutter. „Was hat denn Gott mit Windeln zu tun?“

Die Schwester ist aufgestanden und streicht ihre weiße Schürze glatt. „Viel hat er damit zu tun“, sagt sie. „Er hat selber in Windeln gelegen, ein Gott, in Windeln gewickelt. Wäre er das nicht, Kind, glauben sie, ich hätte es ausgehalten, über 40 Jahre Nachtschwester zu sein? Zu sehen, wie Menschen kommen und gehen, sterben und geboren werden?“ Sie öffnet die Fensterklappe. „Ich muß weiter. Aber wenn sie nicht schlafen können, klingen sie nur: Dann bringe ich ihnen eine Tablette. Gute Nacht!“

Lange liegt sie und rührt sich nicht. Der Wind bewegt die Vorhänge. „Windeln“, denkt sie, „ein Gott in Windeln. - Und ob ich eine Mutter hatte. Mein Gott, Tante Mami! Und ich habe getan, als hätte ich keine Mutter. - Und im Salon wollte ich nicht an Tante Mami denken, wenn ich Herrn bediente und wenn sie ihre Witze mit mir machten. - Windeln! - Ein kleines Geheimnis, etwas Reines, Gutes? Als hätte sie es gewußt, die alte Schwester. Die Windeln auf dem Boden. Ich hatte sie die Jahre hindurch. Aber ich wollte nicht an sie denken. - Gott ist um dich - hat sie gesagt - so nah wie Windeln um ein Kleines.

Mein Gott, ja, du warst um mich wie Windeln. Aber ich habe sie von mir gerissen, deine Windeln, Tante Mamis Hände und Blicke und ihre guten Worte. Es waren doch deine Windeln für mich. Und nun hast du mich hierher gelegt wie ein Kind, nicht wie eine Mutter in neue, reine Windeln, in die Hände eines Nachtschwester, einer Ärztin, in deine Windeln, Gott. Meine Windeln.

Aber mein Kind? Wo sind seine Windeln? Wenn es groß wird, mein Gott, es braucht doch viel mehr Windeln, deine Windeln, Menschenhände, starke, freundliche Hände, mein Gott! Es ist doch ein krankes Kind! Es muß doch eine Mutter haben, so nah wie Windeln. Mein Kind. Ich bin deine Mutter. Ich gebe dich nicht her. Auf keinen Fall! Ich bin deine Windel. Ich bin es und ich will es sein, sonst nichts. Eine Windel. Und Gott wird um dich sein - immer - um dich - um mich - um uns - eine Windel - der Gott in Windeln - in Windeln - in Windeln - -

Vor Mitternacht sieht die Nachtschwester herein. Leise tritt sie an das Bett am Fenster. Eine Weile bleibt sie stehen. Dann zieht sie der Schlafenden die Decke über die Schulter (Johannes Schöne..

 

 

Sonst hätte es keinen Frieden gegeben

[Junge sagt nicht, daß er von einer Kugel getroffen wurde, damit die Familien nicht wieder aufeinander losgehen]

In Montenegro, im Land der schwarzen Berge, lebte in alter Zeit ein Knabe namens Blascho

Brajowitsch, ein Junge mit großen, fast schwarzen Augen, der als einziges Kind der näheren und weiteren Umgebung lesen und schreiben konnte, weil auf seinen eigenen Wunsch ein Pope es ihm beigebracht hatte. Während die anderen Knaben seines Alters sich danach sehnten, so schnell wie möglich Gewehr und Schnauzbart eines Mannes zu verdienen, hatte Blascho nur den einen Wunsch: ein kluger Mann zu werden, wenn möglich, so klug wie der Fürstbischof.

Blaschos Vater Rade, ein Hüne von zwei Zentnern, der die Pistole und die Flinte liebte wie ein anderer seine Pfeifen, pflegte seinen Sohn „das Lamm“ zu nennen. Oft fragte er sich sorgenvoll: „Was wird aus ihm, wenn die Wölfe kommen?“ Der große starke Mann meinte mit den Wölfen nicht etwa die Türken, gegen die in den montenegrischen Bergen seit undenklichen Zeiten ein immerwährender Kleinkrieg geführt wurde. Er meinte vielmehr Männer des eigenen Volkes, Männer aus Stämmen, die mit seinem Stamm verfeindet waren.

Denn zu jener Zeit gab es in Montenegro die Blutrache noch, die sich wie eine unheilbare Krankheit fortschleppte von Geschlecht zu Geschlecht. Das Heldenlied vom kleinen Volk, das in seinen Bergen der türkischen Übermacht widerstand, war zugleich das Trauerlied eines unter sich in Zwist und Hader zerrissenen Volkes. Man erschoß und erschlug Männer aus anderen Stämmen, weil jene zuvor Männer des eigenen Stammes umgebracht hatten. Mord zeugte Mord in einer Kette ohne Ende.

Da es nun als schimpflich galt, an Frauen und Kindern Rache zu üben, da nur ein erschlagener Mann der Blutrache Genüge tat, war es eine männermordende Zeit. Blaschos Mutter und seine beiden Schwestern unterbrachen ängstlich Gespräche oder Arbeit, wenn sie in den Bergen einen Schuß dröhnen hörten; denn es konnte sein, daß statt eines Bären oder Hasen Rade, der Mann und Vater, getroffen war.

Der Knabe Blascho hatte anfangs wie die Frauen gezittert, wenn das Echo eines Schusses von den Felswänden herübergeworfen worden war. Aber mit zunehmendem Alter und mit dem Fortschritt, den er im Leben und Schreiben machte, hatte die Angst um den Vater nachgelassen. Er hatte erkannt, daß sein Vater zwar wild und rasend wie ein Stier sein konnte, aber zugleich von füchsicher Vorsicht war: Er bangte nicht mehr um des Vaters Leben. Stattdessen machte er sich von Jahr zu Jahr mehr Gedanken über die Männer, die mit Pistolen und Flinten rächend durch das Gebirge zogen und Haus, Feld und Kinder den Frauen überließen.

 

Gewöhnlich lag er in seinem weißwollenen Hirtenmantel mit den schwarzen Säumen unter dem Granatapfelbaum im Gras und hatte die Bibel bei sich, das einzige Buch, das es im Hause gab. Blascho hatte in der Bibel Sätze gelesen, die er noch nie aus montenegrischem Munde gehört hatte, nicht einmal aus dem Munde des Fürstbischofs. Er hielt diese Sätze deshalb für Geheimnisse, die man nicht aussprechen durfte. In ihnen war die Rede davon, daß man seinen Feinden vergeben, ja, daß man sie sogar lieben solle: Es war die Rede von den Friedfertigen, die selig sind, und von denen, die in das Himmelreich kommen, wenn sie nur wie die Kinder werden,

Wenn Blascho, im Grase liegend, hinaufsah in das Grün des Granatapfelbaumes, dessen Früchte sich im steigenden Jahr langsam röteten, dann dachte er oft an den lustigen Onkel Peter, den Bruder seiner Mutter, der eines sonnigen Sonntag morgens schreiend und wie ein Betrunkener schwankend unter diesen Baum getaumelt war. Zwischen den Fingern seiner Hände, die er über dem Herzen gehalten hatte, war ein Strom Blut hervorgequollen und hatte Wams und Hose besudelt. Hier unter diesem Baum war Onkel Petar vornüber ins Gras gestürzt. Hier hatte er gerufen: „Rächt mich! Es waren ...!“ Die Stimme war gebrochen, ehe Onkel Petar seine Mörder genannt hatte, und er war gestorben, ehe die Frauen aus dem Haus gekommen waren.

Damals hatte den Knaben Blascho ein heiliger Zorn: gepackt. Wer die Mörder waren, hatte er gewußt. Auch wenn Onkel Peter den Namen nicht mehr hatte aussprechen können. Es konnten nur die Djuranowitschi gewesen sein, mit deren Stamm sein eigener Stamm in Blutsfehde lag.

Angesichts des toten Onkels hatte Blascho geschworen, später, wenn er Gewehr und Schnauzbart besaß, das Blut Onkel Petars mit Blut zu vergelten. Aber inzwischen war der Mörder gerichtet und der Tote gerächt. Blaschos eigener Vater hatte den Mörder erstochen,

als er ihm oben im Gebirge in einem Wald begegnet war. Dafür hatten die Djuranowitschi den jüngsten Bruder des Vaters erschlagen, den schönen Onkel Leka mit den schmalen Händen.

Nun war es nicht mehr Onkel Peter, sondern Onkel Leka, der gerächt werden mußte. Die blutige Fehde ging weiter ohne Hoffnung auf ein Ende, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Mann um Manns

Blascho, der Knabe, dachte jetzt mit Schaudern daran, daß er vielleicht eines Tages den kleinen Ivo erschlagen oder erschießen müßte. Ivo, mit dem er zusammen Forellen gegriffen hatte, ehe er erfuhr, daß Ivo zu den Djuranowitschi gehörte, mit denen sein Stamm in Blutsfehde lag.

Blascho fand keinen Sinn mehr in dem blutigen Ringelspiel. Er dachte an die geheimnisvollen Sätze in der Bibel, er träumte von einem Reich des Friedens. Er wollte nicht mitspielen in diesem Karussell der Rache. Deshalb schoß ihm vor freudiger Bestürzung wahrhaftig das Blut in den Kopf, als sein Vater eines Tages erklärte, an folgenden Freitag werde zwischen den beiden feindlichen Stämmen, den Djuranowitschi und den Brajowitschi, seinem eigenen Stamm, eine Verhandlung stattfinden, um die Blutrache zu beenden.

„Was ist den geschehen, Vater?“ fragte Blascho in atemloser Verwunderung. „Dein Großonkel Krso ist von einem Djuranowitsch erschossen worden. Ich hätte ihn noch am selben Tag rächen können …!“- „Aber du hast es nicht getan?“ unterbrach Blascho den Vater. „Nein, ich habe es nicht getan. Der Bruder des dreimal verfluchten Mörders, Hazmi, der den türkischen Glauben und einen türkischen Namen angenommen hat, küßte mir den Schuh und bat um Verzeihung und um Frieden zwischen unseren Häusern!“

„Und du hast Frieden gemacht!“ rief Blascho freudig erregt. „Nein, mein Sohn. Das habe ich nicht. Wie kann ich, ein einzelner, für das ganze Haus den Frieden schließen. Ich habe nur nachgezählt, wie viele Männer wir und die Djuranowitschi noch haben. Und ich habe festgestellt, daß unsere beiden Häuser bald ohne Stammhalter: sein werden, wenn die Fehde nicht aufhört. Deshalb müssen wir auf die Rache verzichten und Frieden machen. Ob es uns paßt oder nicht. Freitag ist die Verhandlung. Du führst mein Pferd!“ „Gern, Vater“, sagte Blascho. Und wieder schoß ihm Röte ins Gesicht.

Die Verhandlung fand auf einer Wiese statt, unterhalb einer schroffen Felswand. Es war gegen Mittag, Die Sonne stand hoch. Die Luft war heiß und trocken. Wie üblich kamen alle zur Verhandlung: die Frauen in Schwarz; die Kinder hell gekleidet, die Männer bunt und in bestickten Wämsern, manche mit zwei Pistolen in den Schärpen, Jede Familie erschien in der Ordnung, die die Sitte vorschrieb: Der Hausherr ritt, der älteste Sohn führte das Pferd, die übrige Familie folgte zu Fuß,

Widerwillig und fast als letzter kam so auch der hünenhafte Rade mit seiner Familie an. Hoch aufgerichtet saß er auf dem schwarzen Hengst, den Blascho führte: Bei den Brajowitschi, die links lagerten und deren Ältester er jetzt war, ließ er halten. Behend trotz seiner mehr als fünfzig Jahre sprang er vom Pferd und setzte sich auf einen Feldstein, den ein junger Mann bei seiner Ankunft wortlos geräumt hatte. Noch im Sitzen überragte er alle anderen Brajo­witschi.

Nach einem kurzen Gruß murmelte er mit einem Blick auf die Djuranowitschi, die auf der anderen Wiesenseite saßen: „Ich wünsche, sie führen alle zur Hölle!“ - „Dann fahren wir mit, Rade“, sagte ruhig ein alter Hirte, der unverheiratet und kinderlos und daher ohne Stimme im Rat war. Rade entgegnete ihm: „Ja, wir fahren mit zur Hölle, wenn die Fehde weitergeht. Deshalb sind wir ja hier. Gott sei's geklagt!“

Als die Verhandlung, die zwischen den verheirateten Männern geführt wurde, begann, machte Rade sich rasch zum Wortführer seines Hauses, und bald holte man ihn als Verhandlungsführer in die Mitte der Wiese.

Blascho sah, als sein Vater gerade zur Wiesenmitte schritt, zufällig Ivo, seinen einstigen Spielgefährten, auf der gegenüberliegenden Seite zwischen den Djuranowitschi sitzen und winkte ihm zu. Ivo machte große Augen, weil er entweder Blascho nicht gleich wiedererkannte oder weil der Gruß aus dem feindlichen Lager ihn überraschte. Dann aber winkte er zurück. Zwei Knaben schlossen Frieden, als die erwachsenen Männer noch weit von einem Friedensschluß entfernt waren.

Beide Häuser klagten noch um einen Toten, als man um Frieden verhandelte, denn dem Mord an Blaschos Onkel Krso war der Mord an einem Djuranowitsch vorausgegangen. So war für eine Verhandlung, die Vernunft und Mäßigung regierten, die Zeit nicht eben günstig. Schmerz und Trauer um die Toten waren noch frisch. Und der Zorn auf die Mörder, mühsam unterdrückt, konnte jeden Augenblick ausbrechen wie ein Stauwasser, das sein Wehr sprengt.

Doch Blaschos Vater Rade hielt, weil er den eigenen Zorn gemeistert hatte, einstweilen auch den Zorn der anderen im Zaum.

Als wieder und wieder Klagen um Väter, Männer oder Brüder laut wurden, als beide Seite gar anfingen, die Toten gegeneinander aufzurechnen, hob er die Hände, brachte auf beiden Seiten die Ankläger zum Schweigen und rief: „Wir sind hier nicht zusammengekommen, um Tote zu zählen und neuen Zorn zu wecken. Wir sind zu­sam­mengekommen, damit unsere Häuser nicht verderben wie ein Acker ohne Frucht. Seht euch doch um! Wie viele Frauen sind ohne Männer? Wie viele Kinder ohne Väter? Es gibt auf beiden Seiten genügend Gewehre und genügend sichere Hände, um auch die letzten Frauen noch zu Witwen, auch die letzten Kinder noch zu Waisen zu machen. Wir wollen nicht aus Angst und Schwäche Frieden schließen, sondern aus Überlegung und Vernunft. Wenn das Blut der Vergangenheit wieder über uns kommt, wenn wir mit den Gewehren statt mit Worten reden, wird es für beide Seiten keine Zukunft geben! Für keinen Djuranowitsch! Für keinen Brajowitsch! Dann sterben unsere Häuser aus, und letzten des Stammes werden zahnlose Witwen sein, die ihre Männer und Väter verfluchen bis ins letzte Glied!“

Blascho hatte, als der Vater redete, an dessen Lippen gehangen wie sonst nur an den Lippe des Fürstbischofs, wenn der an hohen Feiertagen predigte. Von der Vernunft als Lenkerin der Taten hatte er den Vater noch nie reden hören. Ihm war, als sprenge der Vater den fürchterlichen Ring der Blutrache, in den sie alle eingeschlossen waren. Er hätte aufspringen und seinen Vater umarmen mögen. Aber in dieser Welt der stolzen Männer hätte er sich damit nur lächerlich gemacht.

Es waren im übrigens nicht wenige unter den Versammelten, die Rade für die Rede dankbar waren. Als Rade die offenen Hände beiden Seiten hinhielt und ausrief: „Wer für den Frieden ist, der stehe auf!“ da sprangen viele der Versammelten sogleich auf die Beine, und nach und nach erhoben sich alle anderen, bis vor der Felswand wie ein ungemähtes Feld Kopf an Kopf die Mitglieder der beiden Häuser standen. „So sei denn Frieden!“ rief Rade mit erhobenen Händen.

Aber bevor er beim Senken der Hände das Kreuz schlagen konnte, schrie aus dem Lager der Djuranowitschi die alte Arija, die Mutter eines jüngst Erschlagenen: „Nein! Es wird kein Friede, ehe mein Sohn gerächt ist!“

„Aber  ist gerächt, Mutter!“ sagte ihr jüngster Sohn, der neben der immer noch am Boden Hockenden stand. „Ist er gerächt, wenn sein Mörder lebt?“ kreischte die Alte. „Ich kenne seinen Mörder. Dort steht er!“ Sie stand auf und zeigte auf einen jungen Mann im Lager der Brajowitschi. Dann hockte sie sich wieder hin und rief, Hohn auf dem faltigen Ziegengesicht, ihrem Sohn zu: „Ein Feigling, wer seinen Bruder nicht rächt! Ein Hundsfott, wer den Tod mehr fürchtet als die Schande!“

Die ganze Versammlung stand noch starr nach diesem plötzlichen Ausbruch der Alten, als der Sohn Andja blitzschnell die Pistole zog, anlegte, ohne lange zu zielen, und abdrückte. Der Knall des Schusses wurde von der Felswand zurück geworfen. Aber dar Aufschrei der Menge überdröhnte ihn. Hände fuhren an die Pistolen, Kinder weinten, Frauen packten die Hände ihrer Männer, um sie am Schießen zu hindern,

Ein Augenblick hätte genügt, den kaum gewonnenen Frieden wieder in blutigste Fehde zu verwandeln, wenn nicht Rade abermals die Arme hochgeworfen und - sich gegen seine eigenen Leute wendend - gebrüht hätte: „Wer ist getroffen?“ Die Frage hatte den beginnenden Tumult überdröhnt und war verstanden worden. Jetzt wurde es plötzlich still, weil jedermann auf Antwort wartete. Aber es kam keine Antwort. Die Stille wurde so tief, daß man aus der Ferne ein Schafblöken hörte,

Da wandte sich Rade den Djuranowitschi zu und sagte: „Wäre einer der Unseren getroffen worden, so lebte auch dein jüngster Sohn nicht mehr, Andja. Willst du, daß es so weitergeht? Willst du niemals Enkelkinder in Schlaf singen? Willst du ohne Nachkommenschaft sterben, als morscher Baumstumpf, der kein Blatt mehr treibt? Dein Sohn ist kein Feigling. Wir alle wissen es. Du hast ihm Krieg befohlen, und er hat geschossen. Nun befiehl ihm den Frieden. Steh auf!“

Mit verschlossenem Gesicht, in dem die kleinen Augen mißtrauisch die schweigend um sie versammelten Leute musterten, erhob die alte Frau sich ganz langsam aus ihrer Kauerstellung, Ihr Mund war zusammengepreßt. Sie sprach kein Wort. Aber sie stand auf. Als letzte. Nun wiederholte Rade, die offenen Handflächen den beiden Lagern hinhaltend: „So sei denn Friede!“ Dann schlug er langsam das Kreuz Der Frieden war geschlossen. Einige der Versammelten setzten sich wieder. Andere fingen stehend Gespräche an. Viele gingen hin und her, und auch von einem Lager zum anderen gab es Bewegung.

Die alte Andja brach, ohne mit ihrem Sohn ein Wort zu wechseln, als erste auf. Ihr folgten bald andere, die daheim bei Schnaps oder Wein den ereignisreichen Tag noch einmal besprechen wollten.

Die Familien, die noch Väter hatten, brachen in der vorgeschriebenen Ordnung auf: Der Hausherr ritt, der älteste Sohn führte das Pferd. Die übrige Familie folgte zu Fuß. In dieser Reihenfolge wollte auch Rade mit seiner Familie aufbrechen. Er rief seinen Sohn Blascho, daß er das Pferd übernehme. Aber der Junge antwortete: „Ich kann nicht, Vater, du mußt mich aufsitzen lassen!“

„Wie?“ Rade fuhr herum und sah erst jetzt seinen Sohn an, der ungewöhnlich blaß und nach vorn gekrümmt im Grase saß. „Was ist denn? Ist dir nicht gut?“ fragte er ungeduldig. Der große Mann haßte Krankheiten, bei anderen ebenso wie bei sich selbst. Aber der Junge sah wirklich schlecht aus. Das Gesicht war blutleer. Die Augen waren fiebrig.

„Was ist denn?“ wiederholte Rade. Diesmal stellte er die Frage weniger barsch. Er beugte sich sogar herab und legte eine Hand auf die Stirn des Knaben. Sie glühte. Blascho fieberte. Jetzt wurde Rade unruhig. „Was ist denn geschehen?“ fragte er zum drittenmal.

Da schlug sein Sohn den Hirtenmantel ein wenig zurück, und Rade sah, daß der Knabe unter dem Mantel seine Hand auf eine Wunde hielt. Die Finger und das Leinenhemd waren blutverschmiert. Rade richtete sich wieder auf, sah mit großen Augen und halboffenem Mund auf seinen Sohn nieder und fragte: „Bist du etwa ...?“- „Ja“, sagte Blascho. „Ich bin getroffen worden!“ Er schloß den Mantel wieder über seiner Wunde und fügte hinzu: „Aber es hat niemand gemerkt. Du brauchst es keinem zu sagen. Bring mich weg. Der Militärdoktor

von Podgoritza macht mich sicher schnell gesund!°“ Der Vater stand fassungslos vor seinem Sohn. Er hatte das dumpfe Gefühl, daß dieser Junge im Grase ein Held sei. Aber Helden, die leiden und schweigen, kannte er nicht. Zorn auf diesen Dulder und Schweiger wuchs in seinem Bauch. Und Zorn auf den Schützen, auf den Sohn der alten Andja. Und Zorn auf die Djuranowitschi. Und Zorn auf diesen Frieden, der ihn hinderte, das Gewehr zu nehmen und Rache zu üben für sein Kind, das getroffen war. Mit ungewöhnlich rauher Stimme fragte er: „Warum sagst du mir erst jetzt, daß du getroffen bist?“ - „Sonst hätte es keinen Frieden gegeben, Vater!“ - „Ein Frieden, der mit dem Blut eines Kindes erkauft ist, Blascho, ist das ein Frieden?“

„Der Militärarzt kuriert mich bestimmt, Vater. Und mein bißchen Blut spart so viel anderes Blut!“ Plötzlich merkte Rade,. daß der Junge, der schwer atmete, Schmerzen hatte und einer Ohnmacht nahe war. Er merkte, daß der Militärarzt jetzt wichtiger war als Ehre, Rache, Zorn und lange Reden. Ohne ein weiteres Wort hob er Blascho auf, setzte ihn in den Sattel seines Pferdes und fragte: „Kannst du dich mit, einer Hand halten?“ Blascho nickte.

Da rief Rade die Frauen heran, die sich in einiger Entfernung mit Nachbarinnen unterhielten, -und sagte zu ihnen: „Wir gehen. Achtet mir auf den Jungen. Er muß zum Doktor!“

Ehe die Frauen Zeit zu Fragen hatten, griff Rade in den Zaum des Hengstes und führte ihn von der Wiese. Wer noch auf dem Versammlungsplatz stand, sah mit Staunen, daß etwas Unerhörtes geschah: Der Älteste eines Hauses, ein großer stolzer Krieger vor dem Herrn, führte für seinen Sohn das Pferd, für einen Knaben, dem noch kein Flaum aus Kinn und Wangen sproß.

Ein Djuranowitsch, der sich für witzig hielt, rief: „Glaubst du, im Frieden müssen die Wölfe die Lämmer hüten, Rade?“ Rade antwortete im Weitergehen: „Dieses Lamm hat euren Frieden mit seinem Blut bezahlt, Djuranowitsch, Andjas Sohn hat ihn getroffen. Er aber hat keinen Laut von sich gegeben, damit du deinen faulen Frieden hast!“

Jetzt, da sie wußten, was geschehen war, schriee die drei Frauen auf. Die Männer ringsum aber betrachteten staunend oder bewundernd den Knaben auf dem Pferd. Als der alte kinderlose Hirte die Kappe vom Kopf zog, taten alle Männer es ihm nach       (James Krüss).

 

 

Der Sprung ins Ungewisse

[Falsche und echte Mutprobe]

Von außen fiel kein Licht in den Raum. Im Flackerschein der auf  dem Boden angeklebten Kerzen lastete das Gewölbe des Kellers über den Mitgliedern der Bande und über Martin. Der Straßenlärm, gefiltert durch die meterdicken Mauern der ehemaligen Brauerei, drang dumpf. herein wie das Tosen eines unterirdischen Stroms....

Martin stand, die Hände im Rücken verkrampft, an der Wand - er fühlte die Feuchtigkeit des Salpeters an seinen Händen - und starrte in das Gesicht des Boß, das kalkweiß, von Schatten überspült, auf ihn zukam. Er grub die Fingernägel in seine Handflächen: Nein, er würde es nicht sagen. Wieder kam die Stimme des Boß, lauernd, erregt: „Nun, warum bist du nicht erschienen?“ Und drohend, heiser: „Ich frage zum letzten Mal!“

Martin schwieg. Er konnte, durfte Mutter nicht erwähnen. Alles konnte er sagen, nur das nicht. Er wußte, was sie von ihm hielten, seit der Turnstunde damals... Oh, er hatte kommen wollen! Er hatte ihnen beweisen wollen, daß er Mut hatte! Seit damals hatte er auf diese Gelegenheit gewartet. Gestern hätten sie ihn aufgenommen. Er hätte bestanden. Aber Mutter - er konnte ihr nicht widersprechen, seit er das wußte.... („Wissen Sie schon“, sagt Frau Strelow im Treppenhaus, „mit Frau Neumann? Es ist unheilbar!“ Und Frau Jansen sprach es aus: „Krebs“?). Jetzt wußten es alle im Haus. Und Vater wußte es und Martin. Nur Mutter wußte es nicht.

Er sah sie auf der Couch liegen unter der Decke mit den braunen Mäandern: „Martin, du mußt mir helfen heute Nachmittag: spülen, einkaufen.... Fine ist nicht gekommen, und Dr. Stocken kommt heute Abend zu Besuch!" Mutter verstand sonst alles. Aber wenn er gesagt hätte: „Laß mich gehn, bitte! Sie wollen mich in den Klub aufnehmen“, so hätte sie als erstes gefragt:. „Ist dieser Conny dabei? Du weißt, ich will nicht, daß du mit ihm verkehrst!“ Und Conny war der Boß..

„Schön, du willst nicht“, sagte der Boß, „dann also Tortur. He, G 3 und G 4 Tortur, erster Grad!“ Paul und Gerd, die unter ihren Kennziffern Angerufenen, sprangen auf, packten Martin an den Handgelenken, stießen ihn mit den Knien gegen die Oberschenkel, dreimal, viermal, fünfmal mit aller Kraft. Als sie ihn losließen, waren seine Beine taub, er mußte sich gegen die Wand lehnen. Der Boß grinste. Wieder kam seine Stimme, in verhohlenem Triumph: „Nun warum bist du nicht gekommen?“

Martin biß sich auf die Lippen und gab keine Antwort. Er kannte ihr Einstellung. Ein Gangster, der Geschirr spülte, mit dem Einkaufsnetz über die Straße ging war unmöglich. Er konnte vielleicht Zeitungen austragen, morgens, vor der Schule, um Geld zu machen,.

„Tortur, zweiter Grad!“ befahl der Boß. „G 5 und G 6!“ Während Paul und Gerd Martins Handgelenke umklammerten, schnürten Gerold und Hans mit einem Riemen seine Füße zusammen. Dann faßten sie sein Haar über den Schläfen zwischen Daumen und Zeigefinger und zogen nach oben.

Martin keuchte und stellte sich auf die Zehen, um den .Schmerz: abzufangen. Der Schmerz war betäubend. Und es gab kein Entkommen. Sie hatten ihn gepackt nach der Schule, wortlos, und mitgezerrt an ihren Versammlungsort. Er war der Schwächste in der Klasse. Mit keinem von ihnen hätte er es aufnehmen können. Aber hatten sie darum ein Recht, ihn zu quälen, bei jeder Gelegenheit? Sie sollten ihn in Ruhe lassen!.

Draußen schien jetzt die Sonne. Wenn er in seinem Zimmer war, froh, allein zu sein, sah er vom Fenster aus hinab auf den Schwanenspiegel, auf die blinkende, grünblaue Wasserfläche mit den dahingleitenden dickbäuchigen Ruderboten das Terrassencafés am Ufer mit, seinen weinroten, orangefarbenen, violetten Sonnenschirmen, das Silberschimmern der Pappeln. Tassengeklapper, Lachen, Zurufe der Ruderer, das Knirschen der Riemen in den verrosteten Lagern schallten über die Wipfel herauf, der Duft der Linden wehte herein, und am Abend, wenn sie Lampions anzündeten....

„Erscheinen unter allen Umständen! stand auf unsrer Nachricht“, sagte der Boß; und, mit zusammengekniffenen Augen: „Ich verlange absoluten Gehorsam! Schlechter Start für dich, mein Lieber!“

Martin hatte den Zettel noch in der Tasche: ein Blatt aua einem Rechenheft gerissen, das sie ihm in der der Mathematikstunde zugeschoben hatten, mit der Aufschrift: „Betr: Ihr Gesuch im Aufnahme. Erscheinen Sie heute Nachmittag um drei Uhr auf dem Trümmergrundstück Cassisusstraße 5 zwecks Ablegung der Mutprobe. Erscheinen pünktlich und unter allen Umständen! Die ‚Tiger der Nacht‘', gez. Conny Smeets (Boß).“ Darunter mit Tinte, zum Rand hin verwischt, der Daumenabdruck des Boß, und das Ganze umrahmt von einem Fries von Totenköpfen und gekreuzten Knochen. Das. Wert „Nachmittag“ in der Verbindung mit „heute“ war großgeschrieben.           

„Ich konnte nicht kommen!“ stieß Martin hervor - der Schmerz an den Schläfen war unerträglich - „ich konnte einfach nicht!“ - „Aufhören,“ sagte der Boß. Die andern traten von Martin zurück. „Du hast Schiß gehabt. Du bist ein Feigling“, sagte der Boß. „Denk, was du willst!“ sagte Martin. Er wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn, der Schmerz hatte ihm den Schweiß aus den Poren getrieben. - Ob sie ihn jetzt gehen ließen?

„Schön“, sagte der Boß, „ich geb dir noch eine Chance!“ Er holte Zigaretten und Streichhölzer aus der Hosentasche, steckte sich eine Zigarette an und sagte grinsend: „Wir werden die Mutprobe nachholen.- Jetzt!“ Marti atmete tief ein. Er wußte nicht, was sie mit ihm vorhatten. Aber es war eine Chance. Er würde die Probe bestehen und sie würden keinen Grund haben, ihn weiter zu quälen.

„Alles herkommen!“ befahl der Boß, und, zu Martin gewandt: „Du bleibst da stehen!“ Während die Tiger sich um den Boß scharten und tuschelten, stand Martin allein und wartete. Nein, sie würden es ihm nicht leicht machen. Aber er wollte es ihnen zeigen! Endlich würden sie ihn anerkennen. Es hatte alles damit angefangen, daß er Conny für die Berichtigung sein Deutschheft geliehen hatte, das Heft, in dem sein Gedicht lag, das er in den Ferien bei Onkel Bernhard gemacht hatte, an dem Abend, als Mutter spät in der Dunkelheit mit ihm durch die Felder gegangen war. Die Kühe, die wiederkäuend auf der Weide lagen, sprangen auf, als sie lautlos auf dem hellschimmernden, sandigen Weg herankamen, galoppierten mit dumpfem Hufschlag schwerfällig neben ihnen her, den Zaun entlang, und als sie schon weit weg waren, standen sie noch auf der Hügelkuppe am Ende der Weide, schwarz vor dem silbergrauen Nachthimmel, unbeweglich, und sahen ihnen nach....

Conny hatte das Gedicht gefunden. In der Pause hatten sie ihn umlagert, Kopf an Kopf, eine johlende, brüllende Menge. „Dichter! Dichter!“ Von der Ecke des Schulhofs zur anderen hatten sie ihn verfolgt, die aus der Parallelklasse waren hinzugekommen, es war ein Schauspiel ohnegleichen. Beim Hinaufgehen zerrten sie ihn vor das Schwarze Brett. Da hing sein Gedicht, sein Nachtlied, zwischen der Ankündigung des Elternsprechtags und den Ergebnissen des Sportfestes....

Die Stimme des Boß riß ihn jäh aus seinen Gedanken. „Die Mutprobe lautet: Der Sprung ins Ungewisse!“ Martin fühlte sein Herz schlagen. Er wußte nicht, was sie ausgeheckt hatten. Man mußte anders sein, wenn man mit ihnen auskommen wollte. Man durfte nicht dichten. Was verstanden sie von Stimmungen, Farben, Klängen, Gerüchen....? Das verstand nur Mutter. Aber sie waren stärker. Man mußte sich gut mit ihnen stellen.

Rolf verband ihm die Augen mit einem Fetzen Sackleinen in der Dunkelheit, die ihn jäh umgab, hörte er den Befehl des Boß: „Los! Tragen!“ Bald hab ich's geschafft, bald, dachte er. Aber zugleich stieg Angst in ihm auf. Jemand packte ihn unter den Armen, ein anderer faßte. seine Füße, sie trugen ihn. Er lauschte. Nichts war zu hören als das Keuchen der Träger, das dumpfe Tosen des Straßenlärms von ferne und das Geräusch von Schritten, vieler Schritte, der Schritte der „Tiger“, die das Geleit gaben.

Es ging eine Treppe hinauf, der Straßenlärm schien näher zu kommen, die Schwärze vor seinen Augen hellte sich auf, sie mußten im Tageslicht sein jetzt. Die Schritte hallten wider, Sand knirschte unter den Schuhsohlen, das mußte der Betonboden der Maschinenhalle sein, in die sie aus dem Keller heraufgestiegen waren. Wieder wurde es heller. Ein warmes. Rot drang durch das Tuch auf ihn ein, Sonnenlicht. Er      spürte es auf seinen Armen und Beinen.-Vogelruf ringsum, Autohupen,        nur deutlich erkennbar aus der Vielfalt der verworren aus der Ferne hereindringenden Geräusche der Stadt,. Kollern von Steinen, Schutt, nun wußte er nicht mehr, wo er war. Das Licht verblaßte wieder. Eine Eisentreppe erklang, ein Treppenabsatz, Beton, wieder Eisenstufen, die Schritte der andern waren; nicht mehr zu hören. Rot flutete aufs Neue über seine Augen, endlich wurde er abgesetzt.

Man stützte ihn, bis er stand, faßte ihn an den Schultern, drehte ihn in eine bestimmte Richtung. Von irgendwoher kam die Stimme des Boß: „So! Stehenbleiben! Nicht von der Stelle, rühren, ehe ich es sage! Aufgepaßt! Einen halben Meter vor dir ist ein Abgrund. Du weißt nicht, wie tief. Verfolger sind hinter dir. Der Sprung ins Ungewisse ist deine einzige Rettung. Ich zähle bis drei. Bei drei' springst du! Verstanden?“

Martin nickte. Er spürte, wie sein Magen sich zusammenkrampfte, es war das gleiche Gefühl wie damals in der Turnstunde, als er aufgestemmt am Reck hin, diese nicht endenwollenden Sekunden lang, die Ringe, im Rücken, die weißgekalkten Wände der Halle ringsum, die Decke über sich, behangen mit leise schwingenden Ringen - Barren, Pferde, Böcke in den Ecken, Turnerinstrumente, eigens erfunden, ihn zu quälen. „Überschlag!“ befahl Dr. Hölzel. Martin zögerte und blickte starr geradeaus. Nun waren schon alle aufmerksam geworden. Er spürte ihre Blicke im Rücken, gleich würden sie lachen. - Warum mußte der Mensch Haltungen einnehmen, in denen er mit dem Kopf nach unten hing? Es gab keinen erklärbaren Grund dafür. Irgendjemand hatte es ausprobiert, seitdem mußten es alle können.

Und alle konnten es, außer Martin. Es war ihm zuwider. Jedesmal wurde ihm fast schlecht vor Angst. Seine Hände schwitzten und klebten am Eisen der Stange. Dr. Hölzel faßte ihn an den Füßen. „Los! Einfach kippen lassen!" Plötzlich kam der Boden, die Kokosmatte auf ihn zu, die rückwärtige Wand war auf einmal vor ihm, durchfuhr blitzschnell sein Blickfeld, und schwach, halb unterdrückt, kam sein Schrei: „Mutter!“, ausgestoßen wie in Todesangst und gleich überbrüllt von den Zurufen der anderen: „Feigling! Muttersöhnchen!“...

Wie damals spürte er jetzt den Druck auf seinem Magen, den Schweiß in seinen Handflächen.
„Er muß sich durchsetzen“, hatte Vater gesagt. Mehr als einmal hatte er das gehört. „Ich werde mich durchsetzen!“ dachte er. „Was ich jetzt mache, tu ich freiwillig, damit....!“ - „Du kannst noch einen halben Schritt vorgehen!“ rief der Boß. Seine Stimme schien von unten zu kom­men.

Martin tastete sich mit den Füßen nach vorn. Der Boden war eben und aus Stein. Dann stieß sein Fuß ins Leere. Er fühlte mit der Fußspitze nach, der Boden brach geradlinig vor ihm ab. Vielleicht stand er auf einer Mauerkrone, drei, vier, fünf Meter noch. Wie sah es unten aus? War Wasser da, Gebüsch, Schutt? .

„So, Dichter, jetzt laß sehn, was du kannst!“ Martin keuchte. Ich will nicht - ich will nicht, dachte er. Oh,...sein Zimmer jetzt in der Nachmittagsonne, die Boote auf dem Wasser, die Stimmen der Ruderer .... „Ich kommandiere!“ rief der Boß. Wenn er nun sehr hoch stand! - Wenn ihm nun etwas passierte - wenn sie - wann sie es wollten! - Sie würden weglaufen, keiner von ihnen hatte ihn gesehen - und er - und Mutter - Nein, nicht Springen - nicht.

„Eins....“, zählte der Boß. Wie sie triumphieren würden, wenn er nicht sprang. „Zwei....!“ Nein! Dieser Triumph mußte ihm gehören. Er würde springen. Er würde sie besiegen, dies eine Mal, was immer sie auch vorhatten..- Er widerstand der Versuchung, in die Hocke zu gehen, damit der Sprung nicht so tief sein sollte - was würde das schon ändern -, straffte sich und stand, mit den Füßen wippend, aufrecht auf der Kante. „Drei!“ -

Abstoß, die Arme fliegen nach vorn, Wind saust an den Ohren - Mutter, die Decke mit den braunen Mäandern. „Er muß sich durchsetzen!“ , Sonnenschirme, rot, blau, gelb., Lampions. - jäh der Aufprall. Die Wucht reißt ihn nach vorn. Er fängt den Sturz mit den Armen ab, da dringen Schneiden in seine Handflächen, scharf und stechend. Blut läuft warm über seine Handballen, das 'Tuch herunter! Licht!

Ringsum hockten die „Tiger“ im Gras: Martin sah umher. Sie befanden sich im Garten hinter einer Ruine. Er war von einem Balkon der ersten Etage gesprungen. Zwei oder drei Meter tief. Dann begegnete er dem Blick des Boß. „Hallo, Conny“, sagte er zaghaft lächelnd noch klopfenden Herzens. Der Boß betrachtete ihn nachdenklich und kaute auf seinen Lippen. Er lächelte nicht zurück

„Das wär geleistet,“ sagte Rolf. „Halt' die Schnauze!“sagte der Boß. Er blickte Martin lauernd an und sagte langsam: „Ich mache das Bestehen der Probe noch abhängig von einer Bedingung: Du wirst jetzt sagen, warum du gestern nicht gekommen bist!“ - „Aber das hat doch mit der Mutprobe nichts zu tun“, sagte Rainer, „ich finde, er ist gesprungen, das genügt!“

„Schnauze!“ sagte der Boß und, zu Martin gewandt; „Nun?“

Martins .Lächeln erstarb. Nie würden sie ihn in Ruhe lassen. Alles würde so bleiben, wie es gewesen war. Er spürte den Schmerz in seinen Handflächen. Die Stelle, an der er aufgesprungen war, war mit Flaschenscherben besät. Sie hatten Flaschen zerschlagen und die Scherben verstreut, damit er hineinspringen sollte. Er leckte das Blut ab, des über seine Handflächen

lief, nahm sein Taschentuch, wickelte es um die Linke und preßte die Rechte darum. Als Rainer ihm eine Rolle Leukoplast hinhielt, stieß er seinen Arm zurück.

„Laß mich!“sagte er. Jäh überstürzt von Zorn, hob er den Kopf, blickte in das Gesicht des Boß, machte einen Schritt auf ihn zu und sagte mit bebenden Lippen, in der Helligkeit des Lichts, das auf ihn eindrang: „Ich verzichte auf die Aufnahme!“ Der Boß duckte den Kopf und kniff die Augen zusammen. „Du hast nicht bestanden“ sagte er. „Natürlich hat er bestanden“, sagte Rolf.

Martin wandte sich ab. Er stieg auf den Schuttberg drüben, am Eingang des Kellers, lag nach seine Schultasche. Sekundenlang stand er Oben auf dem Schutt, das Gesicht zur Straße gewandt, überflutet vom jähen Gefühl seiner selbst, sog die Luft ein, hörte die andern unten palavern und wußte, daß er bestanden hätte.. Der Klub - wie unwichtig war das auf einmal!

„Hau schon ab, du hast nicht bestanden!“ brüllte der Boß hinter ihm. Er hob einen halben Backstein auf und schleuderte ihn nach Martin, aber der Stein traf nicht.

Martin stieg den Schüttberg hinab in den Hof der Brauerei. Autohupen, das Bimmeln der Straßenbahn schallten herüber, die Sonne flimmerte weiß auf den unterliegenden Betonstücken, Vögel sangen in den Holunderbüschen, der Himmel war an diesem Nachmittag von bestürzender Klarheit und einem Blau, wie es sich in der Mittagszeit auf ruhig im Glanz der Sonne daliegenden Wasserflächen :spiegelt. Jetzt mußte es scharf sein am Schwanenspiegel, wo die Boote dahinglitten in der Hitze und die Stimmen der Ruderer leise geworden waren. -Er würde allein sein, wie immer, und sie würden ihn verspotten. Aber er hatte keine Angst mehr.

Als er die Moltkestraße hinabgegangen war und, die Schultasche unter den Arm geklemmt, die schmerzenden Hände zu Fäusten geschlossen, bei Dickels Eisdiele an der Ecke stand, hörte er seinen Namen rufen. Rolf und Rainer kamen hinter ihm die Straße herabgelaufen. „Martin! Martin!“ riefen sie, „warte mal!“

 

 

Erzählung: „Gott ist hier gewesen“           

Verbissen ging Ralf die Straße entlang, die zum Dorf führte. Es regnete, und seine Sachen wurden immer nasser. Er selber war wütend und traurig zugleich. Man hatte ihm sein Fahrrad gestohlen. Und es war nicht mal angeschlossen gewesen. Er hatte es an die Pappeln beim Fußballplatz gelehnt, wie die anderen auch. Aber ausgerechnet seins war wag. Nun mußte er den weiten Weg von zu Hause bis zur Schule zu Fuß gehen.

Die Aussichten, daß er ein neues bekam, waren gering. Der Vater war Maler und verdiente nicht viel mit seinen Bildern. Wahrscheinlich mußte er für den Rest der Schulzeit laufen. Und das Fußballspieler konnte er nun auch aufgeben, denn der Sportplatz lag unerreichbar fern jenseits des Dorfes.

Am Kaufladen stand Klaus. „Hast du dein Rad immer noch nicht gefunden?“ fragte er teilnahmsvoll. „Doch, natürlich“, knurrte Half. „Ich komme bloß zu Fuß, weil es für mich nichts Schöneres gibt, als eine Stunde durch den Reger zu laufen!“ - „Nun sei doch nicht gleich so“, sagte Klaus, „ich wollte ja nur fragen!“ Schweigend gingen sie nebeneinander.

„Übrigens“, sagte Klaus nach einer Weile und sah Ralf vorsichtig vor der Seite an, „meine Oma hat einmal ihre Geldtasche verloren, da war ihr ganzes Geld für den Monat drin. Sie betete inständig, daß sie das Geld wiederfinden möge. Immer wieder betete sie das. Sie ließ nicht locker. Und als sie nach ein paar Tagen in den Garten ging, fand sie ihre Geldtasche im Blumenbeet. Sie war naß und schmutzig, aber das ganze Geld war noch drin!“

Die Geschichte ging Ralf nicht aus dem Kopf. Nach der Schule fragte er Klaus: „Soll ich es auch einmal so machen wie deine Oma? ich meine beten und so?“- „Warum denn nicht?“ sagte Klaus. „Schaden kann es auf keinen Fall. Gott hilft den Armen, sagt meine Oma!“- „Na, dann könnte er sich wirklich mal ein bißchen um mich kümmern. Ich finde, ich hätte es nötig!“

Klaus sagte: „Du solltest es wenigstens probieren. Schließlich ist Gott noch am ehesten derjenige, der einem bei so etwas helfen kann !“ - „Dann werd ich gleich heute abend anfangen mit Beten“ , rief Ralf eifrig. „Weißt du was“, schlug Klaus ihm vor. „Ich helfe dir, ich bete auch mit. Wenn zwei beten, geht es vielleicht schneller!“ - „Wirklich, willst du das für mich tun?“ Ralf war ganz gerührt. Er hatte gar nicht gewußt, daß Klaus so nett war.

An diesem Abend ging Ralf früher ins Bett als sonst. Den ganzen Tag hatte er darüber nach­gedacht, was er Gott sagen wollte. Jetzt konnte er es auswendig wie ein Gedicht für die Schule. Er flüsterte es so lange vor sich hin, bis er darüber einschlief.

Am anderen Morgen erwachte er früh und ging noch vor dem Frühstück hinunter in den Hof. Sein Fahrrad hatte immer in dem alten Schuppen hinter dem Haus gestanden. Und wenn Gott ihn erhört hatte, dann stand es jetzt vielleicht schon wieder dort, gerade so, als sei es niemals fort gewesen. Sein Herz klopfte vor Aufregung, als er den Riegel zur Seite schob und die Tür langsam öffnete.

Der Schuppen war leer bis auf Mutters Gartengeräte, die in einer Ecke zusammenstanden. Keine Spur vor einem Fahrrad! Enttäuscht sah Ralf sich um. Nichts! Als er Klaus später am Konsum traf, sagte der: „Wir sind ja nicht die einzigen, die etwas von Gott wollen. Sicher ist er sehr beschäftigt. Bei meiner Oma hat es auch ein paar Tage gedauert. Man darf nicht aufgeben!“ Also beschlossen sie, weiter zu beten. Jeden Tag lief Ralf mehrmals heimlich zum Schuppen und schaue nach. Aber kein Fahrrad war da.

Am Samstag nach der Schule sagte Klaus plötzlich: „Weißt du, was wir machen sollten? Wir sollten morgen in die Kirche gehen. Ich glaube, das ist überhaupt das Beste, was wir tun können. Da muß Gott uns einfach hören!“ Ralf war nicht gerade begeistert von der Aussicht, daß er nun auch noch sonntags der weiter Weg ins Dorf machen sollte. Aber er sah ein, daß man nichts unversucht lassen durfte.

So verabredeter sie sich für den anderen Tag vor der Kirche. „Hoffentlich kommen nicht allzuviel Leute und beten Gott die Ohren voll“, seufzte Ralf, „sonst kommen wir vielleicht wieder nicht dran!“ In der Kirche setzten sich Ralf und Klaus ganz vorne hin, damit Gott sie gut sehen konnte. Klaus berührte Ralf manchmal sanft am Ärmel und lächelte ihm zu; dann senkten beide die Köpfe und beteten jeder für sich.

Nach der Kirche rannte Ralf gleich zum Schuppen. Die Tür stand offen. Ob das wohl ein Zeichen war? Er spürte, wie sein Mund vor Aufregung ganz trocken wurde. Er mußte all seinen Mut zusammennehmen, ehe er es wagte hineinzusehen. Der Schuppen sah aus wie immer -leer. Ralf wollte es einfach nicht glauben. Vielleicht hatte Gott das Fahrrad anderswo hingestellt? Vielleicht wußte er gar nicht, wo das Fahrrad hingehörte. Obwohl man eigentlich annehmen sollte, daß Gott das wußte. Jedenfalls sah Ralf sich überall um. Aber kein Wunder war geschehen.

Allmählich fing er an, sich Sorgen um Gott zu machen. Er war doch nicht etwa krank geworden? Schließlich war er ja schon sehr alt, da konnte das schor vorkommen. Oder vielleicht machte er auch nichts mehr, so wie Opa Karl, der auch nicht mehr arbeiten ging, seit er 65 geworden war. Da kam sein Vater aus dem Haus. Er sah Ralf am Zaun sitzen und in den Himmel starrer. „Nanu, suchst du etwas da oben?“fragte er. Ralf wurde ein bißchen rot:" „Ach nein - doch. Ich habe gebetet, daß ich mein Fahrrad wiederbekomme, und nun…!“ - „Nun wartest du darauf, daß es vom Himmel fäll“ - „Naja, so vielleicht nicht gerade. Aber irgendwie…“

Der Vater lächelte: „Ein Gebet ist kein Zauberspruch. Und Gott ist kein Zauberer, der oben im Himmel sitzt mit einem langen weißer Bart und auf uns herabsieht und unsere Gebete belauscht und ab und zu ein Wunder tut. So mußt du dir das nicht vorstellen!“ - „Nein?“ fragte Ralf erstaunt. „Aber in Opa Karls Religionsbuch ist ein Bild, da sitzt Gott über der Wolken mit seinem langer Bart und einem Mantel und…“ - „Ich kenne das Bild. Als Junge habe ich auch immer geglaubt, Gott müßte so aussehen. Bis mir einfiel, daß der Maler doch gar nicht wissen konnte, wie Gott aussieht. Er hatte ihr ja nie gesehen. Niemand hat Gott je gesehen!“

- „Niemand?“ fragte Ralf erschrocken , „auch nicht die Menschen in der Bibel?“ - „Denen ist Gott in ihren Träumen erschienen. Aber gesehen haben sie ihn auch nicht. Man kann ihn nicht sehen!“

„Ja, aber wenn doch nie jemand Gott gesehen hat, woher weiß man dann überhaupt, daß es ihn gibt? Dann Könnte es ihn doch ebensogut überhaupt nicht geben. Dann ist das alles bloß wieder ausgedacht?“ -„Es ist wie mit dem Wind, weißt du: Man kann ihn nicht sehen, aber es gibt ihn doch. Niemand bezweifelt das. Du mußt nur die Bäume anschauen, daran erkennt du den Wind. Er verändert sie: Sie schwanken hin und her und biegen sich, nicht wahr?“ Ralf sagte: „Ja!“

„Genauso ist es mit Gott. Du mußt nur die Menschen anschauen. Wenn sie gut zueinander sind, anstatt sich zu hassen, wenn sie Mitleid miteinander haben und einander verzeihen können, dann ist da Gott. Er ist mitten in ihnen!“

„Ach“, sagte Ralf, „ist er in mir auch schon gewesen?“ - „Gewiß, immer wenn du einen Streit hattest und du hast nachgegeben, oder wenn dir einer Unrecht getan hat und du hast es ihm nicht nachgetragen. Oder wenn jemand in Not war, und da hast ihm geholfen. Du mußtest es einfach tun, vielleicht wußtest du selbst nicht warum. Dann ist jedesmal Gott hier gewesen!“ - „Und wo ist er gerade jetzt?“ - „Ich glaube, gerade jetzt ist er uns ziemlich nah. Und an vielen Stellen auf der Welt ist er auch, wo ein paar Menschen gut miteinander ausgehen, anstatt sich wehzutun und sich zu kränken.“

„Und warum war er nicht da, als mein Fahrrad geklaut wurde?“ - „Ich bin sicher, daß er Fahrräder nicht so wichtig nimmt Das hat irgendein Taugenichts genommen, oder vielleicht einer, der es nötiger brauchte als du!“- „Was?“ rief Ralf empört. „Nötiger als ich? Dann hätte er wenigstens Stefans Rad klauen können. Der hätte längst ein neues bekommen!“ - „Du wirst auch wieder eins bekommen. Sei doch nicht so ungeduldig. Warte nur, wenn ich wieder ein paar Bilder verkauft habe!“- „Bis dahin habe ich mir längst die Beine in der Bauch gelaufen!“ Ralf rannte wütend ins Haus.

Er hatte soviel Hoffnung auf Gott gesetzt . Aber nun gab es ihn wohl überhaupt nicht, jedenfalls nicht so, wie er ihn sich immer vorgestellt hatte. Alles war ungewiß und rätselhaft und schwer zu verstehen. Es gab keine Sicherheit auf der Welt. Man konnte sich auf nichts verlassen.

Am nächsten Morgen sprach er mit Klaus darüber: „Gott kümmert sich nicht um Fahrräder!“ sagte er. Darauf sagte Klaus nach einer Weile: „Wenn das so ist, dann müssen wir die Sache selbst in die Hand nehmen. Vielleicht sollten wir eine Anzeige in die Zeitung setzen: „Suche gebrauchtes Fahrrad! Das Geld dafür müssen wir uns einfach verdienen!“

Aber die meisten Leute lachten nur über die Jungen, die nach Arbeit fragten. Einmal gruben sie einer alter Frau für zwei Mark der Garten um. Und mit Altstoffsammeln war auch nicht viel, denn da hatten sie schon von der Schule aus alles abgeklappert. Nach einer Woche hatten sie gerade 4,50 Mark zusammen. „Da werde ich hundert Jahre alt, bis ich genug Geld beisammen habe“, sagte Ralf trübsinnig. „Weißt du was“, rief Klaus plötzlich, „nimm doch meins! Nimm doch einfach meins. ich gebe es dir, bis du selber wieder eins hast. Ich brauche es eigentlich gar nicht. Ich kann ebensogut das Rad meiner Schwester nehmen. Sie ist die ganze Woche nicht zu Hause!“

„Mensch, Klaus!“sagte Ralf, „würdest du das wirklich für mich tun? Das kann ich doch gar nicht annehmen. Warum tust du das?“ - „ Weiß ich nicht“, murmelte Klaus. „Fahr schon ab!“ Ralf trat in die Pedale, was das Zeug hielt. Der lange Weg vom Dorf nach Hause war nur ein Katzensprung.

„Ich hab ein Rad“, rief er, als er in den Hof einbog. Vater kam aus seiner Werkstatt, und Mutter guckte am Fenster. Ralf fuhr im Kreis herum und sang, bis er ganz außer Atem war. Als er endlich anhielt, sagte der Vater zu ihm: „Siehst du, ich wußte, daß du wieder eins bekommen wirst!“ -„Das konntest du überhaupt nicht wissen“, rief Ralf trotzig. „Es ist von Klaus. Er hat es mir gegeben, weil er Mitleid hatte!“ - „Sieh mal n“, lächelte der Vater. „Der Klaus! Einfach so! Weil er Mitleid hatte!“ Er schwieg und betrachtete das Fahrrad. Als Ralf anfing, Vaters langes Schweigen merkwürdig zu finden, fiel ihm etwas ein: „Oder glaubst du, das hat etwas mit Gott zu tun, weil wir gebetet haben?“ Der Vater nickte. Es war wie ein Geheimnis zwischen ihnen (nach einer unveröffentlichten Erzählung von Renate Schupp).

 

Deutung der Erzählung:

Die Glaubensaussage klingt in der Antwort des Vaters an: „Gott ist mitten unter uns. Wir erkennen ihn an den Wirkungen bei den Menschen!“ Es wird aber auch eine Reihe falscher Vorstellungen abgewehrt: Das Gebet wird wie ein Orakel gebraucht, um ein Rad zu bekommen. Es wird mechanisch aufgesagt wie ein Gedicht, genauso geleiert. Wenn man zu zweit betet, dann hat das eine größere Wirkung. In der Kirche (im „Gotteshaus“) muß Gott es auf alle Fälle hören.

Beten ist aber etwas anderes: Es ist die vertrauensvolle Auslieferung an Gott. Gott ist kein Zauberer und Erfüller aller unserer Wünsche. Er ist nicht weit weg über den Wolken. Er ist auch nicht ein Mensch, der alt und krank werden kann. Niemand hat ihn bisher sehen können. Er begegnet höchstens in Träumen. Er wirkt wie der Wind, so handelt er an den Menschen. Er verändert die Menschen. An den Menschen kann man Gott erkennen. Gott ist nicht weit weg, sondern er ist gern unter den Menschen. Er hat auch Klaus verändert. Als Ralf das erkennt, beginnt er zu verstehen. Aber es bleibt doch alles wie ein Geheimnis.

In den Erzählungen der frommer Juden (der „Chassidim“) wird ein Ausspruch des Rabbi Mosche Löb überliefert. Er sagte: Wenn einer zu dir kommt und von dir Hilfe fordert, dann kannst du ihm nicht mit frommem Munde empfehlen: „Habe Vertrauen und wirf deine Not auf Gott!“ sondern dann sollst du handeln, als wäre da kein Gott, sondern auf der ganzer Welt nur einer, der diesem Menschen helfen kann, nämlich du allein!

 

 

Eine Lektion von meinem Vater
[Wenn unser Herz immer bereit ist zu geben, ist unser Leben immer erfüllt]
Wir alle in unserer Familie sind die geborenen Geschäftsleute. Schon als Kinder arbeiteten wir alle sieben im väterlichen Geschäft mit dem wohlklingenden Namen „Unser Laden für Haushalts- und Eisenwaren“. Wir wohnten in einer kleinen Stadt in der Prärie von North Dakota. Am Anfang führten wir Kinder kleinere Arbeiten aus wie Staubwischen, Regale in Ordnung bringen und Waren einpacken. Erst später durften wir nach und nach auch Kunden bedienen. Während wir der Arbeit nachgingen und dabei Augen und Ohren offen hielten, lernten wir, daß man nicht nur arbeitet, um etwas zu verkaufen und zu überleben.
Eine Lektion ist mir noch heute gegenwärtig. Ich war in der achten Klasse und war am späten Nachmittag in der Spielzeugabteilung be­schäftigt. Ein kleiner Junge, fünf oder sechs Jahre alt, kam herein. Er trug eine zerlumpte braune Jacke mit abgewetzten Ärmeln und hatte struppige Haare. Seine Schuhe waren ab­getragen, ein Schnürsenkel war ganz zerrissen. Der Junge wirkte arm auf mich – zu arm, um sich irgendetwas leisten zu können. Er schaute sich in der Spielzeugabteilung um, nahm die­sen oder jenen Gegenstand aus dem Regal und stellte ihn jeweils wieder vorsichtig zurück.
Mein Vater kam die Stufen herunter und ging auf den Jungen zu. Seine stahlblauen Augen strahlten, als er den Jungen fragte, was er denn für ihn tun könne. Der Junge sagte, er suche ein Geschenk für seinen Bruder. Ich war beeindruckt, daß mein Vater ihn mit dem gleichen Respekt behandelte wie einen Erwachsenen. Er meinte zu ihm, er solle sich Zeit lassen und erst mal in Ruhe schauen. Was der Junge dann auch tat.
Nach ungefähr zwanzig Minuten nahm er vorsichtig ein Spielzeugflugzeug, ging zu meinem Vater und fragte: „Wie viel kostet das bitte?“ - „Wie viel Geld hast du denn bei dir?“ fragte mein Vater zurück. Der kleine Junge streckte seine Hand aus und öffnete sie. Seine schmut­zigen Finger waren ganz feucht, so sehr hatte er sein Geld umklammert. In seiner Hand lagen zwei Dimes, ein Nickel und zwei Pennys – zusammen siebenundzwanzig Cent. Der Preis des Flugzeuges, das er ausgesucht hatte, betrug fast vier Dollar.
„Das reicht gerade so“, sagte mein Vater und besiegelte das Geschäft. Seine Antwort klingt immer noch in meinen Ohren wieder. Als der kleine Junge aus dem Laden ging, achtete ich nicht mehr auf seine schmutzige, zerlumpte Jacke, sein struppiges Haar oder den zerrissenen Schnürsenkel. Ich sah stattdessen ein strahlendes Kind mit einem Schatz in den Händen.

 

 

 

Material für Ansprachen

 

Advent:

Wenn ein Staatsmann zu einem wichtigen Besuch im Ausland war, dann wird er gewöhnlich von der ganzen Regierung am Flugplatz abgeholt. Da kann sich dann keiner ausschließen und jeder muß alle anderen Termine absagen. Er muß sich gut anziehen und ein Sonntagsgesicht aufsetzen. Auch auf dem Flugplatz muß alles hergerichtet sein: roter Teppich, Blaskapelle, Scheinwerfer, Fernsehen, Kinder mit Blumen. Es wird da oft schon viel Aufwand getrieben, selbst wenn nur der eigene Regierungschef zurückkommt.

Natürlich will er dann auch wissen, was sich zuhause zugetragen hat. Sein Stellvertreter und die anderen Minister müssen kurz berichten. Er selber wird natürlich auch von seiner Reise erzählen, seine Erfahrungen und neuen Eindrücke mitteilen und vielleicht auch neue Richtlinien für die Politik geben.

Es kann aber auch sein, daß sich die Ankunft einmal verzögert. Da liegt etwa Nebel über dem Flugplatz. Oder die Abreise hatte sich schon verzögert. Oder es war starker Gegenwind und so hat alles etwas länger gedauert. Es gibt ja so viele Gründe, die eine Ankunft verzögern.

Eins nur ist klar: irgendwann wird der Chef wieder zurückkommen. Und deshalb kann keiner vorzeitig heimgehen oder eine andere Verpflichtung wahrnehmen. Das Empfangskomitee kann auch auf dem Flughafengelände nicht groß etwas anderes unternehmen. Es bleibt nichts anderes übrig als zu warten. Aber jeden Augenblick kann es so weit sein. Deshalb gilt es, auch immerzu bereit zu sein.

 

Weihnachten: Kaiser Augustus

Zur Ordnung dieser Welt gehörte auch der Kaiser Augustus. Wir müssen uns einmal deutlich machen‚ was das für einer war. Mit Gewalt war er an die Macht gekommen und mit Gewalt hielt er die Völker nieder. Er hatte Frieden auf Erden versprochen und er hat ihn auch auf seine Weise hergestellt. Doch dazu ist viel Blut geflossen, bis das römische Schwert allen Völkern klargemacht hatte, was unter „Frieden“ zu verstehen ist. Die Juden haben ja nachher selber erfahren müssen, wie die Römer jeden Aufstandsversuch mit Grausamkeit unterdrückten.

Es ist ganz gut, daß Lukas zunächst einmal die anderen Großen der damaligen Welt aufzählt, ehe er auf den wahren Herrn der Welt zu sprechen kommt. Damals gab es eben noch andere Heilande, die der Welt ein großes und ewiges Friedensreich versprachen. Aber in Wahrheit brachten sie nur Not und Unterdrückung für die Menschen mit sich.

Eine Volkszählung war eine Menschenschinderei. Die Bevölkerung wurde auf dem Marktplatz zusammengetrieben. Mit Folter und Stockschlägen wurde verhört. Auf Alter und Ge­sundheitszustand wurde keine Rücksicht genommen. Alles war erfüllt von Kummer und Jammergeschrei. Da gab es ein Durcheinander, in dem jeder sich selbst der Nächste war.

Und wozu das alles? Nur um noch mehr Steuer aus den, Leutenherauszupressen. Was Augustus tat, war einfach Ausbeutung. Er hatte ja die Macht, er nützte sie aus.

Wir wollen aber nicht überheblich den Kopf schütteln über die Zustände von damals. So etwas gibt es auch heute. Und nicht nur in anderen Ländern, sondern auch in unserem privaten Bereich. Müssen sich bei uns nicht auch die heranwachsenden jungen Leute vielfach der Macht der Erwachsenen beugen? Springt man nicht vielfach mit den alten Menschen beliebig um, weil sie wehrlos sind? Verzichtet denn bei uns einer auf seine Macht? Ist denn bei uns einer bereit, sein Wohlergehen und seine Vorteile mit anderen zu teilen?

 

Silvester

Der Name Silvester bezieht sich auf Papst Silvester L, der das Pontifikat von 314 bis an seinen Tod am 31. Dezember 335 innehatte. Bei seiner Heiligsprechung wurde dieser letzte Tag des Jahres sein Namenstag. Obwohl in seiner Amtszeit die Taufe des Kaisers Konstantin fällt, hatte er daran keinen Anteil. Bemerkenswert in heutiger Sicht ist seine Verordnung eines zweiten arbeitsfreien Tages in der Woche, wie dies die „Goldene Legende“ berichtet. Er verfügte den Donnerstag als arbeitsfrei, ihn so wie den Sonntag zu halten. „weil Christus an diesem Tag gen Himmel fuhr, weil er das Sakrament seines Leibes und Blutes am Donnerstag eingesetzt hat und weil die Kirche an diesem Tag das heilige Öl bereitet und weiht“. Aber lange hielt diese Verfügung nicht an.

Die Ikonographie zeigt den Heiligen häufig als Papst mit einem Buch in der Hand, da er um seiner sozialen Leistung willen gerühmt wird, nach seiner Papstwahl „der Witwen und Waisen und aller Armen Namen in ein Buch schrieb und sie mit aller Notdurft versah“. Obwohl historisch kein Nachweis für Einfluß oder Mitwirkung des Papstes bei Kaiser Konstantins Bekehrung und Taufe vorliegt, nimmt die bildende Kunst im 12. Jahrhundert doch gern das Motiv auf, daß Silvester in pontifikaler Meßkleidung den Kaiser tauft. Auch kann ein Stier zu seinen Füßen liegen, da er einen solchen legendär zum Leben erweckte.

Im Volksbrauch, ganz besonders im deutschen, eint sich an diesem letzten Tag des Jahres, gedrängt. zum Abend und zur Mitternacht, alles Unholdenwesen, das in anderen europäischen Ländern schon zur Weihnachtszeit zu karnevalistischem Treiben, auch auf deutschem Boden zur Vorweihnachtszeit und in den zwölf Nächten zu lautem und dröhnendem Jagen führt, zu Umzügen, in denen der Lärm eine wesentliche Rolle spielt.

Von den Böllerschüssen, die heute noch von den Alpenbergen her Abschied vom alten Jahr nehmen, das neue Jahr begrüßen, bis hin zu dem lauten Treiben in norddeutscher Tiefebene will der Lärm vordringlich die bösen Geister abwehren. Diese Absicht hat letzten Endes auch aller Mummenschanz, der in Dörfern und Städten die Straßen durchtobt. Wie Papst Silvester selber zu Lebzeiten, so wettert auch der Kirchenvater Augustinus (354 - 430) gegen solche lärmende Umtriebe in der Stadt Rom, erwähnt genauer, daß die so Rasenden als Hirschkuh, Hinde und altes Weib sich verkleiden. Knapp vierhundert Jahre später, im Jahr 745, berichtet Bonifatius von ähnlicher Aufmachung in seinem Missionsgebiet: „Die ungeschlachten, einfältigen Menschen, die Alemannen, Bajuwaren und Franken verkleiden sich mit Geweih und Fell des Hirsches zum Neujahrsbeginn….“

Während in ländlichen Gegenden sich noch teilweise am Nachmittag der Heischengang erhält, mit Singen freundliche Gaben einsammelnd, so drängt sich in den Städten alles einst kultisch getragene Lärmen und Toben öffentlich sichtbar in einer einzigen Darbietung zusammen in einem pyrotechnischen Spektakel von immer größerem Ausmaß. Staatlicherseits einzig an diesem Abend allgemein erlaubt, jagen vor vielen Häusern, aus vielen Gärten die Raketen in die Lüfte, zum Krachen auch ein buntes optisches Schauspiel bietend, nicht mehr so gewußt und gewollt, aber historisch doch vom gleichen Abwehrbann getragen, der einst sich gegen die bösen Geister wandte. Am Silvesterabend wird in der häuslichen Feier noch das Orakelspiel gepflegt, vornehmlich im Bleigießen. Aber auch der Traum in der Silvesternacht wird noch gehörig beachtet. Im Ganzen nähert sich der Silvesterabend immer mehr einem Karneval unterm Weihnachtsbaum.

Daß die Kirche mit Gottesdienst aus dem alten Jahr scheidet, ist eine erst sehr junge Ordnung, gemäß dem Prinzip, daß die Kirche nicht den Jahreskalender, sondern den der eigenen Festordnung respektiert. Enthält die Meßordnung keinerlei Gottesdienstanweisung für den Silvesterabend, so hat sich doch die Gewohnheit einer Andacht zum Jahresschluß entwickelt, unter dem preisenden Leitwort: „Der Herr krönt das Jahr mit seinem Segen.“ Auch die evangelische Agende kennt erst vom Ende des 19. Jahrhunderts an eine Andacht zum Jahresschluß. Selbst die Glocken läuteten früher nicht. Die Kirchen standen dunkel und schweigend, während draußen das Volk lärmte und feierte.

 

Predigt von Hosea Heckert zu Weihnachten:

Liebe weihnachtliche Gemeinde!

Vor einigen Tagen rief ich einen Mitarbeiter abends um viertel nach Zehn an, weil ich noch etwas besprechen wollte. Vorsichtig fragte ich, ob ich so spät denn überhaupt noch anrufen dürfte. Seine Antwort war, na normalerweise ist es zu spät, aber es ist schon ok, wegen „Weihnachten – und so…“

Jetzt geht meine Frage an Sie, was hat der damit gemeint? „Weihnachten – und so…!“ Kennen Sie das auch, man braucht es eigentlich nicht wirklich auszusprechen. Es langt diese kurze Andeutung mit den Worten „und so“ und jeder und jede weiß schon, was gemeint ist.

Na, liebe Gemeinde, was heißt denn nun „Weihnachten und so…“ bei Ihnen?

„Moment mal, ich hab doch noch ein Geschenk für mein Patenkind vergessen, also schnell auf zum Weihnachtsmarkt in die Stadt, da wird sich doch noch schnell was finden lassen!“

„Ist noch genügend Majonäse für den Kartoffelsalat am Heiligabend da?“

„Funktioniert die Weihnachtsbaumbeleuchtung eigentlich noch?“

„Wo in aller Welt ist das Packpapier für die Geschenke?“

„Jetzt vor Weihnachten haben wir mächtigen Druck, da ist bei uns der Teufel los, klagen die Firmen, die noch eine Leistung erbringen müssen.“

Es ist schon paradox, da wird es Weihnachten, wo Gott Mensch wird und dann ist bei uns der Teufel los. Und in mancher Familie kracht es vor dem leuchtenden Weihnachtsbaum und ein gehöriger Streit bricht los – „Weihnachten – und so…..!"

Jeder und jede hat seine eigenen Erlebnisse und doch braucht uns keiner erklären, was er mit „Weihnachten und so…“ meint.

Es scheint ein im wahrsten Sinne des Wortes geflügeltes Wort zu sein, was wie ein gehetzter Weihnachtsengel zwischen uns hin und her fliegt. Oder ist es eher ein gehörntes Teufelchen?

Aber, was ist denn Weihnachten eigentlich. Wann wird es denn Weihnachten bei mir?

Vielleicht, wenn ich alle Geschenke zusammen habe

oder wenn ich das Gefühl habe, für einen überschaubaren Betrag doch eine ganze Menge Geschenke bekommen zu haben,

wenn ich mich selbst hingesetzt habe und gebastelt und dann ist etwas Tolles fertig und die Augen des Beschenkten, der Beschenkten leuchten vor Dankbarkeit und Rührung!?

Irgendwann muß doch richtiges Weihnachten werden! Es kann doch nicht immer bei diesem „Weihnachten – und so …“ bleiben.

Am Mittwoch stand ich auf dem Domplatz inmitten des Weihnachtsmarktes, da gab es soviel zu schauen und zu riechen und zu sehen und zu kaufen, na Sie wissen schon: „Weihnachtsmarkt –und so…“. und nachdem ich einige Buden abgeklappert hatte kam zur Weihnachtskrippe des Holzschnitzers aus Oberammergau, der dieses Jahr seine Krippe in Erfurt aufgestellt hat. Umzingelt von Buden und Büdchen standen - doch etwas allein auf weiter Flur - die Figuren im Stall, nur wenige Leute blieben mal länger als ein paar Sekunden stehen, meistens waren es eher die Kinder…

Das Jesuskind mit Maria und Josef, die Hirten und die Könige kamen mir irgendwie verloren vor in dem ganzen Trubel des Weihnachtsmarktes. Dabei gibt es den Brauch des Schenkens ja auch nur deshalb, weil wir das große Geschenk, das Gott uns macht auch an andere weitergeben wollen, die wir eben lieben, so wie Gott uns liebt. Wir schenken ja auch besonders gerne denen etwas, die wir lieben.

Vergessen wir etwa über dem ganzen Schenken-Wollen und Geschenke-Suchen, daß wir, jeder und jede einzelne von uns es sind, die beschenkt werden von Gott? Rechnen wir noch damit, daß es da einen gibt, der sich selbst geben will, der sich nicht zu schade ist, in unser kleines Leben einzusteigen, der einer von uns wird, weil er es nicht aushält, daß wir wegen „Weihnachten und so…“ an ihm vorbeirennen von Weihnachtsmarktbude zu Weihnachtsmarktbude, von Kaufhaus zu Kaufhaus, von Geschenk zu Geschenk.

Liebe Gemeinde, am Mittwoch vor der Krippe inmitten des Weihnachtsmarktes hatte ich das Gefühl, daß das Jesus aus der Krippe heraus rief und kaum einer hat es gehört.

Wenn wir Weihnachten Gottes großes Geschenk - die Geburt seines Sohnes unter uns - feiern, was feiern wir da eigentlich?

Was sind seine Gottes Geschenke? In den Evangelien im Neuen Testament sind einige aufgeschrieben:  Da hat der mittlerweile erwachsene Jesus eine anziehende Botschaft: Ich komm zu euch, auch wenn ihr krank seid und rede mit euch, wenn die anderen euch links liegen lassen!

Bei mir mußt du nichts, aber auch gar nichts vorweisen können, ich mag dich einfach so, wie grade bist und ich bin bereit, dich auch auf deinen steinigen Wegen zu begleiten!

Meine Hand kannst du greifen, wenn du den Halt verlierst, bei mir darfst du ausruhen.

Aber höre ich diese Sätze den überhaupt, sind sie nicht schon spätestens dann wieder vergessen, wenn morgen bei uns zu Hause das Festessen auf dem Tisch steht?

Verstehen Sie mich bitte nicht maß, nichts gegen Advents- und Weihnachtsmärkte, schöne Stimmung und gutes Essen! Aber verdeckt das alles nicht viel zu oft unsere eigene Sehnsucht, die wir eigentlich haben, nach einem, der einerseits Mensch ist und sogar den Geruch des Mistes kennt, mit dem wir uns in unserem „Stall“ rumschlagen und andererseits aber auch irgendwie über allen Dingen steht und uns hochreißen kann, wenn wir verzweifelt sind.

Im Krippenspiel, was wir eben erlebt haben, schickt Gott mitten in den Schweinestall den Engel Gabriel, obwohl der ganz schön die Nase rümpft…Unser Leben scheint Gott nicht zu stinken!

Liebe Gemeinde in Vieselbach / Wallichen!

Ich werde jetzt mal unhöflich und wechsele vom Sie zum Du, das mach ich nur, wenn es ganz wichtig ist und ganz konkret werden soll und als Euer Pfarrer, Euer Seelsorger und Hirte möchte ich jetzt ganz konkret werden:

Gott ist vor 2000 Jahren für Euch Mensch geworden. Er wird heute in dieser Nacht Mensch für mich, für Euch alle, die Ihr Euch an diesem Tag auf den Weg in Gottes Haus gemacht habt. Vielleicht können wir das einmal ganz für uns allein durchbuchstabieren: Gott, der die Idee hatte, daß es mich geben soll, der kommt heute in meinen „Stall“. In den Stall, der gerade mein Leben ist. Wir wollen uns nicht heute an etwas Vergangenes erinnern, nein, gerade in dem Augenblick als jeder und jede einzelne von Euch selbst hier eingetreten ist, ist auch ER mitgekommen, denn ER ist ja immer und überall bei mir und wird mit mir und mit Euch auch wieder gehen in Euer Leben, das manchmal wie so ein armseliger Stall ist, wie wir es im Krippenspiel gehört haben.

Wir können IHM hier und jetzt wieder einmal ganz neu auf IHN aufmerksam werden und IHM begegnen.

Wenn wir das geschmeckt haben, dann wird aus Weihnachten eine Erfahrung, wie sie die Hirten machen. Sie kommen ganz anders aus dem Stall heraus laufen, als sie hinein gekommen sind, und obwohl sie wieder in den gleichen ärmlichen Verhältnissen ankommen, wo sie vorher losgezogen sind: Eines hat sich geändert! Sie wissen jetzt in ihrem Herzen: Gott ist einer von uns. Der hat nicht wie alle anderen gesagt, du bist doch der letzte, sondern: Du bist der erste, der es erfahren soll!

Ja das haben die Hirten erkannt: Gott ist da! Gott ist unser Freund. Wer kann da noch ernsthaft gegen uns sein?

Das ist mein Geschenk, was ich bekomme, was Ihr alle heute wie alle Jahre wieder bekommt. Das ist es weswegen Ihr gekommen seid, vielleicht sogar ohne es zu wissen. Das ist das Geschenk, das ich Euch als Euer Pfarrer, Euer Seelsorger heute am Heiligen Abend neu zeigen möchte.

Lassen wir diese Botschaft der Hirten nicht irgendwo hier in der Kirchenbank links liegen:

Gott ist einer von uns. Gott ist da! Gott ist unser Freund. Wer kann da noch ernsthaft gegen mich sein? So wird Weihnachten wirklich Weihnachten und nicht nur „Weihnachten – und so …“.

 

 

Neujahrstag : Lk 2, 21

Dieser eine Vers ist etwas seltsam als Predigttext für Neujahr. Was hat er denn eigentlich mit diesem Tag zu tun? Er leitet nur über zu der sogenannten „Darstellung Jesu im Tempel“, gehört also eigentlich mit zur Weihnachtsgeschichte und Kindheitsgeschichte Jesu. So sollte er eigentlich auch zuerst verstanden werden: Wir haben heute den ersten wichtigen Tag nach Weihnachten, den Tag der Beschneidung und Namensgebung des Herrn Jesus.

Neujahr ist ja ein bürgerliches Fest, einfach durch die Übereinkunft entstanden, auf diesen Tag den Jahresanfang zu legen. Mit dem Kirchenjahr hat dieser Tag so gut wie nichts zu tun. Und dennoch können wir an diesem Tag nicht so einfach vorbeigehen. Wir stehen ja in einer ähnlichen Situation wie am Anfang des Kirchenjahres, wie am Wechsel vom Ewigkeitssonntag zum 1. Advent. Das alte Jahr ist vergangen, und wir nehmen das neue Jahr als Gabe aus den Händen Gottes entgegen. Wir sehen darin ein Zeichen der Gnade Gottes, die uns immer noch einen neuen Anfang gewährt.

Doch nun wieder zu unserem Predigttext. Was sollen wir ihm am Neujahrsfest entnehmen? Im Mittelpunkt des Verses steht der Jesusname. Und dieser Name soll auch im Mittelpunkt des kommenden Jahres stehen. Eine Woche nach Weihnachten können wir das neue Jahr nicht anders als „im Namen Jesu“ beginnen.

„Jesus“ heißt: „Gott hilft“. Bei Matthäus wird das übersetzt und noch näher erläutert: „Er wird sein Volk retten von ihren Sünden!“ Das wäre doch eine schöne Überschrift über das kom­men­de Jahr: „Gott hilft!“ In manchen Häusern kann man diesen Spruch auf einer Holztafel an der Wand hängen sehen, damit man ihn immer vor Augen hat.

Man kann dabei einmal das erste Wort betonen: „G o t t hilft“, nicht all die anderen, die uns Hilfe versprechen und dabei doch nur an sich selbst denken, so daß man nachher verraten und verlassen ist. Man kann aber auch betonen: „Gott h i 1 f t“, auch wenn es zunächst nicht so auszusehen scheint und wenn die Hilfe dann nachher anders aussieht, als wir es erwartet haben. Nur Jesus allein ist der rechte Herr und Helfer.

Alles, was wir im kommenden Jahr erleben werden, die vorhersehbaren und die unvorhergesehenen Ereignisse und Widerfahrnisse, wollen uns mit immer neuer Dringlichkeit auf Jesus verweisen. Wir blicken an diesem Tage vorwärts, auf unsere Probleme, Aussichten und Aufgaben im persönlichen und beruflichen Leben. Blicken wir auch auf Jesus, der uns in all diesen erwarteten und befürchteten Schicksalen begegnen will?

Es liegt wieder ein langer Weg vor uns. An diesem Weg stehen Wegweiser und Kilometersteine. Und auf all diesen steht der Name „Jesus“ geschrieben, der uns das ganze Leben begleiten will.

Was er uns zu geben hat, das hat wenig zu tun mit all den treuherzigen Neujahrswünschen, die Freunde und Nachbarn einander an diesem Tag zurufen. Wahrscheinlich bleibt ja doch wieder alles beim Alten, das alte Leben geht weiter. Jesus aber will uns helfen, daß es nicht so kommt, daß wenigstens an einigen Stellen etwas neu wird. Allein Jesus ist imstande, das neue Jahr zu einem wahrhaft n e u e n zu machen.

Wir werden nicht zu schweren Entschlüssen und umwälzenden Vorsätzen aufgerufen. Wir sollen nur den Namen „Jesus“ - „Gott hilft“ über all unser Tun im neuen Jahr schreiben.

Das aber bringt die Verheißung mit sich: Auch bei uns kann ein Neues werden, wir sind nicht hoffnungslos im Netz unsrer Gewohnheiten, Täuschungen und Verstockungen gefangen. Diese Zusage dürfen wir glauben. Das sollte uns Mut machen, ein Neues zu beginnen.

 

 

29. Februar (zu Jes 55,6 und 8-11)

In diesem Monat werden wir noch eine Besonderheit erleben, nämlich den 29. Februar. Schalttage gibt es zwar alle vier Jahre, parallel zu den Olympischen Spielen. Aber in diesem Jahr fällt der 29. Februar auf einen Sonntag, so daß wir einmal einen Februar mit fünf Sonntagen haben.

Man kann daran allerhand praktische Überlegungen anknüpfen: Dieses Jahr gibt es einen Arbeitstag mehr, der bei Gehaltsempfängern nicht einmal extra vergütet wird, aber dennoch seine Kosten verursacht. Ein Arbeitstag mehr bedeutet aber auch eine Steigerung der Produktion und des Gewinns. Wir können aber auch sagen: Ein Tag mehr in unserem Leben bzw. ein Tag länger bis zur Ewigkeit - natürlich nicht in Wirklichkeit, aber doch in der Zählung unsrer Tage. Der Kalender erinnert uns daran, daß unsre Zeit vergeht und auch unsere Lebenszeit begrenzt ist.

Dabei ist das so eine komplizierte Sache mit dem Schaltjahr. Der römische Kaiser Julius Cäsar hatte einst seine Priester angewiesen, den durcheinandergeratenen Kalender doch wieder in Ordnung zu bringen: Alle vier Jahre sollte ein Schaltjahr eingefügt werden.

Die Priester rechneten jedoch nach römischer Gewohnheit das Ausgangsjahr mit und riefen schon nach drei Jahren ein Schaltjahr aus. Der uns auch aus der Weihnachtsgeschichte bekannte Kaiser Augustus hat das dann wieder in Ordnung gebracht. Das war im Jahre 8 nach Christi Geburt, das zum Ausgangspunkt der neuen Schaltordnung wurde; seitdem sind die Schaltjahre durch „4“ teilbar.

Papst Gregor, dessen Kalender man im 17.Jahrhundert einführte, hat dann darauf hingewiesen, daß bei allen durch 100 teilbaren Jahren das Schaltjahr wegfallen muß, bei allen durch 400 teilbaren Jahren aber wieder gehalten werden muß. Die Jahre 1700, 1800 und 1900 waren also keine Schaltjahre, das Jahr 2000 aber war ein Schaltjahr .Also eine ziemlich komplizierte Sache.

Die Juden im 6. Jahrhundert vor Christus hatten ein anderes Zeitproblem. Sie saßen in der Gefangenschaft in Babylon. Ihr Prophet Jesaja der Zweite (bzw. der Dritte) hatte ihnen die bevorstehende Erlösung und die Rückkehr in die Heimat angekündigt. Aber bisher war das nicht eingetroffen und seine Botschaft hatte sich als Täuschung erwiesen. Sie war nichts weiter als eine der vielen „Parolen“, die in Gefangenenlagern umgehen, damit noch ein kleines Flämmchen an Hoffnung bleibt.

 

Ostern

Wenn ein Mensch gestorben ist‚ der nicht zur Kirche gehört, dann wird ja in der Regel euch eine Trauerfeier gehalten. Das ist dann keine kirchliche Trauerfeier, sondern eine weltliche. Es muß ja irgendetwas gesagt werden zum Problem des Todes. Das ist natürlich schwierig für einen, der nicht an Gott glaubt.

Andererseits ist aber die Todesfrage unsere wichtigste Lebensfrage. Wenn mit dem Tode alles aus ist‚ dann lohnt sich das Leben doch eigentlich nicht. Alle Mühe und alle Geduld, aller Einsatz und alle Hoffnungen wären vergeblich. Dann wäre es im Grunde doch besser, man hätte überhaupt nicht gelebt.

Dennoch sagen viele: „Mit dem Tod ist alles aus!“ Und noch mehr Menschen werden es denken. Selbst unter Christen kann man diese Meinung hören und viele werden es im Geheimen denken, auch wenn sie bei der Beerdigung singen: Jesus, meine Zuversicht“. Meist hilft man sich so, daß man sagt: „Der Tote lebt im Gedächtnis seiner Verwandten und Freunde weiter!“ Aber sind mir doch einmal ehrlich: Wie schnell ist ein Mensch doch ersetzt und wie schnell geht er vergessen. Nach einigen Wochen schon kann man sich oft sein Gesicht nicht mehr genau vorstellen. Das Leben geht weiter auch ohne die Toten. Nachher erinnert man sich oftmals kaum an den Todestag.

Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn man von Jesus Ähnliches behauptet. Er soll angeblich nur im Gedächtnis seiner Jünger weiterleben. Wenn man ein Fortleben nach dem Tod leugnet, muß man folgerichtig auch die Auferstehung Jesu leugnen. Oder umgedreht gesagt: Damit man nicht an die Auferstehung Jesu glauben muß, leugnet man die allgemeine

Auferstehung.

Dabei ist diese Theorie doch ganz unwahrscheinlich. Stellen wir uns das doch einmal in Einzelheiten vor: Da wären die Jünger Jesu zwei Tage nach Karfreitag in Jerusalem zusammengekommen. Sie hätten beraten, was nun nach dem Tode Jesu zu tun sei. Und dann hätten sie

beschlossen: „Nun wollen wir einmal eine neue Religion gründen. Wir behaupten einfach, Gott habe Jesus auferweckt und er lebe auch jetzt noch und wir hätten ihn gesehen!“

„Ganz unwahrscheinlich!“ kann man da nur sagen. Die Jünger rechneten in keiner Weise damit‚ daß sich am Tode Jesu noch einmal etwas ändern könnte. Sie waren überhaupt nicht irgendwie psychologisch darauf vorbereitet, daß Gott noch einmal eine Wende herbeiführen könnte.

 

Die Legende von Christopherus

[Die Geschichte paßt zum Beispiel zu Reihe II, Pfingstmontag, 1. Kor 12, 4-11].

Vor langer Zeit lebte im Lande Kanaan ein Mann namens Reprobus. Er war von gewaltiger Statur, besaß große Kraft und viel Verstand. Auf seinen starken Schultern konnte er ganz allein einen Baumstamm tragen. Viele Leute erzählten von Reprobus und bewunderten ihn sehr: Reprobus ist immer vergnügt und hilfsbereit, für wenig Geld fällt er eine Menge Holz und pflügt täglich fast ein Feld.

Eines Tages kam Reprobus ein besonderer Gedanke in den Sinn. Den wurde er nicht mehr los: „Ich will einen Herrn suchen und ihm mit all meiner großen Kraft dienen. Aber er muß der mächtigste Herr der ganzen Welt sein. Ob ich den finde?“ Reprobus machte sich auf den Weg. Er suchte den mächtigsten Herrn der ganzen Welt. Bald kam er in ein fremdes Land. Dort regierte ein König, von dem man erzählte, er sei der mächtigste auf der ganzen Welt. Reprobus bot hier seinen Dienst an. Gern nahm man ihn auf.

Eines Tages bekam der König Besuch von einem Spielmann, der ihn mit seinen neuesten Liedern erfreuen wollte. Oft nannte er in einem Lied den Namen des Teufels. Reprobus beobachtete, wie der König jedesmal ein Kreuz schlug, sooft der Name des Teufels genannt wurde. „Warum tust du das?“ fragte er den König. So recht wollte der König ihm nicht antworten. Reprobus forderte: „Sagst du es mir nicht, so bleibe ich nicht bei dir im Dienst!“

Da beugte sich der König zu seinem Diener und sagte leise: „Höre ich den Namen des Teufels, dann segne ich mich mit diesem Zeichen. Ich fürchte, daß der Teufel sonst Macht über mich bekommt!“ Reprobus erwiderte nachdenklich: „So habe ich mich also geirrt, du bist nicht der mächtigste Herr, sondern der Teufel ist mächtiger als du. Ich muß dich verlassen und mich in des Teufels Dienst begeben!“ Mit diesen Worten verabschiedete sich Reprobus. Sosehr ihn der König auch zurückhielt, nichts konnte Reprobus von seinem Vorhaben abbringen.

Weit, weit ging er, um den Teufel zu finden. Auf einem öden Feld traf er eine große Schar Ritter. Einer von ihnen sah besonders schrecklich aus. Der sprach Reprobus an: „Wo kommst du denn her? Suchst du etwas?“ Jeder andere wäre vor dem schrecklichen Anblick dieses Ritters ausgerissen. Reprobus aber reichte ihm die Hand und antwortete: „Ich suche den Herrn Teufel. In seine Dienste will ich treten!“ Fürchterlich und laut lachte da der Ritter: „Ich bin's, den du suchst. In meinen Dienst kannst du sofort treten!“

Da freute sich Reprobus. Nun hatte er endlich den mächtigsten Herrn gefunden. Miteinander zogen sie dahin, bis sie am Wegrand ein großes Kreuz sahen. Blitzschnell riß der Teufel sein Pferd herum und galoppierte voll Furcht in einer anderen Richtung davon. Reprobus wunderte sich sehr darüber. Als er ihn eingeholt hatte, fragte er: „Warum bist du vor dem Kreuz weggaloppiert? Fürchtest du dich so sehr vor einem Kreuz?“ Mürrisch brummte der Teufel vor sich hin. Reprobus drängte weiter: „Sage mir, warum reißt du vor einem Kreuz aus?“ Endlich antwortete der Teufel: „Es war ein Mensch, Christus mit Namen. Gott hatte ihn gesandt, und er tat nie etwas Böses. Trotzdem schlug man ihn ans Kreuz. Seit dem Tage zeigt sich seine Macht auf Erden. Komme ich an einem Kreuz vorbei, dann bin ich machtlos und muß weichen!“ Das genügte Reprobus. Nein, auch nicht der Teufel war der mächtigste Herr, sondern einer mit Namen Christus. Wie sollte er den finden?

Auf seiner Suche gelangte er in die Hütte eines Einsiedlers. Freundlich wurde Reprobus aufgenommen. Endlich konnte er in Ruhe etwas über diesen Herrn Christus erfahren. Der Einsiedler sprach von Jesus, dem Sohn Gottes, der als ein König ohne Krone regiert. Reprobus erfuhr, wie Jesus gerade den Menschen in Not half und die Armen und Kranken nicht im Stich ließ. Er hörte auch, wie Jesus den Menschen Gottes Güte zeigte und ihnen die Angst wegnahm. Nun wußte Reprobus sicher: „Das ist der mächtigste Herr. Aber wie kann ich ihm dienen?“ Der Einsiedler schlug vor: „Du kannst vom Morgen bis zum Abend zu ihm beten!“ „Gibt es nichts anderes zu tun?“ erkundigte sich Reprobus. „Du kannst viel fasten, das sieht der Herr auch gern!“ entgegnete ihm der Einsiedler. Aber hiermit war Reprobus erst recht nicht einverstanden. „Fasten, wäre das nicht schade um die große Kraft, die ich habe? Kann ich mit dieser Kraft nicht dienen?“

Nach einer Weile des Überlegens hatte der Einsiedler einen neuen Vorschlag: „Hier in der Nähe gibt es einen wilden, reißenden Fluß. Jeder, der ihn überqueren muß, begibt sich in große Gefahr. Keine Brücke kann dort halten, kein Boot übersetzen. Schon viele Menschen ertranken dort. Du bist stark. Auf deinen Schultern kannst du die Menschen hinübertragen. Diesen Dienst sieht der Herr Christus gern. Er freut sich über jeden, der den Menschen dient!“„ Das war für Reprobus ganz neu. Schnell und freudig ging er ans Werk. Bald war seine Hütte am Ufer fertig. Tag für Tag und manchmal auch nachts trug er die Menschen durch den Fluß. Keiner mußte ertrinken. Gesund und trocken gelangten sie zum anderen Ufer. Oftmals war diese Arbeit nicht leicht für Reprobus. In diesem reißenden Fluß gab es viele Strudel. Er mußte aufpassen, daß er da nicht hineingeriet. Manchmal wurden ihm fast die Füße weggezogen von der Kraft des Wassers.

Reprobus freute sich über seine neue Arbeit, doch allzugern hätte er den Herrn selbst einmal gesehen. Eines Nachts tobte ein gewaltiger Sturm. Reprobus hörte in seiner Hütte von draußen die Stimme eines Kindes rufen: „Reprobus, komm heraus und trage mich über den Fluß!“ Als er aus seiner Hütte trat, sah er niemanden. Kaum war er wieder in seiner trockenen und warmen Hütte, hörte er die Stimme wieder, sah aber wieder niemanden. Erst als er die Stimme zum drittenmal vernahm, sah er am Ufer undeutlich in Nacht und Wind ein Kind stehen. Mit seiner kleinen Stimme bat es Reprobus: „Trage mich bitte über den Fluß!“

Schnell nahm Reprobus das Kind auf seine Schultern und sagte: „Viele Menschen trug ich schon auf meinem Rücken über den Fluß, die viel schwerer waren als du. Mit deiner leichten Last kommen wir schnell hinüber!“ Munter schritt er, auf seinen festen Stab gestützt, los. Doch was war das? Höher und höher stieg das Wasser an ihm hinauf. Das Kind auf seinen Schultern wurde schwer wie Blei. Der starke Reprobus bekam Angst. Er fürchtete um sein Leben. Immer stärker drückte die Last des Kindes ihn hinunter. Keuchend stieg er in kleinen Schritten durch das Wasser.

Endlich erreichte er mit zitternden Knien das andere Ufer, setzte sich erschöpft nieder, ließ das Kind von seinen Schultern herab und stöhnte: „Du hast mich in große Not gebracht, Kind. So schwer wurdest du mir, als hätte ich die ganze Welt auf dem Rücken getragen!“ Lächelnd sah ihn das Kind an: „Wundere dich nicht darüber, Reprobus. Du hast nicht nur die ganze Welt getragen, sondern den, der sie erschaffen hat. Ich bin Christus, dein Herr. Gern sehe ich, wie du mir dienst. Du hast mich mit großer Anstrengung getragen. Beuge dich nun her zu mir, daß ich dich taufe. Du sollst ganz zu mir gehören. Auch einen neuen Namen sollst du bekommen. Du Christusträger Reprobus heißt nun hinfort Christophorus. Damit du weißt, daß ich die Wahrheit sage, stecke deinen Stab neben deiner Hütte in die Erde. Am Morgen wird er blühen und Früchte tragen!“ Mit diesen Worten verschwand das Kind. Christophorus ging fröhlich zurück und pflanzte den Stab neben seiner Hütte ein. Als er am anderen Morgen aufstand, sah er den Stab grünen und blühen. (Nacherzählung unter Verwendung von ..Die Wolke der Zeugen“ von Jörg Erb, Berlin 1954, und  ,Christophorus, Martin, Georg und Nikolaus“ von Renate Vogel, Berlin 1978).

 

 

Zum 10. Sonntag nach Trinitatis:

Als der preußische König Friedrich II. einen seiner Generale fragte, ob er ihm einen einzigen unwiderlegten Gottesbeweis nennen könne, gab ihn Graf Reventlow zur Antwort: „Jawohl, Majestät, die Juden!“ Mit seiner Antwort hat der General ins Schwarze getroffen; denn die Tatsache, daß die Juden als solche noch immer da sind, bleibt ein Rätsel. sofern Gottes Eingreifen unberücksichtigt bleibt.

Nachdem im Jahre 70 nCh Jerusalem und der Tempel zerstört worden waren, wurden die Juden in alle Himmelsrichtungen zerstreut. Die politische Existenz des jüdischen Volkes war zu Ende. Aber Jahrhunderte zuvor hatte es schon einmal ein ähnliches Schicksal erlitten. Mit der Zerstörung des Tempels (587 vCh) schien der Zusammenhalt des Volkes dahin zu sein. Die Verschleppten hatten sich aber im babylonischen Exil mit ihren Lehrhäusern, den Synagogen, in denen sie sich zum Gebet und zum Lesen der Heiligen Schrift versammelten, einen neuen Mittelpunkt geschaffen. Andere, die nach Ägypten geflohen waren, hatten sich dort in ähnlicher Weise eingerichtet.

Als den Verschleppten und den Flüchtlingen die Möglichkeit zur Heimkehr gegeben wurde, folgte nur ein kleiner Teil diesem Ruf. Die meisten blieben in Babylon oder Ägypten und lebten von nun an in der Zerstreuung. Die Vereinzelten sammelten sich in der Synagoge. Sie hielten am Gesetz des Mose und an den Verheißungen der Propheten fest. Sie wußten sich - auch in ihrer Vereinzelung - als Gottes erwähltes Volk.

Dieses Bewußtsein hat sie vor dem Untergang bewahrt. Ein anderes Volk, von ähnlichem Schicksal betroffen, hätte sich spätestens in der dritten Generation dem Volk in der Fremde angepaßt und wäre damit untergegangen. Die Juden sind durch die Jahrhunderte hindurch Juden geblieben - Gottes erwähltes Volk, „ein Volk, das, unbegreiflich genug, ganz anders als alle anderen Völker, sein besonderes Wesen gerade darin hat, so anonym, so glanzlos da zu sein, gerade kein Eigenes zu haben!“ (Karl Barth, Die Judenfrage und ihre christliche Beantwortung).

Mit Abrahams Berufung (1. Mose 12,1 - 4) hat die Erwählung eingesetzt. Mit ihr reißt Gott den Erwählten aus seiner Familie und seiner Heimat heraus und macht ihn einsam. Der Erwählte wird auf einen Weg geführt, dessen Ende er nicht kennt. Im unbedingten Gehorsam des Glaubens empfängt er Gottes Verheißung, ein großes Volk zu werden. Dabei kommen alle Völker der Erde in den Blick.

Von der Erwählung Israels wird im Alten Testament oft gesprochen, am meisten im 5. Buch Muse (z. B. 14,2) und bei Deuterojesaja (z. B. 41,8-10). Israel hat seine Erwählung nicht seinen Vorzügen oder seinen Leistungen zu verdanken, „sondern weil er euch geliebt hat und damit er seinen Eid hielte, den er euren Vätern geschworen hat“ (5. Mose 7,8). Gott hat das Volk durch seine Erwählung aus der Völkerwelt herausgenommen, aber nicht, um das erwählte Volk in einer Absonderung zu lassen, sondern um es zum Licht der Heiden (Jes 42,6; 49,6) zu machen.

Als das erwählte Volk trägt Israel auch eine besondere Verantwortung. Darum will Gott auch an ihm „heimsuchen alle eure Sünde“ (Am 3,2). Doch solche Heimsuchung steht allein Gott zu. In dem Trostwort des zweiten Jesaja wird Jerusalem das Ende der Knechtschaft im babylonischen Exil angekündigt: „Sie hat doppelte Strafe empfangen von der Hand des Herrn für alle ihre Sünden“ (Jes 40,2). Das erwählte Volk bleibt - trotz seines Ungehorsams - unter Gottes besonderem Schutz. Er sagt: „Wer euch antastet, der tastet meinen Augapfel an“ (Sach 2,12).

Die Erwählung wurde in Israel am tiefsten in der Zeit des drohenden Untergangs und des Exils erfahren. Der Erwählungsglaube wurde Israels letzter Halt und hat es durch den Untergang hindurchgerettet. Für die nachexilische Gemeinde wurde dieser Glaube zum Wegweiser. Die Gewißheit der göttlichen Erwählung hat der kleinen Volksgemeinde, die fast ständig fremden Mächten unterworfen war, hindurchgeholfen, auch wenn sie durch viel Leiden gehen mußte. Die Erwählung Israels verdichtet sich in dem einen Erwählten, Jesus von Nazareth. Er weiß sich „gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“.

 

Auch in Deutschland gab es viele Juden. Im Jahre 1925 hatte in Deutschland über eine Million luden gelebt. Im September 1944 waren es nur noch 14.000. Nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges kehrten einzelne Juden in ihre deutsche Heimat zurück. Rabbiner Dr. Martin Riesenburger konnte 1953 die Berliner Synagoge in der Rykestraße, die während des Krieges als Lagerraum benutzt worden war, nach vollständiger Renovierung als Friedenstempel wieder einweihen. Die Zahl der Sitze ist den neuen Verhältnissen entsprechend auf 500 Männerplätze und 300 Frauenplätze verringert worden. Die Sabbatfeiern finden im ehemaligen Trausaal mit 50 Plätzen statt. Im Jahre 1978 gehörten 340 Mitglieder zur jüdischen Gemeinde in Berlin. Vor 1933 hatte es allein in Berlin nicht weniger als zwölf große Synagogen gegeben. In der DDR gab es acht jüdische Gemeinden mit ihren Gottesdienststätten in Berlin, Dresden, Erfurt, Halle, Chemnitz, Leipzig, Magdeburg und Schwerin.

Die Synode der EKD vom 23. - 27 April 1950 in Berlin-Weißensee stellte sich die Frage: „Was können die Kirchen für den Frieden tun?“ Der damalige Synodale Heinrich Vogel sagte dazu: „Wir erkannten, daß wir nicht legitimiert wären, als Kirche zur Friedensfrage zu sprechen, wenn wir als Kirche in Sachen der Schuld an Israel schwiege““. Die Synode beschloß einstimmig eine Erklärung zur Judenfrage.

Die römisch-katholische Kirche hat im 2. Vatikanischen Konzil (1962-1965) in ihrer Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen in Artikel 4 zur Judenfrage Stellung genommen und dabei u. a. betont: „Ein großer Teil der Juden hat das Evangelium nicht angenommen, ja, nicht wenige haben sich seiner Ausbreitung widersetzt. Nichts­destoweniger sind die Juden nach dem Zeugnis des Apostels immer noch Gottes Lieblinge um der Väter willen; sind doch seine Gnadengaben und seine Berufung unwiderruflich.“

Kurz vor seinem Tode, am 3. Juni 1963, hat Papst Johannes XXIII. das folgende Bußgebet verfaßt: „Wir erkennen nun, daß viele, viele Jahrhunderte der Blindheit unsere Augen bedeckt haben, so daß wir die Schönheit Deines auserwählten Volkes nicht mehr sehen und in seinem Gesicht nicht mehr die Züge unseres erstgeborenen Bruders wiedererkennen. Wir erkennen, daß das Kainszeichen auf unserer Stirn steht. Jahrhundertelang hat Abel darniedergelegen in Blut und Tränen, weil wir Deine Liebe vergaßen. Vergib uns die Verfluchung, die wir zu Unrecht aussprachen über den Namen der Juden. Vergib uns, daß wir Dich in ihrem Fleische zum zweitenmal kreuzigten. Denn wir wußten nicht, was wir taten“.

An der Mauer des Warschauer Gettos stand geschrieben:

„Ich glaube an die Sonne, auch wenn sie nicht scheint.

Ich glaube an die Liebe, auch wenn ich sie nicht spüre.

Ich glaube an Gott, auch wenn ich ihn nicht sehe.“

 

 

Der Zeitpunkt der Wiederkunft Christi

Die ersten Christen rechneten sehr stark mit seinem Wiederkommen noch zu ihren Lebzeiten. Die Gemeinde in Jerusalem geriet in große Not, weil die Christen dort alles verkauften und täglich ihren Herrn wieder erwarteten. Paulus mußte in seinen Missionsgemeinden für die Jerusalemer betteln und sammeln.

Zu Luthers Zeiten lebte in Lochau bei Torgau ein Pastor und ehemaliger Mönch Michael Stiefel, der nach unermüdlichem Studium errechnete: Am 19. Oktober 1533 wird der Herr wie­derkommen! Die Randsiedlern lachen ihn aus, stehlen und morden. Die Frommen vernachlässigen ihre Arbeit und bereiten sich mit. Beten und Fasten auf die Ankunft des Herrn vor.

Tausend Menschen haben sich am „Jüngsten Tag“ nach. der Berechnung Stiefels in der Kirche von Lochau versammelt. Seit Mitternacht läuten die Glocken. Dann tritt Stille ein, die Gebete mischen sich mit dem Grölen der Betrunkenen im nahen Wirtshaus. Jetzt muß es geschehen: Michael Stiefel steht vor dem Altar, das Gesicht erhoben, lauschend und erwartungsvoll. Und nichts geschieht. Nur ein kleiner Zeisig fliegt durch das Kirchenschiff, zwitschert und setzt sich jubilierend auf das Schnitzwerk des Altars.

Als die erstarrte Menge sich auf dieser Erde wieder findet, ist das Schelmenlied plötzlich da: „Stiefel muß sterben, ist noch so jung, so jung...“

Mit der Berechnung der Wiederkunft Christi haben sich in unseren Tagen die „Zeugen Jehovas“ vielfach beschäftigt. Ihr Gründer hat das Jahr 1874 errechnet, dann die 3 1/2 Jahre Wirkungszeit Jesu hinzugerechnet und später 40 Jahre Erntezeit als Frist für die Auserwählung gegeben. Aber auch 1914 war ein ebenso falscher Termin wie die neue Berechnung auf das Jahr 1925. Der nächste Termin ist das Jahr 1975.

Aus diesen Beispielen ergibt sich: Über einen Termin können wir keine Aussage machen. Aber was gibt uns das Recht, an eine Wiederkunft Christi zu glauben?

 

 

Sondertext: 1. Thess 4, 13 - 18

Es ist immer wieder schwer für uns, wenn wir eine uns nahestehenden Menschen hergehen müssen an den Tod. Im ersten Augenblick kann man es gar nicht fassen. Eben noch hat sich der Mensch noch bewegt, wir haben noch mit ihm gesprochen, er hat uns noch angesehen. Aber dann ist es auf einmal aus und nichts ist mehr möglich.           

Man kann sich erst gar nicht daran gewöhnen: Wenn man in das Zimmer kommt, in dem der Verstorbene sich meist aufhielt, sucht man ihn unwillkürlich und bemerkt schmerzlich die Lü>Und da heißt es nun in unserem Predigttext: „Seid nicht traurig wie die anderen, die keine Hoffnung haben!“ Das ist leichter gesagt als getan. Denn es geht uns doch so wie allen anderen Menschen: Der Tod eines nahen Verwandten nimmt uns schon mit und läßt uns nicht unbeeindruckt.

Aber sicherlich ist uns diese rein menschliche Trauer nicht verwehrt - das ist hier nicht gemeint. Im Gegenteil: Wir würden uns sehr wundern, wenn ein Sohn nicht betrübt wäre über den Tod seines Vaters. Aber so etwas soll es ja auch geben: Einmal Kinder, die froh sind, wenn der Alte endlich gestorben ist und unter die Erde gekommen ist, damit er keine Last mehr ist.

Aber es gab auch schon einen Vater, der betrunken zur Beerdigung seines Kindes kam und völlig teilnahmslos am Grab stand. Als man ihn deswegen fragte,   meinte er sehr derb: „Was soll ich um ein Kind weinen, das ich jeden Tag selber machen kann!“ Wer nicht durch den Tod berührt wird, der hat auch keinen Gott mehr. Aber die Regel ist solches herzloses Verhalten ja nicht.      

Aber wir sehen hier doch: Nicht überall, wo der Tod eingekehrt ist, sind auch Trauernde, die nach Hoffnung und Trost verlangen.         Zwischen denen, die keine Hoffnung haben, und denen, die in Hoffnung leben, verläuft die Grenze heute weithin unsichtbar mitten durch die christliche Gemeinde und durch das Herz eines jeden Einzelnen hindurch.       

Doch wenn nun einer wirklich betrübt ist, dann ist es ein schwacher Trost, wenn man ihm sagt: „Sei nicht traurig!“ Selbst der Hinweis      auf unseren Glauben, auf die Auferstehung, hilft manchmal nichts; denn der Schmerz bohrt ja j e t z t und alles andere ist eine Vertröstung auf die Zukunft.

Wir können da nicht an ein christliches Heldentum appellieren und sagen: „Es ist ja nur halb so schlimm. Wir müssen alle einmal sterben, aber wir werden auch alle einmal auferstehen!“ Das hilft für das konkrete Problem kaum etwas.

Aber dennoch gilt: Wir müssen nicht traurig sein wie die anderen, die keine Hoffnung haben! Denn wir haben eine Zusage, die Zusage Gottes, die uns auch über den Schmerz des Augenblicks hinaussehen läßt, auf das Ziel unsres irdischen Daseins: das Leben bei Gott! Das ist wirklich die einzige Hoffnung, die wir haben können, gerade angesichts des Todes.

 

Wer sind denn die, die keine Hoffnung haben? Es müssen nicht unbedingt die sein, die außerhalb der Kirche stehen. Bei einer Umfrage haben nur 37 Prozent der Evangelischen die Frage bejaht, ob es ein Leben nach dem Tode gebe; und unter den Kirchgängern waren es auch nur 65 Prozent, und bei Älteren und Jüngeren war der Anteil gleich, die Älteren haben nicht mehr Hoffnung als die Jüngeren auch.

Wir reden und hören alle nicht gern vom Tod. Vor allem jüngere Leute machen einen großen Bogen um den Friedhof und möchten nicht einmal bei der Beerdigung eines guten Bekannten teilnehmen, um nur ja nicht an den Tod erinnert zu werden.

Bei uns ist die Frage nach dem Tode nicht so besonders aktuell - ganz im Gegensatz zu den Fragen der Thessalonicher. Höchstens unterschwellig kommen die Gedanken wieder hoch bei einem Todesfall. Aber sonst möchten wir möglichst wenig zu tun haben mit dieser ganzen Sache. Für das praktische Leben spielt sie keine besondere Rolle, auch nicht an den letzten Sonntagen des Kirchenjahres. Meist sagen wir doch, auch als Trost für Trauernde; „Zeit heilt Wunden“ oder „Das Leben muß doch weitergehen!“ Das ist unsre ganz praktische Philosophie.

Und die, die nun überhaupt nicht an Gott glauben, haben noch einmal eine andere Antwort auf die Frage nach dem Problem des Todes, das heißt: eigentlich sind es drei Antworten, bei sogenannten „weltlichen Trauerfeiern“ kann man sie hören:

1. Wir leben weiter in unsren Kindern! Aber das stimmt ja nicht. Jedes Kind ist ein eigener Mensch. Die Kinder haben ihr eigenes Leben und setzen unser Leben nicht fort. Wir müssen sterben, aber sie werden leben.

2. Wir leben fort im Andenken der Menschen! Aber das ist einfach Einbildung und Heuchelei. Nichts geht schneller vergessen als ein toter Mensch. Schon nach wenigen Tagen hat man sein genaues Bild vergessen und von Tag zu Tag wird die Erinnerung schwächer. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen lebt nicht einmal unser Bild im Gedächtnis der Menschen weiter.

3. Wir leben weiter in unsrem Werk! Gewiß, wenn einer etwas Großartiges geschaffen hat, dann bleibt sein Name vielleicht 1ange mit dieser Leistung verbunden. Aber eben sein Werk besteht weiter und nicht er selbst. Und was soll der sagen, der nichts hinterlassen hat? Ist das Andenken an ihn mit dem Tag eines Todes weggewischt?

All diese drei Antworten können keinen Trost geben. Da hält man sich lieber an die Bibel. Wie schön ist hier beschrieben: „Die Toten schlafen nur!“ Aber einmal werden sie von Christus abgeholt werden von dieser Erde. Christus wird in all seiner Herrlichkeit kommen wie bei dem Staatsbesuch eines Herrschers. Und dann wird er alle, die an ihn glauben, mit sich

fortführen, damit sie bei Gott sind. Auch die schon „im Herrn entschlafen“ sind, sollen dann dazugehören.

Die Thessalonicher hatten bei Paulus angefragt: „Was wird denn mit den Gemeindegliedern, die schon verstorben sind?“ Man wundert sich eigentlich, daß sie so fragen, denn aus ihrem Taufunterricht kannten sie doch sicher die Lehre von der Auferstehung der Toten. Doch das war wohl alles in den Hintergrund gedrängt worden durch die Naherwartung der Ankunft des Herrn.

Sie nahmen an, sie würden nicht mehr sterben, sondern gleich zu Gott kommen. Aber nun waren sie beunruhigt, daß schon einige gestorben waren und nichts geschah. Doch Paulus kann sie beruhigen. Er teilt in diesem frühesten seiner Briefe noch ganz die Naherwartung der Thessalonicher. Aber er sagt: „Die Verstorbenen werden nichts versäumen, sondern sie werden genauso wie die Lebenden Anteil haben an dieser Heimholung durch Christus: Wer in Christus gestorben ist, dem ist die Auferstehung jetzt schon sicher. Er wird das Heil Gottes nicht versäumen, sondern für ihn wird durch ein Auferstehungswunder ganz speziell gesorgt werden!“

Doch das Bild, mit dem dieser Vorgang beschrieben wird, ist uns heute fremd: die Stimme des Erzengels und die Posaune Gottes - das Hingerücktwerden in den Wolken, dem Herrn entgegen in die Luft - das klingt uns doch alles so unwahrscheinlich und märchenhaft. Paulus verwendet hier einfach Vorstellungen der jüdischen Religion, die uns heute nicht mehr so ohne weiteres zugänglich sind.

Doch so viel ist deutlich: Die Entrückung in Wolken bedeutet Verhüllung und Verwandlung. Niemand wird feststellen können, was da eigentlich geschieht und was Gott vorhat, es bleibt sein Geheimnis.

Wir werden hier nicht belehrt über das christliche Verständnis des Todes. Der Text gibt uns auch nicht Antwort auf die Frage nach dem Sinn oder Unsinn des Todes. Für die Bibel ist das Problem des Todes sowieso nur eine Grenzfrage, denn in erster Linie schärft sie uns ein: Jeder Mensch steht vor Gott und ist ihm: verantwortlich. So soll uns auch hier nicht unsre Zukunft enthüllt werden, sondern hier wird uns nur die ewige Gemeinschaft mit Gott bezeugt - auch über den Tod hinaus.

Wir wissen: Christen müssen nicht ohne Hoffnung trauern. Wir dürfen Mut haben für unsre Zukunft, denn ihr wird auch durch den Tod keine Grenze gesetzt. Im Tod bewährt sich gerade erst die Gemeinschaft mit Gott.

Nun könnte man natürlich immer noch einer sagen: Diese Hoffnung über den Tod hinaus ist auch nur ein Teil des antiken Weltbildes, das heute vergangen ist, gewissermaßen nur die märchenhafte Einkleidung einer längst vergangenen Wunschvorstellung. Aber sicher wird man hier einen Unterschied machen müssen: Das mit der Posaune und dem Flug durch die Luft mag vielleicht vergangen sein, da können wir heute nicht mehr mit.

Aber was damit gemeint war, gilt bis heute noch, das kann uns keine Veränderung des Weltbildes nehmen „Wir werden mit dem Herrn sein allezeit!“ Schöner kann man es nicht sagen. Und wer mehr erfahren will und noch tiefer in die Geheimnisse Gottes eindringen will, wird nur weniger haben.

Nicht auf diese phantastischen Bilder von der Wiederkunft Christi wollen wir unseren Glauben bauen, sondern auf die tröstliche Zusage: „Jesus ist als Erster auferstanden und wir werden mit dem Herrn sein allezeit, im Leben und im Tod!

 

 

Stellung der Kirchen

Früher war die Kirche ein Kulturfaktor und zum Teil sogar ein politischer Faktor. Da kam der Pfarrer vor dem Bürgermeister und der Bischof vor dem Staatsoberhaupt. Da kam es nicht in Frage, daß etwa am Karsamstag ein Tanz stattfand.

Heute befinden wir uns wieder in einer Talsohle der Entwicklung, jedenfalls von außen gesehen. Ein Sinnbild für die heutige Stellung der Kirchen ist, wenn die Kirchtürme überragt werden von Schornsteinen, Hochhäusern und Fernsehtürmen. In Berlin durfte früher das Rat­haus nicht höher sein als die Marienkirche. Heute steht unmittelbar neben der Marienkirche der Fernsehturm. Es ist vieles anders, als es früher einmal war. Aber mit der Kirche ist es deshalb noch längst nicht aus.           (Ulrich Heilmann in „Potsdamer Kirche“:   

 

 

Versucht wie er, aber nicht ohne Sünde (zu Mt 4,1-1)

Als der Teufel den Herrn verlassen hatte, schüttelte er den Kopf, denn er verstand ihn nicht. Und er sprach zu sich selbst: „Ich verstehe ihn nicht. Ich habe ihm angeboten, daß er mit Gottes Hilfe satt werden könne, und er wählte den Mangel. Ich habe ihm Sicherheit angeboten, die Sicherheit, die die Engel bieten, und er wählte die Unsicherheit! Ich habe ihm Macht und Einfluß angeboten, und er wählte die Ohnmacht. Ich verstehe ihn nicht!“ Er konnte ihn nicht verstehen. Er war ja der Teufel.

Aber er hatte nur den Herrn verlassen und nicht die Welt. Und so sagte er weiter zu sich selbst: „Ich will mich an seine Jünger machen. Meine Fragen waren gut. Ich habe gesehen, wie er kämpfen mußte, um zu siegen. Ich werden seine Jünger versuchen!“" Und er verkleidete sich in einen Engel des Lichts, ging hin in die Länder und Jahrhunderte und versuchte die Christen. Und Gott, der Herr, ließ ihn gewähren eine Zeitlang.

Und er ging zu den Kirchen und sah die Einflußreichen bei der Beratung und hinter ihnen viele, viele Christen. Es waren da die vielen, die immer dasselbe dachten wie die Einflußreichen, und die anderen - und derer waren noch mehr - die nur sehr wenig nachdachten, aber immer das taten, was die Einflußreichen für sie gedacht hatten. Und der Teufel trat zu ihnen und sagte ihnen, daß sie hungrig, ungesichert und ohnmächtig nicht viel ausrichten würden in der Welt.

Er sagte: „Denn das Evangelium wird glaubwürdiger, wenn ihr es satt, sicher und mächtig in die Welt tragt!“ Da nickten die Einflußreichen mit dem Kopf, denn das hatten sie auch schon gedacht. Und die vielen, die immer dasselbe dachten wie sie, nickten auch mit dem Kopf, und die anderen nickten auch, weil die Einflußreichen genickt hatten. Und die Kirchen wurden satt, sicher und mächtig; und es waren wenige, die beim Herrn in seiner Schwachheit ausharren rollten.

Nachdem der Teufel schon viele Verträge mit vielen Kirchen abgeschlossen hatte, kam er neunzehn Jahrhunderte nach der Versuchung Jesu zu einer Kirche, deren Volk sehr schuldig geworden war. Und die Kirche war auch schuldig geworden und hatte es sogar zugegeben. Ihr Reich war zerschlagen, und ihre Kirche war auch zerstört. Sie waren eben dabei, die Kirche neu aufzubauen. Als der Teufel zu ihnen trat, saßen die Einflußreichen zusammen und erzählten einander, wie sie mit den Dämonen gerungen hätten. Und hinter ihnen sah der Teufel die vielen, die immer dasselbe dachten wie die Einflußreichen, und die anderen - und derer waren auch in diesem Lande und auch nach diesem Zusammenbruch die meisten - die selten nachdachten und immer das taten, was die Einflußreichen für sie gedacht hatten.

Und der Teufel sagte zu ihnen: „Ihr kennt nun den Mangel und wißt, wie er eure Arbeit hemmt. Es kommt nun darauf an, daß die Verkünder in Kleidung und Auftreten zeigen, daß man von Gottes Gnade gut leben kann. In eurem Volk wird das viel ausmachen.“ Da nickten die Einflußreichen, denn das leuchtete ihnen ein, und sie kannten ihr Volk. Und der Teufel sagte weiter: „Ihr habt erlebt, wie es ist, wenn eure Versammlungen behindert oder gar verboten werden können. Ihr müßt alles tun, daß niemand eure Arbeit stören kann!“

Da nickten sie alle sehr; nur d i e Sicherheit, die die Engel bieten, war ihnen zu unsicher, und sie wollten sich lieber mit Waffen schützen. Da gab ihnen der Teufel von ihm erfundene, sehr wirksame Waffen. Und sie waren es nun zufrieden, und er war es auch zufrieden. Und dann sagte er: „Ihr habt erlebt, wie eine gottlose Welt mit euch umgesprungen ist. Ihr müßt die Macht ergreifen in Wirtschaft und Politik, in Presse und Rundfunk, daß die Welt christlich wird!“ Das hatten sie auch schon gedacht, und so nickten sie.

Nur wenige unter den Einflußreichen und andere, die die Bibel gelesen hatten, gaben zu bedenken, daß Jesus in Matthäus 4 doch ganz anders entschieden hatte. Aber da sagte man Ihnen, sie verstünden eben nichts von Heilsgeschichte, und sie läsen die Bibel ganz falsch. Andere wieder sagten, das sei ja doch bloß ein Märchen und müsse existential interpretiert werden; und weil das kaum einer verstand, meinten sie alle, das bedeute, daß man in der Kirche keine Experimente machen dürfe und daß alles beim Alten bleiben sollte.

Und der Teufel gab ihnen viele Schriftstellen, und man konnte die Zitate prüfen, ob sie stimm­ten, und sie standen wirklich in der Bibel. Und als dann immer noch einige zweifelten, sagte der Teufel, sie seien eben Schwärmer; denn er wußte, daß man in diesem Lande jeden kirchlich erledigen konnte, wenn man ihn einen Schwärmer nannte. Und als der Tag der Entscheidung kam, hatten sie die Mehrheit. Man brauchte gar nicht erst zu zählen, so groß war die Mehrheit. Und auch diese Kirche wurde satt, sicher und mächtig; und es waren wenige, die beim Herrn in seiner Schwachheit ausharren wollten.

Und der Teufel zog in ein anderes Land, in dem dieselbe Sprache gesprochen wurde. Aber sonst war vieles anders: Die Kirche hatte Mangel und lebte in großer innerer und äußerer Unsicherheit und hatte fast keine Macht mehr. Es war ein atheistisches Land. .Da war der Teufel bestürzt, und er erschrak sehr - denn die Teufel können auch erschrecken, aber die meisten Menschen wissen das nicht. Und er sagte zu sich selbst: Wie soll ich sie von Jesus wegbringen? Sie haben nicht die leiseste Chance, bald satt, sicher und mächtig zu werden. Ich werde ein Meisterstück liefern müssen: Sie müssen mir ihre Seele verkaufen, ohne daß ich ihnen gebe, wonach ihr Herz sich sehnt.

Und er trat zu ihnen und sah, daß es auch in dieser Kirche die Einflußreichen gab und die vielen, die immer so dachten wie sie; aber auch hier dachten die meisten wenig nach, taten aber das, was die Einflußreichen für sie gedacht hatten. Und er sagte zu ihnen: „Ihr müßt immer über die Grenze blicken, damit ihr nicht vergeßt, wie das Evangelium richtig ausgerichtet wird: satt, sicher und mächtig. Ihr müßt darauf warten und euch immer danach sehnen, daß ihr es auch bald so habt!“ Denn er dachte: Wenn ich nur ihre Seele bekomme, dann bin ich schon zufrieden. Das ist eben so viel, als wären sie wirklich satt, sicher und mächtig. Und viele nickten dazu, denn sie hatten schon immer zur Grenze geblickt und ihre Sehnsucht hinüber gesandt.

Und der Teufel sagte weiter: „Ihr dürft aber nicht nur warten, sondern ihr müßt um euer Recht kämpfen. Die Kirche hat das Recht, ihre Botschaft satt, sicher und mächtig in die Welt zu tragen. Tut alles, damit die Rechte der Kirche nicht geschmälert werden können!“

 

Da nickten die Einflußreichen, denn das Wort „Recht“ gefiel ihnen sehr, und es tat so gut, sich im Recht zu wissen. Und die anderen nickten auch, teils weil sie auch so dachten, teils weil die Einflußreichen so dachten. Und nur wenige wiesen auf Matthäus 4 hin und sagten, sie könnten jetzt vieles in der Bibel besser verstehen als früher und es sei gewiß Gottes Gnade darin und sie seien Jesus näher in dem Mangel, der Unsicherheit und Ohnmacht.

Und einer sagte: „Laßt uns bei Jesus bleiben!“und ein anderer: „Es ist die Versuchung des Teufels in den Warten auf die Macht und in den Kampf um die Macht!“ Aber da lachten die anderen sie aus und sagten, das sei ja ganz abgeschmackt. Der Teufel sei doch auf der Seite der Atheisten und nicht in der Kirche, das wisse doch jedes Kind. Sie seien sicher bloß feige und wenigstens nicht entschieden genug. Das hatte ihnen der Teufel gesagt, denn er wußte, daß man in diesem Land jeden kirchlich erledigen konnte, indem man von ihm sagte, er sei nicht entschieden.

Und als der Tag der Entscheidung kam, hatten sie die Mehrheit. Denn es waren wenige, die gerne beim Herrn in seiner Schwachheit ausharren wollten. Der Teufel aber hatte sein Meisterstück vollbracht. Und nun du, der du das liest, du sagst vielleicht: „Das ist ja scheußlich, das ist ja nur ein Märchen und ein sehr durchsichtig konstruiertes dazu, es muß ja gar nicht so ausgehen!“ Und ich sage darauf: „Du magst recht haben, wenigstens mit dem Letzten hast du recht: Es muß nicht so ausgehen. Du kannst bei Jesus bleiben, und die Kirche kann auch bei Jesus bleiben. Er hat es uns gültig vorgemacht, wie man die Versuchung besteht. Wir können jetzt auch sagen: „Hebe dich weg von mir, Satan!“

Aber eins darfst du nicht sagen! Du darfst nicht sagen: „So ernst ist es ja gar nicht. Denn der Teufel geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, welchen er verschlinge. Und Gott, der Herr, läßt ihn noch gewähren eine Zeitlang!“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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