Juden

 

Altes Israel

 

Die fruchtbare Region an den Ufern des Jordan lag stets an den Peripherien gewaltiger antiker Reiche. Um ihren Besitz stritten Hethiter und Ägypter; Assyrer, Babylonier und Perser eroberten den Landstrich, dessen Kerngebiet nicht viel größer ist als das heutige Bundesland Hessen. Alexander verleibte es seinem Weltreich ein. Das ferne Rom entsandte Statthalter wie Pontius Pilatus, denen byzantinische, und arabische Gouverneure folgten. Westeuropas Kreuzzügler wollten das Ursprungsland ihres Glaubens zurückerobern, das später als tiefste Provinz des Osmanischen Reiches dahindämmerte und schließlich als Israel wieder entstand.

Stets hat das umstrittene Terrain die Schlachtfelder eines Krieges stellen müssen, der wie eine biblische Plage immer wieder über das Land herfiel.

Mehr noch: Als hätte das Land nicht genug an seinem Schicksal als Spielball weltlicher Mächte zu tragen, wird es auch noch mit der Heilsgeschichte der drei großen monotheistischen Weltreligionen belastet. Juden, Christen und Muslime pflegen hier die Wurzeln ihres Glaubens, was ihren Auseinandersetzungen Schärfe und Dynamik verleiht, denn jeder beharrt auf der Exklusivität seines Heilsanspruchs.

Hier hat König David die Stämme Israels in ein gemeinsames Reich gezwungen. Sein angebliches Grab in Jerusalem liegt nur wenige Schritte neben jenem Haus, in dem Christen den Ort des letzten Abendmahls ihres Religionsstifters Jesus vermuten. Und von dort sind es nur einige hundert Meter Luftlinie bis zu jenem Felsenplateau mitten in der Stadt, das auf Arabisch al-Haram al-Scharff heißt und auf dem die Aksa-Moschee und der Felsendom stehen. Von hier aus ritt der islamischen Überlieferung nach der Prophet Mohammed auf seinem Pferd Burak gen Himmel. Al-Kuds, die Heilige, nennen seither Muslime Jerusalem.

 

Die Patriarchenzeit ist um 1900 vChr: Abraham bekennt sich zu dem einem Gott, vertritt den Erwählungsgedanken und setzt die Beschneidung ein. Seine Söhne sind Ismael (Söhne Ismaels = Araber) und Isaak. Dessen Sohn Jakob erhält den Namen „Israel“.

Die Mosezeit ist im 14. bzw. 13. Jahrhundert vChr: Mose leitet den Auszug aus Ägypten und formuliert das Bekenntnis zu dem Gott; der Geschichte macht (Dtn 6). Er vermittelt den Bund am Sinai. Unter Josua kommt es zur Landnahme in Kanaan, die erste Erfüllung der Verheißung.

Die Richterzeit ist um 1200: Israel wird ein. Der letzte Richter ist Samuel, der zur Entstehung des Königtums überleitet.

 

Ausgangspunkt ist die Rückwanderung von Hebräern im zweiten vorchristlichen Jahrtausend. Die nomadischen Hirten verließen das fruchtbare Nil-Delta, in das ihre Vorfahren in vorhistorischer Zeit eingewandert waren, vermutlich, weil sie dort bessere Lebensbedingungen vorgefunden hatten. Vom Zug des Patriarchen Abraham nach Ägypten berichtet auch die Bibel. Die Heimkehr hingegen wurde für die Juden zum Ausgangspunkt jüdischer Geschichte, überhöht durch die Figur des messianischen Führers Mose und umgedeutet zu einem glanzvollen Sieg über die Ägypter, einem Gotteswerk, das blutig errungen wurde.

Das Pessach-Fest, das zentrale Fest des Judentums, gedenkt dieses Auszugs und gleichzeitig der Tötung aller erstgeborenen Ägypter, die ein zürnender Jahwe erschlug, damit sein Volk gehen konnte - das erste Pessach-Massaker: „Es ward ein großes Geschrei in Ägypten, denn es war kein Haus, in dem nicht ein Toter war“ (2. Buch Mose 12,30).

Sobald die Neuankömmlinge stark genug geworden waren, um kanaanitische Städte in ihrer Nachbarschaft zu erobern (1200 bis l000 vor Christus), gibt es neue Gemetzel. Nach der Eroberung von Jericho vollstrecken die Sieger den Bann an allem, was in der Stadt war, mit der Schärfe des Schwertes: „an Mann und Weib, Jung und Alt, Rindern, Schafen und Eseln“, wie die Bibel weiß.

Das Buch der Richter beschreibt die Auseinandersetzung der einzelnen hebräischen Stämme mit den Kanaanitern und zeichnet ein halbwegs realistisches Bild der Kolonisierung des Gelobten Lands.

Die langwierigen Kämpfe mit den nichthebräischen Nachbarn werden allerdings zu einem ewig gültigen Gottesplan emporstilisiert: „Dies sind die Völker, die der Herr übrig ließ - damit er durch sie Israel prüfte ... und die Geschlechter Israels Krieg führen lehrte.“

 

Die Königszeit beginnt um 1000: Saul. David, Salomo. Die höfische Geschichtsschreibung in Israel beginnt. Erst David, ursprünglich ein regionaler War-Lord, dessen Soldateska sich mit Schutzgeldern über Wasser hielt, einte die Stämme seines Volkes. Er ließ sich zum König der Doppelmonarchie von Juda und Israel salben und konnte eine Schwäche der Weltreiche Ägypten und Assyrien aus-nutzen, um die Grenzen seines Landes bis über Damaskus im Norden und ans Rote Meer im Süden auszuweiten.

Davids wichtigste Tat aber war die Er­oberung der alten Stadt Jerusalem, einer strategisch gelegenen Bergfeste, die er zu seiner Residenz machte. Fortan blieb die „Burg Zion“ geistiges Zentrum für alle he­bräischen Stämme und später für die Juden in aller Welt.

David nimmt in der Überlieferung seiner Anhänger messianische Züge an, nicht zuletzt wegen seiner Heldentaten im anhal­tenden Kampf gegen die Philister, die im Bereich des heutigen Gaza-Streifens lebten und nach denen das Gebiet Palästina benannt ist. Die Legende von seinem Sieg über Goliath macht ihn zum Retter des Volks. Sogar das Neue Testament der Christen legitimiert Jesus als Nachkommen Davids. Der König der Israeliten bleibt für. alle Ewigkeiten ein großer Kriegsherr: Sein Vorgänger Saul habe, so jubeln die Verfas­ser des Buches Samuel, „tausend erschla­gen, David aber zehntausend“.

 

Schon unter seinem Enkel Rehabeam, der 928 vor Christus den Thron bestieg, zer­fiel im Jahre 926 die Doppelmonarchie wieder in das süd­liche Königreich Juda (Hauptstadt Jerusalem) und das nördliche Is­rael (Hauptstadt Samaria). Die Niederlage geriet zum nationalen Trauma. Noch heute wird die jüdische Erfahrung durch die „zehn verlorenen Stämme“ des Nordreichs Israel belastet.

Die folgenden Jahrzehnte verbrachten die verfeindeten Reiche mit Bruderkriegen. Neben der Geschichte der Könige gibt es in dieser Zeit die Geschichte der Propheten. Dazu kennt die Weltgeschichte keine Parallelen.

Das Nordreich Israel wird 722 durch die Assyrer besiegt, es gibt keine Rückkehr aus dem Exil. Aber es entstehen die Samaritaner, die heute noch als religiöse Gruppe im Staat Israel existieren. Auf die Assyrer folgten die Babylonier, deren König Nebukadnezar 587 vor Christus die Hauptstadt von Juda überfiel. Er „verbrannte das Haus des Herrn und das Haus des Königs und alle Häuser in Jerusalem“, wie das 2. Buch der Könige klagt. Die Rettung der Hauptstadt konnte nur durch den Preis der Unterwerfung gelingen. Juda war fortan ein Vasallenstaat Babylons, dessen Götter nun auch in Jerusalem Einzug hielten. Es erfolgt die Deportation nach Babel. Seitdem gibt es jüdische Diaspora.

Edikt des Cyrus von Persien im Jahre 538 bringt die Rückkehr der Deportierten. Seitdem gibt es den Begriff: „Juden”. Stadtmauer und Tempel werden wieder aufgebaut, aber es gibt keine politische Frei­heit. Unter den Persern wandel­te sich Jerusalem zum geistigen Zentrum eines weit verstreuten Volkes. Juden lebten weiterhin an den Flüssen Babylons oder arbeiteten in der ägyptischen Diaspora. Jerusalem war ledig­lich die Hauptstadt der persi­schen Provinz Jehud und blieb es, bis Alexander der Große 333 vor Christus die damaligen Herrscher der Welt besiegte. Ein Jahr später schickte der Hellene seinen Leutnant Parmenio los, der Syrien und Palästina eroberte.

Nahezu zwei Jahrhunderte lang wurde das Siedlungsgebiet der Juden in Palästina dann in den Kriegen zerrieben, die um das Erbe Alexanders ausgefochten wurden. Im Jahr 66 begann der jüdische Freiheitskampf der Makkabäer gegen die Syrer. Es gelang den Makkabäer‑Fürsten für kurze Zeit, Judäa neu zu errichten, doch meist setzten die jeweiligen Herren landeseigene Fürsten als Vasallenkönig ein. Aber 63 kam das Ende des makkabäischen Königtums. Der Römer Pompejus erstürmte den Tempel. Das Land wurde römische Provinz.

 

Etwa 7 oder 4 vor der Zeitrechnung wurde Jesu von Nazareth geboren. Zur Zeit Jesu lebte in Palästina etwa eine Million Juden. Im gesamten Römischen Reich gab es aber zu dieser Zeit etwa 4 bis 5 Millionen Juden (7 Prozent der Gesamtbevölkerung des römischen Imperiums). Das heißt, der größte Teil der Juden lebte schon damals in der Diaspora.

Fast 600 Jahre lang, bis zum Erobe­rungssturm der Araber, blieb das Gelobte Land eine römische, später eine byzanti­nische Provinz. Mal genossen die Juden größere Autonomie wie etwa unter Hero­des dem Großen, der 19 vChr den Tempel von Je­rusalem prächtiger als je zuvor ausbauen ließ. Zu anderen Zeiten wurde die Provinz unter direkte Verwaltung Roms gestellt.

Nach dem Tod des als Monster ver­schrienen Herodes, dem das christliche Neue Testament den Mord der Kinder in Betlehem anlastet, kam das Land nicht mehr zur Ruhe. Verschiedene jüdische Gruppen kämpften um religiöse und staat­liche Erneuerung.

Die Priesterkaste der Sadduzäer etwa wollte ihre Interpretation der fünf Bücher Mose als Grundgesetz für das Volk Gottes erlassen. Auch Rabbis wie Jesus von Na­zareth strebten eine Reform des Juden­tums an. Der Stifter des christlichen Glau­bens wurde unter dem römischen Statt­halter Pontius Pilatus hingerichtet.

Die Zeloten, eifernde Revolutionäre, verbanden - wieder einmal - religiösen mit politischem Fanatismus. Sie wollten die Gottesherrschaft auf Erden errichten und lösten 66 nach Christus einen Aufstand gegen die römischen Besatzer aus - die letz­te große Geste der Selbstbehauptung des antiken Israel.

 

In den Jahren 66 bis 73 nChr kommt es zum jüdisch-römischen Krieg (Beschreibung durch Josephus). Letzte Festung ist Masada, heute Nationalheilig­tum in Israel. . Als ihre Lage drei Jahre nach der Zer­störung des Tempels aussichtslos wurde, brachten sich die restlichen Verteidiger lie­ber selbst um, als in die Hände der Römer zu fallen. Der griechische Chronist Cassius Dio überliefert dazu eine Beobachtung, die un­ter veränderten Vorzeichen bis heute ak­tuell geblieben ist. Auch den jüdischen Selbstmördern schien der Tod nicht „Un­tergang, sondern Sieg, Rettung und Glück zu bedeuten“, schreibt er.

Jerusalem und der Tempel werden im Jahr 70 zerstört, der Opferkult beendet, das Priestertum erlischt. Das Judentum verliert mit der Zerstörung des Tempels sein eigentliches Zentrum, aber nicht seine Existenz: Es war eine zugelassene Religion. Das geistige Leben hatte schon vorher seinen Platz in der Synagoge gefunden und in unterschiedlichen Rabbinenschulen einen vom Tempeldienst unabhängigen Raum eingenommen. Jetzt beginnt die endgültige jüdische Diaspora. Rabbi Jochanan ben Zakkai erhält wäh­rend der Belagerung Jerusalems von Ves­pasian. die Erlaubnis, ein Lehrhaus in Jabne zu führen.

Das von Kaiser Hadrian ausgesprochene generelle Verbot der Beschneidung sowie sein Plan, in Jerusalem einen Jupitertempel zu errichten, führte zu einem Aufstand unter der Führung Simon Bar Kochbas. Er konnte im Jahre 132 die Römer zeitweilig aus Jerusalem zurückdrängen, und der jüdische Kult wurde wieder aufgenommen. Im Jahre 135 aber wurde Bar Kochba endgültig geschlagen. Jerusalem wird zur „Aelia Capitolina“ und das Land wird umbenannt in „Palästina“ (Philisterland).

Jerusalem durfte von keinem Juden betreten werden, und die Bezeichnung „Judäa“ wurde in den römischen Kanzleien gestrichen zugunsten der Bezeichnung „Syria-Palästina“. Unter seinem Nachfolger wurden zwar die harten Verbote (keine Beschneidung, keine Sabbatheiligung, Verbot der Lehrhäuser und der Ordination der Schriftgelehrten) aufgehoben, aber das Verbot, Jerusalem zu betreten, wurde beibehalten.

 

Der innere Bestand der jüdischen Gemeinde wurde durch das Rabbinat garantiert, das fortan streng auf die Absonderung von allen nichtjüdischen Bevölkerungsschichten achtete (besonders vom Hellenismus). Das zuvor großzügig gehandhabte Religionsgesetz mußte wieder streng eingehalten werden.

 

Im Verlaufe der nächsten Jahrhunderte wurden die Juden immer mehr aus ihrem Heimatland vertrieben, und als die katholische Kirche unter Kaiser Theodosius dem Großen (380) zur alleinberechtigten Staatskirche erhoben wurde, verschlechterte sich die Lage der noch in Palästina verbliebenen Juden erheblich. Viele wanderten aus und suchten in anderen Ländern bessere Lebensmöglichkeiten.

Schließlich wurde im Jahre 415 das jüdische Patriarchat in Palästina aufgelöst. Damit erlosch die dortige jüdische Selbstverwaltung. Wenn auch nicht alle Juden das Land verließen, so verlor es doch seine Rolle als Mittelpunkt des Judentums. Aber die Hoffnung auf eine Rückkehr in das Land der Väter wurde nun für das jüdische Volk zum nationalen Bekenntnis. Die Rabbiner lehrten: „Wer nur vier Ellen im Land Israel wandert, ist dessen sicher, daß er der zukünftigen Welt teilhaftig wird“ (verzeichnet im Traktat b. Kettubot 11a).

 

 

Judentum

 

Das frühe Christentum

Im römischen Reich betrachtete man die Juden als Anhänger einer erlaubten Religion. Dadurch waren sie gesetzlich geschützt. Aber sie bleiben eine kleine Minderheit, woraus viele Nachteile erfolgten. Als dann die Kirche übermächtig geworden wurde, wurde die Lage der Juden problematisch. Die Kirche lehrte nämlich, daß die Juden ihren Platz als auserwähltes Volk verloren haben, weil sie den Messias gekreuzigt hätten.

Jeshua/Jesus wird wahrscheinlich im Jahr 4 vor unserer Zeitrechnung geboren. Im Jahr 6 kommt Herodes Antipas an die Regierung. Im Jahr 8 gibt die führende pharisäische Schule 18 Edikte heraus, um das Judentum vor heidnischen Einflüssen zu schützen. Die Edikte bilden später die Grundlage für die Opposition der Juden und Pharisäer gegen Jesus und die Apostel.

Kaiser Augustus stirbt im Jahr 14 Sein Nachfolger wird Tiberius. Von 26 bis 36 ist Pontius Pilatus römischer Prokurator von Judäa.

Der Beginn des Wirkens Jesu wird auf das Jahr 27 angesetzt: Er predigt eine spirituelle Erneuerung des Judentums auf dem Boden der Thora. Er wird um 30 von den Römern gekreuzigt. Nach drei Tagen ist er auferstanden und über 500 Menschen erschienen. Christen betrachten Jesus als den von den Propheten verheißenen Messias (= Christus), der für die Sünde der Welt gestorben ist und als König von Israel in Herrlichkeit wiederkommen wird.

Pontius Pilatus läßt im Jahr 36 eine große Gruppe Samaritaner umbringen. Dieses Verbrechen wird einer der Gründe für seine Absetzung. Von 37 bis 41 regiert Kaiser Caligula, der sich selbst zur Gottheit erklärt.

Paulus beginnt im Jahr 44 seine Predigt vom auferstandenen Christus. Zwischen etwa 50 und 65 entstehen die Paulus-Briefe, die ältesten erhaltenen Schriften des Evangeliums. Er stirbt um 65. Das Konzil von Jerusalem beschließt im Jahr 49, daß die nicht-jüdischen Anhänger Jesu nur einen kleinen Teil des Gesetzes halten müssen - dabei entfällt auch die Beschneidung.

Seit 41 ist Claudius Kaiser in Rom. Nach Konflikten zwischen Juden und Christen läßt er alle Juden aus Rom verbannen. Im Jahr 54 wird vergiftet. Sein Nachfolger wird Nero. Dieser setzt 64 Rom in Brand und beschuldigt die Christen und läßt sie verfolgen.

Im Jahr 65 beginnt der jüdische Aufstand gegen die römischen Besetzer von Eretz Israel. Die Judenchristen fliehen aus Jerusalem. Nero begeht 68 oder 69 Selbstmord. Nach Galba, Vitellius und Otho wird Vespasian Kaiser. Die Römer erobern 70 zuerst West-Galiläa und dann die jüdische Bergstadt Gamla (Golan), wo sie einen großen Teil der Bevölkerung niedermetzeln. Aus Furcht begehen Tausende Einwohner Selbstmord.

Nach 70 tagt der Rat der 72 Ältesten in Jabne, der jetzt von hier aus die jüdische Diaspora leitet. An Stelle der Gesetzestafel im Allerheiligsten des Tempels tritt die Thorarolle, Synagogen werden gebaut.

Jerusalem wird 70 von Titus, Sohn des Vespasian, erobert. Die traurige Bilanz: Etwa eine Million Tote unter der jüdischen Bevölkerung. Zehntausende von Juden werden in die Sklaverei geführt. Der Tempel und ein großer Teil der Stadt werden vernichtet.

Die Römer erobern 73 die Siedlung Qumran am Toten Meer, wo die Verteidiger ihre religiösen Manuskripte vor den Angreifern verstecken können. Im Jahre 1947 werden diese Rollen entdeckt. Als letztes jüdisches Bollwerk fällt die Bergfestung Massada durch die Römer. Die Verteidiger begehen alle Selbstmord.

Kaiser Vespasian stirbt 79. Ihm folgt sein Sohn Titus. Im Jahr 81 wird Domitian Kaiser. Nach einem Anschlag auf sein Leben leitet Domitian eine Christenverfolgung an.

Die Rabbiner Jochanan ben Zakkai, Gamaliel II. und Simon setzen 90 das Sanhedrin neu ein und verbannen die Judenchristen aus den Synagogen.

Das Markus-Evangelium entsteht um 70, die Evangelien von Lukas und Matthäus sowie die Apostelgeschichte 80-90, um 90 auch der Hebräerbrief. Zwischen 90 und 100 entstehen das Johannes-Evangelium, die Briefe und die Apokalypse des Johannes sowie der Jakobus-Brief.

Im Jahr 111 verbietet Rom das Christentum.

Der römische General Lucius Quietus bezwingt 115 neue jüdische Aufstände in Mesopotamien und Judäa. Er läßt die Leiter exekutieren und stellt einen Götzen auf den Tempelberg in Jerusalem. Auch 117 schlägt der neue römische Kaiser Hadrian die jüdischen Aufstände nieder. Darauf ordnet er ein Verbot der Beschneidung und anderer jüdischer Gebräuche an.

Im Jahr 132 beginnt der zweite jüdische Aufstand gegen Rom unter der Leitung von Simon bar Kochba (Sternensohn), der von Rabbiner Akiva „Messias“ genannt wird. Zahlreiche Christen werden von bar Kochba massakriert. Rom bezwingt 135 den jüdischen Aufstand auf grausame Weise: Auf jüdischer Seite sind mindestens 600.000 Tote zu beklagen. Zahllose andere werden in die Sklaverei geführt; viele jüdische Leiter, darunter Rabbi Akiva, werden hingerichtet. Jerusalem wird völlig zerstört, im römischen Stil wieder aufgebaut und in „Aelia Capitolina“ umbenannt. Judäa erhält den Namen „Syrie Palestina“, damit nichts mehr an die Juden erinnern soll. Der teilweise wieder hergestellte Tempel wird Zeus geweiht.

 

Im Jahr 125 gibt es die erste registrierte Meldung von Heiden-Christen, die auch zu Maria beten. Nach Niederschlagung des Bar-Kochba-Aufstandes werden Christen von Juden angefeindet und manchmal verfolgt. Zudem wird auch Jesus immer wieder von Juden gelästert.

Hadrian stirbt138. Sein Nachfolger Antonius Pius nimmt die antijüdischen Maßnahmen zurück. So wird die Beschneidung wieder erlaubt.

Um160 verurteilt Justin der Märtyrer die Juden unter anderem. als „Dirnenkinder“. Bei ihm findet sich bereits die Theologie, die Niederlage des jüdischen Volkes und ihre Zerstreuung sei die Strafe Gottes für ihre Verwerfung und Kreuzigung Jesu. Der Ausdruck „Altes Testament“ erstmals 175 bezeugt.

Um 200 schreibt Tertullian die erste systematische Kampfschrift gegen die Juden von christlicher Seite („Adversus Judaeos“). Auch hält er bereits die Kirche für das wahre, ewige Israel.

Nachfolgend entwickelt sich eine ganze Reihe antijüdischer Schriften von Kirchenvätern.

Der Kanon der christlichen Bibel steht weitgehend fest. In Syrien wird 201 die erste christliche Kirche gebaut. Um 250 schreibt der Kirchenvater Cyprian unter anderem: „Der Teufel ist des Juden Vater“. Auch diese Verurteilung findet sich später immer wieder im christlichen Antijudaismus.

 

Die Verfolgung, die Kaiser Decius 250 begann, traf eine Kirche, die sich schon in weiten Kreisen der Gesellschaft ausgebreitet hatte. Als erstes waren die christlichen Leiter die Zielscheibe. Dann brachte ein allgemeiner Befehl, dem Kaiser das Opfer zu bringen, viele Christen zum Glaubensabfall.

 

Als Decius im darauf folgenden Jahr starb, hörte die Verfolgung auf. Eine große Gruppe Abtrünniger wollte wieder zur Kirche zurückkehren. Zwischen den Confessores, die in Gefangenschaft und Martyrium standhaft geblieben waren, und den Bischöfen herrschte Uneinigkeit darüber, wer wirklich in der Kirche das Sagen hatte. Aber unter der Leitung eines gewissen Novatianus entstand eine Bewegung. die sich im Kampf um eine „reine“ Kirche gegen beide Seiten wandte. Das führte zu einer Spaltung und zur Entstehung einer neuen Kirche.

Noch zwei weitere Verfolgungen sollten die Kirche treffen. Die größte, am systematischsten organisierte und zugleich die letzte ist die von Diokletian ab 303. Diokletian reorganisierte nicht nur das Römische Reich auf allen Gebieten, er versuchte auch auf religiösem Gebiet die Ordnung wiederherzustellen. Schritt für Schritt drängte er die Kirche zurück. Erst wurden die Bücher ein-gesammelt, die Gebäude eingerissen und die Christen diskriminiert, danach wurde der Klerus gefangen genommen.

In einem dritten Edikt wurden sie gezwungen zu opfern. Schließlich ist ein allgemeiner Befehl zum Opfern erlassen worden. Auch dies hat zu einer Spaltung geführt. Als nach 313 zurückgekehrte Abtrünnige zu Priestern geweiht wurden, gründete der nordafrikanische Geistliche Donatus eine „reine“ Kirche, die sich auch gegen die Bemühungen des Kaisers mit der Kirche auflehnte. Armenien wurde 301 die erste christliche Nation. Im Jahr 305 trat Diokletian ab. Die Verfolgung wurde nach einer Unterbrechung von seinem Nachfolger im Osten fortgesetzt. Auf dem Konzil von Elvira 306 wurde es Christen verboten, mit Juden zu essen und zu leben. Unter Kaiser Galerius endeten 311 die Christenverfolgungen.

Im 3. Jahrhundert erlebte die Kirche dennoch eine Zeit großen Wachstums. Damit wurde es immer schwieriger, eine strenge Disziplin durchzusetzen - die Kirchenzucht verwässerte. Gleichzeitig blühte das Heidentum auf.

 

Im Westen kam Konstantin an die Macht. Zeitweise stand das Reich unter der Leitung einer rivalisierenden Dreiermannschaft, bis Konstantin einen seiner Rivalen besiegt hatte. In einer Vision soll er das Christus-Monogramm am Himmel gesehen haben: „In diesem Zeichen wirst du siegen!“

Konstantin bekennt sich 312/313 zum Christentum. Er gewährt Freiheit des Gottesdienstes und hebt damit auch das Verbot des Christentums auf. Er gibt 315 eine Reihe antijüdischer Edikte heraus. Er erklärt 321 den Sonntag zum christlichen Ruhetag.

Das war eine Neuerung im Römischen Reich und zweifellos vom Sabbat inspiriert. Der Rhythmus der Sieben-Tage-Woche ist der Welt durch Israel geschenkt worden. Aber die Wahl des ersten Tages als Ruhetag war gegen Israel neu eingerichtet worden: der Sabbat sei nach der Auferstehung nichtig, weil der Neue Bund den Alten ersetzt hat. Aber Ruhen am Tag der Auferstehung beinhaltet etwas Widersinniges. Die Kirche kommt von Israel aber niemals los.

Im Jahre 313 erließ er mit seinem anderen Rivalen das Edikt von Mailand: Die Verfolgung wurde beendet, und das Christentum ist zu einer anerkannten Religion geworden. Schließlich besiegte er auch seinen letzten Rivalen. Das Römische Reich wurde nun von einem Kaiser regiert, welcher der Kirche wohlgesonnen war. Die Ergebnisse davon sind noch immer sichtbar.

Konstantinopel wurde seine Hauptstadt - das neue Rom. Seine Mutter, die Kaiserin Helena, fand auf einer Pilgerfahrt in Jerusalem drei Kreuze. Nach ihren Anweisungen baute Konstantin dort die Auferstehungskirche - auch Grabeskirche genannt -, und in Bethlehem die Geburtskirche

Die veränderte Stellung der Kirche führte auch zu neuen Entwicklungen in ihrer Theologie. Der Kaiser spielte darin eine maßgebende Rolle. Die Kirche kann als Mittel dienen, die Einheit des Reiches zu bauen. Aber dann muß sie selbst eine Einheit sein. Allerdings war das Gegenteil der Fall.

Außer den Spaltungen, welche die Folge von gegenteiligen Meinungen über die Praxis der Kirchenzucht waren, gab es auch weit auseinander klaffende Auffassungen über die Frage, wie man über Gott sprechen sollte: Wir sprechen über den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, aber in welchem Verhältnis stehen diese Drei zueinander und wie können wir darin die Einheit Gottes bewahren?

Eigentlich ging es bei all diesen Diskussionen der frühen Kirche um die Frage, wer Jesus Christus war. Was bedeutet es, gleichzeitig der Sohn Gottes und Mensch zu sein? Warum glaubt die Kirche des Römischen Reiches an einen Mann, der vor über dreihundert Jahren in Judäa geboren und gestorben ist?

Das bringt uns auf einen dritten Streitpunkt. Man wurde sich der jüdischen Herkunft des Glaubens schmerzlich bewußt. Der Erlöser ist in Israel geboren. Aber Israel hat seinen Erlöser verworfen. Die universelle Kirche ist das neue Volk Gottes, das sich nicht mehr an das alte Volk binden kann. Besonders hitzig wurde das Datum diskutiert, an dem Ostern gefeiert werden soll. Er gab eine Richtung, die am Passahfest - dem vierzehnten Tag des Monats Nissan - festhielt. Andere Gruppen innerhalb der Kirche stellten sich dagegen. Auch dieser Konflikt mußte gelöst werden. Denn auf das einfache Volk übte das Judentum eine große Anziehungskraft aus. Christen gingen in die Synagogen und fragten den Rabbiner um Rat und Beistand, z.B. im Krankheitsfall.

Kaiser Konstantin wollte Klarheit und ließ im Jahr 325 ein Konzil zusammenrufen. Die Bischöfe versammelten sich in Nicäa. Es wurde eine Anzahl wichtiger und einschneidender Beschlüsse gefaßt. Ein gewisser Arius hatte gesagt, daß das Fleisch gewordene Wort das erste Geschöpf Gottes war. Dieses kann zwar Gott genannt werden, aber das ist es in Wirklichkeit nicht. Das Konzil verwarf dies, denn wenn Gott selbst die Welt nicht erlöst, wie kann Erlösung dann wirklich Erlösung sein?

Einige fanden seine Lehre jüdisch, aber das Judentum würde solch ein Zwischenwesen, halb Gott und halb Mensch, nicht akzeptieren. Nach langer Diskussion wurde es so formuliert: „Geboren aus dem Vater, Einziggeborener, das heißt aus dem Wesen des Vaters“. Der Kaiser ließ noch hinzufügen: „Geboren, nicht gemacht, vom selben Wesen mit dem Vater“. Alle Parteien vergaßen allerdings, daß das Wort jüdisches Fleisch angenommen hatte, und in dieser „Beschaffenheit“ unter uns gewohnt hatte.

Die judenchristliche Stimme wurde auf dem Konzil nicht angehört, die judenchristlichen Bischöfe wurden gar nicht eingeladen. Ganz bewußt wurden die jüdischen Wurzeln durchgeschnitten. Das wird besonders bei der Festlegung des Osterdatums deutlich. Es wurde auf den ersten Sonntag im Frühling festgelegt. Das jüdische Passahfest wurde abgelehnt, denn Kaiser Konstantin wollte völlig unabhängig vom Judentum sein, das für ihn ein „feindliches Volk“ und eine Nation von Vatermördern“ war, die „ihren Herrn geschlachtet haben“.
Es werden Beschlüsse gefaßt gegen die zunehmenden Ketzereien, ein Verbot für Juden, christliche Sklaven zu halten. Das Osterfest wird auf den Sonntag nach Passah gelegt: „Denn es wäre außer jedem Maßstab ungebührlich, wenn wir in dem heiligsten aller Feste den Gewohnheiten der Juden nachfolgten. Laßt uns nichts gemeinsam haben mit dem abscheulichen Volk“.

Die Kirche löste sich unter Konstantins Führung völlig von Israel. Sie entfernt sich immer mehr von der apostolischen Glaubens- und Lebenspraxis und wird dabei zunehmend antijudaistisch. Dagegen strebt nur noch ein Teil der Christen die Lebenserneuerung in der Liebe Jesu und im Gehorsam gegenüber Gottes Geboten an.

Sein 30. Regierungsjubiläum feierte Konstantin 335 in Jerusalem. Die Taufe Konstantins erfolgt 337 kurz vor seinem Tod, um sich nicht wieder versündigen zu können. Die Kirche ersetzt 338 den jüdischen Kalender durch den Sonnenkalender. Ein jüdischer Aufstand in Galiläa wird 351 unterdrückt und jüdische Zentren vernichtet.

 

Einmal nur blühte das Heidentum noch für kurze Zeit auf. Im Jahre 361 wurde Julian Kaiser. Er erlaubte nicht nur alle miteinander konkurrierenden christlichen Bekenntnisrichtungen, sondern stellte auch den heidnischen Tempeldienst wieder her. Und um die Kirche in ihrem Herzen zu treffen, ließ er die Juden nach Jerusalem zurückkehren, um den Tempel wieder aufzubauen. Darauf beginnen Juden, die Christen aus Jerusalem zu vertreiben. Nach dem Tode Julians verliert sich dieser Plan. Julian fiel 363 einer Schlacht gegen die Perser (damit ist auch sein Tempel-Plan gestorben). Traditionell heißt er Julian „der Abtrünnige“.

Aber sein Heidentum war auf der Philosophie des Neo-Platonismus gegründet, die sowohl bei Heiden als auch bei Christen Gemeingut war. Der Kern davon war die Lehre, daß aus dem höchsten göttlichen Wesen, dem Einen, die ganze Wirklichkeit entstanden ist: das Reich der Ideen. Die Welt ist nach dem Bild der Ideen ewig und unvergänglich geschaffen. Das widerspricht allerdings genau der christlichen Lehre von Schöpfung und Vollendung, worin die Kirche ein jüdisches Erbe bewahrt. Aber der Gedanke Platons von der Unsterblichkeit der menschlichen Seele ist weit verbreitet.

Obwohl das Christentum noch keine Staatsreligion war, erhielten die Christen bald führende Stellungen und übernahmen zentrale Funktionen. Konstantins Nachfolger verboten die heidnischen Tempel. Das Konzil von Laodicäa führt 364 die Todesstrafe für Christen ein, die den Sabbat halten. Im Jahre 380 wurden alle Untertanen zum Glauben an die Dreieinigkeit verpflichtet. Auch das Judentum, das bis dahin von Gesetzes wegen eine Stellung innerhalb des Römischen Reiches innehatte, wurde nun empfindlich getroffen.

Der in Antiochien (Syrien) wirkende Kirchenvater Johannes Chrysostomos beginnt 387

die heftigste christliche Hetze gegen die Juden in der Antike. So spricht er zum Beispiel von der Synagoge als „Lasterstätte, Teufelsasyl, Satansburg“.

Aufgehetzt von ihrem Bischof stecken Christen (vor allem Mönche) 388 die Synagoge von Callinicum am Euphrat in Brand. Kaiser Theodosius I. befiehlt dem Bischof, die Synagoge wieder aufzubauen und die Täter zu bestrafen. Dagegen setzt Ambrosius, der Bischof von Mailand, den Kaiser unter Druck, diesen Befehl zu widerrufen. Daraufhin zieht Theodosius seine Anordnung wieder zurück. Dieser Vorfall symbolisiert den Sieg des kirchlichen Antijudaismus über die christliche Liebe zum Volke Israel. Dennoch war es eben dieser Ambrosius, der durch seine Predigten und Traktate das Alte Testament im Westen bekannt machte.

Er tat das, indem er neben einer wörtlichen auch eine allegorische Auslegung herausgab: was im Alten Testament geschrieben steht, hat eine geistliche Bedeutung. Jedes Geschehen, jedes Wort, jeder Buchstabe sogar, ist ein Symbol einer geistlichen Wirklichkeit. Die Methode der Auslegung war im Osten weit verbreitet und erstmals von Philo von Alexandria, einem jüdischen Philosophen des 1.Jahrhunderts, auf das Alte Testament angewandt.

Aber die anti-jüdische Tendenz wurde immer stärker. Gleichzeitig hielt Johannes Chrysostomos in Antiochien seine Predigten gegen die Juden. Er richtete sich eigentlich gegen die Christen, die, von jüdischem Glaubensleben angezogen, in die Synagogen gingen und jüdische Gebräuche übernahmen. Der syrische Kirchenvater Ephraem schrieb heftige anti-jüdische Hymnen. Bischof Cyrill aus Alexandrien vertrieb 414 die Juden aus seiner Stadt.

Glücklicherweise ging es auch anders. Im Gegensatz zu seinem Lehrherren Ambrosius trat Augustinus dafür ein, daß das Gesetz sowohl Juden als auch Christen beschützen mußte. Jetzt, wo das Heidentum beinahe alle Bereiche an die Kirche verloren hatte, blieb das Judentum als einziger „Feind“ der Kirche übrig. Es ging der Kirche um die Wahrheit. Das war auch der Einsatz der Konzilien: Die wahre Religion gegen die ketzerischen Lehren abzugrenzen.

Und trotz aller anti-jüdischen Tendenzen dabei ist in den Dogmen doch ein biblisches Verständnis von Gott übriggeblieben: Der Gott, der gleichzeitig Schöpfer des Himmels und der Erde und auch der Erlöser ist. Es ging darum, daß Gott selbst in Christus die Welt mit sich versöhnt hat. Die Kirche suchte nach Möglichkeiten, dies in ihrer eigenen Sprache und Denkweise auszudrücken. In Christus sind Gott und Mensch verbunden.

Das Konzil von Konstantinopel verbreitete 381 das Dogma mit einer Aussage über den Heiligen Geist, „der Herr ist und lebendig macht und der vom Vater ausgeht“. Auch der Heilige Geist ist Gott. Das römische Reich zerfällt 395 in zwei Teile; der östliche Teil wird Byzantinum genannt.

 

Etwa im Jahr 400 erfolgt der Abschluß des palästinensischen Talmuds, etwa 500 der des babylonischen. Talmuds. Ein wichtiges Ereignis für das religiöse Leben der Juden war, daß sich im Verlaufe des 2. Jahrhunderts aus der mündlichen Lehre (der Halacha), aus Bibelinterpretationen, Stücken liturgischer und juristischer Art die sogenannte „Mischna“ (d. h. „die Wiederholung“ oder „der Unterricht“) entwickelte. Mitunter wurde der Bibeltext auch zum Ausgangspunkt mystischer Spekulationen.

Daneben entstanden auch erzählende Schriften sowie Sagen, Anekdoten und erzählende Aus­malungen einzelner Bibelepisoden. Das alles wurde nun unter dem Namen „Mischna“ zur zweiten Norm neben der Bibel. Es hatten „die Erfahrungen des Jüdischen Krieges und des Bar-Kochba-Aufstandes gelehrt, wie bedroht die mündliche Lehre, welchen Gefahren sie in Zeiten harter Verfolgungen ausgesetzt war. Es hätte nicht viel gefehlt. und sie wäre für immer verlorengegangen. Nur durch die wenigen am Leben gebliebenen Schüler des Rabbi Akiba war sie gerettet worden“.

Die Kommentierung der Mischna wurde parallel in Babylon und in Palästina vorgenommen und führte zum Entstehen der beiden „Talmude“ (wörtlich „Lehren"“, dem Jerusalemer (400 n. Chr.) und dem Babylonischen Talmud (500 n. Chr.). Der Talmud setzt sich aus der Mischna und den „Ergänzungen“ (Gemera) zusammen. Die sechs Ergänzungen des Babylonischen Talmuds sind noch heute für das religiöse Leben der jüdischen Gemeinde von Bedeutung. Die Hintergründe für das Entstehen der beiden Talmude sind Verfolgungen und Druck im persischen und spätrömischen Reich, besonders unter Kaiser Konstantin I.

 

Zwar war die jüdische Religion noch erlaubte Religion, aber das Judentum in Palästina, in Syrien und im Westen geriet unter die Abhängigkeit der christlichen Staatsreligion, und die Judengesetzgebung erfolgte unter dem Einfluß der Staatskirche. Bischof Cyrill von Alexandrien vertreibt 414 die Juden aus der Stadt. Durch kaiserliches Gesetz wird 415 der Bau neuer Synagogen verboten. Bischof Augustinus von Hippo schreibt, daß die Juden für ewig die Schuld tragen für den Tod Jesu. Bischof Severus von Mallorca fordert 418 unter Androhung der Todesstrafe, daß die Juden auf der Insel sich zum Christentum bekehren. Hieronymus, der Übersetzer der christlichen Bibel ins Latein (Vulgata), vergleicht die Synagoge mit einem Versteck des Teufels.

Kaiser Theodosius II. erließ 417 und 423 weitere Beschränkungen. Kaiser Justinian verfolgte christliche Ketzer und Juden, verbot ungesäuerte Brote beim Passa und verlangte die Bibelverlesung in griechischer Sprache. Sein Corpus iuris civilis wurde maßgebend für die Judengesetzgebung des ganzen Mittelalters.

Der Mönch Barsauma beginnt 419 eine Hetze gegen die Juden im Heiligen Land: Zahlreiche Synagogen werden zerstört. Kaiser Theodosius II. bestätigt 438 das Verbot für den Bau von Synagogen und verbietet außerdem, daß Juden öffentliche Ämter bekleiden, damit sie das Christentum nicht beleidigen.

 

Zwei Denkrichtungen waren im 4. Jahrhundert tonangebend geworden. Da war zunächst die Alexandrinische Schule, die auf Origenes und über ihn selbst bis auf Philo zurückging. Im Hintergrund stand der Platonismus. Er legte die Bibel vor allem allegorisch aus. Die Betonung lag darauf, daß Christus Gott selbst war, der auf die Erde gekommen war, um die verlorene Menschheit zu retten. Darum hatte Christus die menschliche Natur angenommen, das heißt in seine göttliche Natur aufgenommen. Christus ist Gott auf Erden.

Die Antiochänische Schule dagegen richtete sich mehr auf eine wörtliche Bibelauslegung. Im Denken mußten die verwendeten Begriffe deutlich definiert werden. Für die Christologie (die Lehre über Christus) bedeutete das, daß man strikt zwischen dem Gottsein und dem Menschsein Christi unterschied, manchmal so sehr, daß alle Betonung auf seinem Menschsein lag. Dann erschien es, als ob der Mensch, der imstande war, gut zu handeln, sich selbst erlösen konnte und von Gott angenommen wurde. Christus war dann derjenige. der das vollkommene Vorbild darstellte.

 

In der Antiochänischen Schule hat man Einflüsse vom jüdischen Christentum vermutet, das in dieser Gegend stark vorhanden war. Die Gemeinde von Antiochien geht ja auf eine jüdische Gemeinde zurück, die in Apostelgeschichte 11 erwähnt wird. Andererseits ist die Philosophie von Aristoteles mit seinen strengen Definitionen bestimmend gewesen.

Der Konflikt brach zu Beginn des 5. Jahrhunderts zwischen Bischof Cyrill von Alexandrien und dem antiochäischen Nestorius au£ der Bischof der Hauptstadt Konstantinopel geworden war. Er hatte gesagt, daß in der Person Christi Sein Menschsein und Sein Gottsein streng getrennt sind. Für Cyrill gerieten damit die Einheit der Person Christi und damit die Erlösung in Gefahr.

Verschiedene Synoden wurden hierüber abgehalten, bei denen es hart zuging. 449 nChr wurde sogar die Synode von Ephesus von einer Gruppe ägyptischer Mönche besetzt, um einen Beschluß im alexandrinischen Sinne zu erzwingen. Schließlich wurde auf dem Konzil von Chalcedon 451 n.Chr. formuliert, daß Christus wahrhaftiger Gott und wahrhaftiger Mensch ist, „in zwei Naturen (Gottsein und Menschsein) ohne Vermischung, ohne Veränderung. ungetrennt und ungeteilt“. Nach beiden Seiten wurde die orthodoxe Lehre abgegrenzt.

Die ägyptische Kirche akzeptierte dies nicht und löste sich von der Reichskirche, ebenso die Kirchen im Osten. die Nestorius folgten. Dadurch daß der Kaiser entschieden gegen sie auftrat, landeten die nestorianischen Christen außerhalb des byzantinischen Reiches in Persien.

Judenchristliche Gemeinden, die schon lange außerhalb des Hauptstromes der Kirche lagen, traf dasselbe Los. Gleichzeitig hatte dies zur Folge, daß sie das Evangelium bis tief nach Asien hinein gepredigt haben. Sogar in China hat es nestorianische Kirchen gegeben. Tatsächlich wurden sie eine der ersten Missionsbewegungen außerhalb der christlichen Welt.

 

Das Konzil von Chalcedon verleiht 451 den Bischöfen von Konstantinopel und von Rom dieselbe Autorität. Die Armenische Kirche erklärt sich 491 unabhängig von Rom und Konstantinopel. Der Titel Papst, der früher von allen Bischöfen getragen wurde, gilt seit 500 ausschließlich für den Bischof von Rom.

Justinian wird 527 Kaiser des byzantinischen Reiches und leitet strenge antijüdische Maßnahmen ein. Im Jahr 538 wird den Juden überall verboten, christliche Arbeiter oder Sklaven zu halten. Demzufolge wird es für Juden nahezu unmöglich, Landwirtschaft zu betreiben. Ihr Zutritt zu Gilden wird später ebenfalls verboten, wodurch für die meisten Juden nur der

(Geld-) Handel bleibt. Die Juden werden 543 von den byzantinischen Machthabern aus Jerusalem vertrieben.

 

Jüdische Einheiten helfen 614 der persischen Armee bei der Eroberung von Galiläa, Judäa und Jerusalem. Die heilige Stadt wird daraufhin unter jüdische Verwaltung gestellt. Christen werden verjagt und Kirchen zerstört. Drei Jahre später gewinnen die Christen die Kontrolle über Jerusalem zurück - Tausende von Juden werden umgebracht, die Überlebenden vertrieben.

Jerusalem wird 638 von den Moslems erobert: Juden dürfen sich wieder in der Stadt niederlassen. Das Land wird seit 642 vom Islam be­herrscht mit Unterbrechung durch die Kreuzzüge. Die byzantinische Kirche auf dem Tempelplatz in Jerusalem wird 660 zur Al-Aksa Moschee umgebaut. Kalif Abd al-Malik beginnt 691 mit dem Bau der Kuppel - auf der Stelle, wo früher der zweite Tempel stand.

Im Gebiet nördlich des Schwarzen Meers und des Kaspischen Meers entsteht um 700 das jüdische Königreich der Khazaren, nachdem ihr König Butan sich zum Judentum bekehrt hat.

Die Bevölkerung des jüdischen Königreiches bleibt jedoch eine Mischung von Christen, Moslems, Heiden und Juden. Ihre religiöse Toleranz zeigt sich in der Besetzung ihres obersten Gerichtes: hier sind zwei Juden, zwei Christen, 2 Moslems und ein Heide vertreten. Im Jahre 1016 wird Khazaria von einer russisch-byzantinischen Armee zerstört. Die jüdischen Einwohner werden vertrieben.

Der byzantinische Kaiser Basil verordnet 873 Maßnahmen, die Ju­den dazu veranlassen sollen, sich zum Christentum zu be­kehren. Wie seine Vorgänger ordnet auch der byzantinische Kaiser Romanus I. 932 die Bekehrung al­ler Juden zum Christentum an - jedoch ohne Erfolg.

Die endgültige Spaltung zwischen der römisch-katholischen Kir­che und dem orthodoxen Chri­stentum (Konstantinopel) erfolgt 1054. Die zwei Päpste exkommuni­zieren einander.

Maimonides (1135 bis 1204) wirkt in Ägypten und ist Verfasser des umfassenden Gesetzeskodex Mischna Tara (Wiederholung der Lehre). Aber 1232 werden die Werke des berühmten Rabbiners Maimonides von Dominikanern verbrannt.

 

 

Die Juden in Europa

 

Nicht alle Christen in dieser Zeit waren Antijudaisten oder aktive Verfolger des jüdischen Volkes. Nicht überall verfolgte man die Juden oder zwang sie – mit oder ohne Gewalt -, sich zum Christentum zu bekehren. Das Bild des Mittelalters, das wir in den meisten Fällen haben, ist eine lange, düstere Periode von Judenhaß und Judenverfolgung. Aber das ist nicht (immer) richtig.

Im frühen Mittelalter finden wir jüdische Gemeinschaften im christlichen Teil Spaniens (Barcelona), in Frankreich (Troyes), Deutschland (Köln, Mainz, Worms und Speyer), Italien und England. Es ist bemerkenswert, daß das Verhältnis zwischen Juden und Christen in dieser Zeit nicht schlecht war. Juden konnten damals zum Beispiel Boden besitzen und verpachten. Sowohl in Südfrankreich wie in Katalonien gab es jüdische Dörfer, in denen man Landwirtschaft trieb. Man durfte sogar christliche Arbeiter beschäftigen. Selbstverständlich erwartete man, daß diese Arbeiter an Sonntagen und christlichen Feiertagen nicht zu arbeiten brauchten. Auch in Deutschland lebten die Juden ziemlich ungestört. Es gab keine wirtschaftlichen Behinderungen.

Natürlich versuchte die Kirche, die jüdischen Einwohner zu bekehren, aber ebenso lesen wir über Bekehrungen zum Judentum. Im Jahre 838 zum Beispiel trat ein Diakon zum Judentum über und im Jahre 1010 ein gewisser Wezelin, Hofpriester des deutschen Kaisers Heinrichs II. Offenbar verkehrte man ungezwungen miteinander, und infolgedessen kam es zu diesen Übertritten.

Inzwischen hatte sich das Zentrum des Judentums in den Westen verlagert. Die ältesten jüdischen Siedlungen in Europa befanden sich auf dem Balkan, in Italien, Spanien und Portugal. Besonders angesehen war die große jüdische Gemeinde in Rom, ebenso die in Mailand, Ravenna und Siena sowie im Süden.

Das erstarkende Papsttum blieb maßvoll in seiner Judenpolitik, verbot zum Beispiel die Zwangstaufe, war und blieb aber mißtrauisch gegenüber den jüdischen Proselyten. Gregor der Große hoffte, die Juden durch Vergünstigungen zu gewinnen (Steuerermäßigung für Neubekehrte, Unterstützungen verschiedener Art). Er bekämpfte den durch jüdische Vermittlung betriebenen Sklavenhandel mit Kriegsgefangenen.

Unter den Merowingern in Frankreich erfuhren die Juden Beschränkungen. Das Konzil von Orleans verbot 533 die Heirat von Juden und Christen und sprach außerdem den Juden ab, daß sie Richter über Christen sein dürften. Gelegentlich kam es auch zu Zwangstaufen. Die Siege der Muslime über christliche Heere legte man zum Beispiel den Juden zur Last, da sie beide die Gottheit Christi leugnen.

Christen zerstören 576 die Synagogen in der französischen Stadt Clermont-Ferrand. Der örtliche Bischof zwingt mehr als 500 Juden, sich taufen zu lassen. Die anderen fliehen nach Marseille.

Der fränkische König Chilperich I. wendet 582 ohne viel Erfolg fast alle Mittel an, die Juden in seinem Reich zur christlichen Taufe zu bewegen. Schließlich läßt er den nicht geflohenen Juden die Wahl zwischen dem Ausstechen ihrer Augen oder der Taufe.

Der katholische Rat der spanischen Stadt Toledo ordnet 589 an, daß Kinder aus jüdisch-christlichen Ehen getauft werden. Später tritt diese Praxis auch in anderen Orten in Kraft.

Papst Gregor I. führt 600 ein neues System ein, um Juden zur Annahme des Christentums zu bewegen: Bekehrten werden politische und wirtschaftliche Vorteile versprochen. Aber in Spanien wird 613 allen Juden ein Ultimatum gestellt: Taufe oder Verbannung. Die Synode von Toledo beschließt 638, daß in Spanien nur Katholiken leben dürfen. Viele Juden werden verbannt. Die Synode in Toledo fordert 653den Scheiterhaufen für „rückfällige“ getaufte Juden. Die Synode von Toledo 694 erläßt einen scharfen antijüdischen Kanon.

In Spanien sympathisierten die Juden mit den Westgoten, solange diese arianisch waren. Aber durch die Katholisierung Spaniens kam es zu Bedrückungen. Die arabische Eroberung der Pyrenäenhalbinsel 711 war für die Juden eine Befreiung, nachdem man vergeblich versucht hatte, sie aus dem Westgotenreich zu vertreiben. Die Moslems werden bei ihrem Angriff von Juden unterstützt. Während der islamischen Besetzung von Spanien blüht die jüdische Kultur in besonderer Weise auf. Den Juden wird 755 in Spanien erlaubt, in allen Berufen tätig zu sein. Daraufhin siedeln viele Juden aus anderen Ländern nach Spanien über.

 

Erst mit der Regierungszeit Karls des Großen (768–814) mehren sich die Nachrichten über das Leben der Juden in Deutschland. Zu dieser Zeit waren sie auch noch freie Bürger, die Grund und Boden erwerben konnten und Waffen tragen durften. Ein Jude war sogar Mitglied der Gesandtschaft, die Kaiser Karl zum Kalifen Harun al Raschid nach Bagdad schickte. Er kehrte übrigens als einziger Überlebender der Gruppe zurück und überbrachte dem Kaiser in Aachen die Botschaft des Kalifen.

Aber die Judenpolitik des fränki­schen Kaisers Karls des Gro­ßen ist gespalten: Er hat jüdi­sche Ratgeber an seinem Hof und macht Geschäfte mit Ju­den, aber er läßt die anti­jüdische Haltung der Kirche zu. Die Juden galten als Fremde. Und als solche waren sie nach den damals geltenden Regeln schutzlos, wenn nicht der Kaiser sie unter seine Schutzherrschaft nahm. Karl der Große und Ludwig der Fromme taten dies mit Hilfe sogenannter Schutzbriefe. In diesen garantierten sie den Juden Schutz des Lebens, der Ehre, des Eigentums und der Religionsausübung. Die Juden durften freien Handel treiben und nach jüdischen Gesetzen Recht sprechen. Für diesen vom Kaiser gewährten Schutz hatten sie ihm jährlich ein Zehntel ihres Gewinns als Abgabe zu zahlen.

In den Städten wohnten die Juden zwar in eigenen Straßen, aber das war damals nichts Ungewöhnliches, denn. alle Interessenverbände, wie z. B. Berufsgruppen (Gerber, Händler, Töpfer usw.), pflegten in eigenen Gassen zusammenzuwohnen. Die Beziehungen zwischen Juden und Christen waren freundlich. Auch die Kirche gestand den Juden Sicherheit des Lebens und des Eigentums zu. Die Vertreter der Kirche achteten darauf, daß der Kontakt zwischen Christen und Juden nicht zu eng wurde. Zwar hatten die Konzilien des 6. und 7. Jahrhunderts den Juden verboten, sich zwischen Gründonnerstag und Ostern auf den Straßen und Märkten zu zeigen, aber im großen und ganzen war die Kirche dieser Zeit tolerant.

Es gab auch keine wirtschaftlichen Gegensätze. Die Juden waren wie die Christen auch Ärzte, Handwerker, Bauern oder Kaufleute. Sie besaßen Häuser, Weinberge und Felder. Sie waren vor allem geschätzte Handelspartner. da sie über gute Geschäftsverbindungen verfügten.

Als das slawische Land bis zur Elbe kolonisiert wurde, die Kaiser dort Städte wie Magdeburg, Halle und Merseburg gründeten, zogen jüdische Transithändler dorthin. Sie waren überhaupt gern gesehene Kolonisten. da sie handwerkliches Geschick, eine gute Bildung und Kultur mitbrachten. Die Juden bildeten in den Städten damals eine selbständige kooperative Gruppe neben der übrigen Stadtbevölkerung.

 

Der fränkische Kaiser Ludwig der Fromme, der Sohn Karls des Großen, ist judenfreundlich eingestellt: Juden dürfen wieder eigenen Besitz haben und werden aktiv geschützt gegen judenfeindli­che Kirchenvertreter.

Aber die Juden werden wieder unter kaiserliche Vormundschaft gestellt, einige bekamen aus wirtschaftlichen Gründen Schutzurkunden. In Deutschland übernahm Kaiser Heinrich IV. 1090 die Schutzvormundschaft über sie und verbriefte ihre Rechte. Die Juden Süddeutschlands, Lothringens und Böhmens gewannen in der Folgezeit in Handel, Wirtschaft und Grundbesitz eine ziemliche Bedeutung. Damals bildeten das französische und deutsche Judentum eine Einheit. In Lothringen wurden Talmudschulen gegründet. Ihre Lehren gewannen Einfluß auf das orthodoxe Judentum bis heute sowie auch auf die christliche Schriftauslegung (Nikolaus von Lyra und Luther). Besonders während der Regierung Karls des Großen und Ludwigs des Frommen konnten die Juden nach ihren eigenen Gesetzen frei leben. Daß dies den fränkischen Fürsten nicht schadete, ist bekannt.

 

In den östlichen Teilen der islamischen Welt wird um 850 eine jü­dische Kleidungsordnung eingeführt. Diese wird später über na­hezu die ganze islamische Welt und weite Teile der christli­chen Länder verbreitet: Juden müssen einen gelben Hut oder einen gelben Fleck an ihrer Kleidung tragen.

Nachdem Rom am Karfrei­tag 1021 von einem Erdbeben erschüttert wurde, werden Ju­den festgenommen und be­schuldigt, eine Hostie mit ei­nem Nagel durchstoßen zu haben. Die Juden werden ge­foltert, worauf sie die Tat ge­stehen und auf dem Scheiter­haufen verbrannt werden. Auch 1243 gibt es den Vorwurf der Hostienschändung in Deutschland: Die Juden zerstörten angeblich die Hostie auf ähnlich grausame Weise wie sie Jesus gefoltert hätten. Der Hostienfrevel wird in den folgenden Jahrhunderten eine oft wiederholte Beschul­digung, die Tausenden von Juden das Leben gekostet hat.

Salomo ben Irak (1040 bis 1105), genannt Raschi wirkt in Mainz, Worms und Troyes. Er ist Verfasser eines klassischen Bibel- und Talmudkommentars.

Der Kirchenreformer Peter Damiani greift 1060 das Judentum heftig an. Er unterscheidet ei­nen strengen Gott des Alten Testaments und einen liebenden des Neuen Testaments. Damianis Schriften liefern später den Kreuzfahrern die theologische Begründung zum Massenmord an den Juden.

 

Antijüdische Gewalt gibt es 1066 im Granada in Spanien: Unzu­friedenheit über den jüdischen Wohlstand bringen Moslems mehr als 5.000 Juden um. Der spanische König Alfonso VI. aber ist 1085 gegenüber den Juden freundlich eingestellt. Unter po­litischem Druck nimmt er den Juden jedoch später ihre Privi­legien teilweise wieder ab. Sofort nach dem Tode des spanischen Königs Alfonso VI. wird 1109 die jüdische Gemeinschaft in Toledo Opfer eines Pogroms. Die alten antijüdischen Maßnahmen treten kurz danach wieder in Kraft. Wegen ihrer hohen wissenschaftlichen Kenntnisse bleiben viele spanische Juden jedoch in wichtigen Ämtern. In Spanien werden Juden erstmals in Europa im Jahr Leibeigenen des Herrschers erklärt. In Deutschland werden sie später kaiserliche Kammerknechte. Der Rabbiner Ben Nachmann (Nachmanides) gewinnt 1263 eine theologische Debatte mit katholischen Gelehrten und wird aus Spanien ausgewiesen. Die ganze jüdische Gemeinschaft im spanischen Estella wird 1328 niedergemetzelt.

 

Bereits im 3. Jahrhundert waren jüdische Siedlungen in Spanien zu finden. Die von den Römern dorthin gebrachten Juden waren Zeugen der ersten Bekehrungen zum Christentum. Die Edikte des Konzils von Elvira (305 nCh) verboten, daß Christen in Häusern von Juden wohnen – man bestand bereits damals darauf, beide Religionen zu trennen. Es sollte der Vorbote werden für den Großen Exodus, zu dem die jüdischen Einwohner knappe zwölf Jahrhunderte später gezwungen wurden.

 Im Jahr 613 mußten sich die Juden bekehren oder das Land verlassen. Später wurde dieses Dekret durch den toleranteren Swintila (621-631) widerrufen, und in dieser Periode wurde die offizielle Kirchendoktrin in Bezug auf die Bekehrung formuliert: Juden durften nicht unter Zwang bekehrt werden.

Aber diese Toleranz war nicht von langer Dauer. König Erwig (680-687) setzte beim 12. Konzil in Toledo seinen Willen durch - alle Juden mußten zum Christentum übertreten. Als Tarik ben Zijad im Jahr 711 die Straße von Gibraltar überquerte, existierten keine jüdischen Gemeinden mehr.

Aber es gab viele „geheime“ Juden, die die Muslime als ihre Befreier willkommen hießen. Die drückende Situation dieser „Krypto-Juden“ veränderte sich abrupt. Nach der muslimischen Eroberung Spaniens kehrten viele Juden zurück, aber bald bekamen sie, ebenso wie die Christen, die schweren Steuern für Ungläubige zu spüren.

Nach der Festigung des Omajadischen Reiches durch Abd al-Rachman im Jahr 755 brach eine Blütezeit für das spanische Judentum an. Im Jahr 839 bekehrte sich selbst der Fränkische Bischof Bodo zum Judentum und heiratete in Saragossa eine jüdische Frau.

Im 10. und 11. Jahrhundert erlebte das jüdische Spanien einen Höhepunkt unter dem Gelehrten Chasdai ben Jitschak. Er förderte vor allem die Thora- und Talmudstudien. Für schwierige religiöse Fragen hatte man sich immer an die Weisen von Babylon gewandt, da das jüdische Wissen auf der Iberischen Halbinsel noch keine großen Formen angenommen hatte. Aber durch einen Fingerzeig der Vorsehung stellte sich hierin eine Veränderung ein: Ein Schiff mit vier berühmten Talmudgelehrten an Bord wurde im Mittelmeer gekapert. Alle Passagiere wurden als Sklaven verkauft. Je zwei der Talmudgelehrten kamen nach Spanien und nach Nord-Afrika. Nach Spanien kamen Rabbiner Mosche ben Chanog und sein Sohn. Als bekannt wurde, daß er alle cordobanischen Gelehrten an Wissen weit übertraf, wurde er zum Rabbiner von Cordoba ernannt. Rabbiner Mosche stiftete eine Jeschiwa (Talmudhochschule), die Studenten aus der weiten Umgebung anzog.

Aber bereits 1235 brauten sich dunkle Wolken über der spanisch-jüdischen Bevölkerung zusammen. Das Klima veränderte sich. Nach französischem Vorbild begann in Aragon eine stürmische Kampagne zur Bekehrung der Juden. Im Jahr 1250 entstand das erste „Blutmärchen“ in Saragossa. Im Jahr 1259 erklärte der König alle Schulden, die an Juden zu bezahlen waren, für null und nichtig.

Im Jahr 1378 startete der katholische Klerus eine Hass-Kampagne in den Predigten und begann mit Verfolgungen. Die Zensur nahm 1415 ihren Anfang, und Juden mußten in eigenen, für sie bestimmten Bezirken wohnen. Trotzdem blühte die jüdisch-religiöse Wissenschaft im 13. und 14. Jahrhundert wie nie zuvor. Auch das Interesse an der von dem berühmten Talmudgelehrten Nachmanides empfohlenen Kabbala (Mystik) nahm zu. Rabbiner Jakov ben Ascher publizierte sein „Arbaia Turim“ (vier Reihen), der Vorläufer des jüdischen Kodex Schulchem Aruch. Dennoch war die jüdische Weltreise mit ihren verschiedenen Rastplätzen noch nicht zu Ende.

In Toledo werden 1355 bei einem Pogrom 12.000 Juden niedergemetzelt. Im Jahr 1391 brechen in ganz Spanien antijüdische Krawalle aus. Dutzende von Synagogen werden zerstört und viele tausend Juden ermordet. Nach antijüdischen Krawallen wird 1405 die 200 Jahre alte Synagoge von Toledo von den Behörden enteignet. In Spanien tritt 1412 ein Gesetz in Kraft, das die Absonderung der Juden zum Ziel hat.

 

Obwohl es den Juden in Byzanz, dem heutigen Istanbul, am Ende des 15.Jahrhunderts gut ging, da die Türken 1453 dort an die Macht gekommen waren, war der Zustand in Spanien äußerst traurig.

Auf der iberischen Halbinsel. wo im Mittelalter so viele große Lehrer des Volkes Israel gelebt und gearbeitet hatten, begann im 14. Jahrhundert eine Periode des Unglücks und zunehmenden Elends. Trotzdem waren auch noch im 14. Jahrhundert einige Juden mit hohen Staatsämtern bekleidet. So hatte zum Beispiel Don Pedro einen jüdischen Minister, Don Samuel Abuiafia, der in Toledo eine prächtige Synagoge gründete. Heinrich II. hatte ebenfalls einen jüdischen Ratgeber, Samuel Abardanel.

Dennoch entstand ein giftsprühender Hass gegen die jüdische Bevölkerung. Die katholische Kirche sah mit Abscheu. daß einige Juden auf fürstliche Weise lebten und bei Hofe in hohem Ansehen standen. Die Geistlichen hetzten das Volk unablässig in ihren Predigten gegen die Juden auf. Schließlich kam es zum gewalttätigen Ausbruch. In Sevilla überfiel die Bevölkerung plötzlich die jüdische Gemeinde und ermordete viertausend Menschen. Die Raub- und Mordlust pflanzte sich wie ein Feuer durch Spanien fort. Siebzig Gemeinden, die einst der Stolz des spanischen Judentums waren, wurden vernichtet.

Um dem Volkszorn zu entkommen, konnten die spanischen Juden wählen, ob sie das Land verlassen oder das Christentum annehmen wollten. Viele traten in die katholische Kirche ein, blieben in ihrem Herzen aber dem jüdischen Gottesdienst treu. Sie hofften. daß sie später wieder zum Judentum zurückkehren könnten. Als Marranen bzw. Scheinchristen hofften sie, in ihrem Vaterland bleiben zu können. Doch sie irrten sich sehr.

Die Kirche merkte sehr schnell, daß es den meisten Juden mit dem Übergang zum Christentum keineswegs Ernst war. Sie versammelten sich in unterirdischen Kellern und Höhlen, um zu Gott zu beten. Unterstützt von König Ferdinand von Arragon und seiner Frau Isabella führte die Kirche 1478 die Inquisition ein, die auch untersuchen sollte, ob die Marranen nicht doch im Geheimen dem Judentum treu geblieben waren. Thomas de Torquemada wurde der Chef der Inquisition. Bald waren die Gefängnisse gefüllt mit Juden und Marranen. Wer ein Bekenntnis ablegte. endete auf dem Scheiterhaufen. Weigerte man sich zu bekennen, wurde man so lange gefoltert, bis man ein Bekenntnis ablegte.

Nach zwölf Jahren Folter und öffentlichen Verbrennungen kam die katholische Kirche zur Schlußfolgerung, daß die Juden nicht zu bekehren waren. Das einzige Mittel, um ihr Ziel zu erreichen, wäre die Vertreibung der Juden aus Spanien. Wenn alle Juden Spanien verlassen hätten. dann würden die Marranen schließlich doch ihrer alten Religion abschwören und treue Anhänger des Katholizismus werden.

In Sevilla findet 1481 die erste von der Inquisition organisierte „Selbstverbrennung“ statt: Sechs Männer und Frauen werden lebendig verbrannt, weil sie sich insgeheim zum jüdischen Glauben bekannt haben. Unter dem grausamen dominikanischen Inquisitor Tomas de Torquemada werden 1483 weitgehende Maßnahmen getroffen gegen die spanischen Marranen. Diese auch „Krypto-Juden“ genannten Juden haben nur zum Schein den christlichen Glauben angenommen, bekennen sich aber heimlich noch zum Judentum. Die spanische Inquisition läßt 1490 viele tausend hebräische Manuskripte verbrennen.

Am 31. März 1492 erließen Ferdinand und Isabella den Befehl, daß die etwa 200.000 spanischen Juden innerhalb von vier Monaten das Land verlassen mußten. Don Jitschak Abardanel ging zum König und flehte ihn an, das Dekret zurückzuziehen. Die Juden würden dafür 30.000 Dukaten bezahlen wollen und wären bereit, alle anderen Bedingungen zu tragen. Das spanische Königspaar zweifelte. In diesem Augenblick stürmte Thomas de Torquemada ins Zimmer und rief: „Wollt ihr den Katholizismus für 30.000 Dukaten verkaufen?“ Und so verließen am 9. Aw, dem nationalen Trauertag über die Verwüstung der beiden Tempel, etwa 150.000 Juden Spanien.

Ein Großteil von ihnen geht nach Portugal, etwa 25.000 in die Niederlande. Etwa 50.000 nehmen zum Schein den christlichen Glauben an und bleiben in Spanien. Viele von ihnen werden von der Inquisition aufgespürt und lebendig verbrannt. Im Jahre 1496 erfolgt eine Verbannung der Juden aus Portugal, Sizilien und Sardinien. Im Jahr 1498 verließen die Juden dann auch Portugal.

Die Inquisition wütete unter den zurückgebliebenen Juden. Noch im Jahr 1680 fanden Marranen in Spanien, im Jahr 1766 in Portugal den Tod auf dem Scheiterhaufen. Endlich hatte die katholische Kirche sowohl Frankreich. England als auch Spanien von jeglicher jüdischer Präsenz gesäubert. Die Juden verstreuten sich von der Türkei bis nach Holland. Langsam aber erholten sie sich von dem schweren Schlag. Der Hüter Israels schläft niemals!

Trotz aller menschenunwürdigen Umstände ist das spanische Kapitel der jüdischen Geschichte eine der größten Blütezeiten geworden, nämlich auf dem Gebiet der jüdischen Philosophie und der Kabbala. In dieser Periode haben beide Denkrichtungen ihren spezifischen Beitrag für das Judentum geliefert.

 

 

Als Wilhelm der Eroberer 1096 nach England fuhr, hatte er eine Gruppe Juden aus Rouen, der Hauptstadt der Normandie, bei sich. Sein Sohn Heinrich I. gab ihnen eine Urkunde mit Rechten, und so konnten sie sich als Händler und Kaufleute frei niederlassen. Es entstehen nachfolgend große jüdische Gemeinschaf­ten in London und Oxford.

Dennoch war ihre rechtliche und wirtschaftliche Position nicht immer gesichert. Zwar wurden sie vom König geschützt, aber zugleich waren sie von seinen Launen und seiner Habsucht abhängig. Wann es ihm gefiel, belegte er sie mit einer Sondersteuer.

Im englischen Norwich beschuldigen Mönche 1146 einen Juden, ein christliches Kind getötet und das Blut in Matzen verarbeitet zu haben. Die Folge davon ist ein Pogrom. Nach der Krönung von Richard Löwenherz 1189/90 brechen in England antijüdische Hetzen aus: Diese führen zum Mord an Hunderten von Juden. In York begeht eine Gruppe jüdischer Einwohner vor angreifenden Christen kollektiven Selbstmord.

Trotzdem nahm die Anzahl von Juden in England zu. Während der beiden ersten Kreuzzüge gab es für die Juden keine Probleme - im Gegensatz zum übrigen Europa. Sie wurden ja von Heinrich II. geschützt. Dennoch fanden aber gelegentlich auch Pogrome statt.

Im Jahre 1146 geschah dann folgendes: Die Juden in Norwich sollten angeblich einen christlichen Jungen entführt haben, um seinen Körper in den Matzen für das Passahfest zu verarbeiten. Obwohl der örtliche Amtmann sich weigerte, gegen die Juden einzuschreiten, weil er diese Beschuldigung für töricht hielt, glaubten viele Einwohner daran und ermordeten deshalb eine Anzahl Juden des Ortes.

Als Richard Löwenherz nach dem Tod seines Vaters König wurde, fingen die Probleme für die Juden erst recht an. Der König selbst war daran, soweit wir nachforschen können, nicht schuldig. Als Richard am 3. September 1189 in London zum König gekrönt wurde, gab es auch eine Delegation der berühmtesten Juden Englands, die vom reichen Benedikt von York angeführt wurde. Sie kam mit Geschenken zur Krönungsfeier.

Der Erzbischof von Canterbury aber überredete Richard, sie nicht zur Feier in die Kirche zu lassen. Als der Pöbel sah, daß diese Juden nicht nur weggeschickt, sondern auch noch geschlagen und beleidigt wurden, hielt man sie für geächtet. Daraufhin brachen gewalttätige Krawalle aus: die Einwohner Londons zündeten jüdische Häuser an. Und die Juden mußten wählen: Taufe oder Tod.

Die Juden wählten den Tod, und viele - unter ihnen der Rabbiner des Königs - verübten Selbstmord, um ihren Bedrängern zu entkommen. Der König versuchte, diesen Krawallen ein Ende zu machen und ließ sogar zwei Aufwiegler hinrichten. Er fertigte ein Edikt aus, das die Juden unter seinen besonderen Schutz stellte. Aber es nützte nichts mehr. Richard Löwenherz beteiligte sich dann am nächsten Kreuzzug und ließ die Juden unbeschützt zurück.

Von London sprang die Gewalt zu anderen Städten über. Eine kleine Gemeinde von zwanzig ursprünglich christlichen Familien, die zur jüdischen Religion übergetreten waren, wurde ermordet. In Lynn, Norwich, Bury St. Edmonds und anderen Orten wurden Juden ermordet oder zum Selbstmord getrieben.

Der Höhepunkt der Ereignisse geschah in York. Benedikt von York erlag während seines Besuchs in London den Verletzungen, die ihm dort zugefügt wurden. Darauf plünderte die Yorker Bevölkerung sein Haus. Die Juden der Stadt suchten mit Zustimmung des Amtmannes Zuflucht in der Zitadelle des Schlosses. Darauf belagerte die Bevölkerung die Zitadelle, angeführt von einem Freiherrn, der große Schulden bei den Juden hatte. Die Belagerten wehrten jeden Angriff ab. Die Gewalt ließ schon nach, als plötzlich ein Mönch in einer weißen Kutte erschien. Er hetzte die Bevölkerung zu neuer Raserei auf. Nachdem er selber durch einen Stein tödlich getroffen war, versuchte man, die Festung erneut zu nehmen - auch diesmal ohne Erfolg. Die Juden behaupteten sich nach wie vor.

In der Festung selbst entstand jedoch eine Hungersnot, weil die Nahrungsvorräte ausgingen. Deshalb beschloß man am 17.März 1190, sich selbst umzubringen. Nach einem christlichen englischen Geschichtsschreiber sollte Rabbiner Yom Tov von Joigny seinen Gemeindemitgliedern folgendes gesagt haben: „Es ist offenbar der Wille des Gottes unserer Väter, daß wir sterben sollen für unsere heilige Thora. Wir haben den Tod vor Augen, und deshalb sollen wir entscheiden, was die würdigste Art zu sterben ist. Wenn wir in die Hände unserer Feinde fallen würden, wäre unser Tod nicht nur furchtbar, sondern auch ungnädig. Sie werden uns nicht nur martern, sondern auch verspotten.

Deshalb gebe ich den folgenden Rat: Der Schöpfer hat uns das Leben geschenkt, und wir müssen es Ihm mit den eigenen Händen wieder zurückgeben. Viele berühmte Männer und ganze Gemeinschaften, die in ähnlichen Situationen waren, sind uns hierin vorangegangen.“

Drauf töteten die Männer ihre Frauen und ihre Kinder und danach brachten die Männer einander zu Tod. Joseph, das Verwaltungshaupt der Gemeinde, wurde als Letzter vom Rabbiner von York getötet, der sich danach selbst umbrachte. Insgesamt fünfhundert Menschen starben auf diese Weise. Als die Belagerer in die Festung drangen, fanden sie nur Leichen.

Diese Art der Reaktion heißt „Kiddoesj Hasjem“, die Heiligung von Gottes Namen. Oft war es für die Juden die einzige Art, sich in ihrem Glauben zu behaupten und ihre menschliche Würde zu behalten. Es war der einzige Weg, der Außenwelt zu zeigen, daß sie Mut hatten.

Darin liegt eine Ironie: Die Christen führten einen heiligen Krieg, um das verheißene Land aus den Händen der Moslems zu retten, und waren dazu bereit, das Leben für diesen Krieg zu geben. Andererseits waren die Juden dazu bereit, ihr Leben für die Heiligung von Gottes Namen zu geben, als die Kreuzfahrer sie angriffen.

Dieses Verbrechen ist beispielhaft für die Zeit des Mittelalters seit den Kreuzzügen. Die Behörden wollten die Juden zwar oft schützen. Aber das Volk, von der Lehre der Kirche beeinflußt, nach der die Juden als Mörder Jesu von Gott verworfen seien, zog daraus seine Konsequenzen.

Der Brite Robert of Reading bekehrt sich 1222 zum Judentum und heiratet eine jüdische Frau. Er wird verhaftet und lebendig verbrannt. Die Juden von Oxford müssen einen gelben Davidsstern an ihrer Kleidung tragen. In Newcastle wird es 1234 den Juden verboten, wohnen zu bleiben. Das Verbot folgt in anderen englischen Städten. Im Jahre 1264 kommt es zum Massenmord an Juden in London. Alle englischen Juden werden 1290 enteignet und aus dem Land verbannt (bis 1655).

 

Die Rouen in Frankreich werden 1171 in ihre Synagogen getrieben, wonach dieselben in Brand gesetzt werden Die französischen Juden werden 1182 von König Philipp August verjagt und ihre Ländereien beschlagnahmt. Zu Beginn des 5. Kreuzzuges 1228/29 werden 3.000 französische Juden ermordet. In einem Brief an König Ludwig IX. von Frankreich verurteilt Papst Gregor IX. diese exzessive Gewalt gegen die jüdische Bevölkerung.

Der Erzbischof von Lyon, Agobard, war ein großer Gegner der judenfreundlichen Haltung Ludwigs des Frommen. Dadurch sah er die Autorität der Kirche unterminiert. Er versuchte dagegen gewaltsam. jüdische Kinder zu taufen, aber die Diener des Kaisers hinderten ihn daran. Aus seinen Schriften erhält man den Eindruck, daß es ein großes Interesse am Judentum gab, auch hörte man jüdischen Predigern wohl gern zu. Durch seine Schriften versuchte Agobard zu beweisen, daß der jüdische Glaube ein Aberglaube war. und er sprach sich gegen soziale Kontakte zwischen Juden und Christen aus. Dies versuchte er praktisch umzusetzen, indem er zu einem Handelsboykott von Gütern wie Wein und Fleisch von jüdischen Grundbesitzern aufrief. Zu seinen Lebzeiten hatte er wenig Erfolg damit, aber als die Macht der Kirche zunahm, sollten Maßnahmen solcher Art Erfolg haben.

Im Jahre 1306 kommt es zum Ausbruch von Juden-Verfolgungen in Frankreich. Ein Grund: angeblicher Hostienfrevel. Gleichzeitig werden die Juden verbannt. Im Jahre 1321 werden in Chinon 160 Juden lebendig begraben. Im Jahre 1388 werden alle Juden aus dem Straßburg werden verbannt (bis 1767). Die jüdische Gemeinschaft in Toulouse wird 1420 völlig vernichtet.

 

Trotz Verfolgung geschieht die weitere Ausbreitung der Juden in alle Erdteile: Das Westjudentum („Sephardim“) umfaßt etwa 20 Prozent. Zentrum ist Spanien und die Sprache „spaniolisch”. Das Ostjudentum („Aschkenasim“) umfaßt etwa 80 Prozent. Zentrum ist Rußland, Polen, Deutschland. Die Sprache ist „Jiddisch”. Die Sprache ent­steht um 900 durch die Kontakte zwi­schen Juden aus Nord-Frank­reich und Nord-Italien einer­seits sowie deutschspre­chen­den Händlern andererseits. Es entsteht eine eigene Literatur und die Frömmigkeitsbewegung des Chassidismus. Gemeinsam ist beiden Teilen die Bewahrung von Glauben und Tradition, aber die Kulturkreise sind verschieden.

 

Kreuzzüge

Nach dem Jahre 1000 vollzog sich eine Wende im Verhältnis zwischen Juden und Christen. Tausend Jahre Christentum hatten nicht jene Welt geschaffen, die man erwartet hatte – Christus war noch nicht zurückgekehrt. Ein großer Teil der Welt, darunter das Heilige Land, war in den Händen des antichristlichen Islams.

Die Eroberung der jüdischen Siedlungslande durch die Araber war vergleichsweise unblutig verlaufen. Kalif Omar I., der zweite Nachfolger Moham­meds, war im Jahr 637 vor das inzwischen von Christen beherrschte Jerusalem gezo­gen, um die Heilige Stadt auszuhungern. Das umliegende Land war bereits fest in muslimischer Hand, die Städte Syriens und Palästinas hatten sich nach und nach den ara­bischen Eroberern ergeben, und die einzige christliche Armee, die den verzweifelten Eingeschlossenen von Jerusalem zu Hilfe eilen könnte, stand weit entfernt in Ägypten. Im Februar 638 muß der christliche Pa­triarch Sophronios zu seiner letzen Amtshandlung schreiten. Dem „honigzüngigen Verteidiger des Glaubens“, wie er genannt wird, bleibt nichts als die Kapitulation.

Der Botschafter der christlichen Nächstenliebe sollte von der Fremdenliebe und Großzügigkeit des Eroberers überrascht werden: Der neue Herrscher Jerusalems läßt sich vom geschlagenen Patriarchen die heiligen christlichen Stätten zeigen. Schließlich führt Sophronios den Kalifen auch in die Grabeskirche. Omar fragt den unterlegenen Feind, wo er seinen Gebetsteppich ausbreiten könne. Demütig bietet ihm Sophronios an, gleich an dieser Stelle zu beten. Doch der Kalif rollt seinen Teppich in der Vorhalle aus, und überläßt damit die Grabeskirche den Christen. Überdies ordnet er an, was siegreiche Eroberer bisher in Jerusalem noch nicht angeordnet hatten: Seine Truppen sollen die Einwohner schonen und keine Racheakte verüben.

Was anfangs wie eine großmütige Geste des Kalifen aussah, erwies sich über die folgenden Jahrhunderte als oftmals verläßliches Programm: Die neuen Herrscher predigten religiöse Toleranz gegenüber den „Dhimmis“, den durch den Islam geschützten „Besitzern der Schrift“ (Juden und Christen). Die Unterlegenen dürfen auch ihren Glauben und ihre Gotteshäuser behalten. Einzige Einschränkung: Christen und Juden müssen eine besondere Kopfsteuer, die „Dschisja“, aufbringen und dürfen weder Waffen tragen noch auf Pferden reiten.

Erst der Aufstieg der seldschukischen Türken bringt die Periode des religiösen Friedens und der Toleranz zwischen Islam und Christentum, zu einem jähen Ende. Der arabische Geograf Mukaddasi beschreibt Jerusalem als ein „goldenes Becken voller Skorpione“.

Dann nutzt der römische Papst Urban II. das Konzil von Clermont für eine wichtige Ankündigung. Am 27. November 1095 schildert der Pontifex in dramatischen Worten die Lage der Christen im Osten des Reichs und betont immer wieder die Heiligkeit Jerusalems für die gesamte Christenheit. Er rief die westliche Welt zu einem Kreuzzug auf, um das Grab Christi aus den Händen der Ungläubigen zu befreien. Als er schließlich die gebannte Menge zum „gerechten Krieg“ aufruft, hallt ihm ein Schrei entgegen: „Gott hat es gewollt!“ Urban verspricht den zukünfti­gen Gotteskriegern Vergebung ihrer Sün­den. Für die Eroberung des irdischen Je­rusalem kündet der Papst ihnen darüber hinaus einen sicheren Platz im himmli­schen Jerusalem an.

 

Dieser Aufruf erregte viel Beifall. nicht nur bei den Adligen und Rittern, sondern auch bei den Armen. Aufgehetzt vom Volksverführer Peter von Amiens begannen sie, ins Heilige Land zu ziehen. Unter der Führung von Gottfried von Bouillon (gestorben Juli 1100) formt sich ein gewaltiges Heer, das mit wehenden Kreuzbannern nach Je­rusalem aufbricht und schließlich rund 80.000 Mann umfaßt. Gottfried von Bouillon drohte unüberhörbar, das Blut Jesu an den Juden rächen zu wollen. Kein Jude solle am Leben bleiben.

Aber in der Normandie meinte eine Gruppe von ihnen, daß es Torheit wäre, durch die halbe Welt zu ziehen, während die Mörder Christi wohlhabend in ihrer Mitte wohnten. Und damit begann die erste Reihe von Massenmorden. Die jüdische Gemeinde von Rouen wurde das erste Opfer: Alle, die sich nicht taufen lassen wollten. wurden getötet. Von dort ging es weiter zu anderen Orten in Frankreich, dann zu den großen jüdischen Gemeinschaften des deutschen Rheinlandes.

Weil Kaiser Heinrich IV. sich in Italien aufhielt, konnte er seinen Schützlingen, den Juden. nicht wirksam helfen. In Speyer, Worms. Mainz, Köln und vielen anderen Orten wurden jüdische Gemeinschaften völlig vernichtet.

Zwar beteuerte Gottfried von Bouillon auf entsprechende Anfragen, er habe nicht vor, die Juden umzubringen, aber Teile des Kreuzfahrerheeres plünderten die Habe der Juden, zerstörten deren Häuser und ermordeten die Juden, die ihnen in den Weg kamen, beim Durchzug durch das Rheingebiet. Allein in Worms kamen dadurch 800 Juden ums Leben. Fanatisierte Prediger riefen zur Rache an den sogenannten Christusmördern auf. Den gemeinen Leuten wurde suggeriert: Wer einen Juden tötet, erhält Vergebung aller Sünden.

Dennoch ist es kennzeichnend. daß die christlichen Einwohner dieser Städte sich selbst nicht gegen die Juden richteten, sondern daß sie eher versuchten, ihnen zu helfen und sie zu verstecken. Auch hohe Geistliche und Adlige taten ihr Bestes, die Juden zu schützen, aber oft ohne jeden Erfolg.

In Speyer gelang es dem Bischof Johannes, die in der Stadt lebenden Juden vor ihren Mördern zu schützen. Schlimm war das Blutbad, das die Kreuzfahrer in Mainz anrichteten. Über 1.100 Juden kamen dabei um. In Köln erschien Anfang Juni 1096 eine Kreuzfahrerschar. Der Bischof Hermann wollte die Juden schützen. Er verteilte sie auf seine Burgen, aber eine nach der anderen wurde von den Kreuzfahrern eingenommen.

Die Juden, von diesen Drohungen erschreckt, baten Kaiser Heinrich IV. (1056–1106) um Hilfe. Dieser verpflichtete alle Territorialherren dazu, die Juden vor möglichen Übergriffen zu schützen. Heinrich IV. befand sich zu dieser Zeit in Italien. Als er nach diesen schauerlichen Ereignissen wieder in Deutschland war, veranlaßte er eine strenge Untersuchung der Vorkommnisse. Um die Juden künftig besser vor derartigen Grausamkeiten und Verfolgungen zu schützen, bezog er sie in den Landfrieden ein. Unter dem Landfriedensschutz standen alle schutzbedürftigen Personen der damaligen Zeit wie Frauen, Kinder, Mönche. Aber die, die unter des Reiches Schutz standen, durften keine Waffen tragen. Mithin mußten die Juden nunmehr um ihrer Sicherheit willen auf das damalige Grundrecht des freien Mannes verzichten.

Die christlichen Kreuzfahrer verüben auf ihrem Zug nach Jerusalem Massenmorde un­ter den jüdischen Gemein­schaften in Frankreich und im Rheinland: Die Juden müssen wählen zwischen der soforti­gen Taufe oder dem Tod: Mehr als 12.000 von ihnen werden ermordet, zahllose andere ver­üben Selbstmord.

Am 7. Juni 1099 treffen die Kreuzfahrer in Jerusalem ein. Doch der mus­limische Statthalter If­tichar al-Daula hat die umliegenden Brun­nen vergiften lassen. Den Kreuzrittern ist bald klar, daß sie keine lange Belagerung der Stadt durchhalten können. In der Nacht vom 13. auf den 14. Juli stürmen sie die Heilige Stadt. Der Kampf dauert die ganze Nacht und den ganzen Tag. Gegen ein Lösegeld erhalten Iftichar-al-Daula freies Geleit aus der Stadt. Sie sind die einzigen Musli­me, die den Sieg durch die Christen überleben.

Was folgt, ist ein Blutrausch, den das kol­lektive Gedächtnis der musli­mischen Welt nie wieder ver­gessen wird. Die Kreuzritter, denen die Sünden bereits im Voraus vergeben waren, mor­den besinnungslos. Häuser und Moscheen werden abgefackelt, Männer, Frauen und Kinder niedergemetzelt. Wer in die Aksa-Moschee geflohen war, wird ebenso erschlagen wie die Juden, die in der Hauptsynago­ge Schutz gesucht hatten: Sie wird in Brand gesteckt, alle fin­den den Feuertod. Alle Ju­den, die nicht durch das Schwert zu Tode kommen, werden in Synagogen eingesperrt, wonach diese in Brand gesetzt werden. Abschließend halten die Kreuz­fahrer unter Freudentränen ei­nen Dankgottesdienst für ih­ren Sieg.

Von dem Trauma dieser Gewaltorgie des religiösen Fanatismus sollte sich das Heilige Land nicht wieder erholen. Der „Dschihad“, Heiliger Krieg der Muslime, zieht selbst heute seine Rechtfertigung auch aus dem Massenmord im Namen des Kreuzes. So hat die rhetorische Fehlleistung des amerikanischen Präsidenten George W. Bush, den Kampf gegen den Terror zum „Kreuzzug“ zu erklären, wieder an die Jahrhunderte alte Wunde gerührt und den muslimischen Fanatismus einmal mehr genährt.

Da Juden und Muslime von seiten der Christen auf dieselbe Stufe gestellt wurden, gab es während der ersten drei Kreuzzüge (1096, 1147, 1189/ 1190) viele jüdische Märtyrer, besonders in Frankreich, im Rheinland, in Böhmen und in Palästina. Auch der Kampf der Kirche gegen die Häretiker (Albigenser) trug zur Isolierung der Juden bei. „In Deutschland bezeichnete eine Blutspur den Aufbruch der Kreuzfahrerheere. Sie führte über die Städte Speyer, Worms, Köln und Mainz. „Taufe oder Tod“ hieß es für viele Juden. „Nun, so ziehen wir den weiten Weg, das Grab zu suchen und an den Ismaeliten Rache zu nehmen. Seht, hier mitten unter uns wohnen die Juden, deren Väter den Heiland unschuldig schlugen und kreuzigten, wohlan, rächen wir uns zuerst an ihnen!“ So schildert ein jüdischer Chronist aus der Zeit des ersten Kreuzzuges einen Aufruf zum Judenmord

Die Toleranz eines Kalifen Omar sollte unter den christlichen Herrschern in Jeru­salem nicht wieder Einzug halten: Juden und Muslime wurden aus der Heiligen Stadt verbannt, die Aksa-Moschee mußte als Pferdestall dienen. Der Zorn der arabischen Welt war ge­schürt – doch sollte es 88 Jahre dauern, bis das Trauma des Gemetzels der Kreuzritter durch einen neuen muslimischen Führer gesühnt werden konnte. Als der Kurde Sa­lah al-Din Jussuf Ibn Ajjub, bekannt als Saladin, in Jerusalem einzieht, hat die is­lamische Welt wieder eine Lichtgestalt, die das Erbe des Kalifen Omar antritt. Inner­halb weniger Monate hatte Saladin alle Burgen und Städte des christlichen Königreichs Jerusalem erobert, am 2. Oktober 1187 nimmt er Zion wieder ein.

Als Saladin 1193 stirbt, ist Jerusalem nach wie vor fest in muslimischer Hand. Mit seinem Tod kehrt auch eine Schwäche der arabischen Welt zurück: Wechselseitiges Mißtrauen und Zerstrittenheit kennzeichnen die Herrschaft der Mamelucken.

 

Beim dritten Kreuzzug vertreiben die Kreuzfahrer 1191 die Juden aus Ashkelon. Im Jahre 1204 plündern sie Konstantinopel und setzen das jüdische Stadtviertel in Brand. Im Jahr 1212 lassen sich 300 Rabbiner und jüdische Gelehrte in Jerusalem und anderen Teilen von Israel nieder, um die während der Kreuzfahrerzeit dezimierten jüdischen Gemeinschaften neu zu beleben.

Der Zwist unter den Muslimen endete erst, als sich Anfang des 16. Jahrhunderts das Osmanische Reich unter Selim I. als Weltmacht etabliert hatte. Die damals arabisch sprechenden Juden in Palästina empfanden die Osmanen-Herrschaft als Erlösung. Ihre Glaubensbrüder in der europäischen Diaspora, die 1492 aus Spanien vertrieben und anderswo in Westeuropa ebenfalls unter Verfolgung zu leiden hatten, strömten zu Zehntausenden ins Osmanische Reich. Zu Selims Zeiten lebten mehr Juden in dem muslimischen Staat als überall sonst auf der Welt. Für sie begann eine Blütezeit des wirtschaftlichen Aufschwungs. Daß Palästina dabei für die nächsten Jahrhunderte als tiefste Provinz vor sich hindämmerte, hat dem blutgetränkten Land eine längere Friedensperiode geschenkt als je zuvor.

 

Die Leiden, die die Kreuzzüge für die Juden gebracht haben, verstärkten die Trennung zwischen Juden und Christen und veranlaßten die jüdischen Gemeinden, sich in größeren Gemeinden zusammenzuschließen. Als Reaktion auf die blutigen Verfolgungen wurde die Kasuistik auf die Spitze getrieben. Die Mystik trat stärker in den Vordergrund. Um den Verfolgungen durch die Kreuzzüge zu entgehen, wanderten deutsche Juden nach Polen und Rußland aus. Seit 1150 gab es dort große jüdische Gemeinden. Dort entsteht auch das Zentrum der jiddischen Kultur.

„Keine Nation hat je derartiges für Gott erlitten“, schrieb 1135 der französische Scholastiker Pierre Abaelard. „Unter alle Nationen zerstreut, ohne König oder weltlichen Fürsten, werden die Juden mit schweren Steuern bedrückt, als ob sie jeden Tag von neuem ihr Leben loskaufen sollen. Die Juden zu mißhandeln, hält man für ein gottgefälliges Werk. Denn eine solche Gefangenschaft, wie sie die Juden erleiden, können sich die Christen nur aus dem höchsten Haß Gottes erklären. Das Leben der Juden ist ihren grimmigsten Feinden anvertraut. Selbst im Schlaf werden sie von Schreckensträumen nicht verlassen. Außer im Himmel haben sie keinen sicheren Zufluchtsort. Wenn sie zum nächstgelegenen Ort reisen wollen, müssen sie mit hohen Geldsummen den Schutz der christlichen Fürsten erkaufen. die in Wahrheit ihren Tod wünschen, um ihren Nachlaß an sich zu reißen.

Äcker und Weingärten können die Juden nicht haben, weil niemand da ist, der ihren Besitz garantiert. Also bleibt ihnen als Erwerb das Zinsgeschäft, und dieses macht sie wieder bei den Christen verhaßt!“

Abaelard, der voller Mitgefühl das bittere Los der gehetzten Juden schilderte, blieb ein einsamer Rufer. Ungehört verhallten die Worte des von der Kirche verfolgten Mönchs in der Welt. Die religiösen Leidenschaften und Fanatismus, die die Kriege gegen die Ungläubigen einmal entfacht, die antijüdischen Tendenzen, die sie ausgelöst hatten, kamen auf lange Zeit nicht wieder zur Ruhe, sie begannen sich in einem nie zuvor erlebten Ausmaß zu steigern. Den Kreuzzügen folgte die düsterste Periode des Mittelalters – drei Jahrhunderte, in denen die Zentren der Judenheit in ganz Europa der Zerstörung anheimfielen.

 

Die Kreuzzüge brachten für die Juden auch ökonomisch eine negative Entwicklung der Verhältnisse. Sie wurden immer mehr aus dem Transithandel verdrängt. Diesen übernahmen nun christliche Kaufleute, die dem Kreuzfahrerheer folgten und die orientalischen Märkte für sich erschlossen.

In den Städten organisierten sich (12. Jahrhundert) die Handwerker in Zünften. Die Zünfte waren nicht nur wirtschaftliche Vereinigungen, sondern zugleich auch stark religiös geprägte Gemeinschaften. Aus diesem Grunde konnten Juden in die Zünfte nicht aufgenommen werden. Aber in den Städten durfte nun nur noch der ein Handwerk ausüben, der der betreffenden Zunft angehörte. Auf diese Weise wurden die Juden in den Städten an der Ausübung des Handwerks gehindert.

Diese Entwicklung hatte schlimme Folgen für die Juden in Deutschland, denn sie brachte für sie große wirtschaftliche Schwierigkeiten: Viele Juden mußten eine neue Erwerbsquelle suchen, um existieren zu können. Solch eine neue Erwerbsquelle fanden sie im Geldgeschäft. Bis dahin waren die Klöster für Kaiser und Territorialherren die großen Geldverleiher gewesen. Jedes Kloster verdiente bei diesen Geschäften sehr gut. Durch den Einfluß der kluniazensischen Klosterreform wurde den Klöstern das Geldgeschäft immer mehr eingeschränkt.

Auf dem 4. Laterankonzil 1215 (es handelt sich dabei um eine von Zeit zu Zeit in der lateranischen Basilika in Rom stattfindende Kirchenversammlung) wurde den Christen schließlich verboten, Geld gegen Zinsen zu verleihen.

In Böhmen wird 1107 das erste schriftlich bekundete Geldgeschäft zwischen Juden und Christen abgeschlossen. Da die Juden immer mehr aus dem Berufsleben ausgeschlossen werden (insbesondere aus Gilden und Zünften), werden sie zwangsläufig in den Handel mit Geld hineingedrängt. Offiziell wird ihnen 1179 von Papst Alexander III. das Recht zugestanden, Geld gegen Zinsen zu verleihen („Wucher“).

Die Juden sprangen nun in diese „Marktlücke“ ein, denn der Geldbedarf der Potentaten war groß. Das erste schriftlich beurkundete Geldgeschäft zwischen einem Christen und einem Juden wurde im Jahr 1107 getätigt. Aber noch im selben Jahrhundert prangerte Bernhard von Clairveaux (1091-1153), die führende religiöse Persönlichkeit der damaligen Zeit, das Gewerbe der Geldverleiher mit dem Ausdruck „iudaicare“ (jüdisch handeln) an. Zwar war auch den Juden durch eigene religiöse Vorschriften der „Wucher“ verboten, aber um leben zu können, mußten sie sich über ihre Gebote hinwegsetzen.

Der Zinssatz war für unsere Begriffe sehr hoch. Er unterlag nicht einfach der Willkür des Geldverleihers, sondern die Zinshöhe war gesetzlich geregelt. So setzte zum Beispiel der rheinische Städtebund im Jahre 1255 die Höchstzinsen bei wöchentlichem Darlehen auf 4 31/2 Prozent, bei jährlichem Darlehen auf 33 1/2 Prozent fest. Dies blieb auch lange Zeit etwa der Durchschnittszins in Deutschland. Allerdings war dieses Geschäft mit sehr hohen Risiken für den Geldverleiher verbunden.

 

Die Lage der Juden verschlechterte sich nicht nur im ökonomischen Bereich, sondern in allen Bereichen ihres Lebens. Auf dem oben schon erwähnten 4. Laterankonzil wurde eine ganze Reihe von Beschlüssen gefaßt, die das Leben der Juden betrafen. Von besonderer Bedeutung war dabei die Dogmatisierung der sogenannten Transsubstantiationslehre.

Das heißt, die Realpräsenz Jesu beim Abendmahl wurde zum Dogma erhoben. Jeder, der diese Lehre in irgendeiner Form nicht anerkannte, wurde zwangsläufig zum Ketzer und Antichristen. Auf diese Weise bekam jener in der Zeit der Kreuzzüge aufgebrochene Judenhaß sogar noch eine geistliche Legitimation. Jetzt waren plötzlich der Glaube und die religiösen Bräuche der Juden zu einer Art Verbrechen geworden.

Kein Wunder, daß der Aberglaube sich daran rankte und die unglaublichsten Blüten trieb. Die Kirche war nun in besonderer Weise daran interessiert, daß Christen und Juden voneinander scharf und deutlich getrennt lebten. Darum wurde auf dem Konzil festgelegt, „daß von jetzt ab die Juden beiderlei Geschlechts sich von den anderen Leuten durch ihre Kleidung unterscheiden müssen“. In Frankreich wurde dieser Beschluß besonders rasch verwirklicht. Von dort stammt wahrscheinlich der Gedanke, die Unterscheidung durch das Tragen eines besonderen Zeichens zu praktizieren.

„Damit die Gläubigen schon auf den ersten Blick Ungläubige zu erkennen vermögen, wird festgesetzt, daß Juden und Sarazenen (Mohammedaner) beiderlei Geschlechts in allen christlichen Ländern jederzeit durch die Beschaffenheit des Gewandes sich von allen unterscheiden solle“, heißt es in einer Bestimmung dieses Konzils. Zeitweise mußten die jüdischen Männer ein gelbes Barett tragen, später einen schwarzen Hut mit roten Haaren, um den gestreifte Leinwand genäht werden mußte. Im Jahre 1555 befahl Papst Paul IV. allen jüdischen Frauen, ein viereckiges gelbes Stück Tuch um den Kopf zu tragen. Zudem schrieb ihnen das Salzburger Konzil auch weithin schallende Glöckchen an der Kleidung vor. Seit 1530 mußte der „gelbe Fleck“ in ganz Deutschland getragen werden, ein runder Kreis von gelber oder auch roter Farbe. Nach dem mittelalterlichen Farbkanon war Gelb die Farbe der Schande.

In Deutschland zwang man die Juden, eine besondere Kopfbedeckung zu tragen. Das war ein kegelförmiger oder roter Hut. Kreis und Hut wurden sehr rasch zum Makelzeichen der nicht-getauften Juden. Die Künstler stellten die Juden kaum noch anders dar. Selbst die Juden zur Zeit Jesu, die nicht zum Jüngerkreis gehörten, wurden von Malern und Bildhauern mit dem Judenhut versehen (Westlettner im Naumburger Dom). Durch diese Kennzeichnung fühlten sich die Christen den Juden überlegen. Sie wähnten, besser als diese zu sein. Die Juden wurden in den Augen der Nichtjuden immer fremdartiger, schlechter und gefährlicher. Schon 1205 hatte Papst Innozenz III. (1198–1216) die Juden als „gottverdammte Skla­ven“ bezeichnet. Auf dem Laterankonzil wurde betont, daß die Juden durch den Tod Jesu ihre Freiheit verloren hätten. Sie müßten nun als Knechte den Christen dienen. Es wäre die Aufgabe der weltlichen Herren, dafür zu sorgen, daß sich die Juden nicht hochmütig über den christlichen Glauben erheben.

Hier wurden neue Maßnahmen gegen die Juden beschlossen. um die Trennung zwischen Juden und Christen zu vergrößern. Viele waren nicht neu. manche stammten schon aus dem römischen Reich: Juden durften keine christlichen Dienstmädchen im Haus haben. Christen durften nicht mit Juden zusammenleben, Juden durften keine Autorität über Christen ausüben. Wenn man sich an einem Kreuzzug beteiligte. brauchte man einem Juden, bei dem man Geld geliehen hatte, keine Zinsen mehr zu bezahlen. Ein Jude, der Christ geworden war, durfte nicht mehr mit seinen Volksgenossen verkehren.

 

Andere demütigende, das Ansehen der Juden vor der Öffentlichkeit herabsetzende Erlasse und Gebräuche kamen hinzu. An einigen Orten wurde es als Vorrecht des Pöbels angesehen, die Juden zur Osterzeit mit Steinen zu bewerfen, andernorts wiederum mußten Vertreter der Gemeinde an diesem Fest Schläge oder Ohrfeigen in aller Öffentlichkeit einstecken. In Kreta hatten auch ihre Häuser ein besonderes Zeichen zu tragen. Vielfach zwang man die jüdischen Gemeinden, den als ehrlos geltenden Henker zu stellen, häufig errichtete man den Galgen auf ihren Friedhöfen. Man verbot ihnen, die öffentlichen Bäder zu betreten, oder ließ sie nur an den Tagen zu, die den Prostituierten vorbehalten waren ... Sie wurden nach und nach auch aus allen wichtigen freien Berufen verdrängt. Erwerbsart auf Erwerbsart, die sie jahrhundertelang ausgeübt hatten, ward ihnen versperrt, bis sie schließlich auf der tiefsten sozialen Stufe anlangten, geduldet nur noch in untersten, allgemein verachteten Tätigkeiten, denen des Trödelhändlers und des kleinen Pfandleihers.

Seit der Zeit des Römischen Imperiums waren sie in Landbau, Handel und Handwerk tätig. Sie hatten der europäischen Landwirtschaft manches beigesteuert, was sie aus ihrer Heimat im Morgenland mitgebracht hatten, besonders in Reben- und Olivenzucht, aber auch in der Technik der Bodenkultivierung, der Bewässerung. Frankreich und das Rheinland verdankten ihnen weitgehend den aus dem Mittelmeergebiet stammenden Weinbau. Fernöstliche Gewürze und chinesische Seide hatten sie nach Europa eingeführt, hatten ein eigenes Mittel zum Tünchen der Stoffe erfunden und Färbereien begründet. Auf ihren Schiffen waren Zucker und Reis, Getreide und edle Hölzer importiert worden. Sie hatten die europäische Kultur bereichert, sei es durch das arabische Zahlensystem und Dichtungen des Orients, wie die indischen Fabeln.

Die christliche Gesellschaft mit ihrer streng gegliederten Ordnung, mit Feudalsystem und Ständeprinzip, kannte keinen Platz mehr für sie in ihren Reihen. Kein Jude durfte mehr einen christlichen Beruf ausüben! Das konnte nur das Ende aller bisherigen Formen jüdischer Erwerbstätigkeit bedeuten. Für das Judentum begann eine tiefgreifende soziale Umwälzung. Außerdem verhinderten sehr bald auch überall erlassene gesetzliche Verbote, daß ein Jude freies, unabhängiges Eigentum an Grund und Boden besitzen konnte. Auch in den Städten schrumpften die Lebens- und Erwerbsmöglichkeiten allmählich auf ein Minimum zusammen. Wer ein Handwerk ausüben durfte, bestimmten die Zünfte. Kauf und Verkauf war auf die Gilden beschränkt, Mitglieder konnten nur Christen werden. Die Judenordnungen der Städte schwollen zu immer länger werdenden Listen von Verboten an.

Die Vorherrschaft der Juden in der Finanzwelt erreichte ihren Höhepunkt im dreizehnten Jahrhundert. Doch die Schattenseiten blieben nicht aus. Die Fürsten, ihre Schirmherren, begannen sie als unerschöpfliche Geldquelle zu betrachten und rücksichtslos zu schröpfen. Obendrein verschlechterte sich ihre Rechtsstellung. Nach den Kreuzzügen in Deutschland sanken die Juden, die einst ebenso frei gewesen waren wie die Römer und Germanen, rechtlich auf den Status von „Sachen“ ab, nicht anders als im Römischen Recht zuerst und danach in den europäischen Gesetzen auch Tiere als Gegenstände galten.

In Prag kam im 16. Jahrhundert der Davidstern als Erkennungszeichen der jüdischen Bevölkerung auf. Es ist nicht sicher, ob ihn die Juden freiwillig wählten oder ob er ihnen aufgezwungen wurde. Als jüdisches Symbol erscheint der Davidstern erstmals 1656 auf dem Wiener Grenzstein zwischen Judenstadt und Christenstadt. Man untersagte den Juden im Mittelalter öffentliche Ämter und beschlagnahmte zum Beispiel in Frankreich unter Philipp II. ihr Vermögen.

Im Westen verschlimmerte sich die Lage der Juden durch die Inquisition. Papst Gregor IX. setzt 1231 die Inquisition ein. Diese wird nicht nur gegen die Ketzer, sondern in vielen Fällen auch gegen Juden aktiv. Der Dominikanerorden hatte sich die Judenmission zum Ziel gesetzt. Öffentlich wurde mit Juden über Themen wie die Dreieinigkeit, die Mutter Gottes, die Erbsünde und Jesus als Messias diskutiert. In Paris und an anderen Orten verbrannte man 1242 den Talmud. Unter Philipp dem Schönen (1285-1314) wurden die Juden aus Frankreich ausgewiesen (1308), wie schon sechzehn Jahre vorher aus England. Die geschätzte Zahl der jüdischen Todesopfer in der Inquisition beträgt etwa 50.000.

Von 1517 bis 1918 ist Palästina unter türkischer Herr­schaft.

 

Juden in Deutschland

 

Mittelalter:

Wie kamen eigentlich die Juden nach Deutschland? Um diese Frage beantworten zu können, muß man weit in die Geschichte zurückgehen. Zu welchem Zeitpunkt sich Juden erstmals auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands ansiedelten, ist unbekannt. Die älteste und einzige sichere Nachricht über die Existenz einer jüdischen Gemeinde auf deutschem Boden ist in einer Verfügung des Kaisers Konstantin an den Magistrat von Köln zu lesen, die am 11. Dezember des Jahres 321 ausgefertigt wurde. Danach lebte in Köln eine Anzahl Juden, die sich zu einer Gemeinde zusammengeschlossen hatten. Man darf aber mit Sicherheit davon ausgehen, daß im vierten Jahrhundert auch schon in anderen Städten (z. B. Trier, Regensburg) solche jüdischen Gemeinden bestanden. . Im Jahre 385 kommt es zur ersten staatskirchliche Ketzerverbrennung in Trier.

Die Juden wanderten damals im Zusammenhang mit der römischen Kolonialpolitik in die Gebiete am Rhein ein. Sie lebten in den römischen Siedlungen als römische Bürger mit all deren Rechten und Pflichten. Es gibt leider keine Berichte darüber, womit die Juden damals in den Römerstädten am Rhein ihren Lebensunterhalt verdient haben. Es ist aber anzunehmen, daß sie, wie an anderen Orten des römischen Imperiums, sich als Händler, Handwerker und Bauern betätigten.

Um 800 beginnt die große jüdische Einwanderung in das Rheintal und die Gebiete ostwärts davon. Das Gebiet wird Ashkenaz genannt (davon abgeleitet: ashkenazische Juden). In Köln beginnt im Jahr 1000 der Bau einer großen Synagoge, die bis 1426 besteht.

Im Jahre 1235 brannte in Fulda um die Weihnachtszeit eine Mühle ab. Zwei kleine Kinder kamen dabei in den Flammen um. In der Stadt verbreitete sich das Gerücht, zwei Juden hätten die Kinder getötet, um das Blut der Christenkindlein als Heilmittel zu verwenden. Der Brand sollte diese Schandtat vertuschen. Daraufhin wurden in und um Fulda 32 jüdische Frauen und Männer sofort erschlagen und gegen alle Juden Anklage wegen Mordes erhoben.

Die Leichen der unglücklichen Kinder überführte man nach Hagenau, wo sich Kaiser Friedrich II. aufhielt. Der Kaiser sollte sich mit eigenen Augen von der jüdischen Untat überzeugen. Doch Friedrich II. verhielt sich skeptisch. Er beauftragte eine Kommission damit, den Fall zu untersuchen. Sie kam nach gründlicher Prüfung der Dinge zu dem Resultat, daß die Juden vom Vorwurf des Ritualmordes freizusprechen seien. Auch verbietet er, diese Anklage zu wiederholen. Die Juden von München werden 1285 des Ritualmordes an einem Christen beschuldigt. Zur Strafe werden sie in ihrer Synagoge eingeschlossen und dort lebendig verbrannt.

Friedrich II. hat seinem Freispruch 1236 eine Urkunde beigegeben, in der Friedrich II. das im Jahre 1157 im Namen Heinrichs IV. den Juden in Worms erteilte Privileg bestätigte und auf „alle Juden Deutschlands“ als unmittelbar der kaiserlichen Kammer gehöriges Eigentum ausdehnte.

In dieser Urkunde begegnet zum ersten Mal die Formulierung „servi camerae nostrae“. Das heißt, die Juden galten nun als sogenannte „„Kammerknechte“. Damit waren sie sowohl unter

ein Sonderrecht als auch in eine direkte Abhängigkeit vom Kaiser gestellt. Sie genießen zwar den Schutz des Kaisers, sind ihm aber gleichzeitig als „Knechte” untergeben. So sind die Juden nicht mehr allein durch die Kirche, sondern auch reichsrechtlich erniedrigt.

Jüdische Kaufleute führten von Asien aus den Seidenhandel in Frankreich ein. Sie bezahlten dem Fürsten zehn Prozent für ihren Schutz. Damit wurde die Grundlage geschaffen für eine spätere Entwicklung: Juden kamen unter die unmittelbare Gewalt des Kaisers. Diese Entwicklung sollte schließlich zu den sogenannten „servi camerae regis“ („Diener der königlichen Kammer“) führen. So deutete man den Status an, den die Juden im Mittelalter hatten: Leibeigene des Kaisers.

Dieses kaiserliche Judenprivileg wendete den kirchlichen Gedanken von der Verwerfung der Juden auf Grund der Kreuzigung Jesu praktisch an, prägte ihn juristisch aus. Die Kammerknechtschaft bedeutete nicht nur Schutz durch den Kaiser, sondern auch persönliche und wirtschaftliche Abhängigkeit von ihm. Juden waren zu besonderen Leistungen an die kaiserliche Kammer mit verschiedenen Steuern (z. B. Kopfsteuer, Geburtssteuer, Hochzeitssteuer) verpflichtet.

Kaiser Ludwig der Bayer formulierte die Abhängigkeit 1743 so: „Ihr gehört uns mit Leib und Vermögen, und wir können dies gebrauchen und damit machen, was wir wollen und wie es uns gefällt.“ Mithin kann man sagen, die Kammerknechtschaft war ein Status zwischen Leibeigenschaft und Freiheit. Die Juden galten dem Kaiser als Objekt der Ausbeutung wie zum Beispiel seine Bergwerke.

 

Papst Gregor IX. beauftragt 1239 die Könige und Bischöfe von Frankreich, England, Spanien und Portugal, alle hebräischen Bücher zu beschlagnahmen. In Paris werden 1240 alle verfügbaren Talmud-Exemplare von Dominikaner-Mönchen öffentlich verbrannt. Es ist die erste offizielle Verbrennung jüdischer Schriften durch die Kirche.

Im 13. Jahrhundert schürten viele Kleriker den Haß gegen die „ungläubigen Juden“ in verstärkter Form. Das war eine Folge politischer Schwäche des Reiches und des Glaubensdefizits der Kirche. Papst Klemens IV. (1265-1268) sandte 1265 einen eigenen Kardinallegaten nach Norden und Osten. Dieser verbot den Christen nachdrücklich, mit Juden zu essen oder zu trinken, bei Hochzeitsfesten oder Neumondfeiern, Spielen oder Veranstaltungen mit Juden zu tanzen. Den Juden wurde untersagt, Bäder oder Wirtshäuser der Christen zu besuchen. Sie durften vor Christen nicht vom jüdischen Glauben sprechen. Mit Nachdruck achtete man darauf, daß der Judenhut auch wirklich immer getragen wurde.

Durch all diese Verordnungen kam es zu einer fortschreitenden Isolierung der Juden. Dies hatte zur Folge, daß der Argwohn der christlichen Bevölkerung gegen die Andersgläubigen. Fremden beständig wuchs und sich immer mehr zum Haß verdichtete. Die Verleumdungen häuften sich. Juden wurden der Hostienschändung, des Ritualmordes und der Brunnenvergiftung beschuldigt. Im Jahre 1298 überfiel ein Edelmann namens Rindfleisch („Der Judenschlächter") mit einer Bande fanatisierter Bauern jüdische Gemeinden. In Mittel- und Süddeutschland zieht er Ein halbes Jahr lang von einer Stadt zur anderen und verhetzt dort die Bevölkerung gegen die jüdischen Einwohner. In allen 146 Städten, die der Judenschlächter besucht, kommt es zu Pogromen, bei denen Zehntausende von Juden ermordet werden.

77 Jahre später trieb die „Armlederbande“ (5.000 Mitglieder) drei Jahre lang ihr Unwesen.

 

Noch verheerender wirkte sich auf den Haß gegen die Juden die Pestzeit 1348 bis 1352 aus. Man glaubte, daß die Juden durch Manipulationen den Ausbruch der Pest veranlaßt hätten.

Der Schwarze Tod (die Beulenpest) verbreitet sich 1348 über Europa und tötet ein Drittel der Bevölkerung. Die Juden werden beschuldigt, sie hätten die Wasserquellen vergiftet und somit die Epidemie verursacht. Papst Clemens VI. gibt eine Bulle heraus, in welcher er alle Juden für unschuldig erklärt. Das kann aber nicht verhindern, daß in fast allen Orten mit einer jüdischen Gemeinde massenhafte Pogrome ausbrechen, bei denen zahllose Juden - meist durch Verbrennen - ermordet werden.

Es herrschte der Aberglaube, Juden würden an der Pest nicht erkranken. Vielleicht haben die jüdischen Reinheitsvorschriften tatsächlich einen gewissen Schutz vor Infektion gegeben. Weil die Juden durch ihre hygienische Lebensart weniger von der Pest heimgesucht wurden, beschuldigte man sie, diese Krankheit verursacht zu haben - durch das Vergiften von Brunnen. Doch die Pest raffte nachweislich auch eine sehr große Zahl jüdischer Bewohner dahin. Trotzdem wurden Tausende Juden zu dieser Zeit in Deutschland erschlagen, ertränkt und verbrannt. In Worms zum Beispiel beschloß der Rat der Stadt, sämtliche Juden zu verbrennen, um. der Pestseuche Einhalt zu gebieten. Die Juden kamen der Ausführung dieses Beschlusses zuvor. Sie zündeten ihre Häuser selbst an und verbrannten in den Flammen. Damals wurden in Deutschland die Juden in den Städten fast alle umgebracht. Mehr als 200 jüdische Gemeinden wurden völlig zerstört und ausgerottet (zum Beispiel in Köln mit 6000 Seelen, Worms, Mainz, Speyer, Straßburg, Frankfurt/Main und Nürnberg). In den Jahren 1348/ 1349 wurden etwa dreihundert Gemeinden im Elsaß, im Rheinland, in Thüringen, Bayern und Österreich vernichtet. Die Hussitenkriege brachten einen neuen Niedergang.

 

Papst Clemens IV. gibt 1267 sein „Turbato Corder” heraus, in dem die Autorität der Inquisition erweitert wird auf Juden, die Bekehrte abwerben, auf jüdische Bekehrte, die zum Judentum zurückkehren und auf Christen, die zum Judentum übergetreten sind.

Im Jahre 1270 kommt es zu Gewalt und Mord gegen die jüdischen Gemeinschaften in Magdeburg, Sinzig, Weissenberg und Erfurt.

Juden wurden in der vielfältigsten Weise diskriminiert und verunglimpft. Man erkannte ihren Eid vor Gericht nicht mehr an. Wenn dies doch noch der Fall war, dann war der Eid mit widerlichen und unwürdigen Handlungen verbunden. Nach dem Schwabenspiegel (ein Rechtsdokument des Jahres 1275) hatte ein Jude den Eid vor Gericht barfuß auf einer blutigen Schweinshaut stehend abzulegen.

An die Schmach der Juden erinnerten bildliche Darstellungen an öffentlichen Gebäuden (Rathäuser, Kirchen, Dome), wie zum Beispiel die Abbildung der niedergebeugten, gefesselten Synagoge, das Bild von der Judensau und andere häßliche Dinge. Martin Luther hat in seiner polemischen Schrift „Vom Schem Hamphoras“ (1543) solch ein Bild von der Judensau folgendermaßen beschrieben: „Es ist hier zu Wittenberg an unserer Pfarrkirche eine Sau in Stein gehauen, darunter liegen junge Ferkel und Juden, die saugen, hinter der Sau steht ein junger Rabbiner, der hebt der Sau das rechte Bein empor, und mit seiner linken Hand zeucht er den Pirzel über sich, bückt und kuckt mit großem Fleiß der Sau unter dem Pirzel in den Talmud hinein, als wollt er etwas Scharfes und Sonderliches lesen und ersehen.“ (nach Poliakov, Geschichte des Antisemitismus, Teil II, S. 38).

 

In Überlingen werden 1332 die Juden in ihre Synagoge gesperrt und darin verbrannt. Fast 400 Juden kommen um. Im Jahre wird 1349 die gesamte Bevölkerung des Judenviertels in Speyer niedergemetzelt, in Straßburg werden 2000 Juden auf einem riesigen Scheiterhaufen verbrannt und in Worms begehen 500 jüdische Einwohner angesichts der bereitstehenden Scheiterhaufen Selbstmord.

Die Lebensbedingungen wurden aber seit 1348 so schlecht, daß ständig Juden über Prag und Krakau oder über Posen und Kalisch nach Osten zogen. Hier waren sie wieder begehrte Siedler. Aber ein Teil der deutschen Juden blieb im Lande. Sie konnten überleben, weil es keine Zentralgewalt in Deutschland gab. Jeder Landesfürst hatte seine eigene Art, mit Juden umzugehen.

Die deutschen Städte beschlossen, einhundert oder zweihundert Jahre lang keine Juden in ihren Mauern zu dulden. Die Städte, die nun ihre Juden vertrieben, vermißten sie aber sehr bald als Steuerzahler und Geldverleiher. Sie riefen die Juden alsbald wieder zurück. Ihnen wurden nun eigene Wohnbezirke zugewiesen. Es waren nicht gerade die hübschesten Stadtviertel.

Der jüdische Stadtbezirk wurde mit einer Mauer umgeben. Die Tore, die als Zugänge zum Judenviertel dienten, mußten bei Einbruch der Dunkelheit geschlossen werden. Im Jahre 1516 taucht in Venedig zum ersten Male der Begriff „Ghetto“ für das Judenviertel auf. Eine Judenverordnung regelte das Leben im Ghetto bis in alle Einzelheiten. Der freundschaftliche Verkehr zwischen Juden und Christen war verboten. Juden durften nur zu bestimmten Stunden am Tage auf dem Markt Lebensmittel kaufen. Eine Kleiderordnung schrieb vor, wie ein Jude sich anzuziehen hatte.

In der Kleiderordnung von Köln aus dem Jahre 1404 wurde festgelegt: „Ärmel sollen sie an ihren Tabberten (Überwurf) und Röcken tragen, die nicht weiter als eine halbe Elle sind. Die Kragen an den Röcken und Heuken (Regentuch) dürfen nicht mehr als einen Finger breit sein. An ihren Kleidern darf kein Pelzwerk sichtbar sein. Schnürröcke dürfen sie nicht tragen …Die Mäntel, welche gefranst sein müssen, dürfen nicht kürzer sein, als bis zu den Waden ... Seidene Schuhe dürfen sie nicht tragen. Über dem Ohrläppchen dürfen sie sich nicht scheren lassen, wenn nicht der gesamte Kopf geschoren wird … Kein Mädchen darf ein Schippeil (Haarband) tragen; welches mehr als 6 Gulden wert ... ist. An Werktagen dürfen die Frauen keine Ringe tragen, die mehr als 3 Gulden Wert wiegen; nicht mehr als einen Ring dürfen sie an jeder Hand haben …“.

 

So lebten die Juden im Judenviertel völlig von den Christen abgeschlossen. Sie entwickelten eine eigene Kultur und Sprache. Die Sprache (das sogenannte Jiddisch) war eine Mischung aus dem damaligen Deutsch (Mittelhochdeutsch) und hebräischen Wörtern. Geschrieben wurde in hebräischen Buchstaben. Durch die Isolation der Judenschaft machte das von ihnen verwendete Deutsch die weitere Entwicklung der deutschen Sprache nicht mit. Mithin verwenden die Juden das Mittelhochdeutsch noch heute im Jiddisch, das ja zu einer ganz eigenständigen Sprache geworden ist, in der jüdische Gruppen verschiedener Länder noch heute sprechen, singen, Theater spielen oder Schriftsteller ihre Bücher schreiben (z. B. Isaac Bashevis Singer, Nobelpreisträger 1978).

 

Bei einem Pogrom in Prag im Jahre 1389 werden mehr als 300 Juden unter dem Motto „Taufe oder Tod” getötet. In Posen werden 1399 der Rabbiner und 13 andere jüdische Führer beschuldigt, sie hätten kirchliche Besitztümer entheiligt. Sie werden gefoltert und verbrannt. Im Jahre 1401 werden in Schaffhausen 48 Juden lebendig verbrannt.

Papst Benedikt XIII. ordnet 1415 an, daß alle Exemplare des Talmud beschlagnahmt werden sollen. Der Kirchenreformator Jan Hus wird 1415 von der Inquisition verurteilt wegen Ketzerei und „Judaisierens“. Er stirbt auf dem Scheiterhaufen. Im Jahre 1421 kommt es zum Massenmord an den Wiener Juden, die der Entweihung der Hostie beschuldigt werden. Die Überlebenden werden verbannt.

Papst Martin V. verbietet 1428 italienischen Schiffen die Beförderung von Juden in das Heilige Land. Papst Martin V. gibt 1429 eine Bulle heraus zum Schutz der Juden. Diese einzigartige Maßnahme wird aber allgemein ignoriert. Das Baseler Konzil beschließt 1431, daß Juden von Christen getrennt wohnen sollen. Daraufhin entwickeln sich in vielen Städten jüdische Viertel, später „Ghettos” genannt.

In Bayern zum Beispiel erfolgte 1450 eine allgemeine Judenvertreibung, in Württemberg 1499; Köln und Ulm waren seit 1424 bzw. 1499 über mehrere hundert Jahre „judenfrei“.

Die Trienter Juden werden 1475 gefoltert und verbannt. Anlaß war das Verschwinden des christlichen Kindes Simon. Der Vorwurf: Juden hätten es rituell geschlachtet. 1582 wird Simon heilig erklärt (1964 gibt der Vatikan zu, daß die Juden zu Unrecht beschuldigt wurden - die Heiligsprechung wird widerrufen). Im Jahre 1495 erfolgt eine Verbannung der Juden aus Litauen.

 

Die Zeit der Vorreformation und Renaissance:

Die Juden im 15. Jahrhundert lebten meist vom Geldhandel und von der Pfandleihe. Sie waren aber auch Bäcker, Fleischer, Goldschmiede, Edelsteinschleifer, Ärzte und natürlich Kleinhändler. Jedoch verarmte die große Masse der Juden durch die Art der Geldleihe der Kaiser, Fürsten und Städte völlig. Sie verloren nämlich durch Manipulationen der mächtigen Schuldner ihr Vermögen. Da waren sie plötzlich für die Städte ohne Nutzen. Wieder wurden sie, oft unter fadenscheinigen Vorwänden, aus den Städten vertrieben. Nur vier alte Judengemeinden blieben bestehen, nämlich Frankfurt (M.), Worms, Metz und Prag.

Im deutschen Reich waren die Juden zu Beginn der Reformation zwar grundsätzlich geduldet, aber in vielen Territorien und Städten hatten sie kein Wohnrecht. Durch weitere Einschränkungen wie vor allem Berufsverbote sowie durch religiöse Anfeindungen war ihre Lage insgesamt sehr bedrückend. Durch die auf Reichsebene vom Kaiser festgeschriebenen Rechte hatten die Juden zwar gewisse „Privilegien“. In der Praxis aber gingen die immer selbständiger werdenden Städte und Territorien ihre eigenen Wege - in dieser Zeit meist zum Nachteil der Juden.

Man fragt sich, wie die Menschen unter den obengeschilderten Umständen überhaupt leben konnten. Wieso kamen sie immer wieder in die Städte zurück, aus denen sie schmählich und schimpflich vertrieben worden waren? Den Juden damals erschien die Welt als ein notwendiges Durchgangsstadium. Ihr Leben sahen sie als eine zu erfüllende Aufgabe an. Gott hatte ihnen das Schicksal so bestimmt, ihm dienten sie in frommer Ergebenheit. Aber die Juden lebten nicht freudlos. Frömmigkeit im Leid verlieh ihnen auch die Kraft zur Freude am Leben.

Die Dominikaner, denen neben Ketzerverfolgung und Heidenmission auch die Bekehrung der Juden als besondere Aufgabe anvertraut war, wollten nunmehr die Judenfrage endgültig klären. Mit Eifer vernichteten sie alle jüdischen Schriften, deren sie habhaft werden könnten. In den Jahren 1507–1509 veröffentlichte im Auftrag der Dominikaner Johannes Pfefferkorn, ein getaufter ehemaliger jüdischer Fleischer, eine Reihe von Schmähschriften gegen die Juden. 1509 erlangte Pfefferkorn ein Mandat von Kaiser Maximilian (1493-1519), das ihm die Vollmacht erteilte, die Bücher der Juden zu beschlagnahmen.

Von seinem Leibarzt dazu gedrängt, zog Maximilian das Mandat wieder zurück und beauftragte einige Gelehrte mit der Untersuchung, inwieweit die jüdischen Schriften gegen den christlichen Glauben gerichtet seien. Zu den Gelehrten gehörte der berühmte Jurist Johannes Reuchlin (1455–1522). In seinem Gutachten sprach sich Reuchlin gegen Zwangstaufen und die Verbrennung hebräischer Schriften aus. Er meinte, man solle vielmehr mit den Juden. disputieren und von ihnen lernen.

Er leistete einen besonderen Beitrag zum Verständnis des Judentums und der hebräischen Sprache. Mit seinem Werk „Rudimenta hebraica“ aus dem Jahr 1506 legte er für lange Zeit die Grundlage zum Verständnis der hebräischen Sprache. Durch das wissenschaftliche Interesse am Judentum und am Hebräischen ist der Humanismus zu einem Wegbereiter der späteren Emanzipation der Juden geworden.

Die Dominikaner und Johannes Pfefferkorn strengten gegen Reuchlin einen Prozeß an, der sich lange hinzog und schließlich mit einem Verbot der Schrift Reuchlins „Augenspiegel“ im Juni 1520 endete. Im Streit der sogenannten „Dunkelmänner“ (junge Humanisten, vor allem Ulrich von Hutten 1488–1523), die Reuchlin im Kampf gegen die Dominikaner durch anonyme Schriften unterstützten, ergriff Martin Luther (1483 bis 1546) die Partei der Humanisten.

In den Jahren von 1450 bis 1520 kommt es zur Vertreibung der Juden aus vielen deutschen Städten. Nach einem Streitgespräch zwischen christlichen und jüdischen Theologen in Köln 1500 werden Tausende von Juden aus dem Rheinland verbannt. Im Jahre 1510 werden in Brandenburg 38 Juden verbrannt. Der Vorwurf lautete: Hostienschändung und Tötung christlicher Kinder. Ein grausamer Vorfall, der den Juden zu Beginn der Reformation noch in lebhafter Erinnerung war. Gut ein Jahr nach dem Thesenanschlag Luthers von 1517 wurde die alteingesessene jüdische Gemeinde in Regensburg vertrieben und ihre Synagoge sowie ihr Friedhof zerstört. Größere jüdische Gemeinden gab es nur noch in Frankfurt und in Worms. Sonst lebten Juden vorwiegend in ländlichen Gebieten, oft in der Nähe von Städten. Zu vielen hatten sie zu bestimmen Tageszeiten Zugang, um dort Handel treiben zu können.

 

Josel von Rosheim (1478-1554) wirkte in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts als eine Art Sprecher der Juden im Deutschen Reich. Durch seine finanziellen Möglichkeiten genoß er besonders bei Kaiser Karl V. (1519-1556) einen guten Ruf und konnten diesen wiederholt dazu bewegen, jüdische Interessen zu schützen. Auf diese Weise wurde manches Unheil von den Juden abgewendet. Aber nicht alle antijüdischen Maßnahmen konnten verhindert werden, wie etwa die judenfeindlichen Mandate in Kursachsen von 1536 und 1543.

Im Zusammenhang mit Martin Luther wurde schon der Amtswalter und Fürsprecher der Juden, Josel von Rosheim (etwa 1478-1554), erwähnt. Er war ein Geldhändler aus dem Elsaß, ein schlichter und doch gelehrter Mann. In den Urkunden der damaligen Zeit wurde er als „gemeiner Judenschaft Befehlshaber und Regierer“ bezeichnet. Durch sein tapferes Eintreten für die bedrängten jüdischen Gemeinden erlangte er ein hohes Ansehen bei städtischen Räten, an Fürstenhöfen und in der kaiserlichen Kanzlei. Zu seiner Tätigkeit hat ihn niemand verpflichtet. Alles, was er tat, geschah aus eigener Verantwortung und Liebe zu seinem Volk. „Er ließ sich für seine Hilfeleistungen nicht bezahlen.“

Immer, wenn Reichstage abgehalten wurden, tauchte Josel von Rosheim auf. Er verhandelte dann mit den zuständigen Vertretern wegen der Bestätigung alter Privilegien. Er mahnte zur Einhaltung geschlossener Verträge.

Er kämpfte für Handelserleichterungen. Er versuchte, Ausweisungsbefehle rückgängig zu machen. Rastlos durchwanderte er vierzig Jahre lang das Reich, um seinen Glaubensbrüdern gegen den Vorwurf des Ritualmordes beizustehen, die drohende Folter von ihnen abzuwehren oder sie in ihrer Standhaftigkeit zu stärken. Dort, wo die Lage für die Juden schwierig wurde, war Josel von Rosheim zur Stelle und versuchte zu helfen. Er war ein selbstloser juristischer und diplomatischer Fürsprecher der Juden und ihr geistlicher Berater.

Josel von Rosheim war geprägt von humanistischem Geist. 1530 veröffentlichte er seinen Entwurf „einer ehrbaren Ordnung und Satzung“ für die Judenschaft. Er schließt sie ab mit der Bitte an sämtliche Stände des Reiches, die Juden nicht zu vertreiben, „dan wir auch menschen, von Gott dem almechtigen auf der erden ze wonen geschaffen, bei euch und mit euch ze wonen und handeln“ (nach Elbogen, Die Geschichte der Juden in Deutschland, S. 98).

Ganz deutlich erkannte dieser Mann die Folgen des Zinsgeschäftes. Er wußte um die unheilvollen Zusammenhänge von Wucher, Erpressung und Verfolgung. Um nur ein Beispiel seiner Erfolge zu nennen: Im Jahre 1530, zur Zeit der Türkenkriege, verdächtigte man die Juden der Spionage und war der Ansicht, daß sie die Glaubensfeinde der Christen unterstützten. Josel von Rosheim gelang es, Kaiser Karl V. von der Unwahrheit des Gerüchtes zu überzeugen.

Wie es scheint, wurde er von den Juden im ganzen Reich anerkannt. Er war ein Mann mit großem diplomatischem Geschick, guten juristischen Kenntnissen und viel persönlichem Mut. In einem Memorbuch seiner Heimat (Elsaß) findet sich folgende Eintragung: „Gott möge der Seele des Greises gedenken, des Fürsten Rabenu Josef, Sohn des Gerschom, sein Andenken sei zum Segen, welcher genannt wurde mit seinem Namen Joselmann ... weil er weder seine Ehre noch sein Vermögen geschont und weil er viele Male sein Leben in Gefahr gebracht hat durch seine Fürbitte und seinen Schutz für die Gesamtheit und für einzelne“ (nach Rübenach, Begegnung mit dem Judentum, S. 53). Der Humanist Reuchlin nannte ihn „einen Weisen der Völker“ und sein Eintreten für das jüdische Schrifttum als „ein Wunder im Wunder“ (nach Greive, Die Juden, S. 112).

 

 

Luther und die Juden

Die Reformation brachte keine Änderung für die Lage der Juden. Die Besinnung der Reformatoren auf das Alte Testament als „Quelle“ christlichen Glaubens, christlicher Nächstenliebe und Duldsamkeit brachte keine positive Rückwirkung für die Juden. Der junge Luther lehnte die spätmittelalterliche Behandlung der Juden ab. Er schrieb in seiner Auslegung zum 22. Psalm: „Wer wird zu unserer Religion übertreten, wenn es auch der allersanftmütigste und geduldigste Mensch wäre, wenn er sieht, daß sie grausam und feindselig und nicht allein christlich, sondern mehr als viehisch von uns traktiert werden?“

Im Jahre 1513 wurde Martin Luther um ein Gutachten gebeten. Dabei ging es um die Frage. ob die jüdischen Schriften, insbesondere der Talmud, vernichtet werden sollten oder nicht. Die Kölner Dominikaner forderten die Verbrennung dieser Bücher, während der Humanist Johannes Reuchlin und andere Gelehrte sich auf die jüdische Seite stellten und die hebräischen Schriften verteidigten.

In seinem Gutachten von 1514 lehnte der Wittenberger Reformator die Vernichtung der Schriften ab. allerdings nicht aus humanistischen, sondern aus theologischen Gründen. In dem Gutachten schreibt er: „Die Juden sind so sehr durch den Zorn Gottes an ihren verkehrten Sinn dahingegeben, daß sie - gemäß dein Buch Kohelet - unverbesserlich sind, und jeder Unverbesserliche wird durch die Strafe schlimmer und niemals gereinigt“. Wohl nur ein Rest von ihnen werde Christus noch als Messias annehmen. Die alttestamentlichen Verheißungen seien alle in Christus erfüllt, weshalb das Judentum als Gesetzesreligion heilsgeschichtlich überholt sei und keine Bedeutung mehr habe. Das wahre Israel sei die christliche Kirche.

Luther lehnte aber zu diesem Zeitpunkt noch alle Zwangsmaßnahmen ab und betrachtete diese als gottlose und unbiblische Verirrung. Die bereits angeordnete Vernichtung der jüdischen Schriften wurde schließlich vom Kaiser wieder aufgehoben.

Martin Luther schlägt 1517 seine Thesen an die Tür der Wittenberger Schloßkirche. Die antijüdischen päpstlichen Bulle „Cum Nimis Absurdum“ wird veröffentlicht. Papst Leo X. exkommuniziert 1521 Luther, verbietet das Lesen von dessen Schriften und ordnet eine öffentliche Verbrennung derselben an.

Martin Luther lehnte die Zwangstaufe ebenso ab wie die gewaltsame Bekehrung. Als er 1521 in Worms weilte, suchten ihn zwei Juden auf, um ihm ein Religionsgespräch vorzuschlagen. Es ist unbekannt, ob es je dazu gekommen ist. Diese Begegnung aber motivierte Luther dazu zu versuchen, die Juden für seine Lehre zu gewinnen.

Im Jahre 1523 verfaßte er seine Schrift „Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei“, in der er die Mißhandlungen der Juden anprangert und rät: „Will man ihnen helfen, so muß man nicht des Papstes, sondern christlicher Liebe Gesetz an ihnen üben, und sie freundlich annehmen, mit lassen werben und arbeiten, damit sie Ursach und Raum gewinnen, bei und um uns zu sein .. . und aus eigener Anschauung die Lehre und das Leben der Christen kennenzulernen“.

Er tritt für ein freundliches Verhalten gegenüber Juden ein, um sie zur Bekehrung zu bewegen.

Zur Abfassung dieses Werkes ist Luther durch den Vorwurf veranlaßt worden, er leugne die Jungfrauenschaft Marias und betrachte Jesus als einen natürlichen Nachkommen Abrahams. Neben dem Beweis seiner Rechtgläubigkeit wollte der Reformator diese Schrift dazu nutzen. die Juden von der Messianität Jesu Christi zu überzeugen: „Ich hoffe, wenn man mit den Juden freundlich handelt, und aus der Heiliger Schrift sie säuberlich unterweist. es sollten ihrer viele rechte Christen werden“.

Zweierlei hat also nach Ansicht Luthers die Juden von ihrer Bekehrung abgehalten: die Lehre der römischen Kirche sowie ihre unfreundliche Haltung gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Zum letzten Punkt schreibt er: „Die Päpste, Bischöfe, Sophisten und Mönche ... haben mit den Juden gehandelt, als wären es Hunde und nicht Menschen; haben nichts mehr tun können denn sie schelten und ihr Gut nehmen“.

Wenn man die Juden so behandelt, könne man natürlich nicht erwarten, daß sie Christen werden. so der Reformator weiter. Da aber schon die Apostel „mit uns Heiden so brüderlich gehandelt“ haben, sollten auch wir „brüderlich mit den Juden handeln, ob wir etliche bekehren möchten“. Juden sind „Brüder unseres Herrn“ Verbote und Gewaltmaßnahmen - wie von der Kirche jahrhundertelang praktiziert - führten keineswegs zu einer „Besserung“ der Juden, so Luther.

Überdies müsse man immer vor Augen haben, daß die Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs „Blutsfreunde, Lettern und Brüder unseres Herrn“ sind. Also solle man „christlicher Liebe Gesetz“ an ihnen üben und sie „freundlich annehmen“, damit sie „die Lehre und das Leben der Christen kennenlernen“.

Insgesamt läßt diese Schrift den Grundgedanken Luthers offenbar werden: Die „freundliche“ Behandlung der Juden hat ihren Ursprung weniger in der Liebe zum Nächsten oder in dem Bewußtsein der brüderlichen Verbundenheit mit dem Volk Israel. Vielmehr war sie für ihn Mittel zum Zweck: zur Bekehrung der Juden. „Bekehrungserfolge“ blieben aber aus. Diese judenfreundliche Schrift fand bald eine weite Verbreitung - doch der von Luther erwünschte „Bekehrungserfolg“ trat nicht ein. Vielmehr beharrten die Rabbinen auf ihrer eigenen Auslegung des Alten Testamentes.

Luther lehnte er die spätmittelalterlichen Ansichten über das Judentum ab. Er verurteilte den Judenhaß und forderte, Nächstenliebe auch den Juden gegenüber zu üben. Man solle sich ihrer freundlich annehmen und sie arbeiten lassen. „Unsere Narren, die Päpste, Bischöfe, Sophisten und Mönche haben bisher also mit den Juden verfahren, daß, wer ein guter Christ wäre gewesen, hätte wohl mögen ein Jüde werden. Und wenn ich ein Jude gewesen wäre und hätte solche Tölpel den Christenglauben regieren und lehren sehen, so wäre ich eher eine Sau geworden als ein Christ. Denn sie haben mit den Juden gehandelt, als wären es Hunde und nicht Menschen.“ Er empfahl aber den Juden zugleich, Jesus als Messias zu huldigen. Luthers Schrift fand starke Verbreitung, und die Juden schickten ihm eine Ausfertigung des 130. Psalms in deutscher Sprache mit hebräischen Lettern.

Die Juden schöpften große Hoffnung im Hinblick auf Verbesserung ihrer Situation durch den Reformator. Um so größer war ihre Enttäuschung darüber, daß Luther in späteren Jahren harte und böse Worte gegen die Juden sagte. Als sich die Juden jedoch dem Lutherschen Anliegen entzogen, Christen zu werden, als er sich in seinem Missionseifer getäuscht sah, verstummte seine wohlwollende Stimme. Er äußerte sich schließlich immer härter gegen „die Verstockten“, bis schließlich Haß daraus wird. Im Jahre

Immer wieder ist es auch zu Schmähungen und Lästerungen auf jüdischer Seite gegen Christus oder den christlichen Glauben gekommen: zum Beispiel wurde Jesus verächtlich als „Thola“, der Gehenkte, bezeichnet.

 

Um 1535 kamen drei gelehrte Juden zu Luther und sprachen mit ihm über die messianischen Aussagen im Alten Testament. Die Hoffnung Luthers, sie zur christlichen Sichtweise zu bewegen, erfüllte sich nicht. Vielmehr hatten die Juden ihrerseits die Hoffnung, den Reformator aufgrund seiner judenfreundlichen Gesinnung und seiner Beschäftigung mit der hebräischen Bibel von der rabbinischen Auslegung überzeugen zu können. Nach jener Disputation wollte Luther keine weiteren Gespräche mit Juden mehr führen. Damit zeichnete sich bereits ein allmählicher Wandel in seiner Haltung gegenüber der jüdischen Bevölkerung ab - nicht in seiner Theologie, wohl aber im Hinblick auf die praktischen Maßnahmen gegenüber den Juden.

Als 1536 alle Juden wegen irgendwelcher Unregelmäßigkeiten aus Sachsen ausgewiesen wurden, lehnte es Luther ab, sich für die Juden beim Kurfürsten zu verwenden. Josel von Rosheim bat ihn um Vermittlung einer Audienz bei Friedrich dem Weisen, aber der Reformator hat ihn nicht einmal angehört. Er ließ ihm lediglich mitteilen, er wolle seine Ansichten demnächst in einem „Büchlein“ veröffentlichen.

Das „Büchlein“ erschien 1538 unter dem Titel „Brief wider die Sabbather und einen guten Freund“. Darin polemisierte er vor allem gegen das jüdische Gesetz. Eine weitere Entwicklung hat dazu beigetragen, die ursprünglich freundliche Gesinnung des Reformators gegenüber den Juden allmählich zu verdrängen: Um 1530 machte eine Gruppe von Protestanten in Mähren auf sich aufmerksam, die aufgrund der Heiligen Schrift zur Überzeugung gelangten, daß nicht der Sonntag, sondern der Sabbat der richtige Ruhetag sei. Daß sie den Brauch der Beschneidung übten hat den Reformator völlig aus der Fassung gebracht. Luther vermutete wohl, daß diese Gruppe von Juden beeinflußt worden sei und veröffentlichte daraufhin 1538 seinen Brief.

Mit dieser im Ton noch moderat abgefaßten Schrift wollte Luther mit theologischen Argumenten zweierlei erreichen: Einerseits die Juden zur Bekehrung zu bewegen, anderseits die von jüdischen Argumenten angefochtenen Christen in ihrem Glauben zu stärken - freilich im reformatorischen Sinne. Aber auch mit dieser Schrift stellten sich die von Luther erhofften Bekehrungen auf jüdischer Seite nicht ein. Als Folge daraus ergab sich in den letzten Lebensjahren eine spürbare Verbitterung des Reformators in seiner Haltung gegenüber den Juden.

 

Fünf Jahre später erschienen zwei weitere Streitschriften Luthers gegen die Juden, deren Inhalt uns heute erschrecken läßt. Das sind die Schriften „Von den Juden und ihren Lügen“ und „Vom Schem Hamphoras“. In den Juden sah er nun nur noch Verlorene, Verdammte und Teufelskinder, die keinen Anteil an der Gnade Gottes haben.

Die nicht erfolgte Bekehrungswelle unter der jüdischen Bevölkerung hat etwa ab 1537 zu einem Wandel in der Haltung Luthers gegenüber den Juden geführt. Das Ergebnis dieser Entwicklung waren insbesondere seine antijüdischen Schriften aus dem Jahre 1543.

Die judenfeindlichen Traktate von 1543 sind theologische Abhandlungen, die Luther vor allem als Abwehr gegen jüdische Argumente und damit zur Glaubensstärkung für Christen geschrieben hat. Die drei Schriften sind: „Von den Juden und ihren Lügen“, „Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi“ und „Von den letzten Worten Davids“

 

Verändert hat sich in diesen Schriften nicht die theologische Grundhaltung des Reformators. Geändert hat sich aber der Tonfall, der nun keineswegs mehr freundlich ist, sondern vielmehr grob und haßerfüllt. Und geändert haben sich auch die gegenüber den Juden geforderten praktischen Maßnahmen, wie sie insbesondere in dem Traktat „Von den Juden und ihren Lügen“ aufgeführt werden.

In dieser mit über 100 Seiten umfangreichsten der drei Schriften werden zunächst „etliche grobe Torheiten“ in der jüdischen Schriftauslegung behandelt. Da die Juden aber, wie Luther im Verlauf der Schrift feststellt, mit Argumenten nicht zur Aufgabe ihrer „Lügen und Lästerungen“ zu bewegen seien, müsse man „mit Gebet und Gottesfurcht eine scharfe Barmherzigkeit üben, ob wir doch etliche aus den Flammen und Glut erretten können“. Zur Umsetzung dieser „scharfen Barmherzigkeit“" fordert der Reformator einen ganzen Katalog von antijüdischen Maßnahmen:

Die Zerstörung der Synagogen: „Erstlich, daß man ihre Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke und, was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und beschütte, daß kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich. Und solches soll man tun, unserm Herrn und der Christenheit zu Ehren, damit Gott sehe, daß wir Christen seien und solch öffentliche Lügen, Fluchen und Lästern seines Sohnes und seiner Christen wissentlich nicht geduldet noch gewilliget haben“.

Die Zerstörung ihrer Häuser: Zum andern, daß man auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre. ...Dafür mag man sie etwa unter ein Dach oder Stall tun, wie die Zigeuner, auf daß sie wissen, sie seien nicht Herrn in unserm Lande, wie sie rühmen, sondern im Elend und gefangen“.

Vernichtung jüdischer Schriften: „Zum dritten, daß man ihnen nehme alle ihre Betbüchlein und Talmudisten, darin solche Abgötterei, Lügen, Fluch und Lästerung gelehret wird“.

Lehrverbot für die Rabbinen: „Zum vierten, daß man ihren Rabbinen bei Leib und Leben verbiete, hinfort zu lehren....“.

Die Verweigerung des Geleitschutzes: „Zum fünften, daß man den Juden das Geleit und Straße ganz und gar aufhebe ...“.

Wucherverbot: „Zum sechsten, daß man ihnen den Wucher verbiete und nehme ihnen alle Barschaft und Kleinod an Silber und Gold, und lege es beiseite zu verwahren.“.

Zwangsarbeit: „Zum siebten, daß man den jungen, starken Juden und Jüdinnen in die Hand gebe Flegel, Axt, Karst, Spaten, Rocken. Spindel und lasse sie ihr Brot verdienen im Schweiß der Nasen wie Adams Kindern auferlegt ist, Gene.3“.

Am Besten aber sei es, so Luther weiter, die Juden wie in Frankreich, Spanien, Böhmen und den meisten Reichsstädten ganz aus dem Lande auszuweisen, denn: „Ein solch verzweifelt, durchböset, durchgiftet, durchteufelt Ding ist’s um diese Juden, so diese 1400 Jahre unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück gewesen und noch sind“.

Am Ende der Schrift spricht der Reformator die Hoffnung aus, daß ein Christ sich nunmehr gegen die Juden theologisch behaupten könne und zugleich begreife, „daß ihr Glaube nicht allein falsch, sondern sie gewiss mit allen Teufeln besessen sind“.

Hier nun kommt sein ganzer Zorn darüber zum Ausdruck, daß sich die Juden nicht christianisieren lassen wollen. Die Enttäuschung der Juden über den Reformator war grenzenlos, und sie wähnten sich vogelfrei. Der Schweizer Reformator Bullinger schrieb an den Reformator des Elsaß. Martin Butzer, man habe beim Lesen der Lutherschen Schriften den Eindruck, das sei von „Schweinehirten, nicht von einem berühmten Seelenhirten geschrieben“. Luther prägte mit seiner judenfeindlichen Haltung die protestantische Welt auf lange Zeit.

Als der ehemalige faschistische Gauleiter und Herausgeber des Hetzblattes „Der Stürmer“, Julius Streicher, sich im Kriegsverbrecherprozeß 1945 wegen seiner antisemitischen Hetze zu verantworten hatte, bemerkte er, daß statt seiner eigentlich Martin Luther als Angeklagter hier stehen müsse, denn der habe längst alles und um einiges schärfer gesagt, dessen er [Streicher] jetzt angeklagt sei.

Sogar die letzte Predigt Luthers, vier Tage vor seinem Tode (18.2.1546) in Eisleben gehalten, war den „verhärteten Juden“ gewidmet. In dieser „Vermahnung wider die Juden“ bezeichnet er die Juden als „der Christen öffentliche Feinde“, die von den Regierenden vertrieben werden sollten.

Falls sie sich aber bekehren, „so wollen wir sie gerne als unsere Brüder halten“. Daraufhin kommt es in Kursachsen zu einem verschärften Mandat gegen die Juden. In Kursachsen hat Luthers Landesherr Kurfürst Johann Friedrich kurz nach Erscheinen der antijüdischen Schriften von 1543 ein Mandat erlassen, das die strengen Bestimmungen von 1536 in vollem Umfange bestätigte. In diesem Mandat vom 6. Mai 1543 beruft sich der Kurfürst auf die „stattlichen Schriften, so der Ehrwürdige und Hochgelehrte, unser lieber andächtiger Herr Martinus Luther, der Heiligen Schrift Doktor, wider das verstockte Judentum neulich verfaßt und im Druck mit beständigen Gründen der Heiligen Schrift hat ausgehen lassen“. Das Mandat untersagte den Juden nicht nur den Aufenthalt, sondern sogar auch die Durchreise in Sachsen. Andere Landesherren sind den scharfen Forderungen Luthers jedoch zum Glück nicht gefolgt.

Es kann auch sein, daß Luther, enttäuscht über die Stagnation der Reformation, bissiger und im Urteil überscharf wurde. Das alles zusammengenommen mag diese Wende bewirkt haben. Doch es fällt uns heute schwer, dies zu verstehen. Man erkennt, daß auch ein Mann wie Martin Luther ein Kind seiner Zeit war, dem Denken dieser Zeit verhaftet, vielen Irrtümern dieser Zeit verfallen, ein versagender, ein irrender. kurz, ein sündiger Mensch wie alle anderen Menschen auch.

Für Luther war die Person Jesu der entscheidende Punkt. Er lehrte, die Schrift so zu lesen, daß man darin findet, was „Christus treibet“. Der religiöse Untergrund darf bei den Äußerungen Luthers nicht außer acht gelassen werden. Mit der römischen Kirche teilte er ja die Auffassung, daß das jüdische Volk nach der Ablehnung des Messias Jesus Gottes Urteilsspruch unterliegt. Er konnte nicht glauben, daß die jüdische Religion in irgendeinem Sinne „die Wahrheit“ besaß. Ihm war aber klar, daß auch den Juden die Möglichkeit der Gnade nicht vorenthalten werden darf. Doch er konnte und wollte nicht begreifen, daß Menschen die Einzigartigkeit der Person Jesu und deren Werk der Gnade ernsthaft ablehnen. „Ich kann die Juden nicht bekehren; unser Herr Jesus Christus hat es auch nicht vermocht. Aber ich. kann ihnen ihren Schnabel verschließen“.

Allerdings, und das muß unbedingt beachtet werden, darf Luther nicht mit modernen Antisemiten auf eine Stufe gestellt werden. Der religiöse Hintergrund auch seiner schärfsten Schriften steht außer Zweifel. Die faschistische Rassenideologie hat zu Unrecht versucht, sich auf Luther zu berufen.

Allerdings hatte Luthers Haltung im 16. Jahrhundert für die Juden schwere Folgen. Josel von Rosheim schrieb: „Er hat in Wahrheit unsere Lage sehr gefährlich gemacht“. In Sachsen zum Beispiel, wo nach dem Dekret von 1536 eine gewisse Lockerung eingetreten war, wurde 1543 erneut den Juden der Aufenthalt und Durchzug verboten. Luther hat also die letzten drei Jahre seines Lebens in einem „judenfreien“ Lande verbracht.

Martin Luther mußte erleben, wie die Juden sich nicht von der reformatorischen Theologie überzeugen ließen. Im Gegenteil: Sie versuchten sogar, Christen für den rabbinischen Glauben zu gewinnen. Dazu kamen immer wieder Schmähungen jüdischerseits gegen den christlichen Glauben.

Dies hat bei Luther zu einem Wandel in seiner Haltung geführt. Zwar ist der Reformator seiner frühen Theologie bis zu seinem Tode treu geblieben - seiner Forderung nach einer „freundlichen“ Behandlung gegenüber den Juden aber nicht: Statt der ursprünglich von ihm geforderten Liebe sind seine letzten Juden-Schriften von Verbitterung, Härte und Hass geprägt.

Schließlich sah er sich sogar verpflichtet, die Juden zu bekämpfen, um nicht teilhaftig zu werden „aller ihrer Lügen, Flüche und Lästerungen“ gegen Christus. Dies führte bei ihm zu erschreckenden Konsequenzen: Er forderte Gewalt- und Zwangsmaßnahmen, die dem christlichen Gebot der Nächstenliebe vehement widersprechen.

Luther hat damit den traditionellen christlichen Antijudaismus in besonders scharfer Form weitergeführt. Aber er hat keinen Rassismus gepredigt und erst recht keinen Völkermord. Daher war Luther kein rassistischer Antisemit. Dennoch hatten seine Forderungen höchst tragische Nachwirkungen: Haben sich doch viele antisemitisch gesinnte („Deutsche“) Christen und auch Nationalsozialisten auf den Reformator berufen.

 

Nachreformation:

Die judenfeindlichen Traktate Luthers aus dem Jahre 1543 haben nicht nur auf jüdischer Seite, sondern zum Teil auch in reformatorischen Kreisen heftigen Protest ausgelöst.

Luthers Freund Philipp Melanchthon (1497-1560) schickte die Schrift „ Von den Juden und ihren Lügen“ an den reformatorisch gesinnten Landgrafen Philipp von Hessen. In einem Begleitbrief schrieb Melanchthon, daß die lutherische Schrift „wahrlich viel nützlicher Lehr habe“. Der Landgraf hat jedoch die harten Forderungen Luthers in seinem Territorium nicht umgesetzt, sondern war den Juden gegenüber eher wohlwollend eingestellt.

Spürbar judenfreundlich unter den Lutherschülern war der Nürnberger Reformator Andreas Osiander (1498-1552), der sich wiederholt für Juden eingesetzt hat.

Ulrich Zwingli (1484-1531) in Zürich vertrat eine ähnliche Theologie wie Luther, allerdings ohne dessen harte Forderungen zu erheben. Sein Nachfolger Heinrich Bullinger (1504-1575) ist durch eine heftige Kritik an Luthers Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ aufgefallen. Dennoch hat er die Wiederaufnahme von Juden in seinem Wirkungsbereich abgelehnt.

Johannes Calvin (1509-1564) hat die Juden sehr negativ beurteilt, ohne jedoch die harten Forderungen Luthers zu erheben. Schließlich hat sich im Calvinismus die humanistische, judenfreundliche Haltung mehr durchgesetzt als im Luthertum.

Der Erneuerer von Straßburg, Martin Butzer (1491-1551), war der Mentor von Calvin. Er sah aufgrund von Römer 11,11-32 noch Zukunft für Israel. Er lehrte, daß in dem Moment, wenn die Kirche einmal „reformiert“ (oder „erneuert“) sein sollte, die Juden sich massenhaft bekehren und der Kirche beitreten würden - und dann würde auch Jesus Christus wiederkehren. Übrigens lehrte Beza. der Nachfolger von Calvin in Genf, dasselbe wie Martin Butzer. Die Stimme von Martin Butzer wurde, was das jüdische Volk betrifft, kaum gehört.

Seit der Reformationszeit wurden Juden in Deutschland für lange Zeit nur in wenigen Städten toleriert. Dabei bildete über mehrere Jahrhunderte Frankfurt das Zentrum des deutschen Judentums.

Ab 1462 mußten die Frankfurter Juden in einem abgetrennten Straßenzug leben, den man Judengasse und später auch Ghetto nannte (von „Ghetto Nuovo“ - Neue Gießerei -, wie der jüdische Stadtteil in Venedig 1516 genannt wurde). In Venedig kam um 1516 die Bezeichnung „Ghetto“ auf, mit der man später alle europäischen Judenviertel belegte. Doch auch diese abgegrenzten Wohnsiedlungen gewährten den Juden keinen Schutz. Man kennt aus dem Mittelalter die Ghettostürme, bei denen oft ganze Ghettos zerstört wurden. Übertroffen wurden sie allerdings von dem Vorgehen der Nazis, die in den von ihnen besetzten Gebieten (besonders Osteuropas) wieder Ghettos einführten, deren Bewohner sie teils deportierten, teils im Ghetto selbst vernichteten, wie etwa im Warschauer Ghetto.

Die räumlichen Verhältnisse in dem knapp 300 Meter langen Ghetto in Frankfurt waren äußerst beengt: Um 1600 stand für einen Bewohner nur ein einziger Quadratmeter Wohnraum zur Verfügung. „Judengassen“ und Ghettos wie in Frankfurt entstanden auch in anderen deutschen Städten und waren dort der Mittelpunkt des jüdischen Lebens.

Im Jahr 1614 kam es in Frankfurt zum sogenannten „Fettmilch-Aufstand”: Nach Plünderung des Ghettos wurden 1400 Juden aus der Stadt vertrieben. Sie durften 1616 aber wieder zurückkehren. Ähnliches ereignete sich 1615/1616 in Worms. In Böhmen wird 1623 ein Teil der in fast ganz Europa geltenden jüdischen Berufsverbote widerrufen. Juden dürfen jetzt zum Beispiel auch im Getreide-, Wein- und Kleidungshandel tätig sein.

Der christliche ukrainische Kosakenhauptmann Bogdan Chmielnicki leitet 1648 Pogrome, die mehr als 100.000 Juden das Leben kosten. Rund 300 jüdische Gemeinschaften werden vernichtet. Viele tausend Überlebende fliehen nach Deutschland und in andere westeuropäische Länder.

Immer wieder kam es zu offener Judenfeindschaft, die von kirchlicher Seite unterstützt wurde. Besonders vehemente judenfeindliche Angriffe von Christen erfolgten im 17. Jahrhundert in Hamburg, wo seit etwa 1600 aus Portugal vertriebene Juden (Sephardim) sowie viele Juden aus Deutschland (Aschkenasim) von der Stadt geduldet wurden - freilich gegen entsprechende finanzielle Abgaben.

Hier war es vor allem der Pastor Johannes Müller, der 1644 in einer Kampfschrift die antijüdischen Forderungen Luthers wiederholt hat und dabei die Unterdrückung der Juden empfahl.

1649 mußten die aschkenasischen Juden die Stadt verlassen, durften später aber teilweise wieder zurückkehren.

Der Westfälische Friede 1648 trägt indirekt auch zur allmählichen Verbesserung der Lage der Juden bei. Besonders nach dem 30jährigen Krieg wurden Finanz- und Handelsexperten gesucht. Zahlreichen Juden gelang es, als Hoffaktoren, Kammeragenten oder Hofjuden in solche Stellungen zu kommen.

Durch die Ghettoexistenz verengte sich das Interesse der Rabbiner auf Fragen von Ritus und Kultus. Im Laufe des 17. Jahrhunderts (während des Dreißigjährigen Krieges) traten die Juden oft als Hofbankiers und Heereslieferanten in Erscheinung. Der Hof in Wien betrieb. eine Pendelpolitik zwischen Zulassung und Ausweisung der Juden. Doch die Finanznöte brachten jüdische Finanzexperten sogar an den Hof. Maria Theresia wies die Juden aus Prag aus, ließ sie aber bald darauf wieder dort wohnen. Im allgemeinen brachte ihnen die Zeit des aufgeklärten Absolutismus gewisse Erleichterungen. Mit dem Gebietszuwachs durch Galizien gewann Österreich viele Juden hinzu.

Die Juden wirkten an zahlreichen Residenzen als Vermittler von Geldgeschäften, ausgestattet mit hohen Machtbefugnissen. Sie genossen Privilegien und gelangten zu Reichtum und Ansehen. Allerdings waren die Hoffaktoren immer sehr von ihrem jeweiligen Dienstherrn abhängig, so daß sich ihre Stellung schnell ändern konnte. Das bekannteste Beispiel ist Josef Oppenheimer, genannt „Jud Süß“ (1692-1738), der am Württembergischen Hof tätig war. Hier erlebte er durch seine hervorragenden Fähigkeiten eine glänzende Karriere. Nach dem Tod seines Dienstherrn wurde er jedoch von den Ständen verhaftet, angeklagt, gefoltert und schließlich im Jahr 1738 in einem Käfig erhängt.

Neben den Hoffaktoren und dem jüdischen Mittelstand gab es die besitzlosen Juden. Aufgrund der Berufsverbote konnten sie keine Anstellung finden und hatten auch keine Möglichkeit, sich in einer Stadt oder einem Territorium „einzukaufen“. So wanderten sie als Bettler, Trödler oder Wucherer heimatlos durch das Land und fristeten ein kärgliches Dasein - von der Gesellschaft erniedrigt, verachtet, verspottet und angefeindet.

Wie sehr die Juden unter finanziellen Aspekten gesehen wurden, zeigt das Beispiel Preußen: Nach der Vertreibung der Juden aus Wien nahm 1671 der Große Kurfürst 50 jüdische Familien in sein Land - allerdings nur die wohlhabendsten, die durch „Schutzgelder“ und andere Abgaben dazu beitragen sollten, die Entwicklung des Landes voranzutreiben.

Erst mit dem Edikt von 1812 erhielten die Juden in Preußen die staatsbürgerliche Gleichberechtigung - allerdings noch mit gewissen Vorbehalten.

 

Die Gegenreformation

Die Zeit der Gegenreformation brachte den jüdischen Gemeinden neue leidvolle Erfahrungen. In Prag und Wien wurden daher die Juden von 1550 an erneut unter kaiserlichen Schutz gestellt. Hinzu kam eine andere Schwierigkeit. Die Besonderheit der religiösen Praxis und Lebensart führte die Juden in besonderen Stadtteilen zusammen. Erst vom Ende des 13. Jahrhunderts an wurde ihnen gesetzlich vorgeschrieben, in welchen Wohngebieten sie zu wohnen hätten. Diese Bezirke trennte man durch Mauern ab.

Papst Paul IV. gibt 1555 eine neue antijüdische Bulle heraus. Juden in den vom Vatikan verwalteten Gebieten sollen in Ghettos wohnen und dürfen ausschließlich als Lumpenhändler tätig sein. Die Inquisition der römisch-katholischen Kirche gibt 1559 ihren „Index Librorum Prohibitorum“ heraus: die erste offizielle Liste verbotener Bücher, darunter viele jüdische Schriften. Iwan der Schreckliche erobert 1563 die polnische Provinz Polotsk und zwingt die dortigen Juden zum griechisch-orthodoxen Glauben. Etwa 300 von ihnen weigern sich und werden in einem Fluß ertränkt. Papst Pius V. gibt 1569 seine Bulle „Hebraeorum Gens“ heraus, mit der die Juden aus den päpstlichen Territorien verbannt werden, ausgenommen Ancona und Rom.

Papst Gregor XIII. bekräftigt 1581 das alte Verbot, daß jüdische Ärzte keine christlichen Patienten behandeln dürfen. Papst Gregor XIII. bringt 1582 die bereits 100 Jahre zuvor geplante Reform des Julianischen Kalenders zum Abschluß. König Heinrich IV. gewährt 1595 den Juden der Stadt Metz Religionsfreiheit und Vorrechte. Daraufhin entwickelt sich die Stadt zu einem bedeutenden jüdischen Zentrum.

 

Absolutismus

Im Dreißigjährigen Krieg hatten die Juden im Verhältnis zur übrigen Bevölkerung keine so große Zahl von Opfern zu beklagen. Dies resultiert aus der Tatsache, daß die Juden nicht in den Städten wohnen durften. Auf dem Lande war eben doch die Flucht vor den plündernden und mordenden Soldaten eher möglich. Nach dem Kriege entstand auf dem Boden des zerstörten Europa der Gedanke des Merkantilismus. Bestimmend wurde die Idee vom Reichtum der Natur. Jeder Landesherr versuchte, sein zerstörtes Territorium wieder aufzubauen. Er mußte darum unter allen Umständen den Handel beleben und irgendwie Geld in sein Land bringen.

Mit dieser neuen Wirtschaftspolitik verbanden die Landesherren das Ziel absoluter Souveränität. Die Rechte der Städte und des Landadels wurden beschränkt. Es bildete sich eine Beamtenschaft, die allein dem Landesfürsten unterstand. Auch die Juden, die über langjährige Geschäftserfahrungen verfügten, wurden von den Fürsten zum Handel herangezogen. Es entstand auf einmal eine kleine jüdische Oberschicht: die Hoffaktoren, Hoflieferanten, Hofagenten und Kriegskommissare. Manche von ihnen gelangten sogar in den Adelsstand. Am bekanntesten wurde der Württembergische Hoffaktor Jud Süß Oppenheimer (1692-1738), der nach einem glänzenden Aufstieg schließlich, des Hochverrats angeklagt, in einem Käfig am Galgen endete. Den Antisemiten diente der „Jud Süß“ als Symbol des macht- und geldgierigen Teufelsjuden.

Da man diese geschickten und nützlichen Juden brauchte, bekamen sie Aufenthaltsrecht an Orten, an denen Juden bis dahin nicht wohnen durften. Die Hofjuden hatten durch ihre Tätigkeit viel Umgang mit Nichtjuden. Sie paßten sich ihnen in ihrer Sprache und Kleidung immer mehr an. Eine besondere Bedeutung bekamen für die Juden die Messen. Die Landesherren sahen es gern, wenn Messen auch von Juden besucht wurden, denn sie brachten Geld ins Land. Auf diese Weise gelangten Juden in Orte, in denen sie sich bisher nicht aufhalten durften, zum Beispiel in Breslau und Leipzig. In den Jahren von 1668 bis 1764 besuchten 81.937 Juden die Leipziger Messe. Sie entrichteten insgesamt 1.719.661 Taler an Leibzoll.

Die Mehrzahl der Juden aber lebte vom Kleinhandel und Hausiererhandel. Juden durften keinen Laden in der Stadt besitzen. Die Krämergilden der Städte achteten sehr genau darauf. Viele Juden betrieben eine Art Pfandleihe. Manche waren Geldwechsler. Wegen der Kleinstaaterei war das ein wichtiger Geschäftszweig in Deutschland. Einige wenige Juden handelten mit Pelzen, Edelsteinen und Luxusartikeln. Trotz aller Erleichterungen im Handel war es Juden nach wie vor verboten, ein Handwerk auszuüben oder Bauer zu sein. Eine große Anzahl von Juden war berufsbedingt ständig auf Reisen. Auch die Landjuden mußten von Ort zu Ort ziehen, da sonst ihr Kundenkreis zu klein gewesen wäre. So kamen diese Juden ständig mit Nichtjuden in Berührung. Mithin war es auch den konservativen Teilen der Judenschaft unmöglich, sich den Einflüssen der Nichtjuden voll zu verschließen.

Die reicheren Juden konnten es sich leisten, andere Juden als „Bedienstete“ (Buchhalter, Korrespondenten) anzustellen. Diese Angestellten erledigten die Korrespondenz, sie beherrschten verschiedene Sprachen und waren hochintelligente Leute. Auf diese Weise entstand im Judentum eine weltliche Intelligenz neben den Talmudlehrern und Rabbinern.

Aber noch immer mußten sich die Juden in der Kleidung von Nichtjuden unterscheiden. Den Juden war es auch verboten, ohne ein festes Ziel anzusteuern, durch die Straßen zu schlendern. Sie durften nicht zu zweit spazierengehen. An Festtagen oder beim Besuch des Fürsten war es ihnen nicht erlaubt, die Wohnung zu verlassen. Die Höchstzahl der Gäste bei Hochzeiten war vorgeschrieben, dazu die Art der Geschenke. Bestimmte Speisen durften Juden (unabhängig vom jüdischen Speisegebot) nicht zubereiten und essen( z. B. Kapaune, Aufläufe, Konfitüre).

Bisher war es nicht möglich, daß Juden an deutschen Universitäten studierten. Die jüdischen Ärzte, es gab sehr bedeutende Männer darunter, hatten in Italien studiert (berühmt war die Fakultät Padua). Tobias Cohn war der erste Jude in Deutschland, der an einer Universität immatrikuliert wurde. Das war 1678 in Frankfurt (Oder).

Einen schönen und interessanten Einblick in die Lebensverhältnisse der Juden in Deutschland zu dieser Zeit gewähren die Memoiren der Glückele von Hameln. Sie war eine jüdische Bürgersfrau in Hamburg, die 1646 geboren wurde. Glückele von Hameln besaß eine bemerkenswerte Bildung. Sie vermochte es, nach dem Tode ihres Mannes das Geschäft selbst weiterzuführen. Ihre Memoiren begann sie mit folgenden Worten: „In meinen schweren Sorgen und in tiefem Herzeleid beginne ich im Jahre 5451 der Schöpfung (1690/91 n. Chr.), dieses Buch zu verfassen. Gott möge uns die Freude schenken und uns bald unseren Befreier senden!“(nach Poliakov, Geschichte des Antisemitismus II, S. 144ff.).

Schon zur Zeit Glückeles wurde der Anteil weltlicher Bildung im Judentum immer größer. Nicht nur die Jungen, auch die Mädchen erlernten Fremdsprachen. Man erwarb Kenntnisse in Musik und Literatur. Durch die häufigen Kontakte mit Nichtjuden kam es zu Auflockerungserscheinungen bei den jüdischen Sitten und Gebräuchen. Es machte sich erforderlich, in den einzelnen Gemeinden gegen die sich immer mehr ausbreitende Laxheit anzugehen. So wurden ausdrücklich Verbote erlassen gegen Tabakrauchen, Kartenspiel, Trinkgelage, Gastmähler ohne besonderen Anlaß, Kneipenbesuche mit Nichtjuden am Sabbat; Tanzen mit Mädchen, Ausflüge von Jungen zusammen mit Mädchen, Kegeln, Fechten, Theaterbesuche am Sabbat (den Frauen wurde der Besuch der Oper überhaupt verboten).

Die alte Gemeindedisziplin wurde jetzt oft unterlaufen. Die Autorität der Rabbiner schwand immer mehr. Das Gemeindewesen lag bisher in den Händen von reichen, doch integren Gemeindevorstehern. Nun kam es immer häufiger vor, daß die reichen Gemeindevorsteher die Gemeinde verrieten, Macht ausübten und bestechlich waren. Die unterste Schicht der Juden waren die sogenannten Betteljuden. Sie wurden von Land zu Land, von Territorium zu Territorium gejagt. Sie führten das gleiche schlimme und unstete Leben wie die landlosen Bauern, die entlassenen Soldaten und die flüchtigen Diebe. Mit ihnen taten sie sich zusammen und kümmerten sich wie diese wenig um Recht und Gesetz. Kein Wunder, daß in dieser Zeit eine Fülle hebräischer Wörter in das Rotwelsch, die Gaunersprache, einging.

Erwähnt werden muß in dieser Epoche ein Jude, der zwar nicht in Deutschland gelebt, aber durch seine Philosophie die deutsche Geistesgeschichte nachhaltig beeinflußt hat, Baruch (Benedikt, der Gesegnete) de Spinoza (1632-1677). Er war wohl der meistbeschimpfte Philosoph und religiöse Denker der Neuzeit. Sehr bald war er als selbständig denkender Kopf zum Außenseiter der jüdischen Gemeinde in Amsterdam geworden, die ihn wegen Irrlehren mit dem großen Bannfluch ausstieß. Man bot ihm einen Lehrstuhl an der Universität in Heidelberg an, doch er schlug das Angebot aus, um sich seine geistige Freiheit zu erhalten. Seinen Unterhalt verdiente er sich durch Schleifen optischer Gläser.

Zur Zeit des Absolutismus waren die Bewohner Deutschlands in sogenannte „Stände“ gegliedert, die alle dem Staat, dem Landesfürsten in irgendeiner Weise dienstbar waren (der Adel als Offiziere im Heer, die Bürgerintelligenz als Beamte, die Kaufleute und Handwerker als Hoflieferanten). Die Juden blieben außerhalb der Standesgliederung, sie wurden als „Nation“ bezeichnet. Dieses Wort gebrauchte man dabei nicht in unserem heutigen Sinne, sondern unter einer Nation verstand man Menschen, die eine eigene Religion und Sprache besaßen. Die Judennation hatte sogenannte Privilegien. Der Begriff Privileg ist irreführend. Es handelte sich bei diesen gesetzlichen Regelungen nicht um Vorrechte im positiven Sinne. Das Wort steht für eine lange Liste juristisch formulierter Rechtsbeschränkungen. Die Territorialherren garantierten in den sogenannten Privilegien ein Minimum an Schutz, forderten aber dafür ein Maximum an Abgaben.

Ganz besonders deutlich wird das in einem Gesetz, das Friedrich II. im Jahre 1750 für das Land Preußen erließ. Der König, nach dessen Wort „jeder nach seiner Facon“ selig werden solle, legte darin folgende Ordnung für die Juden fest:

1. Klasse: General-Privilegierte - Das war eine kleine Gruppe bevorzugter Juden, die sogar Land erwerben konnten. Es war ihnen möglich, so wie christliche Kaufleute zu leben.

2. Klasse: Ordentliche Schutzjuden - Sie durften sich nur an einem Ort niederlassen. Das Privileg war nur an ein Kind vererbbar (Bei Nachweis von mindestens 1.000 Talent Vermögen.)

3. Klasse: Außerordentliche Schutzjuden - Dieses Privileg konnte nicht vererbt werden. Es handelte sich bei dieser Gruppe um Künstler, Ärzte und andere freie Berufe. Aus diesen drei Klassen rekrutierten sich die jüdischen Steuerzahler. Sie konnten deshalb auch nicht aus dem Land ausreisen, wie sie wollten. Hatten sie vor, sich in einem anderen Land niederzulassen, mußten sie sehr hohe „Abzugsgelder“ zahlen.

4. Klasse: Öffentlich Bedienstete - Rabbiner, Gemeindebeamte. Sie durften keinen Handel treiben und kein Gewerbe ausüben.

5. Klasse: Geduldete Juden - Diese Klasse bestand aus Kindern der Schutzjudenklassen. Sie gehörten zum elterlichen Haushalt, besaßen kein eigenes Recht, durften nicht heiraten und keinen Handel treiben.

6. Klasse: Privat-Dienstboten - Darunter verstand man vor allem die Büroangestellten.

 

Die Betteljuden standen außerhalb dieser Ordnung und waren völlig rechtlos. Fremden Juden wurde das Wohnrecht nur erlaubt, wenn sie mindestens ein Vermögen von 10.000 Reichstalern nachweisen konnten. Auch im Preußen der Aufklärung durfte kein Jude ein bürgerliches Handwerk ausüben außer „Malen, Gläser-, Diamant- und Stein-Schleifen, Gold- und Silber-Sticken, weiße Barren ausnähen, Krätzwaschen (Reinigen des Metallabfalls in Gold- und Silberschmieden) und anderem dergleichen Gewerbe, wovon sich keine . . . privilegierten Zünfte finden, sich anmaßen, besonders auch kein Bier brauen und Branntwein brennen . . .“ (nach Prinz, Jüdische Geschichte, S. 194). Juden durften nicht mit der Post oder mit eigenen Fuhrwerken fahren. Nur durch zwei Tore der Stadt Berlin konnten Juden passieren.

Das war aber nicht nur in Preußen so. In anderen Ländern Deutschlands gab es noch härtere Bestimmungen. So durfte in Osterreich und in Bayern ein Jude nur dann heiraten, wenn eine Nummer für ihn durch den Tod eines anderen verheirateten Juden frei geworden war. Diese entwürdigende Art einer „Geburtenregelung“ galt in Bayern bis zur Besetzung durch die Truppen Napoleons!

Das Interesse des Staates an den Juden war ausschließlich wirtschaftlicher und politischer Natur. Im Jahre 1705 zahlten die Juden in Berlin 117.437 Taler Binnenzoll. Die Christen, die ja an Zahl den Juden weit überlegen waren, zahlten im selben Jahr lediglich 43.865 Taler Binnenzoll. Es war klar, der Staat interessierte sich nur für reiche Juden. Der reiche Jude war zwar nicht besser oder schlechter als der arme, aber er war der nützlichere Jude.

Im 18. Jahrhundert wurde die Religionsausübung der Juden erheblich eingeschränkt. Vielfach verbot man den öffentlichen Gottesdienst in den Synagogen. Ja, in manchen Orten war es den Juden nicht gestattet, Synagogen zu besitzen. Die Juden durften zum Beispiel im Gottesdienst auch nicht singen.

 

Pietismus

Einen deutlichen Fortschritt in der Haltung der Christen gegenüber den Juden brachte der Pietismus. Dessen Hauptvertreter Philipp Jakob Spener (1635-1705) knüpfte beim judenfreundlichen Luther an und entwickelte von hier aus eine neue christliche Sicht für das jüdische Volk: Dieses sei nicht nur Objekt der Bekehrung, sondern das „edelste Volk d er Welt“, das von den Christen in besonderer Weise respektiert, ja geliebt werden soll.

 Freilich wurzelt Spener in der traditionellen und auch von den Reformatoren vertretenen Theologie: Das Judentum sei eine „falsche“ und „verderbte Religion“, wie er in seinen „Theologischen Bedencken“ schreibt. Durch die Ablehnung Christi stehe das jüdische Volk unter dem Zorn Gottes; zur „Strafe ihrer Sünde“ habe Gott die Juden „aus dem Besitz ihres vormal angewiesenen Landes gesetzt“ und sie in der Welt zerstreut.

Dann aber verläßt Spener den Boden der orthodoxen protestantischen Theologie und distanziert sich damit auch von Luther. Im Hinblick auf Paulus schreibt er, „daß Gott Sein Volk nicht ganz auf ewig verstoßen habe, Röm.11, sondern daß ihnen noch eine große Gnade bereitet sei ". Vor ihm liegen noch „die herrlichsten Verheißungen”, die „zu seiner Zeit erfüllt werden müssen”. Gott habe mit den Juden „einen solchen herrlichen Bund gemacht, der noch nicht ganz aufgehoben” sei.

Das bedeute aber nicht das Ende aller Judenmission. Bis zur Erfüllung der göttlichen Verheißungen ist es Christen geboten, sich um die Bekehrung der Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs zu bemühen. Keinesfalls dürfe man aber bei den Bekehrungsversuchen mit Gewalt oder Zwang zu Werke gehen: „Gewalttätige Mittel mögen es nicht tun, sondern verderben, was man gedachte gut zu machen“.

Jedoch meint Spener auch, daß christliche „Regenten“ die Pflicht hätten, Juden zum Anhören des Evangeliums „zu nötigen“. Spener empfiehlt, diese „Anhörungen“ einmal jährlich als Pflicht durchzuführen. Und diese soll man aber „versüßen“, zum Beispiel indem die Predigten besonders „freundlich“ vorgetragen werden und nicht in Kirchen mit Bildern stattfinden.

Bei Ablehnung der Bekehrungsbemühungen dürfe man die Juden jedoch keinesfalls „hart oder unchristlich traktieren“, um sie damit zu strafen oder zu vertreiben.

Grundsätzlich sind Christen verpflichtet, die Juden als Christi „Verwandte nach dem Fleisch“ zu lieben und „zum geistlichen Besten dieses Volkes“ beizutragen. Dies soll geschehen vor allem „mit Gebet, sanftmütigem und freundlichem Bezeugen gegen sie, bei Gelegenheit freundlichem Zuspruch und Kundmachung unserer Religion, sonderlich aber Vorleuchtung mit heiliger Wandel und Ausdruck der Lehre ihres Heilandes in ihrem Leben“.

Neben der Heiligen Schrift und dem Gebet betrachtete Spener also auch den Lebenswandel als ein wesentliches Mittel für die Bekehrung. Gerade aber im „Wandel“ der Christen sah der Pietistenführer ein zentrales Problem, wie er auch in seinem Werk „Pia Desideria“' im Hinblick auf die Juden schreibt: „Sie    können nicht glauben, daß wir Christum für einen wahren Gott halten, da wir seine Gebote so gar nicht befolgen“.

Spener fordert praktisch die Religionsfreiheit und beruft sich dabei auf die „wahre Lehre von der Freiheit der Gewissen“. Daher steht er auch der uneingeschränkten jüdischen Religionsausübung tolerant gegenüber. Eingreifen müsse der „Regent“ nur, wenn Juden gegen Christus lästern oder versuchen, Christen „zu verführen“.

Auch soll man allgemein freundlich mit den Juden verfahren, insbesondere in beruflicher Hinsicht. Sie seien ohne Schuld zum „Handeln und Schachern“ gebracht worden, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Um hier Abhilfe zu schaffen, soll man ihnen unbebautes Land zuweisen, auf dem sie sich ansiedeln und Ackerbau und Viehzucht treiben können.

Für den Fall, daß den Juden von christlicher Seite Unrecht zugefügt wird. empfiehlt Spener: „Also wird zu dem Amt der Obrigkeit gehören, den Leuten nachdrücklichen Schutz zu leisten und das gegen sie tuende Unrecht an den so genannten Christen mit geziemendem Eifer zu strafen, damit sie in der Tat sehen, daß unser Christentum uns keinen Hass gegen sie beibringe, sondern uns vielmehr zu einer Liebe gegen die Blutsverwandten unseres Jesu anweise“.

Somit hat Spener auf der Grundlage der christlichen Nächstenliebe die Gewissens- und Religionsfreiheit sowie die soziale Gleichberechtigung der Juden gefordert. Seine Nachfolger konzentrierten sich besonders auf die „freundliche” Judenmission.

August Hermann Francke (1663-1727), einem Freund Speners, ist die Stadt Halle zum Zentrum des Pietismus geworden. Franckes Schüler J.H. Callenberg (1694-1760) gründete hier 1728 das „Institutum Judaicum“, das besonders der Judenmission dienen sollte. Bedeutendster Mitarbeiter des Instituts war Pastor Stephan Schultz (1714-1776), der bei seinen zahlreichen Reisen auch nach „Palästina“ gekommen war. Schultz ging in die jüdischen Ghettos der deutschen Großstädte und sprach auch in Synagogen.

Vor allem führte er aber Einzelgespräche, denn die pietistische Mission wandte sich besonders an den einzelnen Juden, um diesen zur Bekehrung zu bewegen. Dabei ging er überaus liebevoll vor, um die Herzen seiner Zuhörer und Gesprächspartner zu gewinnen.

Er verurteilte jede Form von Judenhaß als Sünde und bemühte sich, das jüdische Volk möglichst liebenswürdig darzustellen. Allerdings ging es ihm nicht darum, die politische oder wirtschaftliche Lage der Juden zu verbessern - als Pietist lag ihm vor allem das Seelenheil der Menschen am Herzen.

Nikolaus Graf von Zinzendorf (1700-1760), der Gründer der Herrnhuter Brüdergemeine, ging bei seiner Judenmission ebenfalls von der christlichen Nächstenliebe aus. Er gab die Empfehlung, nur

dann mit Juden über den Glauben zu sprechen, wenn sie offen für das Evangelium waren.

Zinzendorf richtete auch jährlich einen Tag der Fürbitte für die Juden ein, wobei es ihm besonders um deren Bekehrung und die Gründung judenchristlicher Gemeinden ging.

Der bedeutendste Schüler Zinzendorfs im Hinblick auf die Judenmission war Samuel Lieberkühn (1710-1777). Ihm ging es darum, den Juden in Liebe zu begegnen und ihnen ein schlichtes Zeugnis vom Jesus-Glauben zu vermitteln. Auch er lehnte den Disput und das Streitgespräch mit den Juden entschieden ab. Und er bemühte sich darum, den Juden die christliche Nächstenliebe durch sein gelebtes Zeugnis erfahrbar zu machen. Als einer der ersten Christen überhaupt wies er darauf hin, daß Kirche und Synagoge den Messias erwarten.

Der Heidelberger Professor der hebräischen Sprache und Judenhasser J. Andreas Eisenmenger aber schreibt 1699 sein Buch „Entlarvung des Judentums“. Darin behauptet er, der Schwarze Tod 1348 sei von den Juden verursacht und die Legende der mit Blut hergestellten Matzen beruhe auf Wahrheit.

 

Aufklärung

In Deutschland hat besonders die Aufklärung die politische Gleichberechtigung der Juden maßgeblich vorangetrieben. Die Forderungen der Aufklärer riefen jedoch vehementen Juden haß hervor: Es kam zu heftiger antijüdischer Propaganda und auch zu Gewalttätigkeiten. Es gibt auch hier und da Oasen besonnener Vernunft, wenn derer gedacht wird, die sich für die Rechte der Juden eingesetzt haben. Hier seien für alle nur Lessing und, Freiherr von Schroetter, Fürst Karl August von Hardenberg und Wilhelm Freiherr von Humboldt genannt. Insbesondere Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) und sein jüdischer Freund Moses Mendelssohn (1729-1786) haben in Deutschland die Beseitigung religiöser Vorurteile und die „Freiheit des Geistes und des Glaubens“ gefordert. Lessing schuf mit seinem Drama „Nathan der Weise“ das Bild des „Edeljuden“. Dieses trug dazu bei, vor allem in großbürgerlichen Kreisen eine positive Einstellung gegenüber den Juden zu erzeugen.

 

Im Jahre 1777 besuchte ein kleiner, verwachsener, alter Jude in jüdischer Kleidung die Vorlesung des berühmten Philosophen Kant in der Universität zu Königsberg. Geduldig ertrug er die Hänseleien und derben Späße der Studenten. Nach Beendigung der Vorlesung wurde dieser Jude von Kant besonders herzlich begrüßt. Die Studenten blickten beschämt zu Boden, als sie den Namen erfuhren. Spontan bildeten sie Spalier, als Kant den Gast hinausgeleitete. Der Jude hieß Moses Mendelssohn (1729-1786). Im Jahr 1743 war er seinem Lehrer von Dessau nach Berlin gefolgt. Dort verbrachte er sechs Studien- und Hungerjahre, bis er eine Stelle als Hauslehrer und Buchhalter annehmen konnte. Er bekam Kontakt mit jüdischen Intellektuellen und studierte als Autodidakt Latein, Griechisch, Englisch, Französisch, Philosophie, Mathematik und Literatur.

Er erwarb sich ein umfangreiches Wissen durch enorme Zähigkeit und mit großer Energie. Moses wollte bewußt Jude sein. Das war für die damalige gebildete Welt etwas ganz Ungewöhnliches. Und doch wurde der häßliche, kleine, verwachsene Jude Mendelssohn zum Modephilosophen der damaligen Zeit. Er gehörte ganz zur Aufklärung, „nirgends ist bei ihm der Versuch gemacht worden, die Religion einer anderen als der aufgeklärten Betrachtung zugänglich zu machen“ (Prinz, Jüdische Geschichte, S. 202). Mendelssohn versuchte, die orthodoxe jüdische Religion (und Lebensweise) mit der europäischen Bildung zu verbinden. Er forderte die Abschaffung aller „mystischen und abergläubigen Zeremonien und Gebräuche“ des Judentums, da diese, wie er meinte, dem vernünftig denkenden Menschen die Wahrheit der Religion verdunkeln. Sein berühmtestes Werk ist der „Phädon“.

Es ist (in Anlehnung an den griechischen Philosophen Plato) ein Dialog über die Unsterblichkeit der Seele. Obwohl Mendelssohn bewußt Jude sein will, schreibt er in deutscher Sprache. Das war etwas Neues!

Im Jahre 1769 forderte der Theologe Lavater, Professor in Zürich, in etwas taktloser Weise Mendelssohn öffentlich auf, zu dem Buch des Genfer Theologen Bonnet „Untersuchungen der Beweise des Christentums“ Stellung zu nehmen, es gar zu widerlegen. Das war für Mendelssohn eine schwierige Situation. Nicht nur, daß er dabei zwischen alle Stühle geraten konnte, auch Ärger mit staatlichen Stellen war nicht ausgeschlossen. Mendelssohn fragte beim Konsistorium in Berlin an, ob ihm gestattet würde, Lavaters Aufforderung nachzukommen.

Dies wurde ihm bewilligt. Mendelssohn erwiderte mit der Schrift „Jerusalem“. Darin legte er dar, daß für ihn das Judentum eine „Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft“ ist, eine Religion, an deren Riten und Gesetze eben nur Juden gebunden sind. Übrigens verstummten seine Freunde während dieser Auseinandersetzungen. Nur in privaten Briefen erklärten sie sich solidarisch mit ihm, Mit der Schrift „Jerusalem“ begann Mendelssohns politische Arbeit für die Emanzipation der deutschen Juden.

Er hat keine große Geschichte gemacht. Die Ereignisse gingen über ihn hinweg. Er hat aber seine Zeit doch geprägt. Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), der Mendelssohn durch das Schachspiel kennenlernte, setzte seinem Freund in der Gestalt des Nathan, der ja ein humanistisches Idealbild verkörpert, ein Denkmal.

Aber Gleichheit und Toleranz waren in dieser Zeit doch nur Gedankenspiele. Die alltägliche Wirklichkeit sah ganz anders aus. Diese legt Lessing in seinem 1754 erschienenen Lustspiel „Die Juden“ in der vorletzten Szene bloß: Der jüdische Held, der dem Baron und dessen Familie in selbstloser Weise zur Hilfe kommt, in den sich die Tochter des Barons verliebt, offenbart der Familie des Barons seine Herkunft. Daran schließt sich folgendes Gespräch an:

Der Reisende: Ich bin ein Jude.

Der Baron:      Ein Jude? Grausamer Zufall!

Christoph:       Ein Jude?

Lisette:            Ein Jude?

Das Fräulein:  Ei, was tut das?

Lisette:            St! Fräulein, st! Ich will es Ihnen hernach sagen, was das tut.

Der Baron:      So gibt es denn Fälle, wo uns der Himmel selbst verhindert, dankbar zu sein?

„Die Szene spiegelt mit erschreckender Eindringlichkeit die ganze Misere der auch in der gesamten späteren Entwicklung – besonders in Deutschland – nie wirklich überwundenen Lage“ (Greive, Die Juden, S. 153).

 

Im Jahre 1781 erschien die Schrift des preußischen Kriegsrats und Archiv-Superintendant Christian Wilhelm Dohm (1751-1820) mit dem Titel „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“. Er war ein Freund Mendelssohns und zog aus der Philosophie der Aufklärung soziale und politische Konsequenzen. Dieses staatspolitische Werk enthält auch Kritik an der Haltung der Christen gegenüber den Juden sowie einige praktische Forderungen: „Mit der sittlichen Verbesserung der Juden müßte aber dann auch die Bemühung der Christen, ihre Vorurteile und ihre lieblose Gesinnung zu benehmen, in gleichem Schritte gehen. Früh in der Jugend müßten sie schon gelehrt werden, die Juden wie ihre Brüder und Mitmenschen zu betrachten“. Er forderte die Aufhebung aller Vorschriften, die die Juden an der Ausübung des Handwerks hinderten wie auch am Ackerbau und anderen bürgerlichen Berufen. Er verlangte, daß man die christlichen Kinder von klein auf zu einer vorurteilslosen Haltung gegenüber den Juden erziehen sollte. Gleichzeitig appelliert er an die Christen, die Juden endlich als „Brüder und Mitmenschen zu betrachten“.

Seine Schrift hatte keine Auswirkungen auf das Leben der Juden in Deutschland. Die Behörden gaben zwar zu, daß die Lage der Juden unerträglich geworden sei und dem Staat wertvolle Kräfte verlorengingen, aber alle Reformversuche scheiterten. Im Jahre 1786 verfaßte die jüdische Gemeinde von Berlin eine Petition an den König Friedrich Wilhelm II.

Sie bat darin um Aufhebung der Handels- und Gewerbebeschränkungen. Der König setzte eine Beamtenkommission ein. Nach zwei Jahren Arbeit unterbreitete sie einen Vorschlag, der für die Juden so viele Nachteile hatte, daß diese es vorzogen, alles beim alten zu belassen.

Nur auf gesellschaftlich-kulturellem Gebiet zeigten sich Fortschritte in der Annäherung zwischen jüdischen und christlichen Gelehrten und Bürgern. Zu den Schülern des Philosophen Kant gehörten Markus Herz, Lazarus Bendavid und Salomon Maimon.

Jüdische Bürgerhäuser wurden zum Mittelpunkt literarischer und geselliger Unterhaltung, in denen Männer und Frauen von „Stand und Bildung“ verkehrten. Ein Brieffreund schrieb an Schiller, daß „gelehrte Judenzirkel die einzigen“ sind, „die in Berlin eigentlich von Literatur sprechen“. Gemeint sind die Salons beeindruckender Frauen wie Henriette Herz, Frau des Arztes und Philosophen Markus Herz, und Rahel Levin. In den Salons dieser Damen verkehrten unter anderen Goethe, Schleiermacher, Mirabeau, die Brüder Schlegel und Humboldt. Die jüdischen Bürger zahlten für den kulturellen und gesellschaftlichen Umgang mit Nichtjuden einen hohen Preis: Sie gaben nämlich ihr Judentum auf und damit den Schutz durch die Glaubensgemeinschaft.

Die normale christliche Umgebung, die Durchschnittsgesellschaft (arm oder reich, unwissend oder gelehrt), legte ihr Vorurteil gegen die Juden nie ganz ab, „selbst dann nicht, wenn der Preis – die Aufgabe des Judentums – gezahlt worden war“

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts kam es zu einem merkwürdigen Briefwechsel zwischen führenden jüdischen Persönlichkeiten und dem Oberkonsistorialrat Propst Teller. Die jüdischen Bürger erklärten, sie seien zur Taufe bereit, wenn die Kirche auf das Bekenntnis spezifisch christlicher Dogmen verzichten würde. Diese Überlegungen waren ganz vom Geist der Aufklärung geprägt, denn man ging davon aus, daß alle Religionen schließlich und letztlich doch eins sind. Das, was die Religionen voneinander trennt, waren für sie zweitrangige Äußerlichkeiten. Aber von fast allen Seiten erfolgte die Ablehnung. Besonders scharf formuliert war die Ablehnung des berühmten Professors der Theologie Friedrich Schleiermacher.

Die Gleichberechtigung der Juden führt aber auch zum Judenhaß: Die Stadt Hamburg ordnet 1710 eine Reihe antijüdischer Maßnahmen an. In Österreich tritt 1727 ein Gesetz in Kraft, demzufolge ausschließlich der älteste Sohn eines Juden heiraten darf. Der preußische König Friedrich Wilhelm I.. verordnet 1730 durch Gesetz, daß Juden den Mitgliedern christlicher Gilden keine Konkurrenz machen dürfen. Auch wird ihnen der Straßenhandel verboten. Die Prager Juden werden 1745 für vier Jahre aus der Stadt verbannt. In Lissabon wird 1755 zum letzten Mal ein Christ jüdischer Abstammung, der sich heimlich zum Judentum bekennt, öffentlich lebendig verbrannt. Der französische Philosoph Voltaire veröffentlicht 1756 seine „Gesamten Werke”, die eine Reihe heftiger antisemitischer Stellen enthalten.

Im 18. Jahrhundert waren die jüdischen Gemeinden in Hamburg und Berlin gewachsen. Dort lebten jetzt viele bedeutende jüdische Männer, und die Salons einer Levin-Varnhagen und Henriette Herz wurden zu geistigen Mittelpunkten Berlins. Doch gab es auch weiterhin Rechtsbeschränkungen.

Goethe beschreibt in „Dichtung und Wahrheit“ den schlechten Zustand der Frankfurter Ghettos, das „auserwählte Volk Gottes“ als „Menschen, tätig und gefällig“. Von Goethe ist bekannt, daß er Kontakt zu jüdischen Bürgern hatte, auch an ihren Festen teilnahm, „überall wohl aufgenommen, gut bewirtet und zur Wiederkehr eingeladen“ wurde.

Ein Zitat aus Johann Wolfgang von Goethes „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ zeigt genau jenes ambivalente Verhalten zum Judentum, das der größte Dichter der Deutschen mit allen anderen Deutschen teilte: „An dieser Religion (Christentum) halten wir fest, aber auf eine eigene Weise; wir unterrichten unsere Kinder von Jugend auf von den großen Vorteilen, die sie uns gebracht hat; dagegen von ihrem Ursprung, von ihrem Verlauf geben wir zuletzt Kenntnis. Alsdann wird uns der Urheber erst lieb und wert, und alle Nachricht, die sich auf ihn bezieht, wird heilig. In diesem Sinne, den man vielleicht pedantisch nennen mag, aber doch als folgerecht anerkennen muß, dulden wir keinen Juden unter uns; denn wie sollten wir ihm den Anteil an der höchsten Kultur vergönnen, deren Ursprung und Herkommen er verleugnet?“ (Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, 3. Buch, II. Kapitel)

Die Forderung nach staatsbürgerlicher Gleichberechtigung der Juden rief schon bald Ablehnung und offenen Judenhaß hervor. Noch harmlos erscheinen die kritischen Äußerungen des Philosophen Johann Gottlieb Fichtes (1761-1814), der die Meinung vertrat. man müsse den Juden vor dem Zugeständnis der Bürgerrechte „die Köpfe abschneiden und andere aufsetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei“.

Die erste organisierte Aliya (Auswanderung nach Zion) von Juden aus Galizien und Polen erfolgt 1764. Kosakenbanden suchen 1768 Polen heim und ermorden viele tausend Juden. Im Jahr 1777 erfolgt die zweite organisierte Aliya mit gut 300 polnischen Juden.

Mit einer gezielten Provokation fordert 1768/70 der Schweizer Theologe Lavater den berühmten Juden Moses Mendelssohn in aller Öffentlichkeit heraus, er solle die Überlegenheit des Judentums über das Christentum beweisen. Mendelssohn veröffentlicht 1770 seine Antwort, in der er schreibt, daß er die Herausforderung höflich ablehne, „weil Polemiken über religiöse Fragen dem Geist der Toleranz entgegengesetzt sind“ In dieser Zeit entwickelt sich Berlin zum geistigen Zentrum des deutschen Judentums.

Papst Pius VI. gibt 1775 sein „Edikt über die Juden“ heraus, worin er mehrere mittelalterliche antijüdische Maßnahmen bekräftigt. Der österreichische Kaiser Joseph II. erläßt 1781 ein Edikt, das eine „größere Integrierung“ der Juden im Staat bezweckt und ihnen einige Erleichterungen bringt, zum Beispiel die Zulassung zu handwerklichen Berufen.

Trotz der antijüdischen Stimmen jener Jahre kam die politische Emanzipation der Juden allmählich in Gang. Nachdem bereits die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 als erste Verfassung der Welt den Juden die vollen Bürgerrechte garantierte, folgte in Europa das Toleranzedikt Kaiser Josephs II. von 1782. Das Edikt enthielt zwar noch keine Gleichberechtigung für die Juden, brachte aber schon einige spürbare Erleichterungen. wie zum Beispiel die Zulassung zu handwerklichen Berufen.

 

Französische Revolution

Die Gedanken und Ideale der Aufklärung wurden in der Französischen Revolution politisch wirksam. Am 28. September 1791 beschloß die Nationalversammlung in Paris die Emanzipation der Juden, also die vollen Bürgerrechte. Die Schrift Dohms hatte dabei eine entscheidende Rolle gespielt. Die Bürgerrechte wurden sofort auch in allen linksrheinischen Gebieten eingeführt, die von den Franzosen besetzt waren. Später setzte man sie auch in den von Frankreich eroberten Ländern durch. In den folgenden Jahrzehnten kam es dann in mehreren Territorien Deutschlands zur gesetzlichen Regelung der Bürgerrechte für die jüdische Bevölkerung, auch in anderen Teilen Europas wie Italien und Holland.

Infolgedessen wurde 1798 vom Mainzer Rat beschlossen, das Tor zum Judenviertel feierlich zu verbrennen. In vielen Städten wehrten sich aber die Mittelstände heftig gegen die Gleichberechtigung der Juden, da sie wirtschaftliche Rückschläge und finanzielle Einbußen befürchteten.

Es folgten aber auch zahlreiche vehement antijüdische Veröffentlichungen um die Wende zum 19. Jahrhundert. wie zum Beispiel die Flugschrift „Wider die Juden“ von C.F.W. Grattenhauer von 1803. Hier findet man die Forderung, daß man die Juden ausrotten müßte, um das christliche deutsche Volk und die gesamte Menschheit zu retten.

Napoleon installiert 1807 in Frankreich einen jüdischen Hohen Rat (Sanhedrin), der dem Kaiser politische Loyalität zusagt. Bald aber hebt Napoleon den Rat wieder auf, nachdem ein Jesuit ihn vor einer jüdischen Verschwörung gewarnt hat. Er gibt zwei Erlasse zur Stellung der Juden heraus. Der erste bestimmt, daß das Judentum eine offizielle Religion ist; der zweite begrenzt jüdische Niederlassungen und ihre wirtschaftliche Tätigkeit.

 

In den vergangenen Jahrhunderten waren Juden mit den Mitteln der Kunst verhöhnt und verachtet worden: Es gab Spottmünzen mit dem Bild des „Kornjuden“, Porzellanfiguren mit Bildern der „Pferde-, Kleider- und Schacherjuden” und Karikaturen über „der Juden Badstub”.

In der Architektur gab es als Gestalt der „Synagoge“ in Gegenüberstellung zur „Ekklesia“, am berühmtesten vor dem Portal des südlichen Querschiffes im Straßburger Münster. Jetzt flüchteten Juden in die Kunst, in der sie es zu großer Meisterschaft brachten. Das gilt für die Literatur wie für die bildende Kunst.

Diese rechtliche Gleichstellung aller setzte sich trotz Widerstände durch. Und sie war gegenüber den früheren Verhältnissen ein hoher Gewinn. Die innere Gleichstellung war ungleich schwerer zu erreichen. Die Jahrhunderte währende Isolierung, die Besonderheiten des religiösen und kulturellen Lebens erschwerten das gegenseitige Verstehen. Eine menschliche Grundeigenschaft, eigene Fehler und Versagen anderen anzulasten, kommt hinzu. Im nationalen Rahmen bedeutete das eine ständige Verunsicherung durch eine als fremd erlebte Minderheit. In der um ihren Glauben ringenden (vor allem katholischen) Kirche wurde es dem Einfluß der Juden in der Gesellschaft angelastet, daß der christliche Glaube an Anhängern verlöre. Die Probleme der industriellen Revolution mit ihren Umwälzungen und dem Arbeiterelend führte man auf das kapitalkräftige Judentum zurück. Das sich nur unvollkommen realisierende Zusammenwachsen der Deutschen sah man auch in dem problematischen Miteinander von Deutschen und Juden begründet.

Die äußere, juristische Gleichstellung der Juden war zwar erfolgt, die inneren Widerstände gegen diese Gleichstellung kamen jedoch nie ganz zur Ruhe. An sie konnte der „Nationalsozialismus“ anknüpfen. Mit ihrer Hilfe konnte er die äußere Gleichstellung in relativ kurzer Zeit rückgängig machen.

 

 

Die Zeit nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation

Nach der Niederlage der preußischen Armee bei Jena und Auerstedt im Jahre 1806 verstärkte sich in Deutschland der Wunsch nach einer einheitlichen Nation. Die Reformen des Freiherrn vom Stein der Jahre 1807/1808 in Preußen verbesserten die Situation der Juden. Das aktive und passive Wahlrecht war nicht mehr von der Religion abhängig. Zu einem neuen Judengesetz, das den Juden volle Gleichheit gewährte, kam es noch nicht. Die Ministerien wußten, daß in dieser Angelegenheit etwas getan erden mußte. Aber die Meinung der an einem Judengesetz Arbeitenden war sehr unterschiedlich.

Das unter Hardenberg und Wilhelm von Humboldt erlassene Emanzipations-Edikt werden 1812 den Juden in Preußen - unter gewissen Vorbehalten - das Recht von „Einländern und Staatsbürgern“ zuerkannt. Voraussetzung war allerdings, daß alle Juden binnen sechs Monaten feste Familiennamen annehmen und sich behördlich anmelden sollten. Die Juden mußten bei Führung ihrer Handelsbücher, bei Abschluß von Verträgen und bei Formulierung von Rechtsverträgen die deutsche Sprache benutzen. Aber in dem Gesetz war auch enthalten, daß Juden nicht Offizier werden können und kein Staatsamt bekleiden dürfen. Dieses Gesetz stieß bei manchen christlichen Bewohnern wegen seiner Liberalität auf starken Widerspruch. Die Juden aber erkannten die Verbesserung ihrer Situation durch dieses Gesetz sofort

Auch die orthodoxen Kreise nahmen Dinge hin, die eigentlich den religiösen Bereich beschnitten, wie zum Beispiel die Aufhebung der rabbinischen Gerichte. Die Juden wurden von der allgemeinen Begeisterung für die Befreiung der Heimat vom napoleonischen Joch ergriffen. Zahlreiche Juden meldeten sich freiwillig zur Armee. Hardenberg schrieb ob dieser Begeisterung der Juden an einen Freund: „Auch hat die Geschichte dieses letzten Krieges wider Frankreich bereits erwiesen, daß sie (die Juden) des Staates, der sie in seinem Schoß aufgenommen, durch treue Anhänglichkeit würdig geworden sind“.

Nach der Niederlage Napoleons tagte der Wiener Kongreß. Er hatte auch über „die künftige Stellung der Bekenner des mosaischen Glaubens“ zu befinden. Diejenigen, die den Juden die künftige Gleichberechtigung verschaffen wollten wie Humboldt und Hardenberg, kamen mit ihren Vorstellungen nicht durch. Nach langen Beratungen einigte man sich darauf, die Bundesversammlung solle dafür sorgen, daß in. Deutschland die Judenfrage einheitlich geregelt wird. Bis zu dieser Regelung soll das in den Bundesstaaten bereits (von Napoleon) eingeräumte Recht weiter gelten.

Durch geschickte Manipulation, man weiß nicht, wer da die Hand im Spiele hatte, wurde in dem Beschluß eine ganz kleine – aber folgenschwere – Änderung angebracht. Statt „in den Bundesstaaten“ hieß es plötzlich „von den Bundesstaaten“. Durch diese Änderung verloren die Juden in den ehemals von Napoleon besetzten Gebieten die von den Franzosen erhaltenen Rechte wieder. Auch Preußen nahm die seinen Juden gewährten Rechte wieder zurück.

Aber nach der Zuerkennung wirtschaftlicher und bürgerlicher Rechte für die Juden brechen 1819 in einigen Städten Deutschlands gewalttätige antijüdische Krawalle aus. Der Schlachtruf heißt „Hep! Hep!“, ein Schlagwort, das auch die Kreuzfahrer benutzten. Es sind die Anfangsbuchstaben der Worte „Hierosolyma est perdita“ (Jerusalem ist verloren). In Würzburg zum Beispiel kam es zu Plünderungen und Morden. auch mußten die Juden für einige Tage die Stadt verlassen. Ein Flugblatt enthielt den Aufruf, Rache zu nehmen an den Kindern der Christusmörder: „Allen Juden Tod und Verderben. Ihr müßt fliehen oder sterben.

Im „Judenspiegel“ “ (erschienen 1819 in Würzburg) von Hartwig von Hundt-Radowsky) wird gesagt, die Tötung eines Juden sei weder Sünde noch Verbrechen, sondern „bloß“ ein Polizeivergehen. Er machte den Vorschlag, die Kinder Israels soll man entweder an die Engländer als Sklaven verkaufen oder sie durch Arbeit im Bergbau vernichten. „Am besten wäre es jedoch, man reinigte das Land ganz von dem Ungeziefer“

Frankreich stellt 1831 das Judentum auf die gleiche Ebene wie das Christentum. Die Gehälter der Rabbiner werden von der Obrigkeit bezahlt. In Wien wird 1838 „Die Einheit“ gegründet, eine jüdische Geheimorganisation zur Förderung jüdischer Auswanderung nach „Palästina“.

Der britische Außenminister Lord Palmerston beauftragt 1840 den britischen Botschafter in der Türkei, beim türkischen Sultan vorzusprechen, um eine Rückkehr der Juden nach „Palästina“ zu ermöglichen. In einer Denkschrift an Lord Palmerston erinnert ihn eine Gruppe von 320 prominenten britischen Christen 1841 daran, daß das Land Israel von Gott ausschließlich dem jüdischen Volk gegeben wurde; außerdem habe Gott verheißen, daß die Juden in ihr Land zurückkehren werden, wobei die Nationen ihnen helfen werden.

 

 

Der deutsche evangelische Theologe Bruno Bauer, zugleich auch Führer der antisemitischen Bewegung „Die jungen Hegelianer“, veröffentlich 1843 seine Schrift „Über die Judenfrage. Darin fordert er, daß Juden ihr Judentum aufgeben. In einer Reaktion auf Bauers Forderung behauptet Karl Marx, das Übel des Judentums sei nicht religiöser, sondern sozial-wirtschaftlicher Art. Die Vernichtung des Judentums sei „Voraussetzung zur Befreiung der Menschheit“.

Der britische Pastor Bradshaw schlägt 1844 vor, größere Finanzmittel zur Neuansiedlung der Juden im Heiligen Lande zur Verfügung zu stellen. In London gründen Christen den „Britischen und Ausländischen Verein zur Förderung der Wiederherstellung der Jüdischen Nation in „Palästina“.

Die deutsche Nationalversammlung 1848 in der Paulskirche zu Frankfurt am Main beschließt die verfassungsmäßige Gleichstellung. Juden erhielten die vollen Bürgerrechte.

 

Der französische Sozialistenführer Pierre Joseph Proudhon schreibt 1858 in einem Buch: „Die

Juden sind eine asoziale Rasse, widerspenstig und teuflisch. Wir sollten diese Rasse entweder nach Asien zurückschicken oder sie vernichten“.

 

In der preußischen Stadt Thorn findet 1860 eine jüdische Konferenz statt. Dabei geht es um die Möglichkeit, eine nationale jüdische Existenz in „Palästina“ zu gründen. Der deutsch-jüdische Sozialist Moses Hess veröffentlicht 1862 sein Buch „Rom und Jerusalem“, worin er die Lage des europäischen Judentums analysiert und dann argumentiert, daß in „Palästina“ ein jüdischer Staat gegründet werden sollte.

 

Der Schweizer Christ und Zionist Henri Dunant (Gründer des Roten Kreuzes) bittet 1864 Napoleon III. und andere Staatsoberhäupter, die Rückkehr der Juden ins Heilige Land zu unterstützen.

 

Nach zwei Besuchen im Heiligen Lande veröffentlicht 1865 der deutsche Lutheraner und Zionist Dr. C.F. Zimpel einen „Aufruf an die gesamte Christenheit und die Juden zur Befreiung Jerusalems“. Kurz darauf schreibt Zimpel prophetisch: „Auswanderung nach Palästina wird letzten Endes ihre einzige Rettung sein. Die Juden werden von jedermann gehaßt!“

 

Der von den rumänischen Behörden geförderte Antisemitismus hat zur Folge, daß zwischen 1866 und 1914 von den 125.000 rumänischen Juden 70.000 aus ihrem Land fliehen, besonders in die USA.

 

Im Jahr 1867 kommt das liberale Judentum in Deutschland und Ungarn auf. Die Bewegung will eine nationale und kulturelle Assimilation der Juden und einen Bruch mit der nationalen jüdischen Tradition.

 

Die Gewährung aller staatsbürgerlichen Rechte unabhängig von der Religion wurde auch im Gesetz des Norddeutschen Bundes von 1869 festgelegt. Jene freiheitlichen Grundrechte flossen dann in die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 ein.

 

Innerjüdische Veränderungen:

Am Anfang des 19. Jahrhunderts vollzog sich innerhalb der Judenschaft eine unübersehbare Veränderung. Die Tradition und die alten Überlieferungen verloren ihren Einfluß auf das tägliche Leben. Sie wurden immer mehr als eine Last empfunden. Ein großer Teil der Juden glaubte, daß mit der Aufklärung das messianische Zeitalter angebrochen sei. Darum wurde für sie das Glück des einzelnen hier in dieser zeitlichen Welt wichtiger als die Sehnsucht nach der Ewigkeit. Man verstand das Reden der Rabbiner nicht mehr, denn man lebte in einer anderen Welt als sie. Es gab keine einheitliche Leitung und Organisation mehr. Die alten Judenschaften lösten sich immer mehr auf.

Den Talmud studierte man in Deutschland nicht mehr, das Studium der Bibel wurde vernachlässigt. Es gab zwar Bestrebungen einiger Verantwortlicher, den Gottesdienst in der Synagoge zu reformieren, aber das erwies sich doch letztlich als ein vergebliches Unternehmen (die Eltern des Komponisten Meyerbeer gehörten zum Beispiel. zu einer Gruppe, die solche Gottesdienstreformen anstrebte).

Viele reiche und gebildete Juden ließen sich taufen. Zu den zum Christentum übergetretenen gehörten zum Beispiel der Hamburger David Mendel (er wurde unter dem Namen Neander ein bedeutender Kirchenhistoriker), die Kasseler Orientalisten Benary, der Trierer Rechtsanwalt Heinrich Marx, die Barone von Eichthal in München und die von Sensburg in Karlsruhe.

Der Vater von Karl Marx läßt 1824 seine Familie taufen, weil er als preußischer Jude seine Anwaltsfunktion nicht ausüben kann. Ein Jahr später läßt der deutsche Dichter Heinrich Heine sich taufen. Er nennt dies „eine Eintrittskarte zur europäischen Gesellschaft“. Marx und Heine sind beispielhaft für Hunderttausende von deutschen Juden, die sich während der Emanzipation des 19. Jahrhunderts auch in religiöser Hinsicht assimilieren.

Dagegen gab es Juden, die sich zu einem „Verein für Kultur und Wissenschaft der Juden“ zusammenschlossen. Sie wollten den jüdischen Menschen umgestalten, seine Bildung verbessern und solide Kenntnisse des Judentums als Orientierungshilfe im Leben mitgeben. Der Verein hatte keinen Bestand. Als erstes der Mitglieder ließ sich Eduard Gans (er war einer der Mitbegründer) taufen, um sich an der Universität in Berlin habilitieren zu können. Mitglied dieses Vereins war auch Heinrich Heine. Aber die „Wissenschaft des Judentums“ entwickelte sich auch nach Auflösung des Vereins weiter, sie hob immer wieder das Selbstbewußtsein jüdischer Bürger, schuf die Grundlage für eine jüdische Erziehung, überbrückte die Kluft zwischen weltlicher und religiöser Bildung.

Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts übernahm eine neue Rabbinergeneration die Führung, die den zeitgemäßen Anforderungen gewachsen war. Im Laufe der Jahre bildeten sich zwei einander widersprechende Positionen in der Judenschaft heraus.

Die eine Gruppe machte die Vernunft und die geschichtliche Entwicklung zum Ausgangspunkt aller Überlegungen. Sie strebte nach Freiheit vom Gesetz. Das war die Gruppe der Reformierten oder Liberalen. Die andere Gruppe machte die Offenbarung zum Ausgangspunkt. Sie strebte nach Freiheit durch das Gesetz. Ihre Vertreter nannte man Orthodoxe, Gesetzestreue, Konservative.

Die Gegensätze zwischen beiden Gruppen wurden mit der Zeit immer schärfer. Es bestand die Gefahr der Trennung. Im Jahre 1846 fand die dritte Rabbinerversammlung statt, auf der versucht werden sollte, eine einheitliche Richtung für alle jüdischen Gruppen zu finden. Es war der letzte erfolgversprechende Versuch dieser Art. Die Gegensätze waren aber so groß, daß es zu keiner Einigung kam.

Die Begeisterung der vierziger Jahre für die religiösen Fragen nahm rasch ab, sie wurde durch die neuen politischen Probleme schließlich aus dem Bewußtsein verdrängt. Der Erfolg der Emanzipationsbestrebungen begann sich allmählich schon am Horizont abzuzeichnen. Damals lebten in Berlin 6.456 Juden. Das waren zwei Prozent der Einwohner Berlins. Die Bemühungen um eine Umstrukturierung der beruflichen Tätigkeit der Juden waren aber nicht erfolgreich. Über die Hälfte der Juden lebte in irgendeiner Form vom Handel. Viele Berufe blieben ihnen verwehrt (Offizier, Beamter, Lehrer, Richter, Dozent an einer Hochschule). Mit der Taufe konnte sich das allerdings für den einzelnen ändern. Um diesen Weg nicht gehen zu müssen, bevorzugten junge Juden die freien Berufe (Arzt, Rechtsanwalt, Journalist).

 

Deutsches Kaiserreich

Mit der Verfassung des zweiten Deutschen Reichs von 1871 war die politische Gleichberechtigung der Juden erreicht, Juden genießen alle Bürgerrechte. In der Praxis werden sie aber noch vielfach diskriminiert. Es entwickelte sich schon bald darauf der rassische Antisemitismus. Seine Verfechter waren auch Christen und Kirchenvertreter – geprägt von der langen antijüdischen Tradition. Schon bald nach der Reichsgründung machte sich Enttäuschung in der Bevölkerung breit, ausgelöst vor allem durch die Wirtschaftskrise von 1873. Es dauerte auch nicht lange, bis man einen Sündenbock gefunden hatte: die Juden.

Unter den relativ wenigen katholischen antisemitischen Schriften hat das Buch „Der Talmudjude“ des Theologie-Professors August Rohling (1839-1931) die wohl größte Verbreitung gefunden. Nach Aussage des Autors ist das erstmals 1871 erschienene Buch geschrieben worden, um den „echt christlichen Antisemitismus zu fördern“.

Der Historiker Heinrich von Treitschke (1834-1896) brachte im Rahmen des „Berliner Antisemitismusstreites“ die in der Bevölkerung herrschende Stimmung im Jahre 1879 auf den Punkt: „Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf ….. ertönt es heute wie aus einem Munde: die Juden sind unser Unglück“. Treitschkes Grundgedanken: die Juden seien eine Gefahr für das deutsche Volk und für das Christentum. Deshalb sollten sie entweder ihre jüdische Identität aufgeben - oder auswandern und ihren eigenen Staat gründen!

Der Deutsche Wilhelm Marr gründet 1879 die Antisemiten-Liga und gilt als Begründer des Ausdrucks „Antisemitismus. In seinem Buch „Der Sieg des Judentums über Deutschland“

führt Marr auch die „Rassenlehre“ ein. Er hat die Auseinandersetzung mit dem Judentum besonders vom rassischen Gesichtspunkt her führen wollen. Das Motto der Liga war: „Das deutsche Vaterland vor der vollständigen Verjudung zu retten“.

Marr prägte das Wort „Antisemitismus“. Der Begriff ist aber völlig unzutreffend, da das semitische Wesen keine Einheit bildet und alle Aktionen sich ausschließlich gegen die Juden, also nur eine kleine Gruppe der semitischen Rasse, richten. Zudem stellen die Juden in anthropologischer Hinsicht ein Rassengemisch mit uneinheitlichen Zügen dar. Ein großer Unterschied besteht zwischen den Aschkenasim, den mittel- und osteuropäischen Juden, und den Sephardim, den west- und südeuropäischen Juden. Der sogenannte „wissenschaftliche“ Antisemitismus kennzeichnet alle Juden als biologisch minderwertige Rasse, deren Einschränkung eine ‚natürliche Pflicht’ sei“.

 

Der Orientalist Paul de Lagarde wurde noch deutlicher: Er verglich die Juden mit Trichinen und Bazillen und meinte: „Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt. ... die werden so rasch und gründlich wie möglich unschädlich gemacht.” Er grenzte sich gegen einen vulgären „Antisemitismus“ ab, forderte aber die Reinigung der „deutsch-christlichen Religion“ von allem Jüdischen.

Eugen Dühring (1833-1921), der „Philosoph des Antisemitismus“ veröffentlicht 1880 sein Werk „Die Judenfrage als Rassenfrage und seiner Schädlichkeit für Existenz und Kultur der Völker“. Er schreibt: „Der Ursprung der allgemeinen Verachtung fürs Judentum liegt in seiner absoluten Minderwertigkeit auf allen intellektuellen Gebieten. ... Deshalb ist diese Rasse minderwertig und entartet. Es ist die Aufgabe der nordischen (arischen) Völker, solche parasitären Rassen auszurotten, wie wir auch Schlangen und Raubtiere ausrotten“. Das Buch gilt als grundlegendes Standardwerk des rassischen Antisemitismus.

 

Schon bald aber nahmen auch Kirchenvertreter und Christen die antisemitische Propaganda auf - zunächst noch verhalten, später immer heftiger. Theologischer Wortführer der antisemitischen Propaganda ist der Berliner Hofprediger und Gründer der christlich-sozialen Arbeiterpartei Adolf Stöcker (1835-1909). Stöcker betrachtete das Judentum als „den verderblichsten Einfluß auf das deutsche nationale und religiöse Leben“, als „Krebsschaden“, der das Christentum im allgemeinen und die Zukunft Deutschlands im besonderen bedrohe. Dagegen gelte es anzugehen: „Die sozialen Übelstände, welche das Judentum mit sich bringt, müssen auf dem Weg einer weisen Gesetzgebung geheilt werden ... Entweder dies gelingt uns ... oder der Krebsschaden, an dem wir leiden, frißt weiter; dann ist unsere Zukunft bedroht, und der deutsche Geist verjudet, das deutsche Wirtschaftsleben verarmt. Rückkehr zu mehr germanischem Rechts- und Wirtschaftsleben, Umkehr zu christlichem Glauben; so wird unsere Losung lauten“. Er stellte die Juden dar als „ohne jede religiöse Schöpferkraft“, „den Götzen des Goldes nachlaufend“.

Stöcker wurde 1881 Mitglied des Reichstages. Er war auch an der Antisemitismus-Petition beteiligt, die dem Reichskanzler im selben Jahre überreicht wurde. Diese Petition enthielt rund 260.000 Unterschriften und forderte folgende Maßnahmen: Begrenzung der Einwanderung von Juden, Ausschluß der Juden von höheren Staatsämtern und vom Volksschullehramt sowie die Einführung einer Statistik über die jüdische Bevölkerung. Die Petition verlief im Sande, auch weil Reichskanzler Bismarck der antisemitischen Bewegung ablehnend gegenüberstand. Von den größeren Parteien wurde der Antisemitismus offiziell abgelehnt, jedoch gelangten im Laufe der Zeit immer mehr antisemitisch eingestellte Abgeordnete in den Reichstag.

Jedoch blieben diese judenfeindlichen Äußerungen nicht ohne Kritik. Im „Berliner Antisemitismus-Streit“ erhoben viele christliche und jüdische Gelehrte ihre Stimme besonders gegen die Judenhetze des Heinrich von Treitschke. Einer seiner schärfsten Kritiker war der Historiker Theodor Mommsen. Er bezeichnete den Antisemitismus als „Mißgeburt des nationalen Gefühls“ und betrachtete „Israel“ als Bereicherung für die nicht-jüdischen Völker.

Richard Wagner veröffentlicht 1881einen Aufsatz, in dem er den politischen Antisemitismus befürwortet und die Juden als „den Dämon, der den Untergang der Menschheit verursacht“, bezeichnet. Eine Antisemitismus-Petition wird von der Regierung des Deutschen Reiches (Reichskanzler Bismarck) ignoriert.

Kritik an Stöcker kam insbesondere von Michael Baumgarten (1812-1889), einem Theologie-Professor und Abgeordneten des Reichstages. Er tadelte den Berliner Hofprediger sehr scharf und warf ihm zutiefst unchristliches Verhalten vor. Bei der Judenhetze gerade von christlicher Seite fühlte er sich sogar „an die Greuel der mittelaltrigen Judenmassaker“ erinnert.

Der Theologie-Professor Franz Delitzsch (1813‑1890), der 1880 in Leipzig ein „Institutum Judaicum“ einrichtete, kritisierte vor allem das lieblose Verhalten der Christen gegenüber den Juden während der gesamten Kirchengeschichte. Auch verfaßte er eine Gegenschrift zu Rohlings „Talmudjude“.

 

Zu Ostern 1882 wird in Ungarn die alte Ritualmordlegende verbreitet. Kurz darauf wird das ganze Land von antisemitischen Gewalttätigkeiten heimgesucht. Die österreichisch-ungarische Regierung erläßt 1887 ein Gesetz, daß ausländische Juden sich nicht im Lande niederlassen dürfen.

Im Jahr 1891 gibt es wieder eine Ritualmordbeschuldigung in Xanten. Dort wurde 1891 ein fünfjähriger Junge tot aufgefunden. Das Gerücht entstand, das Kind sei bei einem Ritualmord von einem jüdischen Metzger geschächtet worden. Viele Juden am Niederrhein wurden von der aufgebrachten Bevölkerung bedroht und verließen ihre Heimat. Nach einem langen Gerichtsprozeß wurde der angeklagte Metzger zwar freigesprochen – aber die Vorurteile in der Bevölkerung waren jedoch schon zu fest verankert, als daß jetzt noch ein Umdenken erfolgen konnte.

Im Jahre 1892 wurde von mehreren hundert bekannten Persönlichkeiten            der „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ gegründet, ein Jahr später entstand der tatkräftigere „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“. Sein Ziel war Aufklärung und Rechtsbeistand für Juden. Beides jedoch war angesichts des immer stärker voranschreitenden Antisemitismus nicht wirkungsvoll genug, um die spätere Katastrophe abwenden zu können.

 

Die Schweiz verbietet 1893 das Schächten. Später folgen Norwegen (1930), Deutschland (1933), Schweden (1937) und Italien (1938).

Der französisch-jüdische Heeresoffizier Alfred Dreyfus wird 1894 das Opfer einer antisemitischen Verschwörung. Er wird der Spionage für Deutschland beschuldigt und zu lebenslanger Haft verurteilt. Starke antisemitische Gefühle kommen in ganz Frankreich hoch. Im Jahre 1906 wird Dreyfus für unschuldig befunden, rehabilitiert und zum Oberstleutnant befördert

In Wien ist 1895 der Antisemit und Führer der christlich-sozialen Partei, Karl Lueger, Sieger im Wahlkampf für das Bürgermeisteramt. Er führt antijüdische Maßnahmen ein und gestattet antijüdische Gewaltakte.

Nach intensiver Lobbyarbeit des christlichen Zionisten Pastor William Hechler gibt der deutsche Kaiser Wilhelm II. 1898 als erster europäischer Machthaber eine öffentliche Erklärung zur Unterstützung des Zionismus ab. Später besucht der Kaiser Jerusalem, wo er von einer Abordnung der zionistischen Bewegung unter der Leitung von Theodor Herzl empfangen wird.

Doch die judenfeindliche Propaganda war zu massiv: Seit 1879 gab es eine Flut von antisemitischen Schriften, Traktaten, Flugblättern und auch Karikaturen. In einem Flugblatt von 1892 etwa wurde die Bevölkerung dazu aufgerufen, keine Weihnachtsgeschenke in jüdischen Geschäften zu kaufen. In einer Karikatur von 1901 ist ein Jude zu sehen, der einen Germanen („Arier“) erschlägt und das Christentum zerstört.

Besonders starken Einfluß hatte auch das Buch des Kulturphilosophen H. S. Chamberlain (1855-1927) „Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts“ Es erschienen 1899 und wurde in mehreren Auflagen nachgedruckt. Hierin werden die Reinerhaltung der germanischen Rasse und die Befreiung des Christentums von allen jüdischen und gesetzlichen Inhalten gefordert.

Im Jahre 1900 kam es nach einem Mord an einem Gymnasiasten in Westpreußen zu Ritualmord-Anschuldigungen gegen Juden. Auch hier wurde das mittelalterliche Vorurteil, Juden gebräuchten Menschenblut zu rituellen Zwecken, als antisemitische Waffe genutzt und propagandistisch an die Öffentlichkeit gebracht. Einige antisemitische Zeitungen brachten das Thema „Ritualmord“ vor Ostern im Jahre 1901 und forderten christliche Eltern auf, ihre Kinder vor dem Kontakt mit verdächtigen Juden zurückzuhalten. Auch hier gab es Gegenschriften von christlicher Seite.

 

Rußland

Zarin Katharina II. von Rußland gestattet 1778 wohlhabenden Juden die Mitgliedschaft in Gilden. Damit wird zum ersten Mal in Europa mit dem Berufs- und Gildenverbot aus dem Mittelalter gebrochen. Aber schon 1795 werden besondere Konzentrationsgebiete für Juden bestimmt (Ukraine, Weißrußland und Ostpolen).

Zar Nikolaus I. verfügt 1827, daß in Rußland alle jüdischen Männer zwischen 12 und 25 Jahren Militärdienst leisten müssen. In den Kasernen werden sie zum Konsum von Schweinefleisch und zum Übertritt zum Christentum gezwungen. Das Gesetz bleibt bis 1874 in Kraft.

Im Jahre 1835 erläßt er weitere antijüdische Maßnahmen: Zensur für jüdische Publikationen; jüdische Druckereien sind zu schließen (Ausnahme Wilna); in der Nähe von Kirchen dürfen keine Synagogen gebaut werden. Aber 1848 wird die erste von einer Reihe Staatsschulen für Juden eröffnet. Zweck dieser Einrichtungen ist es, die jüdischen Kinder so zu beeinflussen, daß sie sich zum Christentum bekehren.

Dem russischen Forscher B. Miliutin zufolge besitzen 1849 nur drei Prozent der russischen Juden irgendeine Form des Kapitals, während der Rest ein elendes Dasein fristet. Zar Alexander II. gestattet 1859 „nützlichen“ Juden die Niederlassung außerhalb der Konzentrationsgebiete in Westrussland.

Im Jahr 1871 gibt es ein erstes Großpogrom im jüdischen Konzentrationsgebiet Westrusslands. Eine Welle behördlich geförderter Pogrome überflutet 1881 die jüdischen Konzentrationsgebiete in Westrussland. Zar Alexander III. ordnet 1882 neue antijüdische Maßnahmen an.

Der zionistisch gesinnte Pastor William Hechler reist 1882 nach Rußland, um den Pogromopfern zu helfen. In den Jahren 1882 bis 1899 gibt es mehrere Pogrome gegen jüdische Gemeinschaften in den westrussischen Konzentrationsgebieten. Mehr als 25.000 osteuropäische Juden wandern nach Eretz Israel aus (Erste Aliya).

In den westrussischen Konzentrationsgebieten leben 1887 fünf Millionen Juden. Innerhalb des Gebietes sind gewisse Städte für Juden verboten, wie zum Beispiel Kiew und Sewastopol. Am Ostersonntag 1891 werden die Juden aus Moskau verbannt. Eine neue Welle behördlich geförderter Pogrome überflutet 1902-1906 die jüdischen Gemeinschaften in den westrussischen Konzentrationsgebieten.

Im Jahr 1903 erfolgt die erste Publikation der anti‑semitischen Protokolle der „Weisen Zions“ in Sankt Petersburg. Die von christlichen Antisemiten geschriebenen Protokolle berichten über eine internationale jüdische Verschwörung zur Welteroberung. Im russischen Kischinew findet auf Anregung von Außenminister Plehwe und nach einer antijüdischen Hetzkampagne einer Regierungszeitung ein blutiges Pogrom statt.

Im Jahre 1905 kommt es zur Gründung der antisemitischen „Union des russischen Volkes“, auch „Schwarze Hundertschaften“ genannt. Die Union organisiert in großem Ausmaß Pogrome in Westrussland und ist mitverantwortlich für die Flucht von zwei Millionen russischen Juden, besonders in die USA. Auf dem Höhepunkt der Gewalttätigkeiten werden in einer einzigen Woche 660 jüdische Gemeinschaften angegriffen, wobei es mehr als tausend Tote und nahezu zehntausend Verletzte gibt. Ein Jahr später kommt es in Rußland zu weiteren 43 Pogromen mit Hunderten von Toten.

 

Im Jahr 1910 werden alle Juden aus Kiew verbannt. In der Zeit zwischen 1881 und 1914 sind mehr als 60.000 russische Juden nach Israel eingewandert. Zwei Millionen andere fliehen in die USA, 200.000 nach England. Mit der kommunistischen Machtübernahme 1917 in Rußland beginnt eine Periode von 70 Jahren, in der es Juden fast unmöglich gemacht wird, ihre Religion zu bekennen und ihre Kultur zu erhalten. Im Jahr 1918 werden in Jalta (Krim) 900 Juden von Antisemiten im Meer ertränkt. In Sewastopol (Krim) werden alle jüdischen Führer ermordet.

Bei einer Reihe von Pogromen kommen 1919 Zehntausende russischer Juden ums Leben. Der Schwerpunkt der Gewalttätigkeiten liegt in der Ukraine, wo 685 Pogrome stattfinden. Die Sowjets beschließen, den einflußreichen russischen Zionismus zu vernichten. Außerdem werden alle religiösen jüdischen Einrichtungen in der UdSSR aufgehoben und ihre Besitzungen beschlagnahmt. Im Jahr 1920 finden in der Ukraine 142 Pogrome statt, bei denen Tausende von Juden umkommen.

Die Sowjets gründen 1928 in Ostsibirien das autonome jüdische Gebiet Birobidschan. Man möchte erreichen, daß sich dort 300.000 Juden ansiedeln werden; letztlich werden es aber nicht mehr als 30.000.

 

 

Weimarer Republik

Während des Kaiserreiches ist die Saat des rassistischen Antisemitismus gestreut worden - mit Unterstützung von Christen und Kirchenvertretern. Der traditionelle christliche Antijudaismus bildete einen günstigen Nährboden für diese giftige Saat. In der Weimarer Republik ist diese Entwicklung weiter voran getrieben worden - und auch hier waren Christen in erheblichem Maße beteiligt: Zahlreiche antijüdisch eingestellte Theologen bemühten sich, den Antisemitismus mit der Bibel zu rechtfertigen.

Während des Ersten Weltkrieges wurde den Juden mangelnde Vaterlandsliebe und Feigheit vor dem Feind vorgeworfen. Nach Kriegsende schob man ihnen dann die Schuld für die deutsche Niederlage zu - obwohl die rund 100.000 im Krieg dienenden Juden nachweislich ihre Pflicht ebenso erfüllt hatten wie die nichtjüdischen Soldaten.

Im Ersten Weltkrieg nahm die antijüdische Stimmung noch zu. Ursache war einerseits die Verteuerung der Lebensmittel und die damit verbundene Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Dazu kam die massive Propaganda verschiedener antisemitischer Organisationen.

 

Das vorletzte Kriegsjahr 1917 brachte noch ein besonderes Datum für die Kirchengeschichte: den 400. Jahrestag der Reformation. Aus diesem Anlaß erschien die Schrift „Deutschchristentum auf rein-evangelischer Grundlage“, herausgegeben unter anderen. vom Flensburger Pastor Friedrich Andersen (1860-1940), der später Sprecher für die Nationalsozialisten wurde. Darin wird eine radikale „Verdeutschung des Christentums“ unter Entfernung aller jüdischen Einflüsse gefordert.

 

Eine Flut von deutsch-völkischen Schriften heizte nach 1918 die antijüdische Stimmung auf. Besonders nachhaltig wirkten dabei die sogenannten „Protokolle der Weisen von Zion“, in denen der angebliche Nachweis geliefert werden sollte, daß die Juden durch eine internationale Verschwörung die Weltherrschaft übernehmen wollten. Die wirtschaftlichen und politischen Probleme der jungen Republik trugen weiter dazu bei, das judenfeindliche Klima zu verschärfen.

Die praktische Folge davon waren zunehmende Anfeindungen und Gewalttätigkeiten gegen Juden und ihre Einrichtungen: Zahlreiche Friedhofs- und Synagogenschändungen, Störungen von jüdischen Gottesdiensten, Ausschreitungen gegen jüdische Studenten und Hochschullehrer und sogar Mord: Rosa Luxemburg wird 1919 das Opfer des Judenhasses. Und der (erste jüdische) Außenminister Deutschlands, Walther Rathenau, wird 1922 von Antisemiten ermordet. Eine der damals verbreiteten antisemitischen Kampfparolen lautete: „Schlagt dem Judenpack den Schädel ein, dann wird die Zukunft gewonnen sein. Stolz weht die Fahne im Wind, wenn Judenblut vom Säbel rinnt“.

Viele Christen schwiegen zu diesem immer aggressiver werdenden Judenhaß, und nicht wenige waren mit dem Antisemitismus einverstanden. Auch stammte eine Reihe von antijüdischen Schriften von christlichen Theologen. Hinzu kam, daß unter den zahlreichen neu gegründeten judenfeindlichen Bewegungen auch einige „christliche“ Organisationen waren.

 

Der 1921 gegründete „Bund für deutsche Kirche“ versuchte, den christlichen Glauben von allen jüdischen Einflüssen zu befreien. Sein Ziel war es, das Christentum in deutsch-völkischer Prägung zu erneuern. Einer seiner Wortführer war der Flensburger Pastor Andersen (1860-1940), der als Musterbeispiel für den Werdegang eines liberalen Theologen hin zum rassistisch-antijüdisch agitierenden Kirchenmann gilt. In seinem Hauptwerk „Der deutsche Heiland“ (Erstauflage 1921) beschreibt er das Judentum als eine minderwertige und schlechte Religion, die eine „allgemeine Weltgefahr“ darstellt: die Psalmen 2, 8 und 9 würden deutlich zeigen, daß die Juden nach der „Weltherrschaft“ und der „Vernichtung der anderen Völker“ strebten. Klar sei auch, daß Christus „kein Jude“ gewesen sei: „Jesus ist Arier, wir können auch sagen: nach Rasse und Eigenart durchaus nordisch gerichtet“.

 

 

Und Jesus habe das Judentum bekämpft, wie die Bergpredigt klar beweise. Daher sei es auch den Christen aufgegeben, das Judentum „abzuschütteln“: „Das Judentum ist im Christentum ein schädlicher Fremdkörper. Es ist höchste Zeit, ihn zu entfernen, damit das Christentum wieder gesund wird!“ Ab 1928 war Pastor Andersen als Redner für die Nationalsozialisten tätig.

Noch schärfer im Ton und massiver in der Agitation war etwa die Schrift „Biblischer Antisemitismus“ (1920) von Pastor Karl Gerecke. Er bezeichnete die Juden als „asiatische Blutsauger“ und „antichristliche Volksverderber“, die bekämpft werden müssen. Nur der „Sieg über Juda“ könne die „Rettung des Vaterlandes“ bringen. Hasserfüllt und rachsüchtig rief er dazu auf, Juda mit „flammendem deutschen Christenzorn“ zu „erwürgen“ und „in den Feuerofen zu werfen“.

 

Die Gründung der extrem antisemitischen Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) erfolgt 1920. Adolf Hitler (1889-1945) verkündet 1922, daß bei seiner Machtübernahme „die Ausrottung der Juden meine erste und wichtigste Aufgabe sein wird. Sie können sich selber nicht schützen und keiner wird sich als ihr Beschützer erweisen“.

 

Die NSDAP hat bereits vor ihrer Machtübernahme massiven antijüdischen Terror veranstaltet. Adolf Hitler (1889-1945) war in seinem Buch „Mein Kampf“ von 1925/27 wie das Programm der NSDAP offen deutsch-völkisch und massiv rassistisch-antisemitisch geprägt. Er berief sich auch auf den christlichen Glauben: „So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn“. Eines seiner Hauptziele war die Entrechtung der Juden und ihre völlige Entfernung aus Deutschland.

Von besonderer Bedeutung für die NS-Propaganda war auch das im Jahre 1930 erschienene Buch „Der Mythos des 20. Jahrhunderts“ von Alfred Rosenberg, der im „Dritten Reich“ als Chefideologe fungierte. In diesem Buch fordert er eine radikal national-völkisch geprägte Kirche.

Die katholische Zentrum-Partei war zusammen mit der Bayerischen Volkspartei eine der führenden politischen Kräfte in der Weimarer Republik. Sie setzte ihre tolerante Judenpolitik der Kaiserzeit fort und war neben der SPD die stärkste Partei gegen den zunehmenden Antisemitismus. Besonders judenfreundlich waren die Führer der Zentrum-Partei Ludwig Windthorst (1812-1891) und Ernst Lieber (1838-1902). Aber es gab auch Parteimitglieder, die anders dachten.

 

Leider aber waren diese Stimmen nicht mehr stark genug, um der allgemeinen antijüdischen Stimmung wirksam entgegentreten zu können. Am Ende der Weimarer Republik stand die Saat des rassistischen Antisemitismus in voller Blüte, und auch ihre tödliche Frucht war herangereift. Sie brauchte nur noch geerntet zu werden.

 

Die Anzahl der Juden im Deutschen Reich war in den Jahren 1890 und 1925 mit 567.884 bzw. 564.379 Bürgern ungefähr gleich. In Berlin lebten 1925 rund 30 Prozent aller deutschen Juden (172.672), während es 1890 nur 14 Prozent waren. Es gab aber einen Prozeß der Abwanderung der Juden aus den kleinen in die großen Städte, vor allem nach Berlin, als Folge der wirtschaftlichen Situation, die sich aus der wachsenden Industrialisierung ergab. Aus diesem Grunde wurden nach 1920 in vielen Orten die Gemeinden aufgelöst, die Synagogen aufgegeben. Die kleinen Friedhöfe verwaisten. Schon vor 1933 wurden jüdische Friedhöfe, wie auch Synagogen, Opfer antisemitischer Aktionen. In den Jahren zwischen 1923 und 1931 gab es in Deutschland 125 Friedhofsschändungen aus politischen Gründen, gehäuft in Süd- und Südwestdeutschland.

 

Zionismus

Zu Selims Zeiten lebten mehr Juden in dem muslimischen Staat als überall sonst auf der Welt. Für sie begann eine Blütezeit des wirtschaftlichen Aufschwungs. Daß Palästina dabei für die nächsten Jahrhunderte als tiefste Provinz vor sich hindämmerte, hat dem blutgetränkten Land eine längere Friedensperiode geschenkt als je zuvor.

Das änderte sich erst, als zunächst ost- und dann auch westeuropäische Juden nach Palästina einwanderten und um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert der zionistische Traum von einer Heimat für die in alle Welt versprengte jüdische Gemeinde Kraft gewinnt.

 

Ende des 19. Jahrhunderts beginnt die Einwanderung der jüdischen Siedler aus Ost- und Südosteuropa nach Palästina, Grund sind die Pogrome im. zaristischen Rußland. Die Sehnsucht zur Rückkehr ist seit Beginn der Diaspora wachgeblieben („Nächstes Jahr in Jerusalem“). Einwanderer kommen auch aus Amerika. Gesiedelt wird in unbebauten Gebieten. Das Land wird von Arabern gekauft.

 

Dafür gibt es schon Vorläufer: Der britische Oberst a.D. und christliche Zionist George Gawler (1796-1869) begleitet 1848 den jüdischen Philanthropen Sir Mozes Montefiore auf einer Reise in das Heilige Land und überzeugt diesen, daß man in die jüdische Aufbauarbeit investieren sollte.

Der Sohn des christlichen Zionisten George Gawler, John Cox Gawler, setzt 1874 das Werk seines Vaters fort und veröffentlicht in allen Einzelheiten einen praktischen Plan zur Besiedlung von Juden in Eretz Israel. Der christliche Zionist Henri Dunant gründet 1875 in London die „Palestine Colonization Society“. Ihr Ziel: die jüdische Rückkehr nach Israel erleichtern zu helfen.

George Eliott veröffentlicht 1876 seinen Roman „Daniel Deronda“. Thema ist ein Jude, der nach „Palästina“ zieht, um dort die politische Existenz seines Volkes neu zu beleben. Das Buch hat großen Einfluß auf die Wiedergeburt des Zionismus. Der amerikanische Geschäftsmann und Missionar William Blackstone veröffentlicht 1878 Seine Schrift „Jesus kommt“, in welcher er zu einer nationalen jüdischen Neubelebung in Zion aufruft. Der prominente britische Christ und Zionist Laurence Oliphant veröffentlicht 1880 „Das Land Gileads“, ein Buch voller prophetischer Hinweise auf die Neuansiedlung des jüdischen Volkes im Heiligen Land.

Die religiös-zionistische osteuropäische Hibbat Zion-Bewegung („Liebe für Zion“”) ruft 1881 zur jüdischen Auswanderung nach Palästina” auf. Problem ist aber, daß die meisten Juden so arm sind, daß sie keine Mittel für die Reise haben. Der deutsche Jude Leo Pinsker schreibt 1882 sein Buch „Selbstemanzipation“, worin er die Juden zu „einem nationalen Rückzug an die Ufer des Jordanflusses“ aufruft.

Im schlesischen Kattowitz veranstaltet 1884 die zionistische Bewegung eine Konferenz. Der britische christliche Zionist und in Wien tätige Botschaftspastor William Hechler schreibt „Die Rückkehr der Juden nach Palästina nach den Propheten“. Später freundet sich Hechten mit Theodor Herzl an, den er berät und bei europäischen Herrschern einführt.

In Basel findet 1887 der erste zionistische Kongreß statt. Herzls zionistischer Traum appelliert vor allem an die osteuropäischen Juden, welche die schwere Reise nach Israel unternehmen. Ehrengäste neben den 159 Delegierten sind die prominenten christlichen Zionisten Pastor William Hechler, Henri Dunant und der deutsch-lutherische Pastor Dr. Johann Leptius. Die religiöse Hibbat Zion-Bewegung tritt der (überwiegend weltlich beeinflußten) Zionistenorganisation bei.

Der christliche Zionist William Blackstone schickt 1891 an den amerikanischen Präsidenten die von 400 prominenten Christen unterzeichnete Petition „Palästina für die Juden“. Darin werden die USA aufgerufen, die Rückkehr der Juden nach Israel zu unterstützen. Doch gleichzeitig beschweren sich muslimische Kaufleute aus Jerusalem in einem Brief an den Sultan in Istanbul über die zunehmenden Landkäufe jüdischer Einwanderer. Schon vor der großen Einwanderungswelle von der ersten Alija, 1881 stellten die Juden mit etwa 17.000 Bewohnern die Mehrheit in Jerusalem.

 

Schon 1893 wurde der Begriff „Zionismus“ geprägt. Er bezeichnet die nationalistische Bewegung im jüdischen Bürgertum, die die Schaffung eines jüdischen Nationalstaates auf dem Boden Palästinas forderte. Begründer des Zionismus ist Theodor Herzt ein: Wiener Journalist. Er erlebt den „Dreyfußprozeß“ und schreibt 1896 daraufhin die Schrift: „Der Judenstaat“. Das Werk ist grundlegend für den politischen Zionismus und wegweisend für die Gründung des neuen Staates Israel im Jahre 1948.

Im Grunde war Herzl, zumindest anfangs, nicht mal wirklich an Palästina interessiert. Erst nach Gesprächen mit britischen Juden konzentrierte er sich auf ein Siedlungsgebiet im Nahen Osten. Mehr aus Frust, weil er den Pariser Baron Rothschild nicht für seine Sache gewinnen konnte, veröffentlichte Herzl ein für das Treffen mit dem Bankier ausgearbeitetes Redemanuskript unter dem Titel „Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der jüdischen Frage“. Das Büchlein sollte zum Manifest einer nationalen Bewegung werden, die den Gang eines Volkes so radikal veränderte wie nur wenige andere Ideologien.

Dabei hätte Herzl, der sich Palästina als ein „Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ vorstellte, das Konfliktpotenzial einer Staatsgründung im Nahen Osten durchaus erahnen können. Noch vor dem Ersten Zionistischen Weltkongreß gab es in Palästina bereits 19 jüdische Siedlungen - und massive Proteste der Araber. „Schon vor Einsetzen des Herzl-Effekts“, weiß der Münchner Historiker Michael Brenner, „kam es zu erheblichen Zusammenstößen zwischen Einwanderern und Einheimischen.“

Es sei Herzls „heilige Einfalt“ gewesen, e meint die israelische Historikerin Anita Shapira, die ihn weit über den Ersten Zionistenkongreß im August 1897 die „Unmöglichkeit seiner Mission“ ignorieren und eine imaginäre Wirklichkeit schaffen ließ, „welche die Herzen von Männern und Frauen entflammte“.

Theodor Herzls Vision für die künftige Heimstatt der Juden, 1902 in dem Roman „Altneuland“ ausgemalt, versprach ein Paradies in Palästina: Juden und Araber leben friedlich miteinander, genießen die Errungenschaften europäischer Kultur - englische Internate und große französische Oper inklusive. Licht und Aufklärung herrschen in diesem Friedensreich: In den Palmen hängen „elektrische Straßenlampen wie große gläserne Früchte“, Frauen genießen bereits das Wahlrecht, und die Religion, Identitätsspender des jüdischen Volkes, war auf den Tempelberg von Jerusalem verbannt. Dort könne jeder beten, wie er wolle, befand der Wiener Literat. Und wenn die Araber auf ihre Moschee nicht verzichten mochten - auch kein Problem. Herzl: „Wir exterritorialisieren Jerusalem, das niemandem und allen gehören wird, der heilige Ort, den alle Gläubigen gemeinsam haben. Das große Kondominium der Kultur und Sittlichkeit.“

Es war eine Utopie, entworfen in der jüdischen Diaspora, ein schöner Traum, aus dem die reale Geschichte des Gelobten Landes vollständig verbannt war. Denn die Wirklichkeit jener Mittelmeerregion zwischen den Zedern des Libanon und den Schluchten der Wüste Negev sah ganz anders aus: Das Land, in dem nach göttlicher Verheißung „Milch und Honig“ fließen sollten, hatte sich in Jahrtausenden als blutiges Jammertal erwiesen.

Der Prozeß der Erlangung der Gleichberechtigung jüdischer Mitbürger zog sich hin. Der besonders gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufkommende Zionismus (unter dem Eindruck der Dreyfusaffäre von Theodor Herzl wieder angeregt) stieß weithin auf Widerstand. Man hatte kein Verständnis dafür, daß die Juden nunmehr nicht nur als Religionsgemeinschaft, sondern auch als Nation (auf eigenem Territorium) anerkannt sein wollten. Die bisher hauptsächlich aus religiösen Scheinargumenten gespeiste Judenfeindschaft wurde jetzt auch mit rassistischen und sozialen begründet.

 

Die britische Regierung bietet 1903 den zionistischen Führern Land in Britisch-Ostafrika an, um dort eine autonome jüdische Ansiedlung zu gründen (das „Uganda-Projekt“). Während ihres 6. Kongresses 1903 weigern sich die Zionisten aber, eine andere Option als „Palästina“ zu akzeptieren.

Theodor Herzl hat 1904 eine Begegnung mit dem damaligen Papst Pius X. Dabei erklärt aber der Papst: „Wir können die [zionistische] Bewegung nicht unterstützen. Wir können die Juden nicht daran hindern, nach Jerusalem zu gehen, aber wir können es niemals gutheißen. ... Die Juden haben unseren Herrn nicht anerkannt, deshalb können wir das jüdische Volk nicht anerkennen“.

Wie der Zionismus, verstärkt durch die Pogrome in Osteuropa, zur kolonialen Bewegung wurde, erlebte der 1904 gestorbene Herzl nicht mehr. Im Gegenzug erhob eine mit der Jungtürken-Revolte 1908 auflebende arabische Presse den Zionismus zu einem der Hauptgegner im Kampf um die eigene Unabhängigkeit.

Wie tief schon damals das Mißtrauen auf beiden Seiten war, erhellt der Streit um den ersten Versuch einer Anerkennung der gegenseitigen Ansprüche auf Palästina. Im Jahre 1919 hatte der Zionisten-Führer Chaim Weizmann dem Sohn des Scherifs von Mekka, Feisal Ibn Hussein, die Zusage ab gerungen, „die Einwanderung von Juden in großem Maße zu fördern“.

Die Zionisten wiederum versicherten, daß „bei all diesen Maßnahmen die Rechte der arabischen Bauern geschützt“ würden. Als Gegenleistung wollte Ibn Hussein seine Vorstellungen von arabischer Unabhängigkeit realisiert sehen. Daran aber hatten die Kolonialmächte, allen voran die Briten, kein Interesse.

Den Rückschlag konnte Weizmann verkraften. Schon zuvor hatte er den seit dem Ende des Osmanischen Reiches über weite Teile Palästinas gebietenden Briten mit der Balfour-Deklaration (von 1918 bis 1948 ist „Palästina“ englisches Mandatsgebiet) eine Art jüdische Gründungsurkunde abgerungen. In dürren Worten versicherte der britische Außenminister Lord Balfour darin am 2. November 1917 im Namen seiner Majestät, daß London die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina mit Wohlwollen betrachte und fördern werde. Der amerikanische Präsident Wilson unterstützt 1917 die Abgabe der Balfour-Erklärung. Sie bildet die rechtliche Grundlage für spätere politische Dokumente des Völkerbundes und der Vereinten Nationen.

 

Der protestantische irische christliche Zionist John Henry Patterson, ein Oberst in der britischen Armee, wird 1917 Kommandeur der jüdischen Legion, die später in Samaria und im Jordantal gegen die Türken kämpft. Die Legion ist die erste organisierte jüdische Heeresmacht seit der von Bar Kochba im 2. Jahrhundert.

Papst Benedikt XV. vertritt 1917 hinsichtlich einer jüdischen Nationalheimat in „Palästina“ gegenüber dem zionistischen Führer Nahum Sokolow einen positiven Standpunkt. Ab 1919 gibt es eine erste Auswanderungswelle deutscher Juden nach „Palästina“.

Eindringliche Warnungen ihrer britischen Kommandanten in Palästina hatte die Regierung dabei in den Wind geschlagen. Es bestehe für das Empire kaum eine Chance, prophezeiten die Militärs den Politikern, aus dem Konflikt zwischen Juden und Arabern heil herauszukommen. Sie sollten Recht behalten.

Schon ein Fußball, den im Februar 1929 ein jüdischer Junge in den Vorgarten eines Arabers gekickt hatte, löste ein Pogrom aus, dem fast hundert Juden zum Opfer fielen. „Siedlung – Arbeit – Wacht“ faßte Martin Buber, der bekannteste deutsche Zionist, den Alltag in Palästina zusammen.

Der britische Christ und Offizier Charles Orde Wingate bildet 1936-1939 in „Palästina“ jüdische Kampftruppen aus, die unter seiner Führung den arabischen Terror bekämpfen. Wegen seiner zionistischen Gesinnung wird er 1939 versetzt. Später werden seine Truppen zum Kern der israelischen Armee.

Es sollte für beide Seiten noch weit schlimmer kommen: Die Judenverfolgung durch den Antisemiten Adolf Hitler in Deutschland kostete sechs Millionen Menschen das Leben. Auf der Flucht vor dem Holocaust landeten Hunderttausende Einwanderer an der östlichen Levante-Küste. Der jüdische Grundbesitz stieg rapide. Aufkäufer erwarben zwischen 1940 und 1947 rund 33.000 Hektar Land, den größten Teil davon außerhalb jener Gebiete, die London den Juden zugewiesen hatte.

Die britische Mandatsregierung gibt 1939 das Weißbuch heraus, in dem die jüdische Einwanderung nach „Palästina“ eingeschränkt wird. Die Maßnahme kostet zahllosen europäischen Juden das Leben. Die 1939 von den Briten angeordneten Einwanderungsbeschränkungen für „Palästina“ bleiben auch nach dem Krieg in Kraft.

Jüdische Terrorkommandos räumten auf, wo sich Araber oder Briten in den Weg stellten. Zionisten-Führer wie Wladimir Jabotinsky von der „Jüdischen Liga“ machten aus ihrem Hass auf die Muslime keinen Hehl. Sie waren für ihn nichts als „Päderasten, Bastarde“. Zu den glühendsten Anhängern Jabotinskys gehörte damals der spätere Premier Menachem Begin.

 

 

Es war Begins Untergrundgruppe „Irgun“, die den Briten den härtesten Schlag versetzte. Bei ihrem Bombenanschlag im Juli 1946 auf das King-David-Hotel in Jerusalem, in dem die Mandatsverwaltung residierte, starben 90 Menschen – und wohl auch die Hoffnung Londons, den blutigen Konflikt beenden zu können.

Britische Versuche, die Judäisierung Palästinas mit Seeblockaden und Massendeportationen zu bremsen, waren ohnehin fehlgeschlagen. Die Irrfahrt des legendären Flüchtlingsschiffes „Exodus“ im Sommer 1947, dessen ausgemergelte Passagiere die Briten ausgerechnet nach Deutschland zurückschickten, brachte die Weltmeinung sogar ganz entscheidend auf die Seite der Zionisten. Wenig später beschloß die Uno, Palästina in einen arabischen und einen jüdischen Staat zu teilen.

An dem rührigen Bauern Ariel Scharon hätte Theodor Herzl seine Freude gehabt. Ganz im Sinn des romantischen Utopisten, der zu Anfang des 20. Jahrhunderts die jüdische Besiedlung Palästinas propagierte, hat der israelische Premier am Rand der Negev-Wüste ein privates Paradies geschaffen: Auf 1500 Hektar läßt Scharon im südlichen Zipfel des israelischen Kernlandes Orangen- und Zitronenbäume prächtig blühen, Rinder- und Schafherden friedlich weiden. „Land bestellen und besitzen“, erklärt der Farmer Scharon stolz seinen Gästen, „das ist Zionismus.“ Zumindest dessen eine Seite.

Doch mehr als jeder andere Repräsentant des jüdischen Staates steht Scharon auch für die Kehrseite des Bildes vom fleißigen Bauern, der nutzlosen Sand in fruchtbaren Boden verwandelt. Nicht nur in den Augen der arabischen Welt ist der Name Scharon zum Synonym für brutale Landnahme, Krieg und Vertreibung geworden. Erst vergangene Woche polierte der bekennende Zionist seinen Ruf als unversöhnlicher Palästinenser-Feind wieder auf. Einen jüdischen Staat, dessen Regierungschef nach Meinung des israelischen Publizisten Uri Avnery den Araber-Hass „buchstäblich mit der Muttermilch mitbekommen“ hat, bezog der Begründer des politischen Zionismus nicht einmal als Möglichkeit mit ein.

 

Nationalsozialismus

Die ersten antisemitischen Maßnahmen der NS-Regierung erfolgten im April 1933: ein Boykott gegen jüdische Geschäfte und Praxen sowie die Einführung des „Arier-Paragraphen“, mit dem jüdische Beamte in den Ruhestand versetzt wurden. Von christlicher Seite gab es kaum Protest.

Juden in Deutschland – wenn man die Hetztiraden und Mordparolen der Faschisten heute anschaut, dann hat man den Eindruck, daß es in Deutschland damals unheimlich viel Juden gegeben haben muß. Das ist aber nicht so gewesen! Im Jahre 1929 lebten in Deutschland 564.379 Menschen, die sich zur jüdischen Religion bekannten. Die Zahl der Gesamtbevölkerung betrug zu dieser Zeit in Deutschland 70 Millionen. Das heißt, nur 0,8 Prozent des Volkes gehörten dem Judentum an.

Die Juden werden jetzt überall verfolgt, wo sich der Faschismus ausbreitet: Franco widerruft die erst 1930 verliehene Gleichberechtigung der spanischen Juden im Jahr 1938. In Italien tritt 1938 eine Reihe antijüdischer Maßnahmen in Kraft. Nach dem österreichischen „Anschluß“ im Jahre 1938 treten dort mit sofortiger Wirkung die „Nürnberger Gesetze“ in Kraft. Rund 500 österreichische Juden begehen Selbstmord.

Eine Flüchtlingskonferenz findet 1938 in Evian-les-Bains (Frankreich) mit Vertretern aus 30 Ländern: Beratung über den Verbleib der europäischen Juden. Lediglich Dänemark und die Niederlande erklären sich bereit, einige tausend Juden aufzunehmen.

Die Schweizer Polizei verweigert 1939 nahezu zehntausend französisch jüdischen Flüchtlingen den Zugang zum Land, weil „Rasse allein kein Grund für politisches Asyl ist“.

Am 30. Januar 1939 erklärt Hitler bei seiner Reichstagsrede, daß bei einem künftigen Krieg voraussichtlich die „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ erfolgen werde. Nach dem deutschen Einmarsch in Polen am 1. September 1939 erklärt der deutsche Generalgouverneur Hans Frank: „Wir können keine 2,5 Millionen Juden erschießen oder vergiften. Wir werden aber dennoch gewisse Schritte unternehmen müssen zu ihrer Ausrottung“. Am 1 .Juli 1941 werden alle Juden unter Polizeirecht gestellt und sind damit offiziell völlig entrechtet.

 

In Nachkriegspogromen 1945-1946 ermorden polnische Antisemiten nahezu 500 Juden.

In den „Nürnberger Prozessen“ vor einem internationalen Militärgericht gegen mehrere Kriegsverbrecher beruft sich der ehemalige Gauleiter und Herausgeber der antisemitischen Hetzschrift „Der Stürmer“ Julius Streicher, bei seiner Verteidigung auch auf die antijüdische Schrift Luthers „Von den Juden und ihren Lügen“ und erklärt dazu: „Genau das haben wir getan!“

 

Nach dem Neubeginn des jüdischen Gemeindelebens in Deutschland wird 1950 der „Zentralrat der Juden in Deutschland“ gegründet. Jüdische Zentren entstehen wieder in Berlin und in anderen deutschen Städten.

Der christliche Zionist Pierre van Paaschen veröffentlicht „Jewish Calling“ (Jüdischer Ruf), worin er die Totenklage Rahels wie folgt wiederholt: „Wenn Israel stirbt, wird Deine Thora leer und wertlos werden. Die Welt wird nicht erlöst werden. Wenn Israel ausgewischt wird, so wirst Du nicht länger der Heilige Israels sein.“

 

In einer feierlichen Sitzung gibt der Deutsche Bundestag 1951 sein tiefes Bedauern über den Völkermord an den Juden in der NS-Diktatur zum Ausdruck. Ein „Wiedergutmachungsabkommen“ zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel wird 1953 geschlossen.

Im Jahre 1965 erfolgt die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel. Willy Brandt weilt 1971 als erster Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland zu einem offiziellen Besuch in Israel. Im Jahr 1975 beginnen Städtepartnerschaften zwischen der Bundesrepublik und Israel.

Im Jahr 1979 wird die„Hochschule für jüdische Studien“ in Heidelberg gegründet. Das „Zentrum für Antisemitismusforschung“ wird 1982 in Berlin gegründet. Yitzhak Rabin kommt 1975 als erster israelischer Ministerpräsident zu einem offiziellen Besuch in der Bundesrepublik Deutschland.

(Weitere Ausführungen zu dieser Zeit siehe unten).

 

 

 

Jüdisches Leben in Hessen

 

In unserem Lande gibt es nur sehr wenige jüdische Mitbürger. Das ist kein Wunder, wenn man bedenkt, daß durch die faschistische Barbarei sechs Millionen Juden systematisch ermordet worden sind. Was Jugendliche über Juden wissen, haben sie im Geschichtsunterricht oder vielleicht in der kirchlichen Unterweisung gehört, durch die Medien erfahren und von Eltern bzw. Großeltern erzählt bekommen. Trotz allem wissen Jugendliche eigentlich wenig über das Leben der Juden in Deutschland.

Wer weiß schon, daß von den 170 bis zum Jahr 1933 mit dem Nobelpreis Ausgezeichneten zwanzig jüdischer Abstammung waren, von denen fünfzehn in Deutschland ihre Heimat hatten? Wem ist heute bewußt, daß solche überragenden Persönlichkeiten wie Albert Einstein, Max Born, Karl Marx, Rosa Luxemburg, Kurt Tucholsky, Alfred Döblin, Else Lasker-Schüler, Jacques Offenbach, Kurt Weill, Max Reinhardt und Fritz Kortner im Sinne der faschistischen Rassendoktrin Juden waren?

Nichts ist mehr, wie es einmal war. In Hessen gab es während der ersten Jahrzehnte des mittlerweile vorigen Jahrhun­derts rund 350 Jüdische Gemeinden. Heu­te sind es gerade mal zehn. Verschwunden, nein: zerstört und ver­nichtet, sind Men­schen und Gotteshäu­ser. Was oftmals und vielerorts geblieben ist, sind allmählich verblassende Erinne­rungen. Nicht selten auch verdrängte Erin­nerungen.

Jüdisches Leben und seine religiösen Er­fordernisse sind hier zu Lande nur unzu­reichend ins alltägliche Bewußtsein zurückgekehrt. Auch im Jahr 2002 ist ein Tag der jüdischen Kultur noch immer und vor allem ein Blick zurück, eine Erinne­rung an jüdisches Leben, wie es früher einmal existiert hat, vor der Nazi-Zeit, frü­her, als alles noch besser war, als jüdisches Leben aus sich heraus zu existieren ver­mochte, und nicht angewiesen war auf die lebenserhaltenden Vitalspritzen der öffent­lichen Hand.

 

Landjuden:

Bis in die Fünfziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts lebten rund achtzig Prozent der Juden in Hessen auf dem Land. Ihre Präsenz in den Kleinstädten und Dörfern dauerte oft viele hundert Jahre an, und in manchen Ortschaften wie Marburg an der Lahn, Münzenberg oder Friedberg waren Juden schon über sieben Jahrhunderte ansässig. Nach ihrer Vertreibung aus den oberhessischen Städten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts hatten sich viele Flüchtlinge - der Not gehorchend - auf dem Lande niedergelassen. Auch waren die Zuzugs- und Schutzgelder in den Dörfern geringer als in den Städten.

Dennoch wurde den Juden die Existenz immer schwer gemacht: Landwirtschaft durften Angehörige des jüdischen Volkes nicht betreiben, weil es ihnen untersagt war, liegende Güter zu erwerben, und von den Handwerken waren sie ohnehin ausgeschlossen - nur auf den Viehhandel und das ambulante Gewerbe erhob keine Zunft einen Anspruch. So blieb ihnen meist nichts anders übrig, als ihren Unterhalt im Handelsgeschäft zu suchen. Viele Juden wurden sehr schnell die Bankiers der häufig verschuldeten Bauern.

In der christlichen Umgebung und von dieser zumindest geduldet, prägten die jüdischen Mitbürger auf ihre Art den kleinstädtischen und dörflichen Alltag. Das begrenzte Tätigkeitsfeld bot den Landjuden dabei zwei wichtige Vorteile, die ihnen das Berufsleben erleichterten: Zum einen konnten sie durch die ständige Mobilität auch entlegenste Ortschaften mit Waren beliefern - wobei sie nicht selten für die Ortsbewohner die einzige regelmäßige Verbindung zur Außenwelt darstellten. Zum anderen war es das im Judentum übliche innige Zusammengehörigkeitsgefühl der Familienmitglieder, das ihnen weitreichende Geschäftsverbindungen ermöglichte.

Die hessischen Juden waren ungewöhnlich bodenständig und trotz ihrer größeren Mobilität fest mit ihrer Heimat verwurzelt. Allerdings waren sie in den Kleinstädten und auf dem Lande der oft feindseligen Haltung der christlichen Bevölkerung viel unmittelbarer und direkter ausgesetzt als in den Städten.

 

Denkmalpflege:

Der Volksmund behauptet gar: „Die Zeit heilt alle Wunden“. Aber: Das tut sie nicht! Jedenfalls nicht in so banaler Direktheit. Es handelt sich bei diesem alten Sprichwort wohl eher um eine Metapher, die beschreibt, daß wir uns im Lauf der Zeit bisweilen weniger schmerzhaft an die Vergangenheit erinnern. Die Wunden selbst sind Teil unserer Existenz, ihre Narben, ihre Prägungen bleiben.

Die Vergangenheit gegenwärtig zu halten: das ist Auftrag der Denkmalpflege. Sie versucht, „Kulturdenkmäler als Quellen und Zeugnisse menschlicher Geschichte und Entwicklung nach Maßgabe der Gesetze zu schützen und zu erhalten“. Gerade die Zeugnisse jüdischen Lebens sind zweifelsohne konstante Bestandteile unserer Geschichte. Der „Tag des offenen Denkmals in Hessen“, der das jüdische Leben in diesem Jahr zum Leitthema gewählt hat, wird mit der reichen Anzahl der Kulturdenkmäler, mit der wir die Besucher bekannt machen wollen, aber auch das gegenwärtige, vitale jüdische Leben herausheben.

Es reizt sehr, daran zu erinnern, wie sehr schon die jüdische Sprachkultur in die deutsche Sprache hineingewirkt hat. Wer denkt im alltäglichen Umgang beim Gebrauch von Worten wie „Pleite, Tinnef, Chuzpe oder Tacheles“ noch an die jiddischen Ursprünge? Das Bedürfnis der nicht in Israel lebenden Juden nach ganz eigenen Ausdrucksmitteln jüdischen Lebens geht einher mit der Faszination für eine Sprache, der besondere Innigkeit und Witz zugeschrieben werden. Wie Klezmermusik stößt diese freundliche, innigliche Sprache auch beim nichtjüdischen Publikum auf deutliches Interesse. Das aber trifft unübersehbar auch auf die große Anzahl der Kulturdenkmäler zu. Die Dokumente des jüdischen Sakral- und Ritualbauwesens und der profanen Baukultur, die wir am 1. September 2002 gemeinsam mit dem „Landesverband der Jüdischen Gemeinden in Hessen“ und den politischen Gemeinden für sie öffnen werden, sind mehr als einen Besuch wert.

Besonders reizvoll ist es, daß viele dieser Denkmäler heute mit neuem geistlichem Leben gefüllt werden. Viele jüdische Gemeinden, die Ende der achtziger Jahre hier zu Lande vom Aussterben bedroht schienen, haben wieder reichen Zulauf. Auch wenn die Situation der Nachkriegssynagogen für die winzigen, meist mittellosen Gemeinden in Deutschland meist sehr prekär war, entstanden auch in Hessen bemerkenswerte Neubauten. Wir stellen Ihnen mehrere Synagogenneubauten in Offenbach, Wiesbaden, Kassel, Darmstadt und Frankfurt vor. Keineswegs geringer zu achten sind auch die ehemaligen Synagogen in Dörfern und Kleinstädten, die in nicht wenigen Fällen im November 1938 schmählich geschändet, aber nicht niedergebrannt wurden. Die Friedhöfe mit ihren hebräischen Grabinschriften sind heute meist die einzigen noch wahrgenommenen Zeugnisse des „alten“ Judentums: Jüdische Grabstätten werden für die Ewigkeit angelegt, sie sollen und dürfen nicht beseitigt werden.

Das großzügige Mäzenatentum vieler zu Wohlstand gekommener, jüdischer Familien und Unternehmer hat in Hessen einige großartige bauliche Zeugnisse des jüdischen Lebens hervorgebracht, in denen viel von der großen, alten Kultur des Volkes Israel deutlich wird. Tauchen Sie ein in eine faszinierende, Jahrtausende alte Tradition.

Leider sieht man sehr genau, daß nach 1945 die baulichen Reste des jüdischen Lebens entweder vernachlässigt und dem Verfall überlassen oder derartig umgebaut wurden, daß ein Erkennen des einstigen Baubestandes und der ursprünglichen kultischen Nutzung kaum mehr möglich ist. Vielerorts haben sich glücklicherweise in den letzten Jahrzehnten Ortsansässige energisch an der Zukunft eines ehemaligen Synagogengebäudes interessiert gezeigt und die Kommunen veranlaßt, Mittel für Renovierungen bereit zu stellen und neue, würdige Nutzungen der jüdischen Kultstätten in ihre Stadtplanungen und Dorferneuerungsprojekte einzubeziehen. An den Instandsetzungsprozessen und den neuen Nutzungskonzeptionen ehemaliger Landsynagogen mitsamt der einstigen Schulgebäude (die meist auch ein Ritualbad umfaßten, wie zum Beispiel in Pfungstadt, Roth bei Weimar, Vöhl, Romrod und Harmuthsachsen) zeigte sich eine große öffentliche Anteilnahme und deutliche Identifizierung der Ortsbewohner mit den Maßnahmen. Besonders erfreulich ist es, daß gerade junge Menschen, denen ihr Abstand zu den beschämenden Phasen deutscher Geschichte einen vorurteilsfreien Zugang gewährt, sich des baulichen Erbes der verschwundenen Landjuden annehmen.

Am überreichen Angebot der am 1. September geöffneten Stätten, das naturgemäß auch die vielen Friedhöfe mit einschließt, die das einstige jüdische Leben im ländlichen Raum hinterlassen hat, nehmen wir daher erfreut das stetig wachsende Engagement der hessischen Bevölkerung zur Kenntnis, das sich in einer großen Zahl an Fördergemeinschaften, Vereinen und Stiftungen manifestiert. Denn ohne das Zutun der Mitbürger und der Kommunalpolitik kann die Denkmalpflege ihren Auftrag nicht erfüllen.

Also ist der Tag der jüdischen Kultur vornehmlich und zwangsläufig ein Ereig­nis, das auf steinerne Zeugen mehr zurückgreifen muß denn auf lebendige. Auf die rund 350 jüdischen Friedhöfe im Lande, auf ehemalige, inzwischen zweckentfremdete Synagogen und nicht ganz zwei Handvoll noch oder wieder ihrem zugedachten Zweck dienende Gotteshäuser. Nichts macht die Situation deutlicher als die Zahl der jüdischen Friedhöfe: 350, verteilt auf das Bundesland. Überall dort, wo heute noch ein jüdischer Friedhof besteht, exis­tierte bis in die 30er Jahre auch eine Jüdi­sche Gemeinde. Von ihr ist in den meisten Fällen nichts geblieben: die Synagogen zwangsverkauft oder enteignet, zu Wohnquartieren der Arisierer, zu Werkstätten oder Ställen umgewandelt, die Menschen vertrieben, deportiert oder ermordet, sind allein die Begräbnisstätten und deren vom Regen vielfach ausgewaschene Grabsteine als (be-)greifbares Zeugnis einstiger blü­hender Existenz geblieben.

 

Zuwanderung:

Und doch gibt es da plötzlich diesen Wandel, unerwartet und unvorbereitet eingesetzt. Jüdische Gemeinden, die spürbar in die Endphase ihrer Existenz geraten wa­ren, die ausgezehrt und mittellos nach spä­testens zwei Generationen von der Karte jüdischen Lebens verschwunden gewesen wären, die in den meisten Fällen eben nichts anderes waren als die „Sheerit ha Plei­ta“, die geretteten Reste, sind urplötzlich in eine neue Wirklichkeit versetzt worden: die Zuwanderung jüdischer Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion eröffnet ihnen eine neue Chance und entwickelt sich womöglich zur alles entscheidenden Frischzellenkur für das jüdische Leben in Deutschland entwickelt.

Die Zahl der in Hessen lebenden jüdischen Menschen hat sich im Laufe von zwölf Jahren auf annähernd 13.000 verdoppelt. Diese Zahl erhält ihre Bedeutung durch die Veränderung der Situation in den Jüdischen Gemeinden, vor allem in den kleinen Gemeinden. In Frankfurt ist die Situation schon deshalb anders, weil die Mainmetropole stets eine Besonderheit unter den Jüdischen Gemeinden bildete, vor und nach der Nazi-Zeit immer die zweitgrößte nach Berlin war, mit rund 30.00 Mitgliedern vor 1933, und nur mehr 4.000 danach. Im übrigen Land Hessen indessen war der Niedergang spürbarer, denn von den zahlreichen so genannten einstigen Landgemeinden waren nicht einmal zehn wieder entstanden, zusammen nicht mehr als 1.00 Menschen.

 

Kassel:

Wie sehr hier die Zuwanderung der Emigranten eine Veränderung herbeigeführt hat, läßt sich besonders deutlich an der Jüdischen Gemeinde Kassel erkennen: in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren eine familiäre Klein-Gemeinde von nicht mehr als 70 Mitgliedern, zählt man im Raum Kassel heute mehr als 1.000 Gemeindemitglieder. Doch Zahlen sind nur die eine Seite der Medaille. Entscheidend für die Lebensfähigkeit in der Zukunft sind das Wissen um die eigene Religion, um ihre Inhalte und Traditionen, und die Bereitschaft, als selbstbewußte Angehörige einer religiösen Minderheit zu existieren. Da aber ist der Nachholbedarf gewaltig. Denn die Mehrzahl der Emigranten, die aus Rußland und der Ukraine, aus Moldawien oder dem Baltikum nach Deutschland kommen, wissen allenfalls, daß sie auf dem Papier „Ewrei“ sind, Juden.

Und sie haben die Erfahrung machen müssen, daß sie in ihrer einstigen Heimat mit dem entsprechenden Eintrag im Paß nicht gerade ein Glückslos gezogen hatten. Die praktizierte Religionsfeindlichkeit des Sowjet-Regimes, zusammen mit einem anhaltenden und von den Behörden zumindest sanktionierten Antisemitismus, wirkt nach – und auf die Jüdischen Gemeinden und ihren kleinen Kreis der zumeist ehrenamtlich Tätigen kommt unversehens eine Aufgabe zu, bei der die Unzulänglichkeit beinahe vorprogrammiert ist:

nämlich die Zuwanderer zu aktiven Mitgliedern der Gemeinden zu machen, sie von Juden auf dem Papier zu überzeugten, bewußten und mit ihrer Religion vertrauten Neu-Bürgern zu wandeln. Die Anstrengungen, die überall gemacht werden, sind beträchtlich und die Resultate – trotz allem – respektabel. Doch ohne die Hilfe von Land und Kommunen kommt bis auf weiteres keine Jüdische Gemeinde aus.

Das Land Hessen zeigt sich den Nöten der Jüdischen Gemeinden gegenüber aufgeschlossen. Aber da sind auch jene Städte, in denen sich das Verständnis auf bloße verbale Deklamationen reduziert, möglichst an den Tagen, da der brennenden Synagogen oder der Deportationen gedacht wird. Mehr ist manchmal nicht zu erwarten. Wenn es um Jüdische Gemeinden geht, sprechen Politiker gern von Normalisierung, und sie meinen damit: Schluß mit den „besonderen Beziehungen“. So wie jener Stadtverordnete, der wohl nur zufällig der FDP angehörte, es im Vorfeld des vorwiegend städtisch finanzierten Synagogenbaus in Darmstadt vor rund 15 Jahren gesagt hatte: „Dem Projekt stimmen wir zu – aber dann, bitteschön, wollen wir Normalisierung.“

 

Offenbach:

Ein großer Teil der Mitglieder der Gemeinde in Offenbach stammt inzwischen aus diversen Staaten der ehemaligen Sowjetunion. „Das macht sich kulturell und auch im religiösen Leben bemerkbar“, sagt Jacob Keren-Weinberger, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Offenbach. Die Sprachprobleme führten zu „großen Differenzen“. Außer beim Beten, das traditionell in Hebräisch geschieht, herrsche Zweisprachigkeit. Für Rundbriefe und andere wichtigen Informationen hat die Gemeinde einen Übersetzter angestellt. Und auch der Rabbi kann Russisch.

Nur wer dieselbe Sprache spricht, versteht sich. Keren-Weinberger formuliert es so: „Die Gemeindemitglieder sind noch ein bißchen fremd zueinander. Sie sind noch nicht so weit, daß sie sich als Einheit fühlen.“ Die Gemeinde bemühe sich, das Zusammengehörigkeitgefühl zu fördern - durch Deutschkurse, aber auch mit Unterstützung bei Behördengängen oder der Wohnungssuche.

Die jüdische Gemeinde in Frankfurt hat ebenfalls ihre Hilfsangebote erweitert. Ihre Sozialabteilung mit Krankenschwester, Sozialarbeiter und Verwaltungsangestellte wurde „seit der Zuwanderung sukzessive vergrößert“, sagt Direktor Stefan Szajak. Für viele Auswanderer sei die neue Welt im Westen „ein Schock“, den sie erst verarbeiten müßten. Deshalb habe sich die Gemeinde, die in den 90er Jahren von 4.500 Mitgliedern auf jetzt rund 7.000 wuchs, „voll auf Integration eingestellt“.

So bietet sie an ihrer Grundschule mit 300 Schülern intensiven Deutschunterricht. Auch in den beiden Kindergärten mit rund 85 Plätzen spielt die Sprachvermittlung eine wichtige Rolle. Hier wie in Kursen für Erwachsene vermittelt die Gemeinde Kenntnisse um die jüdische Religion. Denn Glaube war im Kommunismus nicht erwünscht, sagt Szajak. Auch wenn die Förderangebote die Frankfurter Gemeinde viel Geld kostet.

Für den Direktor sind die Folgen der Zuwanderung „eine sehr angenehmen Herausforderung“. Unter den neuen Glaubensbrüdern seien Musiker und Wissenschaftler, aber auch viele jüngere Menschen. Das tue einer überalterten religiösen Gemeinschaft gut: „Ohne Zuwanderung wären wir viel ärmer“, sagt Direktor Stefan Szajak.

 

Die Schulen

An hessischen Schulen soll die Geschichte der Juden in Deutschland künftig differenzierter und umfassender gelehrt werden. Kultusministerin Karin Wolff (CDU) will dazu eine neue Orientierungshilfe des Leo Baeck-Instituts bei der Reform von Lehrplänen, Schulbüchern und in der Lehrerbildung einsetzen.

Wer Schulbücher und Lehrpläne in Deutschland mit Blick auf jüdische Aspekte untersuche, komme meist zu dem gleichen Ergebnis, sagt Joachim Schulz-Hardt vom Leo Baeck-Institut: Juden erschienen ausschließlich als Opfer von Verfolgung und Holocaust. Weit gehend ausgeblendet werde dagegen „das Positive und die aktive Rolle“ der jüdischen Deutschen oder deutschen Juden in der jahrtausendealten gemeinsamen Geschichte. „Wir wollen da einen Perspektivwechsel“, sagt Schulz-Hardt.

Das Leo Baeck-Institut mit Sitzen in Jerusalem, London und New York macht sich seit 1955 die Forschung über jüdische Geschichte in deutschsprachigen Gebieten zur Aufgabe. Für die deutschen Kultusminister, die Schulverwaltungen und Lehrer hat das Institut nun eine Orientierungshilfe erarbeitet, die für ein weiteres Bild auf die gemeinsame Geschichte wirbt.

Das 20seitige Büchlein mit vielen historischen Hinweisen soll unter anderem den Blick darauf lenken, daß es schon zu römischer Zeit jüdische Siedlungen in Deutschland gab, die eine wichtige Rolle im Wirtschaftsleben und bei der Vermittlung von Wissen wie dem Import der damals vergleichsweise hoch entwickelten arabischen Medizin übernahmen. „Die ersten 1000 Jahre waren gar nicht so schlecht“, faßte Salomon Korn als Vertreter des Zentralrats der Juden in Deutschland den Beginn der gemeinsamen Geschichte zusammen. Auch in späteren Epochen sollte die deutsch jüdische Geschichte nicht nur auf Verfolgung und Unterdrückung verkürzt werden.

Das Heft des Leo Baeck-Instituts hebt etwa die Rolle einflußreicher jüdischer Denker wie Moses Mendelssohn in der Toleranz- und Emanzipationsbewegung der Aufklärungszeit heraus. Das Institut wünscht sich auch mehr Wissen über die „europäische Dimension“ der jüdischen Geschichte, etwa über die rechtliche Gleichstellung der Juden im revolutionären Frankreich von 1791 oder über die von vielen jüdischen Künstlern und Intellektuellen getragene kulturelle und wissenschaftliche Blüte der Weimarer Zeit.

„Es geht in keiner Weise darum, den Holocaust zu relativieren“, stellte Kultusministerin Karin Wolff klar, „sondern es geht um eine vielschichtigere Darstellung der deutsch-jüdischen Geschichte“. In den hessischen Lehrplänen für Gymnasien sei zwar schon einiges aus der Broschüre enthalten, aber dennoch sollen die Lehrpläne aller Schulformen jetzt noch einmal auf die umfassende Darstellung der deutsch-jüdischen Geschichte überprüft werden. Wolff die Broschüre nicht nur den Verantwortlichen für die Schulbuch-Gestaltung und die Lehrerfortbildung nahe legen, sondern auch ihren Ministerkollegen in der bundesweiten Kultusministerkonferenz.

Der Befund ist berechtigt - das werden viele bestätigen, die mit Schülern über den Geschichtsunterricht an hessischen Schulen diskutiert haben: Der Holocaust, die Zeit des Nationalsozialismus haben dort (zu Recht) eine beherrschende Stellung, allerdings fehlt es häufig an wichtigen Zusatzinformationen. Dazu gehört auch die Geschichte der Juden in Deutschland.

Wer mehr weiß über das Zusammenleben von Christen und Juden in Mitteleuropa, über die Einflüsse jüdischer Denker und Künstler wie Mendelssohn, Börne, Heine, Einstein, Kafka oder Freud auf die deutsche Kulturgeschichte, wer einen Eindruck bekommen hat vom Leben liberaler, dem Mäzenatentum verpflichteten jüdischer Großstadt-Bürger und dem Kontrast zum ebenfalls gelebten orthodoxen, strenggläubigen Judentum, der kann vermutlich auch erst die Dimension des Holocausts richtig erfassen.

Es ist deshalb zu begrüßen, wenn Kultusministerin Wolff die Lehrpläne auf eine umfassendere Darstellung deutsch-jüdischer Geschichte überprüfen will. Im Umgang mit Religionen und Kulturen, die das Leben in Deutschland (mit-)prägten und prägen, hat die Schule in Hessen allerdings noch weiteren Nachholbedarf So kann Wolff bis heute kein überzeugendes Konzept für den nicht nur von islamischen Gemeinden eingeforderten eigenen Religionsunterricht vorlegen. Vieles spricht da für die Einführung eines religionskundlichen Unterrichts, in dem die Schüler aller Konfessionen gemeinsam lernen, welche Geschichte und gemeinsamen Wurzeln ihre Glaubensrichtungen haben.

An uns ist es, Wege der Versöhnung mit unseren jüdischen Schwestern und Brüdern zu suchen und zu praktizieren. Die Pflege von Gräbern auf jüdischen Friedhöfen ist eine praktische Möglichkeit. Zeichen der Versöhnung zu setzen. Junge Christen übernehmen diese Grabpflegearbeiten in dem Bewußtsein, daß die Kinder und Enkel der hier Beerdigten der Pflege der Gräber nicht nachkommen können, weil sie den schrecklichen Massenmord an den jüdischen Mitbürgern im Dritten Reich nicht überlebten oder ins Ausland emigrierten und heute dort leben. Auf dem Gedenkstein des jüdischen Friedhofes in der Schönhauser Allee in Berlin können wir lesen: „Hier stehst Du schweigend / Doch wenn Du Dich wendest, schweige nicht“. Diese Worte sind Mahnung und gleichzeitig Verpflichtung für uns.

 

 

Geschichte der Juden im Kreis Hanau

 

Das Rhein-Main-Gebiet zählt zu den Gegenden in Deutschland, in denen schon früh jüdische Bürger nachzuweisen sind. Aus Frankfurt am Main ist überliefert, daß schon zur Zeit Karls des Großen dort Juden ansässig gewesen sind. Gleichzeitig mit den ersten gesicherten Nachrichten über das Vorhandensein jüdischer Bürger wird auch von deren Verfolgung und Ausweisung berichtet. So wurden regelmäßig vor den Kreuzzügen die Juden von den Volkshaufen, die den Ritterheeren vorauseilten, niedergemacht.

Als es 1349 eine Pestepidemie in Europa gibt, sind angeblich die Juden daran schuld. Sie werden ermordet oder vertrieben. Teilweise gehen sie nach Polen („Askenazim“), teilweise nach Spanien („Sephardim“) und von dort nach Amerika. Im Rhein-Main-Gebiet werden die jüdischen Gemeinden fast ausgelöscht. Auch aus den hanauischen Orten werden sie vertrieben oder zum Teil sogar erschlagen.

 

Durch die „Goldene Bulle“ Kaiser Karls IV. aus dem Jahre 1356 wird die gesamte „Judenschaft“ den Fürsten unterstellt. Die Landesherren brauchen die Juden, um Bankgeschäfte mit ihnen zu machen. Sie schützen die geschäftlichen Unternehmungen der Juden. Aber dafür müssen diese auch eine besondere Steuer zahlen. Als sogenannte „Schutzjuden“ sind sie für die Herrschaft eine gute Einnahmequelle.

 

Dennoch verbietet Landgraf Philipp 1524 die Juden in seiner Herrschaft. Aus Hanau werden sie 1590 vertrieben. Aber es gibt auch immer wieder Zeiten der Duldung und des Zuzugs. Im 16. Jahrhundert wird ihnen der Handel in den Orten verboten, wo es Zünfte gibt. So müssen sie auf die Dörfer ziehen, wo sie hauptsächlich Viehhandel treiben.

Juden gibt es vor allem in Niederrodenbach, Kesselstadt, Hochstadt, Ostheim und Marköbel. In Hochstadt werden Juden zum ersten Mal 1585 erwähnt: Es gibt vier Familien, die „Statutengeld“ bezahlen müssen.

Mit dem Viehhandel ist oft verbunden der Beruf des Metzgers. Aber es gibt auch viele jüdische Bäcker, weil eigene Metzger und Bäcker die Zubereitung der Speisen nach den religiösen Vorschriften garantierten („koschere Speisen“). Die Juden sind aber auch Geldverleiher und Hausierer, zum Teil haben sie dann auch Manufaktur- und Kolonialwarengeschäfte. Wenn sie dadurch zum Teil zu einem gewissen Wohlstand kommen, ruft das den Haß der anderen Einwohner hervor: Man ist auf sie angewiesen, aber man haßt sie doch.

Zunächst sind dafür nur wirtschaftliche Gründe maßgebend. Erst Mitte des 16. Jahrhunderts kommt religiöse Unduldsamkeit dazu: Jetzt sind die Juden auf einmal die Christusmörder, die man im Namen Gottes bestrafen muß.

 

Man nimmt ihnen übel, daß sie sich nicht voll und ganz in das dörfliche Leben einfügen, sondern beim Glauben ihrer Väter bleiben. So sind die Juden vielfach die Prügelknaben, die für jedes Unglück herhalten müssen.

Nach 1550 finden sich in manchen Orten der Ämter Windecken und Büchertal sämtliche Einwohner im Schuldbuch der Juden, vom Pfarrer und Schultheißen bis zum Torwächter und Hirten.

Am 24. April 1587 heißt es in einer Bittschrift der Ämter Büchertal und Windecken: „Die Juden warten, bis der arme Mann in Not ist, und bieten ihm dann an, ihm Geld zu leihen. Dabei wird sofort der Zins abgefordert, aber am Ende des Jahres wird noch einmal Zins gefordert. Oft kommen die Juden schon bei der Ernte ins Haus, um von Frucht und Wein einen Teil zu erhalten. Oft nehmen sie mehr als doppelten Wucher!“

Dann führt die Bittschrift Beispiele an: „Die Juden kaufen im Frühjahr magere Rinder, geben sie zum Mästen an die Bauern für die Hälfte, nehmen aber beim Schlachten die besten und größten Teile.

Sie leihen fünf oder sechs Gulden auf eine Kuh, nehmen davon einen Taler Zins und etliche Butter; wenn die Kuh geschlachtet wird, nehmen sie die Haut und die beiden Vorderviertel; stirbt die Kuh aber, muß das Geld zurückerstattet werden. Sie verspotten die Einwohner im Amt Büchertal, die der Herrschaft Frondienste leisten müssen!“

Deshalb verlangt die Bittschrift, die Herrschaft möge darauf wirken, „solch gottlos räuberisch unbarmherzig und hundnackent Volk abzuschaffen“. An sich sind fünf Prozent Zinsen („Wucher“) erlaubt, auch zehn Prozent werden noch geduldet. Die Juden aber nehmen bis zu 25 Prozent. So hat im Jahre 1614 der Jude Schlomann 25 Gulden Zinsen für ein Darlehen von 100 Gulden genommen. Das läßt dann den Haß entstehen.

Allerdings muß man bedenken, daß die Schutzbriefe nur für drei Jahre galten und das Geld verloren war, wenn der Schutzbrief nicht erneuert wurde. Deshalb mußten die Juden sich höher absichern bei den Zinsen. Und schließlich waren es auch ebenso Nichtjuden, bei denen die Bevölkerung verschuldet war (vgl. das Schuldbuch der Familie Puth).

Von den 98 Familien, die 1588 in Hochstadt wohnen, sind 84 mit 1.437 Gulden bei Juden verschuldet. Das sind immerhin 85 Prozent der Bevölkerung (in Roßdorf, Rüdigheim und Ostheim sind es 100 Prozent) Der Jude Isaak hat 5 Schuldner in Dörnigheim, 24 in Hochstadt, 14 in Wachenbuchen, 6 in Mittelbuchen und 4 in Oberdorfelden, insgesamt 53. Der Jude Heli hat 49 Schuldner, der Jude Meir hat 13 Schuldner und der Jude Mosche sogar 114, davon 54 in Hochstadt. Manche Juden tun sich bei Geldgeschäften auch zusammen, so Mosche und Isaak aus Hochstadt mit Abraham aus Heusenstamm.

Am 24. September 1591 erfolgt noch einmal werden eine ausweisung der Juden aus der Herrschaft. In Hochstadt zahlen sie aber auch nach 1592 noch Steuern, sind also nicht alle fortgezogen. Am 23. Februar 1601 wird sogar dem Juden Salmone von der Kanzlei in Hanau erlaubt, in Hochstadt zu wohnen. Er mietet auf zwei Jahre eine halbe Hofraithe.

Der Jude Mosche klagt 1601 vor dem Dorfgericht seine Schulden ein. Meist sind es kleine Beträge, für die aber dennoch immer ein Bürge gestellt werden muß, der dann auch oft zur Zahlung verpflichtet wird. Am 7. April 1602 klagt Mosche den Einwohner Philipp Roth an, der ihm für zwei verkaufte Rinder noch zehn Gulden schuldig ist, obwohl er sie schon mit sieben Gulden Gewinn weiterverkauft hat.

Im gleichen Jahr wird erwähnt, daß Heim Judt und Abraham Judt in Hochstadt Wein liegen haben. Doch das folgende Jahr muß sehr böse gewesen sein, denn viele können nicht zahlen; unter den Gläubigern aber sind wiederum viele Juden.

 

Im Jahre 1603 holt Graf Philip Ludwig II. nach Niederländern und Wallonen auch wohlhabende Juden nach Hanau. Ein Grund für ihn ist: Die Einwohner sollen nun nicht mehr nach Frankfurt gehen, um ihre Bankgeschäfte zu tätigen.

So wird die Judengemeinde in Hanau wiederhergestellt. Man überwölbt den alten Stadtgraben und baut dort eine Judengasse (heute: Nordstraße). Es werden Judenbäder für rituelle Waschungen eingerichtet. Am 15. März 1608 wird durch Kaiser Rudolf die Errichtung eines Gotteshauses bestätigt. Noch im gleichen Jahr wird die „Judenschule“ mit einem Raum für gottesdienstliche Zwecke in der Judengasse erbaut. Das ist der Anfang der jüdischen Gemeinde in Hanau.

An Feiertagen wird die Judengasse zugesperrt: an Samstagen wegen der Juden und an Sonntagen wegen der Christen. So hält man die Bevölkerungsteile auseinander und ermöglicht somit doch ein gewisses Zusammenleben.

Die Verwaltung der jüdischen Gemeinde erfolgt in Hanau durch den Amtmann des Büchertals, zu dem auch Hochstadt gehört. In Hochstadt beklagen sich die Juden zu dieser Zeit über eine große Feindschaft gegenüber den Juden.

 

Um 1795 ist eine böse Hungerzeit und große Teuerung. Die Juden kaufen Getreide auf und treiben Wucher. Da wird ihnen der Getreidehandel verboten: Sie dürfen nur für den eigenen Gebrauch kaufen. Alles bei Juden gefundene Getreide soll sofort eingezogen werden, wobei der Anzeigende unter Geheimhaltung seines Namens ein Drittel der beschlagnahmten Menge bekommen soll. Im Übertretungsfall soll dem Juden auch der Schutzbrief entzogen werden.

 

Zur Zeit Napoleons wird die Rechtsgleichheit eingeführt: Die Männer müssen nicht mehr die gelben Ringe auf dem Mantel tragen, der Schleier für die Frauen wird abgeschafft und der Leibzoll (Gebühr beim Überschreiten der Grenze) aufgehoben. Es kommt zur „Emanzipation“ der Juden. Sie dürfen jetzt Handwerksberufe ergreifen. Die Absperrungen an der Judengasse in Hanau werden 1806 abgerissen.

Die Juden erhalten jetzt auch einen Familiennamen, der vererbt wird. Sie können allerdings ihren Namen frei wählen, die „typisch jüdischen Namen“ werden den Juden nur in Österreich-Ungarn von übelwollenden Beamten aufgezwungen.

 

In Hanau gibt es um 1820 bei einer Einwohnerzahl von etwa 20.000 Menschen etwa fünf Prozent Juden. Viele ziehen in eine Wohnung außerhalb der Judengasse und richten sich Geschäfte ein. Dabei lösen sich viele auch von der Religion der Väter und haben nun auch am Samstag ihr Geschäft offen. Bei einer Beerdigung im Jahre 1891 werden erstmals nicht mehr Steine, sondern Blumen verwandt.

Personenstandsregister werden ab 1823 eingeführt. Die rechtliche Gleichstellung der Juden erfolgt 1869, die gesellschaftliche dauert länger. Das kann man z.B. sehen an der Aufnahme von Juden in die Vereine.

 

Das Ortsbürgerrecht erreichen die Juden erst mit der Zeit. Zunächst sind sie meist „Schutzjuden“. Nur Abraham Stern aus Bischofsheim ist bei der Hochzeit 1835 Ortsbürger, auch der Vater Abraham Stern war schon Ortsbürger. Auch David Straus aus Dörnigheim ist bei seinem Tod 1835 Ortsbürger (vorher Schutzjude). Süßel Stiebel aus Hochstadt wird 1850 erstmals als Bürger bezeichnet. Als Beisasse („Beisitzer“) wird erstmals Isaac Sichel aus Hochstadt im Jahre 1851 erwähnt. Auch Samuel Straus aus Hochstadt wird bei der zweiten Heirat 1852 als Beisasse bezeichnet. Moses Blum aus Dörnigheim ist 1828 Schutzjude, aber 1852 Ortsbürger. Herz Steigerwald aus Dörnigheim, verheiratet 1864, ist zunächst Beisasse, ab 1870 Ortsbürger. Ab 1870 ist der Bürgerstatus im Register nicht mehr angegeben, also war es unstrittig, daß die Juden auch Bürger sind.

 

Als Beruf der Juden wird meist Handelsmann angegeben. Den Juden war ja der Zugang zu den traditionellen Handwerken verwehrt. Deshalb blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich auf den Handel und die Geldwirtschaft zu verlegen. Doch unter „Handel“ darf man sich vor allem Viehhändler vorstellen und vielleicht noch Stoffhändler („Ellenwaren“) und Altwarensammler. Jakob Schönfeld aus Wachenbuchen ist bei der Hochzeit 1837 „Lumpensammler“, später aber Handelsmann. Und ein anderer Jakob Schönfeld aus Wachenbuchen, verheiratet 1835, wird bei der Hochzeit 1835 als „Viehhändler“ bezeichnet, später aber als „Handelsmann“. Nathan Stern aus Hochstadt erscheint zunächst als Viehhändler, wird aber 1868 als „Metzger und Handelsmann“ bezeichnet.

Der erste Handwerker ist Salomon Stern aus Bischofsheim, geboren 1800, der Schneider ist.

Im Jahre 1842 erwähnt wird der Schuhmacher Salomon Steigerwald aus Dörnigheim. Salomon Wolf Levi ist bei seinem Tod 1843 Brillenhändler. Schuhmacher sind Kaufmann Stern aus Bischofsheim im Jahre 1846 und Salomon Steigerwald aus Dörnigheim im Jahre 1857. Moses Steigerwald aus Dörnigheim ist bei seinem Tod 1848 Schneiderlehrling. Johannette Moses stirbt 1857 im Alter von 54 Jahren als Dienstmagd in Frankfurt.

Babet Heinemann aus Dörnigheim ist 1842 Tagelöhnerin. Der Beruf „Arbeiter“ taucht erstmals 1870 bei der Hochzeit von Wolf Steigerwald in Dörnigheim auf.

Die Familie „Heinemann“ aus Dörnigheim ist offenbar sehr arm: Eine Witwe hat ein uneheliches Kind und eine Rös Heinemann ist auch ledig und unbemittelt und hat ein Kind. Auch eine Sophie Heinemann hat fünf uneheliche Kinder.

Der Beruf „Goldarbeiter“ taucht 1871 zweimal in Wachenbuchen auf. Salomon Stern aus Bischofsheim ist zunächst Metzger, dann Kaufmann und 1887 Gastwirt in der Obergasse 104 (alte Nummer).

Die Juden sind in der Dorfgemeinschaft wohl gelitten. Für die Landwirte sind sie als Vieh­händler und Metzger lebensnotwendig. Vergiftet wird das Verhältnis mit der Zeit aber durch den aufkommenden Antisemitismus, eine Judenfeindschaft, die es auch schon vor den Nationalsozialisten gibt. Mancher Bauer fühlt sich beim Kauf einer Kuh oder bei den Kreditbedingungen übervorteilt. Dieser Haß wird politisch durch die Antisemiten geschürt.

Wurden die Juden anfangs in bestimmte Berufe gedrängt, so übernehmen sie jetzt die Berufe der Vorfahren. Daß es dabei auch zu unangenehmen Erscheinungen wie Betrug und Wucher kommt, ist nicht auszuschließen. Auch Juden haben menschliche Seiten wie andere Menschen. Aber das rechtfertigt nicht Haß und Verfolgung und Mord, wie sie später geschehen sind.

 

Hochzeiten werden wohl vorwiegend in der Synagoge in Hochstadt gehalten worden sein, ab 1852 auch in der Synagoge in Wachenbuchen. In Hochstadt eingetragene Hochzeiten können im Prinzip aber auch auf den Außenorten stattgefunden haben. Die Hochzeit Kahn/Wolf ist am 27. August 1854 in Dörnigheim. Ab 1850 werden die Hochzeiten öfters in Hanau vollzogen, aber gelegentlich auch in Dörnigheim. Im Jahre 1856 findet eine Hochzeit, bei der der Bräutigam aus Wachenbuchen ist, in Wilhelmsbad statt.

Im Standesamtsregister werden meist die Trauzeugen mit angegeben. Zunächst ist einer der Zeugen immer der jüdische Lehrer Kraus, der zweite Zeuge ist aber gelegentlich auch ein Nicht-Jude und 1894 sind es in einem Fall sogar zwei Nichtjuden. In Dörnigheim sind bei der Hochzeit des Lehrers Abraham Nußbaum 1892 erstmals Nicht-Juden die Trauzeugen.

Die Ehepartner kommen außer aus den heutigen Maintaler Dörfern auch aus: Bergen, Rendel, Windecken, Erbstadt, Nie­der­ursel, Obereschbach, Kronberg, Friedberg, Leun, Wetzlar, Kirchberg (bei Gießen), Nieder-Florstadt, Glauberg, Rohrbach, Nidda (Wetterau), Wohnbach (Kreis Hungen), Büdingen, Himbach, Vilbel, Gettenbach, Oberseemen, Crainfeld (Vogelsbergkreis), Lichenroth, Fritzlar, Neukirchen (Knüll), Ronshausen, Reichensachsen (Werra-Meißner-Kreis). Wehrda (Kreis Hünfeld), Heringen (Werra), Holten (Nordrhein-Westfalen), Urspringen (bayerische Rhön), Altengronau, Orb, Roth (bei Gelnhausen), Rothenbergen, Meerholz, Somborn, Rückingen, Langendiebach, Kleinauheim, Großkrotzenburg, Alzenau, Schöllkrippen, Seligenstadt, Großostheim, Kleinostheim, Goldbach (bei Aschaffenburg), Thüngen (Main-Spessart), Haßfurt, Heidenfeld (bei Schweinfurt), Landeshausen (bei Hof),

Burgpreppach (Bayern), Dettelbach (Bayern), Steinbach (bei Lohr), Bingen, Maltsch Amt Ellingen (Bayern), Dietesheim, Bürgel (bei Offenbach), Rüsselsheim, Reichelsheim im Odenwald, Homburg (Pfalz/Saar), Külsheim (Baden-Württemberg), Nagelsberg (Württemberg), Haydn-Vanas (Ungarn), Lissa (Polen).

 

Die Beerdigungen finden längst nicht alle auf dem Hanauer Friedhof statt. Also müssen viele Tote in Hochstadt begraben worden sein (allein schon die vielen verstorbenen Kinder)

Der Friedhof lag südlich der heutigen Ringstraße, östlich der Brunnenstraße. Diesen hat man wahrscheinlich aufgegeben, als 1841 ein Friedhof angelegt wurde, der nicht bei der Kirche lag. Im Sterberegister befinden sich auf Blatt 111 mehrere Stempelabdrucke „Israelitische Gemeinde Hochstadt“ auf einer Karte „Herzlichen Glückwunsch, Levi Zimmermann und Familie, Ober-Seemen“. Das Landratsamt prüft das Sterberegister erstmals am 4. Juli 1853.

Ab 1860 wird im Sterberegister öfter vermerkt, welcher Arzt den Verstorbenen behandelt hat. Hochstadt hatte damals noch keinen Arzt, Hanau um so mehr. Es werden genannt Dr. Benjamin (Hanau), Dr. Dreier (Rumpenheim), Sanitätsrat Dr. Theobald (Bergen), Dr. Rehn (Hanau), Dr. Hildmann, Dr. Gies (Hanau), Dr. Klein (Hanau), Dr. Noll (Hanau), Dr. Röhn (Hanau), Dr. Heß (Hanau), Dr. Möller (Hanau), Dr. Weiß (Hanau), und Dr. Credner (Hanau).

 

Juden sind auch Teilnehmer al Ersten Weltkrieg: Alfred Wolff aus Bischofsheim stirbt am 3 August 1918 in Hörde als Landsturmmann im Lazarett infolge einer Kriegsverletzung. Der Bankbeamte Daniel Strauß aus Wachenbuchen, Alt Wachenbuchen 32, fällt am 31. August 1917 im Alter von 25 Jahren bei Podjeiziarki in Rußland. Joseph Schönfeld, Alt Wachenbuchen 37, stirbt am 14. Juli 1918 im Alter von 37 Jahren im Reservelazarett in Northeim (bei Hannover).

 

Nazizeit:

Der Antisemitismus (Haß auf die Juden) hat alte Wurzeln. Seit der Vertreibung aus ihrem Heimatland wurden die Juden überall in der Welt verfolgt, wohl meist aus ganz unerfindlichen Gründen, weil irgendeine Minderheit als Sündenbock herhalten mußte.

In den zwanziger Jahren gab es in Deutschland Bauernzeitungen, die nannten sich offen „antisemitisch“. Dabei ging es meist um den Viehhandel, der fast ausschließlich in jüdischer Hand lag und bei dem die Bauern angeblich immer übervorteilt wurden. Typisch dafür ist eine Erzählung aus Hochstadt: ein Bauer hatte vom jüdischen Viehhändler eine Kuh gekauft. Angeblich sollte sie zehn Liter Milch am Tag geben (damals waren die Kühe vorwiegend Zugtiere und ihre Milchleistung war nicht so hoch wie heute, aber zehn Liter war doch schon sehr viel). Aber bei dem Bauern im Stall gibt die Kuh nur fünf Liter Milch. Der Bauer bringt die Kuh wieder zum Händler. Der aber behauptet weiterhin, die Kuh gebe zehn Liter. Da verlangt der Bauer, der Viehhändler solle ihm das doch einmal vormachen. Dieser holt einen Eimer, füllt fünf Liter Wasser hinein und melkt dann die Kuh. Jetzt befinden sich zehn Liter Milch im Eimer. Wenn die Geschichte vielleicht auch nicht wahr ist, so zeigt sie doch die Vorurteile der Bauern gegenüber den jüdischen Viehhändlern

Mit dem Machtantritt Hitlers im Jahre 1933 beginnt die Zeit der schlimmsten Verfolgung der Juden in ganz Deutschland und Europa. Ab 1. April 1933 kommt es zum Boykott jüdischer Geschäfte. Sehr schnell werden auch jüdische Mitglieder aus den Vereinen ausgeschlossen. Bis September 1935 kommt es aber kaum zu Auswanderungen, meist gehen nur junge Leute. Aber je eher sie gehen, desto leichter können sie sich retten.

Im Jahre 1933 gibt es in den Dörfern des heutigen Maintal etwa 150 Juden. Bei der Volkszählung am 17. Mai 1939 gibt es in Bischofsheim, Dörnigheim und Hochstadt je sechs Juden, in Wachenbuchen sind es 13, insgesamt also nur noch 31 Personen. Die meisten Juden sind aber nicht ausgewandert, sondern nach Frankfurt gezogen.

Aus persönlicher Angst wie auch aus über­zeugter Anhängerschaft der NS‑Ideologie werden die Haßtiraden und Druckmaßnahmen gegen jüdische Mitbürger von vielen Einwohnern mit­getragen. Schon am 29. März 1933 titelt der Hanauer Anzeiger: „Die Abwehr der Lügenhetze: Das Abwehrprogramm der Nationalsozialistischen Partei gegen die Greuelpropaganda im Ausland - Boykott jüdischer Geschäfte ab Samstag vorgese­hen“, womit ohne Ausreden jü­dische Gewerbetreibende in den Ruin getrieben werden sollten.

Die Viehmärkte werden von 1935 von der SA (halbmilitärische Naziorganisation) gesprengt, ab Frühjahr 1938 wird der Viehhandel „entjudet“. Die Verfolgung hängt vielfach davon ab, wie fanatisch und kämpferisch die SA am Ort ist. Und wichtig ist auch, wie der Pfarrer sich verhält.

Ab September 1935 werden die Juden durch die „Nürnberger Gesetze“ zu Bürgern zweiter Klasse gemacht. Wohlhabende Juden versuchen, zu Verwandten ins Ausland zu ziehen. Viele sind aber auch bodenständig und schicken erst einmal ihre Kinder in die USA oder nach Palästina. Andere ziehen nach Frankfurt, weil die Großstadt ein gewisses Untertauchen ermöglicht und weil es dort z.B. jüdische Schulen gibt. Mancher verkauft dabei sein Geschäft an gute Freunde, damit es nicht in die Hände der Nazis fällt.

 

Durch einen Erlaß vom 5. Oktober 1935 wird angeordnet, daß die vor den Ortsein­gängen oder Plätzen aufgestellten Tafeln mit der Inschrift „Juden unerwünscht“ aus außenpolitischen Gründen sofort zu entfernen seien. Privatpersonen und Geschäften bleibt die Anbringung solcher Schilder erlaubt. Ebenso werden alle Ein­zelaktionen gegen Juden streng verboten, antijüdische Aktionen hätten nur auf An­ordnung von Staat oder Partei zu erfolgen. Ab 1941 hatten alle Juden den gelben Judenstern mit der Aufschrift „Jude“ zu tragen.

 

Die jüdischen Geschäfte werden boykottiert, nach 1935 wird von ihnen fast gar nichts mehr verkauft. Viele Juden ziehen in die Stadt, weil man dort anonymer ist und zum Beispiel auch Schulen hat. In den Dörfern waren die Juden meist Viehhändler, Metzger, Bäcker und Textilhändler. Sie verarmen sehr schnell, weil sie von der Substanz leben müssen und ihre Kinder ins Ausland geflüchtet sind. In Frankfurt gibt es Altersheime für diese Juden. Nach 1938 allerdings gibt es keine Einreise-Visa mehr für Juden.

Am 5. August 1938 werden auf Anordnung des Landrats die jüdischen Gewerbebetriebe erfaßt. Die Gewerbetreibenden müssen mit Unterschrift bestätigen, daß sie die Benachrichtigung über die Eintragung erhalten haben (Grund der Eintragung in die Liste „Jude“):

Der Sturm auf die jüdischen Geschäfte und Synagogen im November 1938 wird in Kurhessen zunächst einmal erprobt: Kassel, Bad Hersfeld und Wachenbuchen im Kreis Hanau gehen voran. Dabei weiß man nicht so genau, ob nur aus Versehen zu früh losgeschlagen wurde oder ob wirklich eine gezielte Aktion vorlag. Gleichzeitig werden mehr als 30.000 Männer aus dem Bereich Frankfurt und Hanau vorübergehend in das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar verschleppt.

Ende 1938 und Anfang 1939 werden die Abmeldelisten länger. Es wird schwierig, das Haus zu verkaufen und Außenstände einzutreiben. Jetzt ist allen klar, daß man auswandern muß. Man stellt Kindertransporte zusammen, die vor allem nach England gehen sollen; so können noch 10.000 Kinder aus Deutschland gerettet werden. Im Frühjahr 1939 muß aller Besitz über 5.000 Mark angemeldet werden, damit er beschlagnahmt und auf ein Sicherungskonto gegeben werden kann; nur auf Antrag kann man von diesem Konto abheben.

 

Anfang 1939 wird den Juden ein zweiter Zwangsvorname gegeben: bei den Männern „Israel“ und bei den Frauen „Sara“. In den Standesamtsregister steht dann auch in den früheren Registern am Rand: „Der Nebenbezeichnete führt nach der Verordnung vom 17.8.1938 zusätzlich den Vornamen 'Israel, Hochstadt, 18. Februar 1939, Der Standesbeamte J. V. Blum.“ Diese Vermerk werden nach dem Krieg aufgrund der dritten Verordnung zum Gesetz über die Änderung der Familiennamen und Vornamen vom 5. Februar 1948 wieder gelöscht, allerdings nicht in allen Fällen, sondern wohl nur, wenn man mit diesem Eintrag zu tun hatte.

 

In Hochstadt schreibt der Bürgermeister noch vor Ende des Krieges: „Laut Verfügung der Militärregierung sind alle unter dem Naziregime erlassenen Gesetze in Bezug auf die Behandlung der Juden aufgehoben. Somit ist obiger Eintrag demgemäß gestrichen, Hochstadt, den 3.5.1945, Schäfer.“

Manchmal wird aber auch erst die Todeserklärung eingetragen wird und erst wesentlich später der Vermerk über die Änderung des Vornamens.

 

 

In der Nazizeit müssen die Juden einen zweiten Vornamen tragen. Dieser wird von Amts wegen auch noch in die alten Register eingetragen: Bei Elisa Kahn, geboren 1867, befindet sich der Vermerk: "Nach dem Gesetz vom 17.8.1938 noch den Namen Sarah." Das zeigt, daß das Register im Jahre 1938 ergänzt wurde. Bei Moses Steigerwald, geboren 1870, steht in Klammern hinter dem Vornamen noch der modernere Vorname "Moritz". Es wurde aber auch 7noch ein späterer Vermerk gemacht, der nicht dem Willen des Namensträgers entsprach: "Der Obengenannte hat gemäß Absatz 5 der Richtlinien über die Führung der Vornamen .... zusätzlich den Vornamen Israel angenommen. Hanau, den 20. Januar 1939, der mit der Bei­schreibung beauftragte Beamte Sauerland, Kreisassistent". Der gleiche Vermerk findet sich bei Berthe Goldschmidt aus Hochstadt (geboren 1870) und Babette Kaufmann aus Bischofsheim (geboren 1872) und Abraham Steigerwald aus Dörnigheim (geboren 1874). Beim Geburtseintrag der Karolina Stern aus Wachenbuchen ist sogar formuliert „auf ihre Anzeige hin“, obwohl doch alle gezwungen wurden. Bei Johanna Strauß aus Wachenbuchen heißt es: „…. hat gemäß der Richtlinien …. Den Vornamen … angenommen“).

Bei Siegfried Strauß aus Wachenbuchen steht ein Randvermerk mit Bleistift: Laut Schreiben der Geheimen Staatspolizeistelle Kassel ist der Nebenbezeichnete der Reichsangerhörigkeit verlustig erklärt worden, weil er durch sein Verhalten, das gegen die Pflicht und Treue gegen Reich und Volk verstößt, die deutschen Belange geschädigt hat. Veröffentlicht im Deutschen Reichs- und Preußischen Staatsanzeiger Nr. 137 vom 14.06.1940, Wachenbuchen, den 14.09.1940". (Ist er ins Ausland gegangen?).

 

Beim Geburtseintrag des Bernhard Linz, geboren 1895, ist vermerkt:

"Durch Verfügung des Herrn Reichsminister des Inneren vom 26.1.1939 ....wurde nebenstehendem Juden die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt. Eingetragen am 5.6.1939 durch Benachrichtigung der Geheimen Staatspolizei".

"Laut Mitteilung vom 7.2.1958 des Hauptstandesamtes Hamburg hat Bernhard Linz mit Karolina Regina Johanna Merlau mit Wirkung vom 6.10.1936 vor dem Standesbeamten in Amsterdam die Ehe geschlossen. Eingetragen auf Anordnung der Landesjustizverwaltung Hamburg vom 5.12.1957 in das Heiratsbuch Nr. 5/1958 des Hauptstandesamtes Hamburg"

(Anmerkung. Die Staatsangehörigkeit wurde wahrscheinlich aberkannt wegen der Heirat im Ausland. Die Frau gehört nicht zu der Hochstädter Familie Merlau).

Bei den Heiratseintragungen wurde in der Nazizeit in einem Fall der Vermerk über den zweiten Vornamen gemacht und 1960 wieder gelöscht, in einem anderen Fall wird er am 3.7.1945 gelöscht.

 

Einkäufe dürfen ab Anfang 1939 nur zwischen 16 und 17 Uhr und nur in zuverlässigen Geschäften getätigt werden. Radio und Schmuck müssen abgegeben werden.

 

Am 4. Februar 1939 müssen die noch vorhandenen jüdischen Einzelhändler gemeldet werden, damit sie „ausgeschaltet“ werden können.

 

Im Frühjahr 1939 muß aller Besitz über 5.000 Mark angemeldet werden, damit er beschlagnahmt und auf ein Sicherungskonto gegeben werden kann; nur auf Antrag kann man von diesem Konto abheben.

Bei der Volkszählung am 17. Mai 1939 gibt es in Bischofsheim, Dörnigheim und Hochstadt je sechs Juden, in Wachenbuchen sind es 13, insgesamt also 31 Personen (während es 1933 noch etwa 150 sind).

Einkäufe dürfen ab Anfang 1939 nur zwischen 16 und 17 Uhr und nur in zuverlässigen Geschäften getätigt werden. Radio und Schmuck müssen abgegeben werden.

 

Im Mai 1939 wird der Mieterschutz für Juden aufgehoben. In Frankfurt dürfen sie nur in bestimmte jüdische Häuser, z.B. in das Haus „Am Schützenbrunnen 13“; insgesamt sind es etwa 300 Häuser. Die Ernährungslage wird immer schwieriger, auch wenn manchmal Nachbarn mit Lebensmitteln aushelfen. Ab September 1940 gibt es keine Kleiderkarten mehr für Juden.

 

Die Personenstandsregister der jüdischen Gemeinde werden im Jahre 1939 an das Landratsamt Hanau abgegeben. Seit dem 21. Juni befinden sie sich beim Landratsamt. Von dort werden sie an das Rasse- und Siedlungsamt in Berlin geschickt.

 

Seit September 1941 muß der Judenstern getragen werden und Haustiere müssen abgegeben werden. Schließlich müssen 1942 alle überflüssigen Kleidungsstücke bei der Gestapo abgegeben werden.

 

Die Angabe „verzogen“ ist aus den Gemeindeakten aus der Nachkriegszeit, meint aber nicht einen normalen Umzug, denn die Juden wurden mit mehr oder weniger Druck vertrieben. Wahrscheinlich haben sie sich in der Anonymität der Großstadt sicherer gefühlt. Aber in Wirklichkeit ging es darum, sie zunächst in den größeren Städten zu konzentrieren, damit man sie nachher besser greifen und verschleppen konnte. Es ist nicht so, daß die Juden freiwillig Wachenbuchen verlassen hätten. Wenn noch heute gesagt wird: „Nach der Kristallnacht waren sie alle verschwunden!“ dann zeigt das nur die Angst der jüdischen Einwohner.

Ins Ausland fliehen können nur die reicheren Juden, aber auch das Ausland macht die Grenzen ziemlich dicht. Doch auch nach 1938 bleibt noch ein ganzer Teil Juden im Ort, die dann aber mit mehr oder weniger Zwang vertrieben werden.

 

Was mit dem Vermögen der Juden geschah, zeigt folgendes Beispiel: Ein Haus wird am 15. September 1937 an einen nicht-jüdischen Einwohner verkauft. Es könnte sich um einen ganz normalen Verkauf gehandelt haben, denn die bisherige Besitzerin ist weggezogen und der Sohn wohnt schon länger in Berlin. Aber die Bezahlung wird schon damals hinausgezögert: Am 14.11.1938 mahnt der Sohn, daß noch 300 Mark zu zahlen sind und die Zahlung für September und Oktober zugesagt war. Seine Mutter habe ihm eine Restforderung von 300 Mark abgetreten. Erst nach Zahlung des Betrages kann die Hypothek gelöscht werden. Diese Hypothek in Höhe von 2.400 Mark (wohl der Kaufpreis) wird dann auch am 24. Mai 1940 gelöscht.

Im Dezember 1946 wird das ganze Vermögen des Erwerbers gesperrt (wie bei allen, die nach 1933 Eigentum von Juden erworben haben). Er muß genaue Angaben über seine Vermögens­werte (auch Wertpapiere) machen und vor allem das Grundvermögen anmelden. Für den Grundbesitz ist einstweilen Miete oder Pacht zu zahlen. Er meldet das Grundstück, das auf ihn und seine verstorbene Frau eingetragen ist, auch an. Als Grund für den Erwerb gibt er an: „Wegen vorgeschrittenen Alters hat sich Frau N.N. in ein Altersheim zurückgezogen!“

Der Verkaufspreis setzt sich wie folgt zusammen: Kaufpreis 3.900 Mark, Vermittlungsgebühr für Salomon Goldschmidt 200 Mark, Grunderwerbssteuer 220 Mark, Gerichtskosten 40 Mark. Das Geld wurde bar bezahlt. Der Einheitswert von 1935 belief sich auf 4.900 Mark. Es war also noch deutlich unter dem Einheitswert verkauft worden.

Es wird schon stimmen, daß das Haus war in einem sehr schlechten, d.h. baufälligen Zustand war. Nach dem Erwerb waren auch noch 500 Mark Hauszinssteuerhypothek abzutragen. Außerdem wurden folgende Arbeiten geleistet: Bauzeichnung 38 Mark, Maurerarbeiten 980 Mark, Baumaterial 280 Mark, Entwässerungskanal 340 Mark, Tonrohre 90 Mark, Zimmer­arbeiten 400 Mark, Schreinerarbeiten (Türen, Fußböden) 600 Mark, sieben Fenster 280 Mark, Weißbinder­arbeiten 760 Mark, Herd und Kessel 100 Mark, Eigenleistung (u.a. Aushub im Keller) 300 Mark.

Am 28. März 1950 bittet die IRSO (Jewish Restitution Successor Organization) um ein Gespräch nach Frankfurt, Sandweg 7, bei dem alle Unterlagen (Kaufvertrag, Quittungen) vorgelegt werden sollen.

Am 16. März 1950 schreibt der Treuhänder Carl Göhr in Hanau an das Bürgermeisteramt, der könne die Grundsteuer für das Haus Hauptstraße 31 nicht zahlen, weil ihm die Miete in Höhe von 54 Mark monatlich nicht zugeflossen ist. Der Besitzer wird aufgefordert, das Geld auf das Treuhandkonto einzuzahlen, dann wird auch die Grundsteuer beglichen.

Am 4. Mai 1950 lehnt die IRSO das Angebot auf Zahlung von 1.000 Mark als Rückerstattung ab. Man schließt aber am 20. Juli 1950 einen Vergleich über die Zahlung eines Betrages von 3.700 Mark, der in vier Raten ab 1.September 1950 bis Dezember 1950 zu zahlen ist. Am 24. Oktober muß die IRSO aber schon zum zweiten Mal die fällige Rate anmahnen.

Der Treuhänder teilt am 17. November mit, daß die beiden Mieter die Miete an ihn entrichtet haben und das Konto einen Bestand von über 1.000 Mark hat. Am 5. Dezember wird der Rückerstattungsanspruch der IRSO ins Grundbuch eingetragen.

Am 18. Januar 1951 werden von der IRSO Vollstreckungsmaßnahmen über 3.000 Mark abgedroht. Am 16. März 1951 sind immer noch 2.000 Mark offen. Am 15. August bemängelt der Besitzer gegenüber der Hessischen Treuhandverwaltung, daß das Haus noch nicht freigegeben wurde, obwohl er schon mehr als die vereinbarten 2.000 Mark gezahlt hat, die eine Freigabe bewirken sollten. Er will weitere Erhaltungsmaßnahmen am Haus durchführen. Er spricht jetzt von einem Kaufpreis von 4.000 Mark und einer Rückerstattung von 3.000 Mark.

Am 4. Oktober 19512 teilt er der Hessischen Treuhandverwaltung mit, daß sein Sohn den Vergleich nicht angenommen habe: Man habe das Haus ja nicht unberechtigt erworben, sondern nur auf Bitten der früheren Eigentümer. Die Baupolizei drängte damals auf Beseitigung der Mängel an dem schiefen Giebel des Hauses. Deshalb habe er auf Bitten der befreundeten jüdischen Familie das Haus übernommen. Die Instandsetzung hat 1938 etwa 3.000 Mark gekostet. Der Sohn will die Einwilligung zu dem Vergleich nur geben, wenn die Rückerstattungs-Summe auf 3.000 Mark ermäßigt wird. Am Schluß schreibt der neue Besitzer: „Ich habe mir kein Gewissen zu machen, daß ich Unrecht gut zu machen habe, sondern was die IRSO von mir verlangt, ist Unrecht!“

Am 8. November 1951 lehnt die Treuhandverwaltung aber die Ermäßigung der Zahlung ab, sie ist nur zu einer Ratenzahlung bereit. Am 19. Dezember wird eine Güteverhandlung in Offenbach angesetzt. Diese hat folgendes Ergebnis: Die IRSO verzichtet auf die Rücker­stattung des Grundstücks. Die neuen Eigentümer zahlen einen Ausgleichsbetrag von 3.350 Mark. Am 27. Dezember erfolgt die letzte Zahlung. Am 5. März 1952 wird das Vermögen frei gegeben. Es wurde also auch nach dem Krieg immer noch versucht, die Zahlung hinauszuzögern und zu ermäßigen.

 

Typisch sind die Auskünfte des damaligen Bürgermeisters Wilhelm Happ, der schon vor 1933 Bürgermeister war, aber von den Nazis abgesetzt wurde, obwohl auch er Parteimitglied war. Nach dem Krieg wurde er wieder Bürgermeister, obwohl er Geschäftsführer der Ortsgruppe und Kassenleiter der NSDAP war und sich nach dem Krieg wöchentlich bei der Polizei melden mußte. In der Wiedergutmachungssache leistete er aber offenbar hinhaltenden Widerstand und machte sich keinerlei Mühe mit den Ermittlungen. Er betont auch sehr oft, daß die Juden in bescheidenen Verhältnissen lebten, und er verwendet oft Formulierungen aus der Nazizeit. In einem Fall muß er extra vom Regierungspräsidenten aufgefordert werden, sich doch mehr Mühe bei den Ermittlungen zu machen und nicht nur in die Akten zu sehen (in denen gar nichts stehen kann), sondern Zeugen zu befragen. Im Jahre 1957 verwendet er in einem Antwortschreiben an den Regierungspräsidenten das Naziwort „Schutzhaft“.

Im Jahre 1957 fragt der Regierungspräsident an nach Adolf Strauß. Er soll seit dem 10. November1938 im Konzentrationslager Buchenwald inhaftiert gewesen sein. Wichtig ist dabei, ob er über 30 Tage der Freiheit beraubt war. Der Bürgermeister antwortet aber, daß im Melderegister keine Unterlagen über eine „Schutzhaft“ (Naziwort!) vorhanden sind. Auch das Wort „Machtergreifung“ kommt bei ihm noch vor.

Der Regierungspräsident fragt aber nach, ob Erkundigungen bei Nachbarn oder anderen Personen eingezogen wurden, ob die Meldebücher vollständig vorhanden sind und ob dort in der Regel Abwesenheit im Konzentrationslager eingetragen wurde (d.h. ob es noch andere Beispiele gibt).

Daraufhin fordert der Bürgermeister den Nachbarn Heinrich Giesel auf, deswegen ins Bürgermeisteramt zu kommen. Als das nicht geschieht, schreibt er ihn noch einmal an. Giesel kommt schließlich und sagt aus, daß Adolf Strauß seinerzeit verhaftet wurde und in ein KZ gebracht wurde. Er wurde jedoch nach wenigen Tagen entlassen und ist nach Wachenbuchen zurückgekehrt. Er ist dann mit seiner Frau, zwei Töchtern und der Mutter Ende 1938, nach Amerika ausgewandert. Am 19. Dezember1938 melden sich Irma, Irene und Margot Strauss nach New York ab.

Jetzt gibt der Bürgermeister zu, daß in den polizeilichen Melderegistern Eintragungen über Schutzhaft oder Konzentrationslagerhaft grundsätzlich nicht gemacht wurden. Aber in seinem ersten Brief wollte er sich damit herausreden, daß im Melderegister nichts stehe, obwohl er doch genau wußte, daß so eine zeitweise Abwesenheit nicht eingetragen wurde.

Der Bürgermeister antwortet: Es konnte nicht ermittelt werden, daß bei dem Wegzug der Familie die Möbelstücke in Wachenbuchen verkauft wurden. Es ist anzunehmen, daß er seinen gesamten Hausrat mitgenommen hat. Herr Strauß war Viehhändler, er lebte in bescheidenen Verhältnissen. Er wohnte mit seiner Frau im Haus seiner Eltern.

 

 

Im Altkreis Hanau bleiben nur die Synagogen in Wachenbuchen (zunächst Turnhalle, Kirche, Autoreparaturwerkstatt, heute Wohnhaus), Großkrotzenburg (zeitweise Ev. Kirche) und Hüttengesäß (Privathaus) erhalten. Friedhöfe gibt es um 1850 in Langendiebach, Langenselbold, Rückingen, Großkrotzenburg und Bergen (zerstört).

 

 

Wenn die Erben die Rückerstattungsansprüche nicht rechtzeitig gestellt haben (weil sie ermordet wurden), wurde die IRSO Rechtsnachfolgerin und konnte das Grundstück vom „Deutschen Reich“ zurückverlangen und anderweitig verkaufen.

Eine besondere Frage ist die nach dem Verbleib des jüdischen Besitzes. Einigen Juden gelingt es, ihre Häuser noch vor Zwangsmaßnahmen zu verkaufen. Im anderen Fall müssen sie ihren Besitz an Treuhänder übergeben. Es wird erzählt, die Judenhäuser habe es „für einen Appel und ein Ei gegeben“ (Salzmann). Es stimmt schon, daß die Gebäude weit unter Wert verkauft wurden. Aber es war damals der verlangte Preis. Die Käufer konnten doch nicht sagen, daß sie freiwillig mehr bezahlen wollen. Es ist wohl auch nicht so, daß nur stramme Nazis ein Judenhaus hätten kaufen können.

Die heutigen Hauseigentümer versichern, sie hätten im Zuge der Wiedergutmachung noch Geld nachbezahlt. Das wird auch so gewesen sein, denn nach dem Krieg hat die jüdische Organisation IRSO all diese Fälle wieder aufgegriffen und Entschädigungen verlangt. Die Entschädigung ging also an die Organisation. Deshalb meinen manche Juden, sie hätten nach dem Krieg keine Entschädigung erhalten. Aber man kann es wohl so wie Heinrich Eckhardt aus Wachenbuchen formulieren: Alle Fragen um die Häuser und Äcker in jüdischem Besitz werden nach dem Krieg durch die Wiedergutmachung zu beidseitiger Zufriedenheit gelöst.

Aus Maintal sind heute 192 Namen von früheren jüdischen Einwohnern bekannt: 29 aus Hochstadt, 28 aus Bischofsheim, 26 aus Dörnigheim, 109 aus Wachenbuchen.

 

Charlotte Knobloch, die Präsidentin des Zentralrates der Juden in Deutschland äußerte bei ihrem Amtsantritt im Jahre 2006 die Hoffnung, daß die jüdische Gemeinde bald eine Mitgliederzahl erreichen werde, die dem Bestand von vor 1933 entspreche. In Maintal gibt es heute nur verschwindend wenige Juden und jedenfalls keine Nachkommen der früheren Einwohner mehr. Aber es ist doch tröstlich, daß eine ganze Reihe der früheren Juden im heutigen Maintal überlebt haben. Damit soll nicht gesagt sein: Es war ja alles gar nicht so schlimm! Es sind erschreckend viele Menschen umgebracht worden. Die Nazi-Verantwortlichen haben eine große Schuld auf sich geladen. Aber sie haben zum Glück doch nicht ihr Ziel erreicht, die Juden in Europa auszurotten: Die Vielzahl der Nachkommen der früheren jüdischen Einwohner ist ein starkes Zeichen gegen die Nazis. Dennoch werde ich den Verdacht nicht los, daß es immer noch einen gefühlsmäßigen Antisemitismus gibt, ähnlich wie die Ablehnung der Ausländer und speziell der Türken. Man sagt zwar: Es war falsch, was die Nazis getan haben! Aber im Stillen denkt man: Gut, daß sie es getan haben, da sind wir wenigstens die Juden los!

Gegen dieses versteckte Denken anzugehen ist heute Aufgabe aller vernünftig denkenden Menschen.

 

 

Simon Strauß zählt 29 Verwandte auf, die im Holocaust umgekommen sind, darunter acht Kinder unter 15 Jahren. Die meisten sind allerdings Verwandte seiner Mutter, die nicht in Wachenbuchen wohnten. Drei weitere Personen lassen sich nicht identifizieren (Mina und Mathilde Strauß, angeblichen die Schwestern des Vaters, und der Cousin Joseph Stern, 35 Jahre alt). Der Onkel Gustav Hess soll laut Simon Strauß im Jahre 1939 umgebracht worden sein, aber laut Heiratsvermerk beim Standesamt ist er 1936 in Frankfurt gestorben.

 

Viele Zeitzeugen erzählen, daß sie als Kinder ganz unbefangen mit den jüdischen Kindern gespielt hätten und daß es auch in der Schule keine Benachteiligungen gegeben haben. Aber plötzlich wurde ihnen in der Kinderorganisation der Nazis gesagt, die Juden seien böse. Oder die Eltern haben ihnen das Spielen mit den jüdischen Kindern verboten. Plötzlich waren die Juden die „Feinde“. Das ging dann so weit, daß sie mit Steinen auf ehemalige Spielkameraden geworfen haben. Es ist heute schwer verständlich, wie die Stimmung so leicht und so schnell umschlagen konnte.

 

Nach dem Krieg verurteilten viele, was man mit den Juden gemacht hatte. Man behauptete auch, das habe man nicht gewußt, daß die Juden umgebracht wurden. Die verbrechend er Nazis lehnte man ab. Aber im Stillen wird wohl doch mancher gedacht haben: Nur gut, daß wir keine Juden mehr haben! Der heimliche Antisemitismus war damit nicht ausgerottet, irgendwie hielt man die Ausschaltung der Juden für richtig, auch wenn man die Methoden der Nazis nicht billigte.

 

 

Typisch für die Einstellung mancher Leute in der heutigen Zeit ist das Handeln von Frau Romeiser aus Dörnigheim: Sie hat das ihr verliehene Bundesverdienstkreuz und auch das ihres verstorbenen (!) Mannes zurückgegeben, weil Michel Friedmann auch eins erhalten hat. Daß sie es zurückgegeben hat, ist aber an sich nur zu begrüßen, denn sie hat es nicht verdient. Sie ist nämlich kein Friedmann-Hasser, sondern ein Juden-Hasser. Das zeigen ihre mehrfachen Leserbriefe zu diesem Thema. Sie gehört zu den Ewig-Gestrigen, denn sie hat nicht begriffen, daß das Holocaust-Denkmal in Berlin nicht auf Wunsch der Juden errichtet wird, sondern ein Anliegen aller Deutschen ist, vor allem derjenigen, die keine Juden sind. Wir haben uns nun einmal unsrer geschichtlichen Verantwortung zu stellen, auch wenn wir an den Verbrechen der Nazis nicht persönlich beteiligt waren. Auch die Kinder müssen immer wieder mit dieser deutschen Geschichte bekannt gemacht werden, damit so etwas nicht mehr geschieht. Schade nur, daß Frau Romeiser noch nicht aus der CDU ausgetreten ist, denn sie ist eine Belastung für eine christlich-demokratische Partei.

 

Eine ausführliche Darstellung der Geschichte der jüdischen Gemeinden in den früheren Gemeinden der heutigen Stadt Maintal (Wachenbuchen, Hochstadt, Dörnigheim, Bischofsheim) findet sich auf der Seite „Juden in Maintal“.

 

 

Verfolgungen

 

 

Antiker heidnischer Anti-Semitismus:

Gläubige Juden leben anders als Nichtjuden. Der bilderlose Gottesdienst, das Halten der Sabbath- und Speisegebote waren für die Heiden unheimlich. Feindschaft gegenüber den Juden entzündete sich am Nonkonformismus der Juden. Die verborgene Wurzel des Antisemitismus ist das Ärgernis der Erwählung. Aber das Wort „Antisemitismus“ ist ein völlig unzutreffender Begriff, der aber durch den Anschein von „Wissenschaftlichkeit“ gesellschaftsfähig wurde.

 

Im römischen Weltreich haben Dichter und Schriftsteller sich mitunter scharf gegen Juden geäußert. Zum Beispiel:

Seneca: Er greift das Sabbatgebot an, Arbeitsruhe an diesem Tag sei ein Zeichen der Faulheit der Juden.

Cicero: Er bezeichnete die Juden als ein Volk, das zur Knechtschaft geboren sei.

Tacitus: Er hält die Juden für Feinde der Menschheit.

Apion: In seiner „Ägyptischen Geschichte“ „informiert“ er über die Juden. Die alten Israeliten seien zur Zeit ihres Aufenthaltes in Ägypten ein Stamm von Aussätzigen. gewesen. Im Tempel zu Jerusalem sei ein goldener Eselskopf aufgestellt gewesen. Jedoch das Ungeheuerlichste: Die Juden bemächtigten sich in jedem Jahr eines Griechen, mästeten ihn in ihrem Tempel; um ihn nach besonderen Riten. zu töten (Ritualmord).

 

Anti-judaistische Aussagen im Neuen Testament:

Die Kernstellen, die immer wieder anti-semitisch mißbraucht wurden, sind 1. Thessalonicher 2,14-16 und Matthäus 23,13-26 und Matthäus 27,23-25, besonders aber Joh. 8,37-47 („Juden“ im Johannesevangelium). Tendenz in allen Passionserzählungen ist es, Pilatus zu entlasten und damit die Juden zu belasten.

Diese und viele andere anti-judaistische Aussagen im Neuen Testament müssen mit größter Vorsicht verwandt werden. Sie bedürfen dringendst einer neuen Exegese. Dazu ist Kenntnis der Zeitgeschichte Jesu, der frühchristlichen Gemeinde, sowie der zeitgeschichtlichen jüdischen Gruppen unentbehrlich.

 

Aus der Geschichte der Judenverfolgungen:

         48   Apostelkonzil - Beginn der Spaltung zwischen Juden und Christen.

         49   Vertreibung der Juden aus Rom.

         70   Zerstörung Jerusalems und des Tempels durch die Römer.

        381  Das Christentum wird Staatsreligion.

        438  „Codex Theogesianus” mit Bestimmungen gegen die Juden.

        527   Entrechtung der Juden im Oströmischen Reich und Zwangstaufen.

        587   In Spanien: Taufe oder Landesverweis der Juden.

        800   Karl der Große: Juden unter kaiserlichem Schutz:

 900 bis 1400:  Blüte des spanischen (sephardischen) Judentums.

1096 bis 1272:  Kreuzzüge - Judenpogrome

 

Vom 11. bis 30. November 1215 tagte in der Laterankirche in Rom das Vierte Laterankonzil:

Es erklärte das Dogma von der Transsubstantiation, der Wandlung von Brot und Wein ihrer Substanz nach in die Substanz von Leib und Blut Christi. Danach dauerte es nicht lange, bis Juden des Hostienfrevels bezichtigt wurden. Sie hätten sich in den Besitz einer geweihten Hostie gebracht, hätten sie und damit den Leib Christi durchstoßen und zerteilt. Blutstropfen seien herausgequollen. Juden wurden verhaftet. Unter der Folter gestanden sie, was man als Geständnis von ihnen erwartete. Sie wurden gerädert oder auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Es wurde angeordnet, daß sich Juden durch eine besondere Tracht der Kleidung von der üblichen Bevölkerung unterscheiden müssen. Um die Juden vollends zu brandmarken mußten sie nun in den einzelnen Ländern Europas an ihrer Kleidung ein besonderes Kennzeichen tragen. Dieses Kennzeichen wurde in Deutschland ein gelbes Stoffstück in Form eines Rades oder eines Kreises, der gelbe Fleck. Die Nationalsozialisten haben darauf zurückgegriffen

 

1240  Unter Gregor IX. Verbot des Talmud.

1290  Vertreibung der Juden aus England

1298  Judenmetzeleien in Süddeutschland.

1306  Erste Vertreibung der Juden aus Frankreich.

1350  Verfolgungen auf Grund des Vorwurfs der Brunnenvergiftung.

      Vertreibung aus Österreich.

1368  Dem Kurfürsten durch Goldene Bulle vom Kaiser Karl IV. das Schutzrecht über

      die Juden verliehen.        

1394  Zweite Vertreibung von Juden aus Frank reich.

1492  Vertreibung der Juden aus Spanien und Portugal. Die Tragödie der Marranen.

      Aufnahme in Polen und der Türkei.

1523  Luthers Schrift: „Daß Jesus ein geborener Jude sei”.

1543  Luthers Schrift: „Von den Juden und ihren Lügen”.

1555  Entstehung der ersten Ghettos in Rom. Die Juden müssen gelbe Hüte bzw. gelbe

            Kopftücher tragen. Annullierung aller Schutzbriefe.

1648  Katastrophe des osteuropäischen Judentums.

1789  Französische Revolution. Bürgerliche Gleichstellung. Abschaffung der Ghettos.

4812  Emanzipationsedikt in Preußen.

1814  Zurücknahme der Gleichstellung der Ju­den.

1819  Tumulte und Exzesse gegen die Juden in ganz Deutschland.

1849  Gleichberechtigung der Juden durch die Frankfurter Grundrechte.

Ab 1880  Neue Welle des Antisemitismus in Deutschland (Stöcken).

      In Frankreich, der Dreyfuss-Prozeß (Theodor Herzl).

      Seit Mitte des Jahrhunderts schwere Pogrome im zaristischen Rußland

      Masseneinwan­derungen von Juden in den USA

1933  Beginn der Katastrophe in Deutschland. Reichskulturkammergesetz.

      Verbannung der Juden aus dem deutschen Kulturleben.

 

Als ebenso zählebig hat sich das Märchen vom Ritualmord erwiesen, der von Juden an Christenkindern dem begangen sein sollte. Danach sollten Juden Christenkinder getötet haben, um ihr Blut zu trinken. Dabei weiß jeder Kenner des Alten Testamentes, daß Blutgenuß den Juden streng verboten ist. Der Talmud hat dies Verbot bekräftigt. Doch unter dieser Anschuldigung sind Juden immer wieder auf der Folter zu Geständnissen gezwungen und danach hingerichtet worden.

Als Mitte des 14. Jahrhunderts die Pest in allen Ländern Europas ihre entsetzlichen Opfer forderte, entstand das Gerücht von der Brunnenvergiftung. In Savoyen hätten Juden den Plan gefaßt, die Christen auszurotten. Sie hätten nicht nur das Rezept zur Verseuchung des Wassers vermittelt, sondern hätten auch dafür gesorgt, das Gift in Beuteln weiterzugeben. So seien die Juden zu Brunnenvergiftern geworden, die damit den Tod von vielen Tausenden verursacht hätten.

Diese Märchen vom Hostienfrevel, dem Ritualmord und der Brunnenvergiftung wurden immer wieder als Vorwand benutzt, um gegen Juden vorzugehen, bis ins unser Jahrhundert hinein, nicht zuletzt vom fränkischen NS-Gauleiter Julius Streicher. Dabei verbanden sich mit der Judenverfolgung meist wirtschaftliche Interessen. Jüdische Häuser und Geschäfte wurden geplündert, jüdischer Besitz enteignet bzw. in Anspruch genommen. Es ist erschütternd zu verfolgen, wie sich die Linien des Judenhasses vom Mittelalter bis in unser Jahrhundert hindurchziehen, wie Greuelmärchen immer wieder eifrige Abnehmer fanden und bedenkenlos und bereitwillig weitergegeben wurden.

Die beiden Hauptwurzelnd es Judenhasses: Die Juden werden gleichgesetzt mit Judas, der Verräter aus dem Neuen Testament, der Jesus für 30 Silberlinge verkaufte, ein Händler, dem nichts heilig, dem alles käuflich ist. Diese religiöse Motivierung war auch bestimmend für die wirtschaftliche Sonderstellung der jüdischen Menschen in Mitteleuropa. In ihrer Mehrheit blieben sie die einzigen im deutschen Sprachraum - wie in den angrenzenden Ländern -, die allen Bekehrungsversuchen zum christlichen Glauben, allem Druck und Zwang widerstanden hatten; sie hielten an ihrem angestammten Glauben an den einen unsichtbaren Gott fest. Für sie war der Messias, der Erlöser und Heiland, noch nicht erschienen. Waren diese religiösen Motive also die Triebkraft für die Ermordung der Millionen? Oder war der Judenhaß ein Haß auf das Fremde, auf die Fremden, die sich anders kleideten, anders dachten? Es war sicher auch das.

Die Judenfeindlichkeit erreichte zur Zeit der Kreuzzüge zwischen 1096 und 1270 ihren Höhepunkt. Vor ihrem Auszug richteten die Kreuzfahrerheere grausige Blutbäder unter den Juden in den rheinischen Städten an, Wohnhäuser und Synagogen wurden zerstört. Sehr viele der Überlebenden wanderten in östliche Länder wie Polen, Litauen oder Galizien aus. Dorthin nahmen sie ihre Sprache, das Jiddisch, mit und hielten an vielen Traditionen aus dem alten Heimatland fest. Diese Ostjuden waren die „Aschkenasim“, es gab neben ihnen eine zweite große jüdische Volksgruppe, die „Sephardim“, die in Südwest- und Südeuropa ihre Heimat und ein wechselvolles Schicksal gefunden hatten.

 

 

Juden- und Ghetto-Ordnung von Speyer 1468: Bischof Mathias von Speyer gebietet den Speyrer Juden durch ein scharfes Mandat:

1. daß alle Juden von über fünf Jahren den gelben Ring und die Frauen zwei blaue Streifen tragen müssen;

2. daß die Kleidung sich von derjenigen der Christen unterscheiden muß;

3. daß die Juden jeden Umgang mit Christen meiden sollen;

4. daß sie ohne Sondergenehmigung keine Synagogen oder Schulen erbauen und

  die vorhandenen nicht gebrauchen dürfen;

5. daß sie abgesonderte und entlegene Wohnplätze haben sollen;

6. daß sie keinerlei Geschäfte an christlichen Feiertagen betreiben dürfen;

7. daß sie keinen Zinseszins nehmen dürfen;

8. daß sie sich in der Karwoche in der Öffentlichkeit nicht zeigen sollen;

9. daß sie dem bischöflichen Richter unterworfen sind.

 

Die Juden standen im Mittelalter außerhalb der Rechts- und Gesellschaftsordnung. Ihre Rechte bestanden lediglich in teuer zu bezahlenden Privilegien und Schutzbriefen, und so waren sie willkürlicher Besteuerung und Ausbeutung preisgegeben. Wegen der stärker werdenden Konkurrenz durch christliche Kaufleute im Handelsleben einerseits und des Verbots von Geldgeschäften für Christen andererseits wurden die Juden in das damals verachtete, für die Wirtschaft aber notwendige Kredit- und Pfandleihwesen gedrängt. Religion und erzwungener Beruf machten die Juden also zu Außenseitern der Gesellschaft.

Tatsächlich hat es zu allen Zeiten Judenhaß gegeben - nicht nur in Deutschland, sondern auch in Spanien, England und Frankreich. nicht erst im 19. und 20. Jahrhundert, sondern auch früher. Französische Könige verwiesen die Juden des Landes, zum erstenmal im 12. Jahrhundert und zum andernmal im 14. Jahrhundert. Englische Könige beschuldigten die Juden der Falschmünzerei und setzten sie grausamen Verfolgungen aus.

 

Martin Luther. „Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei“ (1523)

Darum wäre meine Bitte und mein Rat, daß man säuberlich mit den Juden umginge und aus der Schrift sie unterrichtete, so könnten ihrer etliche herbeikommen. Aber nun wir sie nur mit Gewalt treiben und geizen mit Lügenreden um, geben ihnen Schuld, sie müßten Christenblut haben, daß sie nicht stinken, und ich weiß nicht, was des Narrenwerks mehr ist, daß man sie gleich wie Hunde behandelt, was sollten wir Gutes an ihnen schaffen? Item daß man ihnen verbietet, unter uns zu arbeiten, hantieren und andere menschliche Gemeinschaft zu haben, damit man sie zu wuchern antreibt, wie sollte sie das bessern? Will man ihnen helfen, so muß man nicht des Papstes, sondern christlicher Liebe Gesetz an ihnen üben und sie freundlich annehmen, mit lassen erwerben und arbeiten, damit sie Gelegenheit und Raum gewinnen, bei uns und um uns zu sein, unsere christliche Lehre und christliches Leben zu hören und zu sehen. Ob etliche halsstarrig sind, was liegt daran? Sind wir doch auch nicht alle gute Christen. Hier will ich’s diesmal lassen bleiben, bis ich sehe, was ich gewirkt habe. Gott gebe uns allen seine Gnade. Amen.

 

Martin Luther: „Von den Juden und ihren Lügen“, 1543

Weil nun das gewiß ist ..., daß… die Juden gleichwohl immer für und für Gott den Vater, unser aller Schöpfer, lästern und fluchen eben darin, daß sie seinen Sohn Jesum von Nazareth, Marien Sohn, den er nun bei 1500 Jahren in aller Welt durch Predigen und Wunderzeichen wider aller Teufel und Menschen Macht und Kunst als seinen Sohn erklärt hat und noch immer bis ans Ende der Welt erklärt, lästern und fluchen, ihn Hebel Vorik nennen, d. i. nicht allein einen Lügner und Falschen, sondern die Lüge und Falschheit selbst, ärger als den Teufel selbst, so ist uns Christen solches vor unseren Ohren und frei vor unsrer Nase in öffentlichen Synagogen, Büchern und Gebärden täglich geübt in unserm eignen Lande, Häusern und Regiment keineswegs zu leiden,

oder wir müssen Gott den Vater mit seinem lieben Sohn, der uns so teuer mit seinem heiligen Blut erkauft hat, mit und um der Juden willen verlieren und ewiglich verloren sein. Da sei Gott vor.

So rät Luther,

Erstlich, daß man ihre Synagogen oder Schulen mit Feuer anstecke und, was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und beschütte, daß kein Mensch einen Stein oder Schlacke sehe ewiglich ... Zum zweiten: daß man ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre, denn sie treiben ebendasselbe darin, das sie in ihren Schulen treiben ...

Zum dritten: daß man ihnen alle Betbüchlein und Talmudisten nehme, worin solche Abgötterei, Lügen, Fluch und Lästerung gelehrt wird.

Zum vierten: daß man ihren Rabbinen bei Leib und Leben verbiete, hinfort zu lehren ...

Zum fünften: daß man den Juden das Geleit und Straße ganz und gar aufhebe ...

Zum sechsten: daß man ihnen den Wucher verbiete und ihnen alle Barschaft und Kleinod an Silber und Gold nehme und zur Verwahrung beiseite lege ...

Zum siebenten: daß man den jungen starken Juden und Jüdinnen in die Hand gebe Flegel, Axt, Karst, Spaten, Rocken, Spindel, und lasse sie ihr Brot verdienen im Schweiß der Nase, wie Adams Kindern aufgelegt ist...

Wenn wir gleich den Juden ihre Synagogen verbrennen und ihnen verbieten, öffentlich Gott loben, beten, lehren, seinen Namen zu nennen usw., so werden sie es doch heimlich nicht lassen. Und weil wir wissen, daß sie es heimlich tun, so ist’s ebensoviel als täten sie es öffentlich ... Meines Bedünkens wills doch darauf hinaus, sollen wir der Juden Lästerung rein bleiben und nicht teilhaftig werden, so müssen wir geschieden sein und sie aus unserm Lande vertrieben werden. Sie mögen in ihr Vaterland gedenken; dann dürfen sie nicht mehr vor Gott über uns schreien und lügen, daß wir sie gefangen halten, wir auch nicht klagen, daß sie uns mit ihrem Lästern und Wuchern beschweren. Dies ist der nächste und beste Rat, der beide Teile in solchem Falle sichert.

 

Nach Aufhebung der Aufenthaltsbeschränkungen durch das Edikt von 181 2 wurden Kleinstädte und Landgemeinden stärker von Juden besiedelt. War man bisher mit wenigen, zentral gelegenen Friedhöfen ausgekommen, wurden nun Begräbnisplätze in sehr vielen Kleinstädten, in manchen Fällen auch auf Dörfern, angelegt. Anlaß dazu war eine Regierungsverordnung von 1814, die den Juden den Leichentransport über mehr als eine Meile (7,5 km) verbot und die Gründung von Friedhöfen forderte. Ein weiteres Moment war sicher die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch bei Christen verbreitete Tendenz zur Anlage privater Begräbnisstätten. Das Land für die meisten jüdischen Friedhöfe im 18. und 19. Jahrhundert wurde von jüdischen Privatpersonen gekauft und den Gemeinden oder den Mitbürgern zur Verfügung gestellt.

Gemeinden gab es nur an zentralen Orten, dort waren auch die Betstuben oder Synagogen. Diese Gemeinden hatten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch keine Korporationsrechte, das heißt sie durften nicht als juristische Person auftreten und Kaufverträge abschließen.

 

Indes, alle diese psychologischen Deutungsversuche vermögen nicht oder jedenfalls nicht ausreichend zu erklären, warum der Antisemitismus - obwohl zu fast allen Zeiten in allen Ländern Europas vorkommend - sich gerade in Deutschland bis zu dem satanischen Höhepunkt hitlerischer Judenmorde steigern konnte.

Um diese Aufgabe hat sich jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg eine ganze Reihe von insbesondere ausländischen, meistens aus Deutschland emigrierten Wissenschaftlern bemüht mit eindrucksvollem Erfolg vor allem Paul W. Massing in seinem Buch „Rehearsal for Destruction“. Massing sucht die Ursachen des „völkischen“ - nicht mehr religiösen - Antisemitismus vornehmlich auf soziologischem Gebiet und meint, kurz zusammengefaßt, etwa folgendes: Der gegen Ende des vorigen Jahrhunderts überall in Europa zu beobachtende Prozeß der Entstehung einer Industrie- und Massengesellschaft vollzog sich in Deutschland nach der Gründung des Bismarck-Reiches schneller und überstürzter als in allen anderen vergleichbaren Staaten.

Überall bildete sich im Zuge dieses Prozesses eine Angestelltenschicht, die - aus selbständigen Berufsgruppen wie dem Bauerntum und der Handwerkerschaft stammend - sich plötzlich ihrer Selbständigkeit beraubt und dem Auf und Ab konjunktureller Zufälligkeiten ausgesetzt sah.

Massings Theorie, wonach der Antisemitismus von der Konjunktur abhängig ist, wird auch durch die Tatsache glaubhaft gemacht, daß die erste nichtkonfessionelle antisemitische Streitschrift mit Publikumserfolg im Wirtschaftskrisen-Jahr 1873 erschien. Das Ende der „Gründer-Zeit“ durch einen riesigen Bankkrach zeichnete sich eben ab, als ein Journalist namens Wilhelm Marr dem auf die Straße geworfenen Stehkragen-Proletariat eine Erklärung für dessen Unglück lieferte. Die Überschrift der von ihm veröffentlichten Broschüre lautete: „Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum - Vom nicht-confessionellen Standpunkt aus betrachtet. Vae Victis!“

Ein Jahr später folgte die „Gartenlaube“, das mittelständische Massenblatt jener Zeit, mit einer Artikelserie „Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin“. Ihr Verfasser, ein Otto Glagau, proklamierte: „Als ein fremder Stamm steht es (das Judentum) dem deutschen Volk gegenüber und saugt ihm das Mark aus. Die soziale Frage ist wesentlich Gründer- und Judenfrage, alles übrige ist Schwindel.“

Ein weiteres Jahr später avancierte der Antisemitismus aus der Massenpresse in die hohe Politik. Die Berliner „Kreuzzeitung“, das Blatt des konservativen preußischen Junkertums, das damals noch mit Bismarck verfeindet war, attackierte den Kanzler, indem sie ihm vorwarf, eine „von und für Juden betriebene Politik“ zu machen und sich von seinem jüdischen Finanzberater, dem Bankier Gerson von Bleichröder, und von jüdischen Abgeordneten wie Bamberger und Lasker beeinflussen zu lassen.

Der Antisemitismus war damit zu einer Waffe der Konservativen geworden, derer sie sich immer dann bedienten, wenn sie mittelständische Wählermassen entweder gegen den Freihandel der Liberalen oder gegen den Sozialismus mobilisieren wollten.

Zu einer wichtigen Figur in diesem zynischen Spiel entwickelte sich der Hofprediger Adolf Stoecker. Er hatte Ende der siebziger Jahre zu Berlin eine Christlichsoziale Arbeiterpartei gegründet, „um die deutsche Arbeiterschaft vor dem Atheismus und Internationalismus der SPD zu retten“. Stoeckers Partei mickerte jedoch ohne Eindruck auf die Arbeiterschaft dahin, bis Stoecker sich entschloß, antisemitische Parolen in sein Programm aufzunehmen. Von da an begann die Stoecker-Bewegung zu florieren. Lehrer, Offiziere, Handwerker und Angestellte strömten ihr zu. Die Massenversammlung - bis dahin allein ein Vorrecht linksradikaler Bewegungen - wurde nun auch zum Instrument rechts-extremistischer Politik.

Stoecker versuchte, wie später auch Hitler, antisemitische Affekte mit antikapitalistischen, nationalistischen und christlichen Tendenzen zu vermischen. So attackierte er unter anderen Bismarcks Bankier Bleichröder und zog sich dadurch den Zorn des Kanzlers zu. Schrieb Bismarcks Sohn Herbert in einem Brief: „Auch gegen Bleichröder hetzt Stoecker nicht etwa, weil er Jude, sondern weil er reich ist“.

Bismarck selbst gutachtete: „Die Interessen des Geldjudentums sind eben mit der Erhaltung unserer Staatseinrichtungen verknüpft und können der letzten nicht entbehren. Das besitzlose Judentum (hingegen) in Presse und Parlament, das wenig zu verlieren und viel zu gewinnen hat und sich jeder politischen Opposition anschließt. kann unter Umständen auch zu einem Bündnis mit der Sozialdemokratie, einschließlich Stoecker, gelangen. Gegen dieses richtet sich auch die Agitation des Herrn Stoecker nicht vorzugsweise: seine Reden sind auf den Neid und die Begehrlichkeit der Besitzlosen gegenüber den Besitzenden gerichtet“.

 

 

Max Frisch: Andorra

„Andorra“ meint nicht den wirklichen Kleinstaat dieses Namens. „Andorra” ist ein Modell. So bleibt das Stück im Gleichnishaften, überläßt die Identifizierung dem Zuschauer, doch gerade in diesem Abstand trifft es. Sein Problem ist weniger, die grausame Gewalt der Verfolgung darzustellen, als vielmehr dies, daß die Vorurteile der Mitmenschen den Menschen letztlich vernichten können, daß der Mensch zu dem wird, was seine Mitmenschen in ihm sehen.

Andri, uneheliches Kind des Lehrers, aus dessen Beziehungen zu einer „Schwarzen“ einer von drüben, wird, weil es opportun ist, als gerettetes Judenkind ausgegeben. Von allen als Jude angesehen, wächst er auf. Der Tischler, in dessen Lehre er gehen soll, glaubt nicht, daß er das Handwerk „im Blut” haben kann. Er steckt ihn in den Verkauf, denn „der Jud denkt alleweil nur ans Geld“. Andri aber wollte Tischler werden. Allmählich beginnt er, sich selbst zu sehen, wie die andern ihn sehen. Er stellt fest, daß er so ist, wie sie ihn sich vorsteilen. Er beginnt – wie ihm der Pater nahelegt – sein Judesein anzunehmen.

Als er Barblin, seine Halbschwester, mit der er zusammen aufgewachsen ist, heiraten will, erkennt sein Vater, der Lehrer, voll Verzweiflung die Folgen seiner Lüge. Der Pater muß Andri in einem zweiten Gespräch die Wahrheit sagen. Hier liegt der Höhepunkt des Stückes. Andri hat innerlich bejaht, daß er Jude ist. Nun kommt die Wahrheit zu spät. „Hochwürden haben gesagt, man muß das annehmen, und ich hab’s angenommen. Jetzt ist es an euch, Hochwürden, euren Jud anzunehmen“ Er weiß, daß er damit in sein Verderben geht – aber er kann nicht mehr zurück.

Der Zuschauer kennt von Anfang an den Ausgang des Stückes. Zeugenaussagen der Andorraner zwischen den einzelnen Bildern rollen das Geschehen von hinten her auf. Sie alle, der Soldat, der Wirt, der Tischler, der Geselle, der Doktor, der Jemand, die ihn ins Verderben getrieben haben, können nur bedauern, daß es so gekommen ist; aber sie fühlen sich „nicht schuldig, daß es so gekommen ist“. Alles ist wie zuvor. Der Tischler bleibt Tischler, der Wirt bleibt Wirt, der Amtsarzt bleibt Amtsarzt. Einzig in der Zeugenaussage des Paters heißt es: „Auch ich bin schuldig geworden damals. Ich wollte ihm mit Liebe begegnen, als ich gesprochen habe mit ihm. Auch ich habe mir ein Bildnis gemacht von ihm, auch ich habe ihn gefesselt, auch ich habe ihn an den Pfahl gebracht.“

„Andorra statuiert ein Exempel”, so schreibt Hellmut Krapp in „Spectaculum V” zu diesem Stück. Zwar kann man sich an Stelle Andris, des Juden, einen Neger denken, einen Kommunisten, jeden, den eine herrschende Gesellschaft zum Opfer ihres Vorurteils bestimmt - der Jude bleibt das gültigste Beispiel, weil der Antisemitismus ein geradezu archaisches Vorurteil mit katastrophalen Folgen ist, wirklichkeitsträchtig und besudelt wie kein zweites. Hyperbolisch ausgedrückt: Jedes Vorurteil, mit dem wir unseren Nächsten verwehren, er selbst zu sein, ist eine nur verdeckte Form des Antisemitismus.

 

 

 

Verschleppung

 

Gegenüber den schätzungsweise 550.000 Deutschen jüdischen Glaubens, die es in der Weimarer Zeit in Deutschland gegeben hat, gibt es nach dem Krieg nur noch etwa 30.000 in Deutschland. Die in der Bundesrepublik bestehenden jüdischen Gemeinden sind außerdem sehr überaltert. Man muß also damit rechnen, daß ihr Bestand, aller Voraussicht nach, abnehmen wird. Das Zahlenverhältnis allein zeigt schon an, um welch grausige Vorgänge es sich in den Jahren 1933 bis 1945 gehandelt hat. Nimmt man dazu die Zahlen, die für Europa gelten: Von etwa 11 Millionen europäischen Juden (unter Einschluß des europäischen Rußland, wo sich schätzungsweise 5 Millionen befanden) sind mindestens 6 Millionen ausgerottet worden.

 

Die erste Welle der Verfolgung 1933 – 1938:

Es sind mehrere Verfolgungen der Juden im „Dritten Reich“ zu unterscheiden. Die erste reicht von 1933, von der sogenannten „Machtergreifung“, bis zum Herbst 1938. Die im Nationalsozialismus und durch ihn im deutschen Volk schon lange als notwendig verkündeten antisemitischen Aktionen begannen - nachdem es zu einigen ersten Ausschreitungen in den Wochen nach der „Machtergreifung“ gekommen war - systematisch am 1. April 1933. Josef Goebbels hatte für den Monatsanfang eine Boykottwoche gegen die Juden in Deutschland vorgeschlagen und beschlossen. Es kam aber zu lebhaften Interventionen gegen den von Hitler gebilligten Plan. Insbesondere intervenierte Mussolini, der befürchtete, daß gleich zu Beginn des „Dritten Reiches“ erhebliche internationale Komplikationen sich ergeben könnten, wenn der aktive Antisemitismus sofort so markant zutage träte. Mussolini selbst war kein mit den Nationalsozialisten auch nur vergleichbarer Antisemit.

Den Interventionen gelang es. die Aktionen praktisch auf einen einzigen Tag zusammenzudrängen, eben den 1. April 1933. Dieser Tag wurde aber immerhin zum deutlichen Signal. Nur nahmen es weder die meisten deutschen Juden noch gar das deutsche Volk so ernst wie viele Kreise des Auslandes. Die allermeisten Deutschen, tief überzeugt von der Kulturkraft des deutschen Volkes und des deutschen Geistes, überzeugt vom Gerechtigkeitssinn der Deutschen, meinten, daß es sich da nur um ein erstes Oberschäumen der nationalsozialistischen Bewegung handelte, das sich schon wieder legen werde.

Es folgte an praktischen Maßnahmen - in Anwendung des Gesetzes vom 11. April 1933 „zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ - die Entlassung aller jüdischen Beamten innerhalb der Reichs- und Landesbeamtenschaft. Dann begannen im Jahre 1934 systematischere Boykottmaßnahmen gegen die Juden. In den Reihen der Nationalsozialisten wurden mehr und mehr Pläne erörtert, wie man es erreichen könne, daß die Juden Deutschlands auswanderten. Die verschiedensten Pläne kamen dabei zur Sprache. Selbstverständlich wollte man Druck hinter eine solche Auswanderungsaktion setzen, sie aber möglichst als freiwillig erscheinen lassen. Am 15. September 1935 wurden die sogenannten „Nürnberger Gesetze“ erweitert.

 

Es erfolgte ferner die Ausscheidung aller Juden aus den geistigen Berufen, überwacht von der Reichskulturkammer. Dann mußten die Juden und diejenigen, die dem jüdischen Volk zugerechnet wurden, den gelben Judenstern tragen, damit sie sich überall in der Öffentlichkeit von den „Reichsbürgern“ deutlich unterschieden. Es folgte das Verbot der Benutzung öffentlicher Bäder und Verkehrsmittel (Juden durften zum Beispiel nicht normal in der Straßenbahn fahren oder in der Eisenbahn, sondern nur in ganz bestimmten Abteilen oder an bestimmten Plätzen, später überhaupt nicht mehr) und die Zuweisung bestimmter Einkaufsgeschäfte; die jüdische Bevölkerung konnte sich also innerhalb des „Reiches“ nicht mehr wie jeder „Reichsbürger“, sogar nicht einmal wie die übrigen „Staatsangehörigen“ überall versorgen. Schließlich kam es zur allmählichen Zuweisung bestimmter Wohnstellen, sei es in Wohnhäusern, sei es in Wohnvierteln: zum Beginn der Ghetto-Bildung.

Alle diese Maßnahmen sind nicht auf einmal erfolgt; sie sind im Laufe der Zeit immer dichter geworden. Es wurde die deutliche Absicht erkennbar, daß man zu einer, wie immer gearteten, radikalen Ausscheidung des jüdischen Bevölkerungsteils innerhalb des Deutschtums gelangen wollte. Von einer Vernichtung der Juden war zu jenem Zeitpunkt sicher nachweisbar noch nicht die Rede. Aber es war die Rede von radikalen Aussonderungen in den verschiedensten Formen. Heydrich etwa war kein Freund der Errichtung von Ghettos; er fürchtete sie als Herde von Epidemien; er bevorzugte bis 1939 den Plan der Auswanderung.

Das also war, auf das Kürzeste dargestellt, die vorbereitende Entwicklung, wobei das Wort Vorbereitung nicht allzu zart zu nehmen ist. Es handelte sich bereits um sehr einschneidende, bis an die Wurzeln der Existenz gehende Verfügungen: Ausscheidung der jüdischen Kinder aus den Schulen, Entzug der Verkehrsmittel, Verlust der gesellschaftlichen Positionen, Diffamierung durch den Judenstern.

 

Die zweite Welle der Verfolgung 1938- 1939:

Der zweite Abschnitt der nationalsolistischen Verfolgung des Judentums reichte vom November 1938 bis zum Herbst 1939. Die vorgenannten Aktionen wurden außerordentlich beschleunigt durch das Ereignis der Ermordung eines deutschen Gesandtschaftsangehörigen in Paris: Am 7. November 1938 meldete sich auf der deutschen Botschaft in Paris ein Junge von 17 Jahren mit dem jüdischen Namen Herschel Grünspan. Er verlangte den Botschafter zu sprechen, Graf Johannes von Welczek. Der Junge blieb draußen auf der Treppe stehen und wartete. Man schickte ihm den Dritten Sekretär, Ernst vom Rath. Als dieser erschien, schoß Herschel Grünspan ihn nieder.

Warum? Der polnischen Regierung war zur Kenntnis gekommen, daß die Nationalsozialisten im Zuge ihrer antisemitischen Politik beabsichtigten, 60.000 Juden polnischer Staatsangehörigkeit, die in Deutschland wohnten, aus dem Reichsgebiet auszuweisen und nach Polen abzuschieben. Da die polnische Regierung selbst antisemitisch gesonnen war, wenn auch nicht auf die Weise der Nationalsozialisten, versuchte sie, einer solchen Maßnahme zuvorzukommen. Am 6. Oktober 1978 verordnete sie, daß alle im Ausland lebenden Polen, die innerhalb von drei Wochen ihre Pässe nicht in Polen selbst unter Vorlage bestimmter Dokumente erneuerten, staatenlos würden. Der entscheidende Termin war der 29. Oktober.

Daraufhin ließ der deutsche Gestapo-Chef Reinhard Heydrich am 28. Oktober, also einen Tag vor der polnischen Frist, mehr als 17.000 in Deutschland ansässige Juden polnischer Staatsangehörigkeit, ehe sie diese am nächsten Tage verloren, verhaften, polizeilich ausweisen, in Lastwagen verfrachten, an die Grenzstation Bentschen bringen und dort in Richtung Polen auf die Felder jagen: Männer, Frauen, Kinder, Alte, Kranke, alle!

Unter ihnen befand sich auch der Vater des jungen Herschel Grünspan, der seinerseits gerade zu einem Besuch bei einem Onkel in Paris war. Herschel Grünspan wollte durch sein dem deutschen Botschafter zugedachtes Attentat die Staatsmänner der freien Welt wachrütteln und ihnen das Unrecht zeigen, das hier den Juden angetan wurde. Die Absicht gelang auf eine erschreckende Weise: Hitler und Goebbels ordneten am 9. November 1938 eine umfassende Racheaktion an, nachdem die Nachricht eingetroffen war, daß Ernst vom Rath, übrigens weder Parteigenosse noch Gesinnungsanhänger des Nationalsozialismus, in Paris den Schußverletzungen erlegen war. Heydrich führte die Aktion unter der Bezeichnung „„Kristallnacht“ durch.

Hier das Fernschreiben der Geheimen Staatspolizei vom 9. November 1938:

1. Es werden in kürzester Frist in ganz Deutschland Aktionen gegen die Juden, insbesondere gegen deren Synagogen stattfinden. Sie sind nicht zu stören, jedoch ist im Benehmen mit der Ordnungspolizei sicherzustellen, daß Plünderungen und sonstige besondere Ausschreitungen unterbunden werden können.

2.. Sofern sich in Synagogen wichtiges Archivmaterial befindet. ist dieses durch eine sofortige Maßnahme sicherzustellen.

3. Es ist vorzubereiten die Festnahme von etwa 20.000 bis 30.000 Juden im Reiche. Es sind auszuwählen vor allem vermögende Juden. Nähere Anordnungen ergehen noch im Laufe dieser Nacht.

4. Sollten bei den kommenden Aktionen Juden im Besitz von Waffen angetroffen werden, so sind die schärfsten Maßnahmen durchzuführen. Zu den Gesamtaktionen können herangezogen werden Verfügungstruppen der SS, sowie Allgemeine SS. Durch entsprechende Maßnahmen ist die Führung der Aktionen durch die Stapo auf jeden Fall sicherzustellen.

 

Das Ergebnis des mehrere Tage währenden Pogroms war: 191 jüdische Gotteshäuser in Brand gesteckt, zahlreiche Wohnungen zertrümmert, mindestens 7.500 jüdische Geschäfte zerstört und geplündert (allein der Versicherungsschaden an zerbrochenen Schaufensterscheiben in jüdischen Geschäften, die mittlerweile bereits auf Nichtjuden übertragen worden waren, bezifferte sich auf rund 6 Millionen Mark), 35 Tote, 36 Schwerverletzte, mehrere l0.000 Einlieferungen von Juden in Konzentrationslager (davon 9815 nach Buchenwald, wo viele von ihnen gemartert und getötet wurden). Bei den Verhaftungen und in den Lagern spielten sich grauenhafte Szenen ab.

Die niedrigsten Instinkte des nationalsozialistischen Mobs und der „SS-Elite“ tobten sich an den wehrlosen Opfern aus.

Dies war indes, unter dem Vorwand der Vergeltung, nur der sogenannte „spontane“ Teil der Maßnahme. Hitler erteilte dem Reichsmarschall Göring den Auftrag, eine einheitliche, zusammenfassende Erledigung der Judenfrage in die Wege zu leiten. Sie begann mit einer riesigen Raubaktion in gesetzlichem Gewande. Durch Verordnung vom 12. November 1938 - drei Tage nach der „Kristallnacht“ - wurden alle Juden aus dem Wirtschaftsleben ausgeschaltet. Sie mußten kollektiv eine Sühneleistung in Höhe von 1 Milliarde Mark erbringen und den durch die „Spontanzerstörungen“ angerichteten Schaden selbst ersetzen. Wenige Tage später wurden die letzten jüdischen Kinder vom öffentlichen Schulunterricht ausgeschlossen, vom 28. November ab durften Juden die Erholungs- und Vergnügungsstätten Deutschlands nicht mehr betreten.

 

Das war der Anfang der furchtbaren „Endlösung“, die der „Kristallnacht“ folgte. Wie der Boykott vom 1. April 1433 ein Signal für die Maßnahmen gewesen war, die dann bis Herbst 1938 durchgeführt wurden, so war jetzt die „Reichskristallnacht“ der Beginn einer neuen Phase der Verfolgung. Noch war nicht Krieg, und die nationalsozialistische Führung war bemüht, durch eine forcierte, systematisch erzwungene Auswanderung - und zwar gegen Devisenerlöse, die mit der Auswanderung verknüpft sein sollten -, die Judenfrage für sich zu erleichtern.

Schon in dieser Zeit, ab Herbst 1938, tauchte die Idee auf, man müsse in der Welt ein gesondertes Territorium finden, in das man, im Einvernehmen mit den anderen Staaten der Welt, die Juden abschieben könne. Alfred Rosenberg nannte ein solches Gebiet eine „Reservation“ (nach dem Vorbild der seinerzeit in Amerika geschaffenen Schutzgebiete für die Indianer). Man nahm dafür Madagaskar in Aussicht, ein Zeichen, wie weit man schon im Kriegsdenken Adolf Hitlers war, da diese Insel ja schließlich, alles was recht ist, ein französischer Besitz östlich von Afrika war.

Um die Auswanderung zu forcieren, erfolgte am 30. April 1939 die systematische Einschränkung des Wohnrechts der Juden in Deutschland und eine Verfügung über die Möglichkeit von Zwangsarbeit. Damit wurde es für alle Juden, die noch in Deutschland lebten, klar, daß ihres Bleibens in diesem Reich nicht mehr länger war. Als sich nach dem „Anschluß“ Osterreichs und nach der staatlichen Auflösung der Tschechoslowakei rascher und rascher die akute Möglichkeit eines kriegerischen Zusammenpralls der freien Welt mit dem „Dritten Reiche“ abzeichnete drohte Hitler, weil ihm dieser Krieg - wie wir heute aus den Dokumenten wissen - zu früh kam, der Welt unter anderem an, daß die gesamte jüdische Rasse, wie er sich ausdrückte, in Europa vernichtet würde. Nicht die Bolschewisierung Europas, so sagte er in einer großen Rede damals, werde das Ergebnis eines Krieges sein, sondern die Vernichtung des Judentums. Er hat sich im Laufe der kommenden Jahre nicht weniger als fünfmal auf diese seine Prophezeiung“ berufen, als die lange geplanten Aktionen gegen die Juden dann wirklich durchgeführt wurden.

Zu diesem Zeitpunkt, Sommer/Herbst 1979, beginnt die eigentliche Rolle Karl Adolf Eichmanns. Er verlangte als Leiter des Gestapo-Referates „Judenerhebungen“ Verhandlungen mit Vertretern des ausländischen Judentums, um die Auswanderung der noch verbliebenen Juden aus Deutschland zu beschleunigen. Er forderte als Gegenleistung für die Auswanderung Geld, und zwar nicht nur Reichsmark, sondern Auslandsdevisen. Er schlug vor, daß jährlich eine bestimmte Anzahl von Juden, er nannte die Zahl 70.000, gegen Bezahlung auszuwandern hätten.

 Diese Juden wurden bei der SS und bei den Polizeiämtern die „Quotenjuden“ genannt. In jenen Tagen wurde zwangsweise die sogenannte „Reichsvereinigung des Zentralrates der deutschen Juden“ geschaffen. Ihr wurde - eine der grauenhaften Paradoxien unserer Zeit - die Durchführung der gegen die Juden gerichteten Maßnahmen übertragen! Sie hatten also selbst auszuführen, was die Nationalsozialisten gegen sie verfügten: Selbstverwaltung der eigenen Liquidation. In den Konzentrationslagern ist diese Praxis dann gang und gäbe geworden.

 

Die dritte Welle der Verfolgung 1939 – 1945:

Der dritte und letzte Abschnitt der nationalsozialistischen Judenverfolgung begann im Herbst 1939 mit Kriegsausbruch. Sei sollte die „Vernichtung“ und die „Endlösung“ bringen.

Vom 1. bis zum z1. September 1939 fand der berühmte Blitzfeldzug gegen Polen statt. In seinem Verlauf kam es zu Pogromen, die nicht ohne Mitwirkung einzelner Wehrmachtsteile und Wehrmachtangehöriger stattgefunden haben. Es war also nicht nur die SS, es waren auch Teile des deutschen Volkes, die aktiv mitgewirkt haben. Freilich führte das zu ersten Konflikten innerhalb der Wehrmacht, und ein beachtlicher Teil der hohen Offiziere wehrte sich damals noch gegen die Einführung einer derartigen Praxis.

Statt der Auswanderungspläne, weil diese ja nicht mehr wie vorgesehen möglich waren, tauchten jetzt innerhalb der SS und der Gestapo konkrete Ghettopläne auf. Es beginnt der Gedanke systematischer Deportationen der verbliebenen Judenschaft aus Österreich, der Tschechoslowakei und aus dem Deutschen Reich nach Polen platz zu greifen. Am 6. Oktober 1939, zu Beginn also der Pause zwischen dem Ende des Polenkrieges und der Eröffnung des Westfeldzuges im Frühjahr 1940, verkündete Hitler die Notwendigkeit, die Juden im Großdeutschen Reich und im besetzten Gebiet zu isolieren. Ein Teil Polens wurde zum Generalgouvernement erklärt, Hans Frank zum Generalgouverneur ernannt, für alle dort lebenden Juden der Judenstern eingeführt. In diesen Wochen und Monaten des Spätherbstes 1939 begann auch die Praxis, polnische Juden nach der neuen sowjetrussisch- polnischen Grenze abzuschieben und sie über diese Grenze nach Sowjetrußland zu treiben. Die sowjetrussische Geheimpolizei schickte ihrerseits die Verjagten wieder nach Polen zurück, in den Bereich des Nationalsozialismus. Hier begann eine barbarische Übung, die später zu schrecklichen Folgen geführt hat.

Am 30. Januar 1940 wurde der Beschluß zur „Umsiedlung“ der Juden gefaßt. Es setzten die ersten Transporte nach Polen ein. Allerdings verfügte am 23. März 1940 Hermann Göring wiederum darin Einstellung, weil sich große Schwierigkeiten ergeben hatten; man kam in dem ersten Aufbauwirbel im Generalgouvernement nicht zu Rande, die Organisation klappte nicht. Außerdem hatten Interventionen stattgefunden, Bedenken waren da und dort gegen diese neue Praxis aufgetreten. Bei der Verordnung zur Einstellung handelte es sich jedoch lediglich um einen vorübergehenden, teilweisen Aufschub.

Schon am 30. April 1940 zeigte sich, daß man die Umsiedlung systematisierte; es wurde das erste Groß-Ghetto der Nationalsozialisten für die Juden, und zwar in Lodz, eingerichtet.

Am 20. Juni des gleichen Jahres, nach der Niederwerfung Frankreichs, erwähnte Hitler Mussolini gegenüber den Gedanken, ob man nun nicht größere Teile der Judenschaft Europas nach Madagaskar verpflanzen könne. Er disponierte in diesem Zeitpunkt also bereits über das französische Territorium, obgleich damals noch nicht einmal ein Waffenstillstand abgeschlossen war. Von da an befaßte sich das Auswärtige Amt in Berlin mit dem „Madagaskar-Plan“, wie er nun hieß.

Im Herbst 1940, am 4. Oktober, schloß sich das nichtbesetzte Frankreich unter Marschall Petain den antisemitischen Gesetzen der Nationalsozialisten weitgehend an. Es wurde das sogenannte Judenstatut (statut des juifs) erlassen, das sich gegen die jüdischen Flüchtlinge richtete, die vor dem Krieg und während des Krieges nach Frankreich gekommen waren und die nun vom besetzten in den unbesetzten Teil flüchteten, aber nicht in beliebiger Weise etwa von dort ins Ausland konnten. Sie mußten damals noch nicht den Judenstern tragen - das wurde erst später verfügt -, aber es wurde ihnen die französische Staatsbürgerschaft entzogen, wenn sie sie erworben hatten. Die Gefahr, daß sie den Nationalsozialisten in die Hände fielen, erhöhte sich.

Am 16. Oktober 1940 erging durch die Gestapo der Befehl zur Einrichtung eines Großghettos in Warschau. Am 15. November wurde verfügt, es hermetisch zu schließen, so daß nur Einlieferungen stattfanden, aber niemand mehr das Ghetto verlassen konnte.

Am 22./23. Januar 1941 fand in Rumänien - die Aktionen greifen nun um sich - in einem Aufstand der sogenannten „Eisernen Garde“, der dortigen Nationalsozialisten, das erste Großgemetzel unter Juden statt.

Nun erfolgten vom Februar bis zum April Masseneinlieferungen aus dem gesamten Herrschaftsgebiet des Nationalsozialismus in das Warschauer Ghetto. Schließlich lebten dort bis zu einer halben Million Juden.

Am 30. März 1941, während dieser Masseneinlieferungen, erging geheim einer der berühmt-berüchtigten „Führerbefehle“: der Befehl zur „Endlösung“, wie sie von da an genannt wurde, der Beschluß zur Ausrottung, zur Liquidation der Judenschaft. Ende Mai, knapp vor Beginn des Rußlandfeldzuges, bestimmte die SS eigene Einsatztruppen für den Osten. Es wurde vorgesehen, daß hinter den vordringenden Truppen sofort die Liquidationskommandos gegen die Juden in Aktion treten sollten. Als einer der Leiter der Einsatzgruppen, und zwar zentral, wurde Odilo Globotschnig bestimmt, der sich zu dieser Rolle einigermaßen gedrängt hatte. Nach dem Beginn des Feldzuges gegen Sowjetrußland und nach den ersten großen Erfolgen der Wehrmacht setzte dann auch alsbald die Serie von Großpogromen gegen die Juden des sowjetischen Bereiches ein.

Um mit Problemen fertig zu werden, die im Zuge dieser wüsten Pogrome auftauchten - zum Teil wurden 10.000, 15.000 und mehr Juden an bestimmten Orten erfaßt -, beschloß man im Juli 1941, eigene Vernichtungslager einzurichten. Es war das eine Sonderart von Konzentrationslagern, die zwar ohnehin in ihrer Praxis vielfach Vernichtungslager waren, aber diese neuen sollten eigens zur physischen Liquidierung jüdischer Bevölkerungsteile, die in die Hände der Nationalsozialisten fielen, eingerichtet werden. Das erste Lager wurde in Majdanek in Polen eingerichtet, das dann eines der berüchtigten Vernichtungslager der Nationalsozialisten geworden ist. Jetzt beginnen die Austreibungen aus den gesamten eroberten Gebieten Europas. Schon vor Beginn des Rußlandfeldzuges war die ganze Südostflanke des „Großdeutschen Reiches“ gesichert worden, indem man Jugoslawien und Griechenland erobert hatte, worauf sich die übrigen Balkanstaaten der nationalsozialistischen Politik anschließen mußten.

Nur Ungarn war noch einigermaßen eine Enklave, in der die Juden verhältnismäßig verschont blieben, obgleich das dortige Horthy-Regime antisemitisch war. Aber Ungarn war jetzt wie eingeschlossen. Aus allen Gebieten begannen die systematischen Austreibungen. Die Juden wurden eingefangen, in Züge gesetzt, in Viehwagen eingesperrt unter den unmenschlichsten Bedingungen in die neu für sie eingerichteten Ghettos und Lager nach dem Osten abtransportiert. Noch lief die Entwicklung nebeneinander her zwischen Ghetto und Vernichtungslager. Im Herbst 1941 gab es erst das eine Vernichtungslager: Majdanek, aber die Zahl der Ghettos nahm fortwährend zu; am Ende gab es schätzungsweise 50 Groß-Ghettos im polnischen Gebiet.

Am 23. September 1941 wurde im Lager Auschwitz, das ein schon vorher gegründetes normales Konzentrationslager gewesen war, eine erste Vergasung durchgeführt: Es öffnete sich die dritte Aktionslinie - man fürchtete, mit den Ghettos nicht fertig zu werden oder mit den Vernichtungslagern nicht schnell genug zu Rande zu kommen. Man überlegte vorsorglich Maßnahmen zur Schnelliquidation, und zwar durch Gas, das die Lungen zerriß. Die Vergasungsräume waren als Bäder getarnt. Im Oktober des gleichen Jahres wurde vorgeschlagen, Vergasungslager in Riga und Minsk zu errichten, damit man aus den baltischen Ländern und aus Sowjetrußland die gesamte Judenschaft dorthin leiten konnte.

 

Die erste Verschleppung der Frankfurter Juden (Oktober 1941):

In nur elf Monaten wurden mehr als achttausend jüdische Frankfurter gewaltsam aus ihren Wohnungen verschleppt und ihres Eigentums beraubt. Diese erste Verschleppung betraf mehr als 1.100 Menschen, die nach Lodz im besetzten Polen gebracht werden sollten. Fast alle wohnten im besten Viertel der Stadt, dem Westend, gehörten also zu den Wohlhabenderen. Die Frankfurter Gestapo, die die Deportationen organisierte, hatte die Namenslisten alleinig nach dem Vermögen sowie den dann freiwerdenden Wohnungen zusammengestellt.

Rabbiner Neuhaus und die Vertreter der Jüdischen Gemeinde wurden am Freitag, dem 17. Oktober 1941, zur Gestapo vorgeladen, wo man ihnen unter Androhung von Strafen befahl, die Gerüchte über bevorstehende Deportationen mit ihrer ganzen Autorität zurückzuweisen, was dann in den Gottesdiensten geschah.

Am Morgen des 19. Oktober 1941, einem Sonntag, wurden die jüdischen Menschen ohne jede Vorwarnung früh zwischen 6 und 7 Uhr von bewaffneten SA-Leuten in ihren Wohnungen aufgesucht. Die SA fungierte mit 250 Männern als Hilfspolizei. Insgesamt waren fast 700 NSDAP-Mitglieder eingesetzt, die ihre Instruktionen im Gesellschaftshaus des Palmengartens bekommen hatten.

Innerhalb von wenigen Stunden konnten die Menschen unter Bewachung einige Habseligkeiten zusammenpacken, bevor sie gezwungen wurden, ihre Wohnungen zu verlassen. Zahlreiche Menschen versuchten zu entkommen oder töteten sich an diesem Tag selbst, am Mainufer wurden Leichen angeschwemmt.

Claire von Mettenheim notierte in ihrem Tagebuch: „Am Morgen kam alles viel schlimmer, als die Gerüchte wissen wollten, nun sehen wir es doch mit eigenen Augen! Drüben im Goldstein’schen Haus war in den zwei unteren Etagen eine jüdische Pension. Zusammengepfercht lebten sie da, wohl meist zu zweit oder zu dritt in einem Zimmer. Wohnungen waren ihnen ja vorher gekündigt worden, seit Wochen und Monaten suchten sie, wurden umher gejagt. Stunden und Stunden standen die Familien da drüben. Jeder ein Pappschild umgehängt (Wie ein Schandschild aus dem Mittelalter), das Gepäck in der Hand, den Rucksack auf dem Rücken. Szenen, die sich nie vergessen lassen werden: Eine feine; alte, schmale, blasse Dame, Persianermantel. Ein großes Schild unter dem Kinn. Als sie es tiefer hängen wollte, riefen die Umstehenden: „Der Stern! Der Stern!“ - den zu verdecken ja schwere Strafe kostet. Ein alter, schwacher Mann mußte vor dem kraftstrotzenden SS-Mann- Laufschritt üben - weil es dem nicht schnell genug ging! Den ganzen Tag über dauerte das Warten, Packen, Warten –­ bis sie dann alle gesammelt in den Keller der Markthalle kamen. Die Gestapo Frankfurt hatte die städtische Großmarkthalle an der Hanauer Landstraße als Ort für das Sammellager ausgesucht, um die Verschleppung einer so großen Menge von Menschen zu bewältigen. Die mit Wartenummern versehenen Juden mußten unter Bewachung den Keller vom Ostflügel her über eine breite Rampe betreten, dann wurden sie den etwa 300 Meter langen Weg vor den Lagerräumen im Süden entlang geführt, sie passierten die Westseite und mußten in Gruppen von 50 Menschen, mit Seilen abgetrennt, warten, um dann an einzelnen Kontrollstationen „durchgeschleust“ zu werden: zuerst durch die Annahmestelle mit Eintrag in die Liste, dann Gepäckdurchsuchung mit brutaler Leibesvisitation, danach war das Finanzamt zuständig, Abgabe der Vermögensliste sowie der Wertgegenstände mit einem in der Wohnung erstellten Verzeichnis, Abgabe des Wohnungsschlüssels mit Adreßschild, dann wurden die Lebensmittelkarten abgenommen, die Kennkarten wurden „evakuiert“ gestempelt, das Bargeld mußte abgegeben und zuletzt der Abschluß dieser Kontrollstationen bestätigt werden.

 Nach diesen Prozeduren, die sich weit in die Nacht hinzogen, wurden die Menschen in einen Raum mit Matratzen im Ostflügel geführt. Es kam es zu schweren Mißhandlungen, auch zu Todesfällen.

Am frühen Morgen mußten die mehr als 1.100 Menschen in die Einzelabteile der 3. Klasse-Wagen eines Personenzuges auf den Gleisen der Großmarkthalle einsteigen. Nach zweitägiger Fahrt kamen sie in Lodz an und wurden ins Ghetto getrieben, wo sie Zwangsarbeit leisten mußten. In dem strengen Winter 1941/42 starben vom Frankfurter Transport wegen ständiger Unterernährung besonders alte Menschen. In den ersten sechs Monaten etwa 200, die auf dem im Ghetto liegenden alten Jüdischen Friedhof beerdigt wurden. Die Ghetto-Chronik notiert mehrere Selbstmorde von Frankfurtern. Im Rah­men der Umstruktu­rierung des Ghettos Litzmannstadt fiel et­wa Mitte April 1942 die Entscheidung der NS-Führung, die nicht arbeitsfähigen Men­schen unter den aus Deutschland Ver­schleppten zu ermor­den. Von den noch et­wa 885 Frankfurtern, die zu dieser Zeit im Ghetto lebten, wurden mehr als 500 am 12./13. Mai nach Chelmno (Kulmhof ) verschleppt. In einem Herrenhaus war dort einige Monate zuvor ein Vernichtungslager eingerichtet worden, wo die Menschen in so genannten Gaswagen, in die etwa 50 Personen paßten, auf der Fahrt in das vier Kilometer entfernte Waldlager getötet wurden. Dort wurden die Leichen aus dem Wagen in Massengräber geworfen.

 

Im Verlauf dieser Verschleppung wurde am 22. November 1941 auch die Familie Schönfeld aus Dörnigheim mit verschleppt, so daß dies die erste Verschleppung aus dem Kreis Hanau ist (s.u.). Am 11. November erfolgt eine Deportation vor allem des Mittelstands aus Frankfurt mit dem Ziel Minsk, wo manche der Verschleppten noch eine Reihe von Jahren im Ghetto leben.

 

Wannsee-Konferenz:

Anfang 1942 kamen die Herren Verfolger und die Mitwirkenden der Berliner Ministerien, einschließlich des Auswärtigen Amtes, dann in Berlin-Wannsee zu einer Besprechung zusammen, die man die „Wannsee-Besprechung“ genannt hat. Dort wurde die schnelle und radikale Ausrottung der Juden als Einheitsmaßnahme beschlossen. Es haben, wie erwiesen ist, einige Teilnehmer doch Bedenken gehabt und hinhaltenden Widerstand geleistet, aber es ist niemand aus diesem Kreis deshalb ausgeschieden. Bestimmend waren die obersten SS-Führer der Gestapo.

Der relative Widerstand wurde ermöglicht durch eine Reihe von Umständen, nicht etwa bloß durch ausländische Reaktionen. Schon 1938 hatten die Juden, die nach Buchenwald gekommen waren und von denen dann ein Teil sofort, nachdem sie auf ihr Vermögen verzichtet hatten, wieder entlassen und zur Auswanderung gezwungen worden war, die Kenntnis von den Zuständen in den Konzentrationslagern ins gesamte Ausland getragen. Immer mehr Informationen sickerten durch und selbstverständlich bemächtigte sich die Kriegspropaganda der tatsächlich ent­setzlichen Greuel. So mußten also gewisse Rücksichten in Erwägung gezogen werden.

Die Schwierigkeiten einer genauen Definition kamen hinzu: was Judenmischlinge seien. Mischlinge ersten und zweiten Grades. Dadurch gab es allmählich für die Durchführungsverordnungen mancherlei Differenzen, und immer hatten maßgebende Leute irgendwelche nähere jüdische oder teiljüdische Bekannte, die sie den grauenhaften Entwicklungen entziehen wollten. Alles das spielte eine Rolle, so daß die eine oder die andere Stelle versuchte, Verzögerungen zustandezubringen. Bei der Unterscheidung verschiedener Arten von Juden kam es unter anderem zu dem Beschluß, in ein eben eingerichtetes Ghetto in Theresienstadt bestimmte Kategorien, besonders ältere Juden und Frontkämpfer, die sich im ersten Weltkrieg ausgezeichnet hatten, abzuschieben. Diese Einlieferungen nach Theresienstadt erfolgten von 1941 an; Juden die dorthin kamen mußten zwar unter schrecklichen Bedingungen vegetieren. aber sie erhielten immerhin eine Chance, eine etwas größere Chance zu überleben als andere; freilich nicht, wenn das Dritte Reich siegte.

Wie systematisch und schnell die Dinge aber nun vorwärts getrieben wurden, ist aus der Tatsache zu ersehen, daß am 3. Februar 1942 dem SS-Obergruppenführer Oswald Pohl die Leitung aller Konzentrationslager unterstellt und die wirtschaftliche Verwertung der Opfer vorgesehen wurde, was zu entsetzlichen - man kann das Wort Kultur hier kaum negativ gebrauchen - antikulturellen Konsequenzen geführt hat: Verwertet wurden ganze Haufen von Goldzähnen (allen Vergasten wurden ja die Goldzähne herausgerissen), alle Brillen, die Schuhe, die Frauenhaare. Auf den Lagerstraßen von Auschwitz wurden zum Teil die Knochen von Verbrannten als Wegebelag benutzt. Die am 3. Februar 1942 neu eingerichtete Zentralstelle hieß SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt.

Im März 1942 begann der sogenannte „Einsatz Reinhard“ im gesamten Osten. Die Liquidationskommandos der SS hinter der Front, und zwar unmittelbar hinter ihr, wurden in Tätigkeit gesetzt. Sie belieferten die Todeslager und vollzogen die Liquidationen, sei es in den Lagern, sei es außerhalb dieser Lager, durch Massenerschießungen.

Im Mai 1942 kam es zur zweiten Verschleppung von Juden aus dem Kreis Hanau (s.u.)

 

Europäisches Ausland: Im Sommer 1942 griff die Einzugsaktion auf Westeuropa über, das bisher relativ in Ruhe geblieben war. Nun aber war man sich des Sieges sicher. Es wurde für Frankreich und Holland der Judenstern für alle Juden eingeführt, und es begannen die sogenannten „Selektionen“: die Auswahl für die Todestransporte nach Osten oder für die Einlieferung in die Ghettos.

Mehr und mehr wurden die Ghettos lediglich zu Zwischenetappen. Denn am 22. Juni 1942 wurde beschlossen, aus ihnen sogenannte „Umsiedlungen“ vorzunehmen, abermals ein Tarnausdruck in der langen Reihe derer, die den Nationalsozialisten geläufig waren.

„Umsiedlung“ hieß jetzt nicht mehr: seinen Wohnsitz aus einem bestimmten Gebiet Europas nach dem Osten verlegt zu bekommen, sondern aus dem Ghetto in ein Todeslager, in die Gasöfen geschickt zu werden oder zu Massenerschießungen, wobei sich alle Opfer ihre Gräber immer selbst schaufeln mußten.

Die Verfügung zur Liquidation wurde im August 1942 für das Warschauer und für das Lemberger Ghetto getroffen, die beide zu sehr angewachsen waren. Diese Verfügung war der Anfang der Überlegung aktiver Juden in Warschau, besonders der jüngeren, der Entwicklung nun nicht mehr ruhig zuzusehen, sondern zu kämpfen; wenn man schon sterben mußte, dann wollte man kämpfend sterben. Der Entschluß dazu ging auf den Sommer 1942 zurück.

 

Die zweite Verschleppung der Juden aus Frankfurt (September1942): Nun befanden sich noch 325 Frankfurter im Ghetto. Im September 1942 kam es zu einer weiteren großen Deportationswelle von kleinen Kindern unter zehn Jahren und alten Leuten, darunter etwa 50 aus Frankfurt. Auch sie wurden in Gaswagen getötet. Nach etwa zwei Jahren wurden, um die Spuren dieser Verbrechen zu beseitigen, die Massengräber wieder geöffnet, die Leichen verbrannt und die Knochenreste schließlich mit einer Knochenmühle zer­mahlen. Im Ghetto waren nur noch Men­schen zurückgeblieben, die in der Produktion eingesetzt waren. Ende 1942 strukturierte man das Ghetto als Arbeitslager für die Rüstungsindustrie um. Im Sommer 1944 wurde das Ghetto allmählich aufge­löst und die Menschen nach Auschwitz ver­schleppt. Die Befreiung 1945 erlebten le­diglich drei Personen von den mehr als 1.100 Menschen, die am 19. Oktober 1941 aus ihren Wohnungen im Frankfurter Wes­tend verschleppt worden waren.

Im September 1942 war die dritte Verschleppung von Juden aus dem Kreis Hanau (s.u.)

 

Am 4. Oktober erfolgte Befehl des SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamtes im Einvernehmen mit der Gestapo, daß alle Juden aus den normalen Konzentrationslagern, deren Zahl mit ihren Nebenlagern schon in die Hunderte ging, zur Vergasung abzutransportieren seien. Dieser Befehl ist aus lokalen Gründen in den einzelnen Lagern nicht immer durchgeführt worden, obgleich sehr viele Juden jeweils zu Vergasungstransporten zusammengestellt wurden. Wir in Buchenwald wußten jedesmal, ob es sich um einen Vergasungstransport handelte, oder ob es um eine Arbeitsplatzverlegung in ein Außenlager ging.

 

Im Jahre 1943 kam es zu einer gewissen Verlangsamung der Vernichtungsaktionen, und zwar durch die Notwendigkeit verstärkter Rüstungsarbeiten. Es zeichnete sich damals der Rückschlag ab, der in Sowjetrußland nach Stalingrad eingetreten war. Die Frage nach den notwendigen Rüstungsarbeitern rückte in den Vordergrund, und man überlegte, ob man nicht jüngere Juden, die noch die volle Arbeitskraft besaßen, aus ganz Europa für die Rüstung mitverwenden könnte.

Aus dem Warschauer Ghetto waren um diese Zeit, im Frühjahr 1943, bereits 310.000 Juden - Männer, Frauen und Kinder – „umgesiedelt“, das heißt in Vernichtungslagern vergast worden. Und nun begann erstmals aktiver Widerstand unter den Todgeweihten, ein Widerstand, der sich bis zum berühmten Warschauer Ghetto-Aufstand gesteigert hat. Er ist im heroischen Untergang der Judenschaft in Warschau beendet worden.

Am 11. Juni 1943 ordnete Himmler die Liquidation sämtlicher Ghettobewohner im Osten an. Jetzt münden die verschiedenen Aktions-Linien der SS in einer einzigen zusammen: in der sogenannten „Endlösung“, in den Massenvergasungen und Erschießungen. Am 24. August 1943 wurde Himmler Reichsminister des Innern. Zu diesem Zeitpunkt fand die Liquidierung der Juden - und nicht nur der Juden - in Sowjetrußland nicht mehr hinter einer vorrückenden deutschen Front, sondern vor den zurückgehenden deutschen Truppen, vor den vormarschierenden Sowjetrussen statt. Der Befehl, den Himmler am 11. Juni erteilt hatte, war bereits auf die völlige Wendung der Frontereignisse in Rußland zurückgegangen. Das ganze Halbjahr 1943 hindurch wurden nun die Liquidationen im Osten bis hin zu den Versgasungslagern in Deutschland durchgeführt.            .

 

Die letzte Phase:

Im Frühjahr 1944 versuchte man - unter dem Druck der anrückenden Sowjetfront im Osten - auch noch die Juden Ungarns zu deportieren. Der Widerstand der ungarischen Behörden, den diese wirklich sehr lange geleistet hatten, wurde beseitigt. Der „Pfeilkreuzler“ Salassi stellte sich als Anlieferer zur Verfügung. Aber damals bereits verhandelten SS-Führer der obersten Spitze mit Wissen von Himmler, insbesondere auch Eichmann und in seinem Auftrag andere, mit den Vertretern der ausländischen Judenschaft über die Möglichkeit, ungarische Juden vor der Deportation, das heißt vor der Vernichtung, zu bewahren. Als Gegenleistung wurde die Zahlung ausländischer Devisen pro Kopf und die Lieferung von Lastwagen für die Wehrmacht und die SS gefordert: Handel mit Menschen gegen Devisen und Lastwagen!

Es ist allerdings nur eine ganz geringe Zahl - wenn ich mich recht erinnere, von nicht einmal 1.500 Juden - auf solche Weise gerettet worden. Die Verhandlungen verliefen überaus schwierig. Sie wurden von den Judenreferenten der Gestapo geführt. Währenddessen fanden jedoch die Abtransporte in die Vernichtungslager statt. Allein in Auschwitz sind während dieser Zeit, gleichzeitig mit den laufenden Verhandlungen, mindestens 250.000 ungarische Juden vergast worden. Diese Aktion sollte einerseits die Unterhändler abschützen gegen radikalere Kräfte innerhalb der SS und der Gestapo, andererseits die ausländischen Unterhändler unter Druck setzen: Man sollte sehen, daß es Ernst war...

Das merkwürdige „Handelsunternehmen” schuf indes eine gewisse Chance des Überlebens für andere Juden in Konzentrationslagern. SS-Leute, die von dem Geschäft erfuhren, wurden unsicher, sie fragten sich, warum dies alles geschehe, ob sich die Führung sichern wolle, indem sie diesen Handel eingehe, und ob man sich nicht selber eventuell bestimmte „Judenreservoirs“ schaffen müsse. Die SS-Leute gingen allmählich zu vielerlei Spekulationen über, und sie schufen damit einige Aussichten für einige Leute.

Am 24. Juli wurde das erste östliche Großliquidationslager, Lublin, von den Russen befreit. Von da an erfolgen die Evakuierungen der Lager, soweit man die Insassen nicht vorher liquidieren konnte; es begannen die berüchtigten Todesmärsche. Die ausgemergelten Gestalten, die gerade noch für die Arbeit aufgespart worden waren und die nun in Marsch gesetzt wurden, mußten sich auf ihren weiten Wegen, zurück in den Westen, dahinschleppen. Wenn sie nicht weiterkonnten, wurde sie erschossen.

Ich selbst habe im Lager Buchenwald solche Ankömmlinge erlebt, besonders ungarische Juden. Aber das kann man nicht schildern. Am allerschlimmsten war es mit den Kindern die sich hinzu nicht verständigen konnten. (Ich befand mich hinter einem Sonderstacheldraht - wo es uns aber besser als anderen ging - und sah die Angekommen, völlig abgemagerte jüdische Buben von 12 und 13 Jahren, vorüberziehen - ins sogenannte „Kleine Lager”, eine Elends- und Schreckensabteilung. Ich konnte vier, fünf ungarische Worte sprechen, wie man sie in Österreich lernte – „bitte schön“, „danke schön“, „Küß die Hand“ und so; die rief ich den Kindern zu. Man kann sich kaum vorstellen, wie ihre Augen aufleuchteten, weil sie, wenn auch sonst sinnlos, ihre Heimatsprache hörten! Die Welt verlor ihre entsetzliche Fremdheit, die vollendete Feindschaft. Ich habe einmal noch einen Laib Brot über den Drahtzaun geworfen, hoffentlich hat es ihnen wenigstens für ein paar Stunden, noch für einen Tag, eine Nacht geholfen...Bericht von Eugen Kogon).

Ende Oktober 1944 fanden in Auschwitz die letzten Selektionen statt, dann geriet auch dieses Großvernichtungslager in den Bereich der sowjetischen Armee. Im Jahre 1945 handelte es sich nur noch um einen Wettlauf zwischen Befreiung und Liquidation. In diesem Wettlauf hat es viele Tote, letzte Tote, aber auch viele Gerettete gegeben. Die SS-Führer suchten durch beschleunigte Verhandlungen in der Schweiz und in Schweden eine letzte Chance. Das hatte immerhin den Erfolg, daß die Vernichtung der Juden in allen Konzentrationslagern verzögert und teilweise eingestellt wurde. Das System zersetzte sich in den letzten Monaten zusehends.

Jedoch fanden im Februar 1945 noch Verschleppungen von Juden aus sogenannten „Mischehen“ statt (s.u.).

 

Verschleppung der Juden aus dem Kreis Hanau

Bei der Volkszählung am 17. Mai 1939 gibt es in Bischofsheim, Dörnigheim und Hochstadt je sechs Juden, in Wachenbuchen sind es 13, insgesamt also 31 Personen (während es 1933 noch etwa 150 sind).

Im Jahre 1940 gab es noch 15 jüdische Familien mit etwa 45 Angehörigen im Stadt- und Landkreis Hanau Im März 1943 wurden 14 Personen, im September nochmals 15 Personen „nach unbekannt“ abgemeldet (nach Arnsburg).

 

Bei der ersten Deportation war noch nicht klar, daß es in ein Vernichtungslager ging. Es gab Briefverkehr und es konnten Päckchen ins Lager geschickt werden (zumindest nach Theresienstadt). Im Mai 1942 tauchten Gerüchte in Frankfurt auf, daß ein Tramsport Juden ermordet worden sei. Allen war klar, daß es den Juden in den Lagern nicht besser ging als vorher, auch weil das Vermögen der Juden beschlagnahmt worden war.

Die Juden selber erwarteten ein Arbeitslager. Aber zum Beispiel in Riga konnte man sich denken, was mit den 30.000 Menschen geschehen war, die man an einem Tag aus dem Lager herausgezogen hatte, um Platz für die Neuen zu machen. Aber andere lebten noch jahrelang in Theresienstadt und wurden nicht gleich ermordet.

 

Die erste Verschleppung:

Die organisierten Verschleppungen beginnen in Deutschland Mitte Oktober 1941, in Frankfurt am 19. Oktober 1941. Die Verschleppung der Brüder Schönfeld erfolgte 22. November 1941. Es war eine Einzelaktion, die nicht von Berlin gedeckt war. Sie wurden zusammen mit Juden aus München und Wien in Kaunas erschossen. Ziel des Transports ist Riga. Aber fünf Züge werden nach Kaunas in Litauen gebracht. Dort werden die Juden durch die Stadt getrieben, am Ghetto vorbei zum Fort 9. Dort werden sie zwei oder drei Tage später beim „Frühsport“ vor den längst ausgehobenen Gräben erschossen: Am 25. November werden die „Umsiedler“ aus Frankfurt, Berlin und München erschossen. Nach zwei Jahren werden die Gräber wieder von Gefangenen geöffnet. Sie bringen Kofferanhänger und ähnliches als Beweisstück ins Ghetto mit. Die Leichen werden dann verbrannt (Am 9. Dezember wurde erstmals in Kassel eine Deportation von rund 1.000 Personen vorgenommen, der Bereich Hanau war aber davon noch nicht betroffen).

 

Die zweite Verschleppung:

Der Hanauer Hauptbahnhof war im Jahre 1942 zweimal Schauplatz von gewaltsamen Verschleppungen jüdischer Familien aus der näheren Umgebung. Dabei handelte es sich jeweils um „Zuleitungstransporte“ zu einem zentralen Sammellager in Kassel.

Am 30. Mai 1942 kommt es zu einer zweiten Verschleppung von rund 500 Personen durch die Gestapo Kassel. Es war ein „Koppeltransport“, weil weitere 500 Personen durch die Gestapo Chemnitz herbeigeführt wurden. Organisator war die Gestapo Kassel, die aber mit den Landräten zusammenarbeitete, die wiederum die Bürgermeister anwiesen. Die jüdischen Bürger erhielten Nachricht durch die Reichs­vereinigung der Juden, die nationalsozialistisch gesteuert war. Das Vermögen wurde nach dem Abtransport beschlagnahmt durch die Gestapo und das Finanzamt und später versteigert.

Die Verschleppung betraf Juden unter 65 Jahren, die nicht im kriegswichtigen Einsatz waren, aber mit normalem Gesundheitszustand. Dabei wurde auch der Stadt- und Landkreis Hanau erfaßt. Am 30. Mai 1942 wurden 84 Juden aus Stadt und Kreis Hanau verschleppt, aus Hanau, Langenselbold, Bergen, Rückingen, Langendienbach, Bischofsheim, Hochstadt, Niederrodenbach, Ostheim und Großauheim. Aus Hochstadt war bei diesem Transport nur das Ehepaar Katz dabei. Aus Bischofsheim waren bei diesem Transport dabei fünf Mitglieder der Familie Wolff, Niedergasse 22: Emma, Hermann (29), Ludwig (36), Max (21), Paul (29). Die älteste Frau auf dem Transport war 69 Jahre alt. Bei den Einwohnermeldeämtern wurde eingetragen „unbekannt verzogen“ oder „ins Ausland“.

Die Landräte setzen die Bürgermeister der in Frage kommenden Orte in Kenntnis, die wiederum den einzelnen jüdischen Familien mitteilten, was zum Transport mit zu nehmen war. Sie hatten die Papiere zu überprüfen und eine Flucht sowie die Veräußerung von Wertsachen verhindern.

Am Donnerstagvormittag (30. Mai) wurden die Juden von örtlichen Wachtmeistern zum Hanauer Bahnhofsvorplatz gebracht. Dabei handelte es sich allerdings um den alten Hauptbahnhof, der heute nicht mehr vorhanden ist. Ein Bericht darüber liegt vor von Robert Eisenstädt, der in der Nürnberger Straße 3 wohnte, dem ehemaligen jüdischen Gemeindehaus. Er berichtet über die Pein, Erniedrigung und die kata­strophalen Zustände beim Transport über Kassel in die Vernichtungs­lager des Ostens. Er überlebte als einziger, da ihm am 12. Juli 1942 die Flucht aus Majdanek gelang und ihn in Frankfurt ein Kinderarzt vor den Nazis versteckte.

 

Bilder von der Verschleppung machte der Stadtfotograf Franz Weber, insgesamt sind 19 bei der Stadtbildstelle erhalten. Die Bilder von der Abfahrt vom Hanauer Hauptbahnhof verraten nichts davon, welch grauenvol­les Schicksal die Deportierten erwartete. Nur Gestapo‑Männer und Polizisten ma­chen deutlich, daß es sich hier nicht um eine normale Reisegruppe handelt, die auf ihren Zug wartet. Fakt ist auch, daß diese Deportationen nicht bei Nacht und Nebel, sondern am hellichten Tag und in aller Öffentlich­keit stattfanden. Die Bilder zeigen nach Angaben von Monica Kingreen in dem Buch „Hanauer Juden 1933-1945“, ab Seite 97:

 

Die 19 Bilder von der Verschleppung der Juden aus Hanau:

  1. Der 30. Mai 1942 muß ein schöner Früh­sommertag gewesen sein. Dies ist an der leichten Kleidung der anderen Reisenden und Personen zu erkennen, die auf den Bildern zu sehen sind. Die Personen haben nur kleines Handgepäck, die größeren Gepäckstücke sind schon im Packwagen. Vier Beamte der Ordnungspolizei mit Aktentaschen unter dem Arm betrachten die Ankömmlinge aus einigen Metern Entfernung. Daneben sind vier Gendarmen ins Gespräch vertieft. Im Bildvordergrund ist die 37jährige Jenny Hahn aus Bergen zu sehen. Im Hintergrund tritt ein kleines Kind aus der Reihe hervor und schaut die umstehenden Zuschauer an. Drei Frauen und ein Kind blicken den Fotografen skeptisch an
  2. Jetzt wird der Aufbruch befohlen: Viele der Wartenden bücken sich, um ihr schweres Gepäck aufzunehmen. Der Mann mit dem Rucksack ist Hermann Wolff aus Bischofsheim, 27 Jahre alt. Er unterhält sich mit der Familie Levi aus Ostheim. Alle tragen trotz der warmen Witterung so viel wie möglich an Kleidung und haben auch Wolldecken und Trinkbecher dabei. Bei einer sich bückenden Frau ist ein großes stück Stoff mit ihren Angaben auf den Mantelrücken aufgenäht zu entdecken. Zahlreiche Neugierige beobachten intensiv die Menschen mit dem Judenstern, den diese nun schon länger als acht Monate deutlich sichtbar an der Kleidung tragen mußten. Die Passanten sind leicht gekleidet. Doch die Juden müssen so viel Kleidung wie möglich auf dem Leib tragen: dicke Wintermäntel, hohe Stiefel, dicke Strümpfe, Hüte. Bei sich haben sie Handtaschen, Bündel, aus Bettüchern genähte große Umhängebeutel, dicke Rucksäcke und große Koffer, auf denen zusammengerollte Wolldecken aufgeschnallt sind, oft noch Kochtöpfe, Trinkbecher und Stiefel seitlich befestigt sind.
  3. Die Abfahrt erfolgt an Bahnsteig 2 in Richtung Friedberg (heute: Gleis 9). In kleinen Gruppen gehen die Menschen zum Bahnsteig. In der Bildmitte Minna Weil aus Bergen mit ihren 15 und 11 Jahren alten Söhnen Walter und Richard.
  4. Auf demselben Bahnsteig warten noch Reisende auf ihren Zug, kommen weitere Reisende auf den Bahnsteig, so eine Jenny Hahn mit ihrem Sohn in Wehrmachtsuniform, ein Herr im Reiseanzug mit Regenschirm. Die Bahnsteiguhr zeigt 13.25 Uhr an. Im Hintergrund ist der Bahnsteig 1 mit vielen Wartenden zu sehen.
  5. Der Personenzug mit vier französischen Waggons der dritten Klasse ist eingefahren. Man sieht viele abgelegte Gepäckstücke mit den vorgeschriebenen Namensschildern (mit den Zwangsvornamen Israel und Sara sowie der Kennkartennummer).
  6. Gendarm und Eisenbahner verständigen sich, um das Zeichen zum Einsteigen zu geben. Äußerlich wirken die Menschen gefaßt. An ihre Verwandten im Ausland konnten sie kurz zuvor noch Briefe mit 25 Worten schreiben
  7. Das Zeichen zum Einsteigen wird gegeben durch einen Bahnbeamten. Die Uniformierten, ausgerüstet mit einer Pistole am Koppel, sind beim Einsteigen und Einladen des Gepäcks präsent. Verwandte oder Bekannte helfen. Zu sehen ist Familie Levi aus Ostheim mit den beiden Söhnen Kurt (13 Jahre) und Walter (19 Jahre). Links ist Bernhard Blumenthal aus Niederrodenbach zu sehen (zu erkennen an der Namensaufschrift auf seinem Koffer).
  8. Beim Einladen des schweren Gepäcks helfen Verwandte und Bekannte, die als Nicht-Juden vor der Verschleppung geschützt waren. Ganz rechts ist Julius Lilienfeld aus Rückingen zu sehen, der die acht Rückinger begleitet. Wir sehen ihn im hellen Sommermantel, wie er den Koffer mit der Beschriftung für Julius Gernsheimer trägt. Lilienthal war nach 1945 Bürgermeister von Rückingen.
  9. Elf Jugendliche, zwischen 13 und 18 Jahre alt, werden an diesem Tag aus Hanau verschleppt. Rechts ist die 18jährige Hannelore Stein aus Rückingen zu sehen (mit umgehängter Aktentasche und dem Zwangsnamen Sara). Dazu die Familie Isaak Strauss (mit den Kindern Siegfried und Else) aus Niederrodenbach.
  10. Die älteste Person dieses Transportes ist Johanna Kahn aus Langendiebach, die zusammen mit ihrem zehn Jahre jüngeren Mann Jakob und der 31‑jährigen Tochter Irma deportiert wird. Sie waren Mitglieder der Theatergruppe Langendiebach in der Zeit, als Juden noch zur dörflichen Gemeinschaft gehörten. Im Vordergrund ein Polizist.
  11. Auf dem Gepäckstück steht Walter Schwarz aus Hanau, in der Handtasche von Klara Levi sieht man eine Thermoskanne, so als würde es auf eine „normale“ Reise gehen.
  12. Die Helfer sind an der leichten Kleidung zu erkennen. Der junge Mann hebt den unförmigen Rucksack in das Abteil.
  13. Familie Gernsheimer aus Rückingen. Ludwig Gernsheimer war Leiter der Gemeinde. Dabei sind seine Kinder Hans (6 Jahre) und Lothar (4 Jahre), die sich an die Eltern drücken. Links im Bild ist der 13jährige Kurt Levi zu sehen.
  14. Schwer bepackt geht Walter Levi (im Vordergrund) auf seine Eltern Klara und Moritz Levi zu.
  15. Die letzten Gepäckstücke werden eingeladen.
  16. Die Zuschauer und die Gendarmen rechts bleiben unbeteiligt.
  17. Abschied am Bahnsteig, alle sind im Zug, Grüße werden noch zugerufen. Walter Levi ist im 6. Fenster von rechts zu sehen.
  18. Drei Herren bleiben zurück, wohl die Vorsteher der jüdischen Gemeinden. Der Wagen rechts bleibt leer, vermutlich für das Begleitkommando.
  19. Der Zug fährt ab auf dem Gleis Richtung Friedberg.

 

 

Robert Eisenstädt:

Robert Eisenstädt überlebte als einziger die Deportation der Juden im Mai 1942 vom Hanauer Hauptbahnhof. Der Bericht darüber wurde von Monica Kingreen in der Schweiz entdeckt

Der Hanauer Robert Eisenstädt (22) aus Hanau, der im Mai 1942 mit seiner Mutter Henriette (51), seinen vier Geschwistern Heinrich, Rosa, Martha und Willi (14, 17, 25 und 26 Jahre alt) sowie dem vierjährigen Neffen Heinz aus dem Hanauer Ghettohaus, dem früheren jüdischen Gemeindehaus in der Nürnberger Straße 3, deportiert wurde, hatte seinen Bericht über die Deportation bereits 1944 in der Schweiz niedergeschrieben.

Eigentlich hatte Robert Eisenstädt, der 1942 zur Zwangsarbeit in Frankfurt verpflichtet war, gemeinsam mit seinen Geschwistern geplant, sich vor einer bevorstehenden Deportation bei Freunden zu verstecken. Als es dann aber soweit war, machten die Freunde einen Rückzieher. Robert Eisenstädt war schwer enttäuscht. Nur seine Sachen sollte er unterstellen dürfen.

Auf dem Wege dorthin traf er einen Bekannten, den er von der SPD kannte, und - so schreibt er - der ihm riet, sich doch deportieren zu lassen: „Mache nicht den Versuch, dich zu verstecken. Erstens müßten es deine Mutter und die kleinen Geschwister mit dem Tode bezahlen, wenn sie deine Geschwister und Dich nicht durch Erpressungen verrieten. Zweitens wären die Leute, die Euch verrieten, in ständiger Todesgefahr, und drittens weiß niemand, was Deutschland bevorsteht.“

So beschloß Robert Eisenstädt, sich der Aufforderung zur Deportation zu stellen.

Seine Schwester Martha, 26 Jahre alt, hatte mit einem christlichen Mann Hans aus Hanau, den sie wegen der Vorschriften der Nazis nicht heiraten konnte, einen vierjährigen Sohn Heinz. Sie hatte ihrem Verlobten Hans Waider, der als Soldat eingezogen war, versprochen, zu flüchten. Kurz vor der Deportation hatte sie „schwere innere Konflikte, da sie doch Hans (dem Vater ihres Kindes) versprochen hatte, da zu bleiben. Sie wollte sich im Laufe des Abends vergiften“ - so berichtet ihr Bruder Robert – „wovon ich sie mit Mühe zurückhalten konnte. Nachts ging sie - zum letzten Male - zu ihren Schwiegereltern und kam, in Tränen aufgelöst, nach Hause. Sie brachte das Notwendigste mit und es wurde die ganze Nacht gepackt. Es gab keine Ruhe im Haus. Gegen Morgen legten wir uns noch etwas zur Ruhe.

Um etwa 11 Uhr kamen die Leute der Gestapo und Polizei. Unser Gepäck mußten wir auf einen großen Handwagen laden. Jeder durfte einen Rucksack oder Koffer sowie Handgepäck mit Decke und für drei Tage Proviant mitnehmen. Die Transportteilnehmer aus dem anderen Judenhaus waren zu uns gebracht worden. Die Wohnungen beziehungsweise Zimmer wurden abgeschlossen und versiegelt. Zur Bahn wurden wir von der Polizei und den weinenden Juden, die zurückbleiben mußten, begleitet.

Unweit unseres Hauses stand die Schwiegermutter Marthas (Frau Waider) mit ihrem zweiten Sohn, der von der Ostfront auf Urlaub war. Sie weinte und mußte oft den Blick von uns abwenden. Auch andere nahmen trüben Blickes Abschied von uns, doch waren viele, die durch spöttische Bemerkungen ihrer Freude Ausdruck gaben. Wir jungen Leute zogen den Gepäckwagen, während die anderen hinten nachliefen - ein trauriger Anblick.

An dem Hauptbahnhof angekommen, gesellten sich weitere Transportteilnehmer aus der Umgebung zu uns. Es standen auf dem Nebengleis vier Personenwagen bereit. Die Polizeibegleitung besetzte ein Abteil. Beim Abschied gab es herzzerreißende Szenen. Die vier Personenwagen wurden etwa 2 Uhr an einen Güterzug angehängt. Unterwegs wurde viel rangiert, wodurch wir erschüttert wurden.

In Fulda stiegen weitere Transportteilnehmer zu. Hier sahen wir auf dem Bahnsteig einen Gestapobeamten, der früher in Hanau tätig war. Er kam zu uns an den Zug und machte uns beste Hoffnungen für die Zukunft. Aus der Unterführung kamen zwei gute Bekannte - die Stadtschwestern des Gesundheitsamtes. Wir riefen sie an und stellten riesiges Entsetzen fest. Erblaßt standen beide sprachlos da. Sie warteten, bis wir weiterfuhren, winkten uns und gingen dann wieder die Unterführung hinunter, anstatt in ihren Zug einzusteigen.

 

In Bebra hatten wir zwei Stunden Aufenthalt. An einen Personenwagen angehängt fuhren wir bis nach Kassel weiter, wo wir bei Dunkelheit ankamen. Die Polizeibegleitung übergab uns der Gestapo. Wir jungen Leute mußten das Gepäck vor den Bahnhof tragen, wo einige Möbelwagen bereitstanden. Die Frauen, Kinder und alten Leute wurden weggeführt. Die Nicht-Gehfähigen wurden mit einem Möbelwagen in die Turnhalle der Bürgerschule in der Nähe des Hauptbahnhofs gebracht, die anderen mußten zu der Schule laufen. Hier wurde das Gepäck wieder dem Eigentümer ausgehändigt.

In der Halle wurden etwa 500 Personen zu einem Transport zusammengestellt. Das Gepäck wurde kontrolliert. Wahrscheinlich wurde auch eine Personenkontrolle wie bei der ersten Deportation vorgenommen; alle Wertsachen wurden abgenommen. Auch Lebensmittel und Kleidungsstücke wurden abgenommen.

Nachts mußten wir auf dem Fußboden der Turnhalle schlafen. Für Kinder waren von der Jüdischen Gemeinde Kassel einige Matratzen zur Verfügung gestellt worden. Spät abends kamen noch mehrere Leute aus anderen Gegenden.

Am nächsten Morgen bekamen wir Kaffee. Draußen an den Toren standen Polizisten mit Gewehr. Schon früh am Morgen und anhaltend den ganzen Tag kamen neue Transportteilnehmer hinzu. . Mittags gab es Suppe. Der Transport sollte nach Riga gehen. Die Turnhalle war in der Nacht überfüllt.

In den Vormittagsstunden mußte sich jeder einzelne zur Gepäck- und Körpervisitation begeben, wo Kleider und Gepäck einer gründlichen Untersuchung unterzogen wurden. Wenn jemand mehr als zehn Mark bei sich hatte, wurde er geschlagen. Nach der Untersuchung mußten wir uns wieder in die Turnhalle begeben. Unser kleiner Heinz hatte seit morgens Schmerzen in der Blinddarmgegend. Auch unsere Mutter führte sich nicht wohl. Ich ging mit beiden zum Arzt und wurde einem SS-Kommissar vorgeführt. Ich stellte ihm die Sachlage dar und bat ihn, er möge die Mutter und das Bübchen nach Hause zurückschicken. Dies fand der SS-Kommissar fatal, daß er in lautes Lachen ausbrach.      

Während des Tages legten wir die Mutter und das Kind auf eine Matratze. Wir durften keine Post mehr absenden. Trotzdem ließ ich von Helfern der jüdischen Gemeinde Post herausschmuggeln. Ich schrieb an meine Frau, (und) meine Geschwister an ihre Angehörigen. Am Mittag bekamen wir Suppe. Im Laufe des Nachmittags sah ich Kommissar Dahmer, der früher in Hanau tätig war. Ich unterhielt mich mit ihm, um Näheres zu erfahren. Dahmer sagte mir, der Transport ginge voraussichtlich nach Riga.

Ich fragte, ob er schon etwas von den Deportierten aus Polen gehört hätte. Dahmer machte mir keine großen Hoffnungen für die Zukunft, glaubte jedoch, daß wir jüngeren Leute stark genug seien, die Zeit zu überstehen. Von Bekannten hörte ich, daß bei der Durchsuchung des Gepäcks viel herausgenommen wurde. Es handelte sich um original verpackte Lebensmittel, wertvolle Kleidungsstücke etc. Das Gepäck wurde gegen Abend wieder verladen.

Inzwischen war die Turnhalle und eine zweite überfüllt. In der folgenden Nacht war nicht für alle Platz vorhanden, um zu liegen. Viele Leute saßen auf Bänken. Der Boden war so dicht belegt, daß man aus der hinteren Halle nicht zur Toilette kommen konnte. Nachts gab es keine Ruhe.

Am nächsten Morgen, dem 1. Juni 1942, mußten wir uns zum Abmarsch bereit machen. Um 8 Uhr war Aufstellung im Hofe, und so standen wir mit dem Handgepäck bis 11 Uhr. Dann wurden wir von viel SS-Polizei begleitet und gingen in Trauermarschtempo zum Bahnhof. In jeden Wagen stiegen 64 Personen ein. Das Gepäck wurde in einen Güterwagen am Schluß des Zuges geladen. Jede Person bekam einen Platz zugewiesen. Es waren durchgehende Wagen mit je zwei Abteilungen, unsere Familie war in einem Abteil mit anderen fremden Leuten zusammen. In jedem Wagen waren vierundsechzig Personen, der Transport bestand aus 1200 Menschen.

Von den Helfern der jüdischen Gemeinde bekam jeder 500 g Brot, etwa 20 g Margarine und etwa 50 g Wurst, sowie eine Flasche Kaffee. In jedes Abteil wurde eine Korbflasche mit etwa 30 Liter Wasser gestellt. Die SS-Polizei besetzte das erste und letzte Abteil. Die Türen wurden verplombt, und um 1 Uhr mittags fuhren wir los.

Die Fahrt ging über Halle. In der Nacht passierten wir Chemnitz. Dann ging es nach Dresden. Am Dienstag wurde die Grenze nach Polen überschritten. Die Wagen wurden verplombt, die Fenster durften nicht mehr geöffnet werden. Es ging an einer großen Stadt vorbei, wahrscheinlich Lodz. Nach zwei Tagen waren die Lebensmittelvorräte aufgebraucht.

. Den Kindern - es waren acht unter 10 Jahren in unserem Abteil - ließen wir je eine Bank, damit sich wenigstens die Kinder ausruhen konnten. Am Dienstagnachmittag waren wir an der deutsch-polnischen Grenze angelangt, die letzte deutsche Station war Lissa. Hier sollte nochmals Wasser gefaßt werden. Der Aufenthalt jedoch war so kurz, daß die meisten Flaschen leer blieben. Der Zug setzte sich in Bewegung, nachdem die Türen wieder geschlossen waren. Wir fuhren durch eintöniges Flachland. In Polen sind meistens einspurige Geleise. Um wichtige Transport- und Militärzüge vorbei zu lassen, hatten wir an den Ausweichstellen lange Aufenthalte.

Es war sehr heiß. Die Fenster durften nicht mehr geöffnet werden. Wenn der Zug hielt, patroullierten an beiden Seiten SS-Polizisten. Durch dauerndes Stehen hatten wir geschwollene Füße und Beine. Meine Geschwister und ich warfen Briefe aus dem Fenster, die an die zurückgelassenen Lieben gerichtet waren. Wir schrieben: „Noch sind wir nicht es Ziele angelangt und wissen nicht, wie es heißt und wo es ist, aber wir fahren gen Osten der Sonne entgegen“. In der folgenden Nacht war es ebenso wie in der vorangegangenen. (... )

Am nächsten Morgen waren wir tief in Polen. Wir sahen oft Ortschaften. die vom Krieg verwüstet, verlassen dalagen. Wir fuhren an einer großen Industriestadt (vermutlich Lodz) vorbei. Gegen Mittag hielten wir auf dem Bahnhof Demblin. Später wurden wir in ein Nebengleis rangiert.

Vorbeifahrende Soldaten sangen Schmählieder auf uns. Eines hieß: „Der Jud’ zieht hin und her, er zieht durch’s rote Meer, die Wellen schlagen zu, die Welt hat Ruh“. Das Wasser war aufgebraucht, so auch die Eßvorräte und der Kaffee. Da die Fenster nicht geöffnet werden durften, war ein erstickender Geruch in den Wagen. In Richtung Deutschland fuhren in Güterzügen ununterbrochen russische Arbeiter. Durch die drückende Hitze, den Hunger und Durst und die aussichtslose Lage wurden die Leute völlig mutlos. Martha und Willi (die Geschwister) machten mir Vorwürfe und gaben mir die Schuld, daß sie mitgegangen waren. In der Abenddämmerung setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Die Kühle wurde uns zur angenehmen Erfrischung. Wir waren alle derart übermüdet, daß sich in dieser Nacht jeder ein Plätzchen suchte. Meine zwei Brüder ich legten uns zwischen zwei Bänken auf den Fußboden.

Erste Station war Lublin. Dort mußten die Frauen und Kinder und älteren Männer aussteigen.

(Anmerkung: Noch im Zug waren nun die Männer plötzlich gezwungen, sich sofort von ihren Ehefrauen, ihren Kindern, Schwestern und Brüdern, Tanten und Onkeln zu tren­nen. Schreckliche Szenen von Abschied, Verzweiflung und Panik müssen sich abge­spielt haben. Der Resttransport mit den Frauen, Kindern und Jugendlichen und äl­teren Männern über 50 Jahren - so muß mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ange­nommen werden - ging vom Bahnhof Majdanek direkt in das Vernichtungslager Sobibor, nordöstlich von Lublin, wo alle nur etwa zwei Stunden nach ihrer An­kunft vergast wurden).

Sie wurden vom Bahnhof Lublin durch die Stadt gejagt zu einem Barackenlager an der Landstraße nach Sobibor (nordöstlich von Lublin). Dort war das Vernichtungslager mit drei Gaskammern betriebsfertig. Die Menschen mußten sich entkleiden und ihre Kleidung sorgfältig zusammenlegen. Dann wurden sie in Gruppen in die Gaskammern geführt und mit Abgasen aus einem Dieselmotor umgebracht. Das war wahrscheinlich am Mittwoch, dem 3. Juni oder spätestens am 4. Juni. Etwa 30 Minuten später wurden sie in Massengräbern beigesetzt, später aber wieder ausgegraben und verbrannt. Wenige Tage, nachdem die Bilder auf dem Hanauer Hauptbahnhof aufgenommen worden waren, sind die meisten dieser Menschen also schon tot gewesen.

Auf dem Bahnhofsgebäude lasen wir „Lublin“. Nach ein paar Minuten setzte sich der Zug mit den Lieben in Bewegung - keiner durfte sich umdrehen. Durch scharfes Bremsen des Zuges wurden wir plötzlich aus dem Schlaf gerissen. Wir vernahmen, daß die Türen aufgerissen wurden und hörten Rufe: „Alle Männer von 15 bis 50 Jahren heraus!“ Durch die geschwollenen Füße kamen wir kaum in die Stiefel. Sie standen auf einem Nebengleis des Bahnhofs Majdanek. Sie wurden damit von ihren Angehörigen getrennt. Es waren 98 Männer, darunter 26 aus dem Kreis Hanau, darunter auch sechs Jugendliche zwischen 15 und 19 Jahren. Wahrscheinlich war Sally Katz aus Hochstadt nicht mit dabei, er war damals gerade 55 Jahre alt.

Die SS kam in die Wagen und half mit Peitschen nach. Ich bekam einen Schlag auf den Kopf In aller Eile nahm ich mein Handgepäck und sprang, viel zurücklassend, aus dem Zug, auch mein Bruder Willi kam gleich nach. Wir mußten uns mit dem Rücken zum Zuge in Viererreihen aufstellen und zählten 98 Männer.

Am 3. Juni wurden sie unter der Häftlingsnummer 10139 bis 10253 registriert und eine Nummer auf die Kleidung geschrieben. Sie mußten körperliche Schwerstarbeit verrichten. Die durchschnittliche Lebenserwartung in dem Lager betrug drei Monate. Kranke wurden durch eine Spritze getötet. Täglich wurden Stockschläge und Fußtritte ausgeteilt.

Am 21. September werden Tötungen gemeldet, am 27. September steht Ludwig Wolf auf der Totenliste. Die Toten wurden mit einem Wagen von Häftlingen aufs Feld gezogen und kamen dann ins Krematorium. Im Totenbuch von Majdanek ist Sally Katz nicht vermerkt.

Ein SS-Offizier sagte: „Ihr werdet jetzt in eure neue Heimat geführt.“ Viele SS-Männer mit Gewehr unter dem Arm umstellten uns. Plötzlich hieß es: los. Im Marsch-Marsch-Tempo rannten wir durch Lublin. Wer nicht recht konnte, bekam mit dem Gewehr Rippenstöße. Zwei Männer brachen unterwegs zusammen und blie­ben liegen. Nach etwa 20 Minuten waren wir außerhalb der Stadt auf einer Landstraße. In der Mulde sahen wir ein großes Barackenlager

(Anmerkung: Das war das Konzentrationslager Majdanek. Das Jahresende 1942 dürfte kaum einer der aus der Region Kassel Ver­schleppten erlebt haben. In Majdanek hatte Robert Eisenstädt die Gefangenennummer 10678 erhalten). Dort wurde ich wiederholt schwer mißhandelt und zwar fast täg­lich durch Stockschläge und Fußtritte (...). Am 4. Juli 1942 bekam ich 25 Stock­schläge auf den Rücken bis zu den Kniekehlen und Fußtritte in den Unterleib (...). Ich flüchtete am 11. Juli 1942 aus dem Lager nach Frankfurt, wo ich bettlä­gerig krank war und mich versteckt hielt. Mehrere Monate lebte er in einem Ver­steck auf dem Dachboden der Familie des Frankfurter Arztes Dr. Kahl, die ihm dann im Februar 1943 half, in die Schweiz zu fliehen (Anmerkung: Robert Eisenstädt ist der einzige Überlebende dieser ersten Deportation aus dem Regierungsbezirk Kassel mit mehr als 500 Personen).           

Am 12. Juni 1942 flüchtete Robert Eisenstädt und kam nach Frankfurt. Dort wurde er versteckt und kam einige Monate später in die Schweiz. Er war der einzige Überlebende der 509 Menschen aus der zweiten Deportation.

Es gibt einen Brief von Heinrich Stern an seinen rechtzeitig in die Schweiz geflüchteten Sohn Paul. Der Vater setzte das Schreiben am 27. Mai 1942 auf, im Wissen, daß seine Deportation von Hanau kurz bevorstand. Der Brief erreichte Paul auch, doch zu diesem Zeitpunkt war Hein­rich Stern bereits tot ‑ vergast im Ver­nichtungslager Sobibor.

 

Die dritte Deportation: Die Verschleppung der Juden aus den Städten und Dörfern des Main-Kinzig-Kreises am 5. September 1942

 

Die Gestapo Kassel schrieb am 30. August 1942 an die Landräte in Schlüchtern, Gelnhausen und Hanau: „Betrifft: Evakuierung von Juden nach Theresienstadt“. Weiter: „Die Heranführung der für die Evakuierung bestimmten Juden aus dem Regierungsbezirk Kassel zwecks vorheriger Konzentration in Kassel erfolgt im Einvernehmen mit den zuständigen Reichsbahndirektionen in Personenzügen. Für diese Züge sind folgende Abfahrtszeiten festgesetzt: Bahnhof Hochstadt-Dörnigheim am 5.9.1942 ab 7.17 Uhr. Bahnhof Hanau-Nord am 5.9.1942 ab 7.22 Uhr. Bahnhof Hanau-Hauptbahnhof am 5.9.1942 ab 9.11 Uhr. Bahnhof Niederrodenbach am 5.9.1942 ab 9.22 Uhr. Bahnhof Langenselbold am 5.9.1942 ab 9.28 Uhr. Bahnhof Somborn am 5.9.1942 ab 7.05 Uhr. Bahnhof Birstein am 5.9.1942 ab 6.35 Uhr. Bahnhof Schlüchtern am 5.9. 1942 ab 10.31 Uhr“.

 Weiter: „Diese Fahrpläne sind unbedingt verbindlich. Für die genaue und pünktliche Einhaltung derselben bitte ich daher, unter allen Umständen Sorge zu tragen. Den einzelnen Judentransporten sind je nach Notwendigkeit mindestens 1 oder mehrere Polizeibeamte als Begleitkommandos von den Abgangsbahnhöfen bis nach Kassel mitzugeben“.

 Dies waren die logistischen Anweisungen für die Deportation der Juden aus den Dörfern und Städten des Main-Kinzig-Kreises am 5. September 1942. Zu dieser Zeit lebten Juden nur noch in Schlüchtern, Somborn, Kirchbracht, Hanau, Langenselbold, Bergen, Langendiebach, Rückingen, Niederrodenbach, Hochstadt, Bischofsheim. Aus den zahlreichen anderen Ortschaften waren sie zu dieser Zeit bereits vertrieben.

Im Jahr 1933 hatten die Kreise noch 2.500 Bürger jüdischen Glaubens. Die Diskriminierung und Verfolgung der Juden seit 1933 ließ mit dem letzten Höhepunkt der Ausschreitungen in der „Kristallnacht“ im November 1938 die Zahl der Juden durch Flucht ins Ausland oder in die Großstadt Frankfurt auf knapp tausend sinken. Am radikalsten hatte der Kreis Gelnhausen seine jüdischen Einwohner ausgetrieben: von 600 im Jahr 1933 lebten dort nur noch drei, während im Stadt- und Landkreis Hanau noch mehr als zwei Drittel der jüdischen Einwohner lebten.

In Hanau war die Nürnbergerstraße 3 letzte Station des Ghettoisierungsprozesses der jüdischen Bürger, der 1939 begann. Diese Adresse war seit dem Jahre 1898 als das großzügig gebaute neue Gemeindehaus der Stolz der Hanauer Jüdischen Gemeinde - und nun das Ghettohaus der Hanauer Juden.

Ende Mai 1942 waren aus diesem Gebäude, das seit April 1942 auch mit dem Davidstern als weitere Erniedrigung gezeichnet sein mußte, bereits 21 Personen verschleppt worden. 14 Menschen sollten es im September 1942 sein. In Schlüchtern waren „Unter den Linden 12 und 14“ Ghettohäuser. Bereits ein ganzes Jahr lang waren die jüdischen Bürger gezwungen, den gelben „Judenstern“ zu tragen, sie wurden auf der Straße beschimpft und bespuckt, oft von HJ-Schulkindern. Aber sicher erhielten sie auch kleine Zeichen des Zuspruchs, versorgten treue Freunde und Nachbarn sie mit Lebensmitteln.

Die Gestapo Kassel war für die Deportation im September 1942 verantwortlich. Bereits am 25. August 1942 setzte sie offiziell unter anderem die Landräte des Kreises Gelnhausen, Hanau und Schlüchtern in Kenntnis und die wiederum ihre Bürgermeister. Das Schreiben des Hanauer Landrates vom 27. August 1942 an die Bürgermeister des Kreises Hanau mit der Anweisung „Streng vertraulich! Nur für den Dienstgebrauch“ lautet: „Vertraulich gebe ich Ihnen davon Kenntnis, daß am 7. 9.1942 die restlichen Juden aus dem Regierungsbezirk Kassel abgeschoben werden. Nach der mir übersandten Liste der Staatspolizeistelle Kassel kommen folgende Personen in Ihrer Gemeinde in Frage: (s. Anl. Verzeichnis). Da jetzt die letzte Möglichkeit gegeben ist, sämtliche Juden (außer Mischehen) loszuwerden, ersuche ich genau nachzuprüfen, ob mit den in der Anlage genannten Personen sämtliche Juden erfaßt sind. Sollte dies nicht der Fall sein, ersuche ich, mir die Fehlenden sofort telefonisch zu melden, damit ich bei der Staatspolizeistelle Kassel veranlassen kann, daß diese in den Transport noch mit einbegriffen werden. Weiterhin ersuche ich, die genannten Juden in der Zwischenzeit unauffällig zu beobachten, ob sie nicht durch Reisen nach auswärts, zu Verwandten pp. versuchen, sich dem Abtransport zu entziehen. Diese Reisen müssen verhindert werden!“

 

Nachdem bereits am 30. Mai 1942 in einer ersten Deportation 115 Menschen, meist Familien, verschleppt worden waren, sollten nun die Alten zusammen mit den sie Versorgenden deportiert werden. Drei Tage vor dem vorgesehenen Termin des 5. September 1942 teilten die Bürgermeister den jeweiligen jüdischen Familien ihres Ortes ihre Zuweisung für den Transport nach Theresienstadt mit.

Welche Verzweiflung, Ängste und Panik diese Nachricht auslösten, können wir nur erahnen - es gibt bisher keine Zeugnisse dazu -, wie die 41jährige Rosa Bamberger aus Hanau mit dem achtjährigen Fritz und der 14jährigen Ingeburg fühlte, welche Stärke in tiefster Verzweiflung sie für ihre beiden Kinder versuchte aufzubringen. Oder das Ehepaar Recha und Leopold Hamburger aus Langenselbold mit dem achtjährigen Manfred und der 18jährigen Irma. Wie mag es den ältesten Menschen auf der Transportliste ergangen sein: Mit 82 Jahren waren dies Hanna Hess aus Bergen, Jettchen Seelig und Löb Adler aus Schlüchtern. Waren sie noch bei Bewußtsein, konnten sie alleine

gehen? Kurz vor ihrem 80. Geburtstag wurde Elise Isaak mit einem Handwagen zum Bahnhof in Langenselbold gefahren.

Ein kleines schriftliches Zeugnis vom Vorabend der Deportation aus Langenselbold dokumentiert Karin Hausch von dem 54jährigen Jacob Seiferheld. Er notierte: „Heute, am 4. September 1942, abends 7 Uhr, besuchte ich zum letzten Male den Friedhof meiner Heimatgemeinde. Als Gemeindeältester verlasse ich morgen für die ganze Gemeinde die Ruhestätte.“ Oder ein Gruß des Ehepaars Ochs aus Hanau an ihre Verwandten in Ober-Erlenbach: „Hanau, den 1.9.42. Meine Lieben! Will Euch nur kurz mitteilen, daß wir Samstag morgen 9 Uhr nach Theresienstadt verreisen werden. Ein herzliches Lebewohl und ein gesundes Wiedersehen. Herzlichste Grüße und Küsse. Euer Isi und Flori.“

Er hatte bereits am 21. August 1942 verschlüsselt geschrieben: „Wir in Hanau sind alle auch so weit und kommen voraussichtlich im nächsten Monat schon weg und zwar nach Theresienstadt, heute sind schon die Vermögenserklärungen gekommen und müssen Montag schon nach Kassel (zur Oberfinanzdirektion) zurückgereicht werden“ (Hoffmann).

Am Morgen des 5. September 1942, einem Sabbath - für fromme Juden ein heiliger Tag, an dem sie nicht reisen dürfen -, wurden die Menschen, deren Namen auf der Deportationsliste stand, in verschiedenen Zügen nach Kassel in das Sammellager transportiert, wo ihnen sämtliches Vermögen abgenommen, beziehungsweise beschlagnahmt wurde. Der Transport „Da511“ fuhr am 7. September 1942 mit 752 Menschen von Kassel nach Theresienstadt, 60 Kilometer nördlich von Prag gelegen, das er am folgenden Tag erreichte.

Theresienstadt wurde gerne von den Nazis „Altersghetto“ genannt, war aber in Wirklichkeit ein riesiges Durchgangslager für die Vernichtungslager im Osten. Sechs Personen des Transportes sind nicht in Theresienstadt registriert worden, was darauf schließen läßt, daß sie bereits während der Fahrt oder im Sammellager gestorben sind. 26 Menschen wurden nach drei Wochen im Ghetto Theresienstadt am 29.9.1942 in das Vernichtungslager Treblinka in einem Transport von 2.000 Menschen verschleppt und unmittelbar nach Ankunft vergast. An Hunger, Krankheit und Verzweiflung starben in den folgenden Tagen, Wochen, Monaten und Jahren 21 Menschen.

Direkt in die Gaskammern des Vernichtungslagers Auschwitz wurden im Januar 1943 22 Personen transportiert, im Mai 1944 sieben Personen und nach mehr als zweijähriger Gefangenschaft im Ghetto Theresienstadt 11 Menschen, also insgesamt 42 Personen - die Hälfte der aus Hanau, Gelnhausen und Schlüchtern Verschleppten.

Die Befreiung von Theresienstadt durch die Russen am 5. Mai 1945 erlebten nur drei 65jährige Frauen: Auguste Grünebaum aus Vollmerz, Sara Köstrich aus Niederrodenbach und Bertha Blumenthal aus Bischofsheim. Blumenthal war so krank (es herrschte eine Thypusepedemie), daß sie am 19. Mai 1945 starb. Ihre Asche liegt in einer Urne im Grab 242 auf dem dortigen Nationalfriedhof - das einzige Grab der aus den Kreisen Schlüchtern, Gelnhausen und Hanau im September 1942 verschleppten jüdischen Menschen, die einst Freunde, Bekannte, Schul- und Klassenkameraden, Vereinskollegen und Nachbarn gewesen waren.

 

Die dritte Deportation erfaßte am 5. September 1942 die über 65-Jährigen, darunter auch die Teilnehmer am Ersten Weltkrieg. Der Transport wurde wieder zusammen mit der Gestapo Chemnitz durchgeführt. Am 25. August wurden die Landräte informiert. Am 5. und 6. September sollten die Züge fahren und unbedingt pünktlich gehen. Eine jüdische Transportleitung wurde eingesetzt.

Damals gab es nur noch Juden in Somborn, Kirchbracht, Hanau, Langenselbold, Bergen, Langendiebach, Rückingen, Niederrodenbach. Hochstadt und Bischofsheim.

Der Landrat schrieb am 7. September an alle Bürgermeister, auch an den in Bischofsheim, dies sei die letzte Möglichkeit, alle Juden loszuwerden, deshalb sei sehr sorgfältig zu prüfen, ob auch alle Juden (außer denen in Mischehen) erfaßt wurden. Wenn einer übersehen wurde, sei er der Gestapo zu melden. Reisen der Juden nach außerhalb sind zu verhindern.

Die älteste Person war eine 82-Jährige aus Bergen. Aus Bischofsheim war Berta Blumenthal dabei, aus Hochstadt das Ehepaar Appel. Aus den westlichen Dörfern des Kreises wurden die Leute mit dem fahrplanmäßigen Zug nach Hanau gebracht. Insgesamt waren es 78 Menschen aus dem Kreis. Sie mußten abreisen, obwohl es Sabbat war. In Langenselbold wurde eine 80-Jährige mit einem Handwagen zum Bahnhof gefahren.

Der Zug fuhr am 5. September um 9.11 Uhr in Hanau nach Theresienstadt ab. Die Transporte gingen dieses Mal direkt aus den Heimatgemeinden nach Kassel (nicht über die Kreisstadt).

In Kassel wurden die Kranken auf einer Bahre in Möbelwagen zur Turnhalle gefahren, die anderen mußten laufen. Am nächsten Tag kamen weitere Transporte an. Wieder wurde das Gepäck durchsucht und Leibesvisitationen vorgenommen und eine Nummer umgehängt.

Am nächsten tag wurde ein langer Zug Menschen durch die Stadt zum Bahnhof getrieben. Die Nicht-Gehfähigen wurden auf Lastwagen transportiert.

Der Zug fuhr am 7. September von Kassel über Bebra nach Chemnitz und schließlich nach Theresienstadt (60 Kilometer nördlich von Prag). Seit 1942 war dort ein Ghetto eingerichtet worden als Durchgangslager für die Vernichtungslager im Osten. Dort lebten mehr als 50.000 Menschen, als der Zug aus Kassel am 8. September ankam. Am 29. September wurden die Juden aus dem Kinzigtal in das Vernichtungslager Treblinka verschleppt und unmittelbar nach der Ankunft vergast. Weitere wurden im Januar 1943 nach Auschwitz gebracht, im Mai 1944 gab es noch einmal einen Transport nach dort.

Im völlig überfüllten Konzentrationsla­ger Theresienstadt starben die Appels an den dort herrschenden ka­tastrophalen hygienischen Verhältnissen und dem fehlenden Essen.

Etwa 50 Menschen überlebten das Lager, darunter Berta Blumenthal aus Bischofsheim. Sie überlebte die dann auftretende Typhus‑Epidemie nicht und starb am 19. Mai 1945, ihr Urnengrab ist dort erhalten (Grab 242).

 

Letzte Deportation:

Im Februar 1945 wurden noch die jüdischen Partner aus sogenannten „Mischehen“ fortgebracht, darunter Theodor Ausäderer aus Hochstadt und seine Schwester, die beide überlebten. Wer Jude war, wurde bei der Volkszählung am 17. Mai 1939 festgestellt, bei der man die Eltern und deren Konfession angeben mußte. Aber das hatte nichts mit der Religion zu tun, sondern es ging nach der rassischen Definition der Nazis.

Theodor Ausäderer und seine Schwester Paula Viel kamen aber nicht mit dem großen Transport von der Frankfurter Großmarkthalle am 18. Februar in Theresienstadt an, sondern wurden bereits einen Tag vorher im Ghetto registriert. Am 5. Mai wurden sie von der sowjetischen Armee befreit.

(Angaben laut dem Buch von Monika Ilona Pfeifer und Monica Kingreen: „Hanauer Juden 1933-1945. Entrechtung, Verfolgung, Deportation. Herausgeber Evangelischer Arbeitskreis „Christen – Juden“ Hanau in Zusammenarbeit mit der Stadt Hanau, Hanau 1998, sowie nach einem Vortrag von Frau Kingreen in Bischofsheim).

 

 

Gedenktafel am Hanauer Hauptbahnhof:

Wenn in Büchern Fotos von Judendeportationen zu sehen sind, stammen sie meist vom Hanauer Hauptbahnhof. Der damalige Stadtfotograf hinterließ der Nachwelt diese 19 einzigartigen Quellen vom 30. Mai 1942. An jenem Tag wurden 84 Juden aus dem Kreis Hanau ins KZ gebracht und vergast. An dieses Kapitel der NS-Geschichte erinnert am Hauptbahnhof bisher nichts dauerhaft. Daher stößt die Frankfurter Rundschau anläßlich der 60. Wiederkehr der Reichspogromnacht an, eine Gedenkstätte am Bahnhof zu schaffen.

Zumindest einen Tag lang erinnerte der evangelische Arbeitskreis Christen-Juden am 27. Januar dieses Jahres mit einer Ausstellung im Hauptbahnhof an die Judendeportation. Anlaß war der Gedenktag an die Auschwitz-Befreiung 1945.  Ziel war, an einem stark frequentierten Ort Passanten mit solcher Art Erinnerungsarbeit zu konfrontieren. Da Bahnhöfe stark belebt seien, eigneten sie sich gut als Kommunikations- und Ausstellungsorte, sagte damals Friedrich Rißmann von der Deutschen Bahn AG. Er unterstrich, daß eine eigens geschaffene Gedenkstätte in Berlin-Grunewald auf das unrühmliche Mitwirken der Reichsbahn im Dritten Reich hinweise.

Diese Gedenkstätte nimmt Pfarrer Daume als Vorbild, wenn er den Anstoß der Frankfurter Rundschau nach einem Erinnerungsort am Hanauer Hauptbahnhof unterstützt. In Hanau eine Gedenkstätte einzurichten. dafür spreche. daß aus keiner anderen Stadt so viele Fotodokumente über Judendeportationen bekannt seien. Insbesondere bei jungen Menschen, die keinen Krieg erlebt hätten, müsse dieses dunkle Kapitel deutscher Geschichte auch per Gedenkstätten wach gehalten werden.

Die Windeckerin Monica Kingreen, die auf die einzigartigen Fotodokumente der Hanauer Judendeportationen stieß, befürwortet eine „informative und authentische Gedenkstätte”. Das heißt, sie will die Bilder von damals mit dem heute sich bietenden Blick auf jene Stellen kombinieren, von denen aus die Juden weggebracht wurden.

Das stellt sie sich vor allem für den Bahnsteig vor, der noch ähnlich wie 1942 existiere. Diese Foto-Parallele hält sie hinweisend auf den Bahnsteig auch vor dem Bahnhof für möglich, vor dem sich die Juden sammeln mußten.

 

Die am Hanauer Hauptbahnhof geplante Erinnerungsstätte zur Deportation von Juden aus Hanau in die Konzentrationslager wird nicht von der Deutschen Bahn AG mitfinanziert. Die Deutsche Bahn AG hat sich klipp und klar geäußert, daß sie sich nicht finanziell beteiligen will. Die Finanzierung einer Gedenktafel ist im Grunde eine Angelegenheit der Deutschen Bahn AG. Als spätere Rechtsnachfolgerin der Deutschen Reichsbahn habe die Deutsche Bahn AG eine Mitverantwortung für das, was damals geschah. Doch man kann niemanden zu dieser Einsicht zwingen. Daher war es um so wichtiger, sich auf einen gemeinsamen Text für die Gedenktafel zu verständigen. Gleichwohl ist das Projekt nicht in Gefahr. Die Stadt ist bereit, die Kosten für die Gedenktafel selbst zu übernehmen. Aber nur, wenn es keine bessere Möglichkeit zur Finanzierung - beispielsweise durch Sponsoring – gebe.

Der Wortlaut des Gedenktafel-Textes wird von einer Arbeitsgruppe formuliert, die aus Mitgliedern des Ausschusses und OB Härtel besteht. Im Kern des Textes sollten nach Vorstellung von Franz Ott (CDU) die Opfer stehen. Laut Härtel ist denkbar, über die Idee einer reinen Gedenktafel am Hauptbahnhof hinauszugehen, um eine andere Form von Erinnerungsstätte zu kreieren.

 

Im Jahre 2002: Im Jahre 2002 regte Heinz Daume während seiner Ansprache bei der Gedenkfeier für die zerstörte Synagoge in der Nordstraße zwei weitere Punkte an, um der Nazi-Gräuel, die in der so genannten Reichspogromnacht 1938 in ihrem ganzen Ausmaß deutlich wurden, zu gedenken. Zum einen sprach er die seit langem geforderte Gedenkstätte am Hauptbahnhof an, dort, wo am 30. Mai und am 5. September 1942 insgesamt 50 jüdische Mitbürger in Deportationszügen in Konzentrationslager gefahren wurden. Zum anderen unterbreitete Daume den Vorschlag, eine Sammlung von 50 Gedenksteinen im Hanauer Rathaus aufzubewahren. Auf jedem dieser Steine sollte der Name eines der Deportierten stehen. Jeder, der das Bedürfnis spüre, soll sich an dieser Mahnaktion beteiligen. Der Pfarrer selbst wählte für diese Aktion bereits den Namen eines kleinen Jungen, Heinz Eisenstätt, aus, der in Theresienstadt umgebracht wurde.

 Es waren auch 50 Kerzen, die vor der Feier in der Nordstraße an der dortigen Gedenkstätte angezündet worden waren. Gegenüber, dort, wo heute die Häuser 40 und 42 stehen, feierten die Hanauer Juden früher in der 1938 zerstörten Synagoge ihre religiösen Feste.

Die Anregungen von Pfarrer Daume fielen dann wenig später auf fruchtbaren Boden, als Oberbürgermeister Margret Härtel auf die Appelle einging. Bei der Gedenkstätte am Hanauer Hauptbahnhof gehe es nur noch um die Form. Gemeinsam mit der Hanauer Bevölkerung vorantreiben werde sie auch die Idee, 50 Gedenksteine im Rathaus aufzubewahren.

Im Anschluß zogen die etwa 50 an der Gedenkfeier teilnehmenden Hanauer in einem Schweigemarsch zum Fronhof. Jeder hatte sich ein Plakat umgehängt, auf dem der Name eines der 50 Deportierten Juden stand. Im Fronhof war das ehemalige Gestapogefängnis untergebracht. Dort waren zahlreiche Hanauer Jüdinnen und Juden inhaftiert und in Konzentrationslager verschleppt worden.

 

Mehr als nur trockene historische Fakten:

Knappe Mahntafel oder illustrierte Schicksalsschilderung? Über die Form des Gedenkens an die ehemalige jüdische Gemeinde herrscht in Hanau Uneinigkeit.  Am Hauptbahnhof präsentieren sich die Kommunalpolitiker einig und entschlossen: Das Gedenken an die Deportation von 162 Menschen jüdischen Glaubens aus Hanau und Umgebung in zwei Sammelzügen am 30. Mai und 5.September 1942 in die Vernichtungslager im Osten soll an historischer Stätte anschaulich vermittelt werden. Kombiniert mit Text sollen die raren Bilddokumente dieser Vorgänge unmittelbar neben den Fahrplänen am Gleis 9, dem sogenannten Friedberger Gleis, fixiert werden.

 „Die Bahn hätte die Gedenktafel gerne außerhalb ihres Geländes, aber das wollen wir nicht”, unterstrich Kulturdezernent Rolf Frodl (CDU). Schließlich gehe es um die Authentizität des Geschehens. Um das Anliegen nachdrücklich an die Bahn herantragen zu können und die Tafeln spätestens zum 9. November anbringen zu können, verabschiedete der Kulturausschuß einstimmig eine Beschlußvorlage für die Stadtverordneten.        

Komplizierter liegt der Fall beim Gedenken an die jüdische Gemeinde in der Stadt. Geht es nach den Vorstellungen von Dr. Eckhard Meise, dem Geschichtsverein und der Interessengemeinschaft Altstadt, dann würde in der Nordstraße gegenüber der ehemaligen Synagoge der 1964 mit dem Bibelzitat „Rahel weint um ihre Kinder und will sich nicht trösten lassen“ versehene Gedenkstein um knappe Schrifttafeln ergänzt. Das Ensemble aus den Resten der Ghettomauer, dem Turmstumpf in dem 1603 die ersten privilegierten Juden beteten, sollte wenig verändert werden. Entsprechend kurz fiele der Hinweis auf Pogrom, Synagogen-Zerstörung und Vernichtung der Juden-Gemeinde aus.

 

Für Pfarrer Heinz Daume und Monica Kingreen eine unpersönliche Form der Erinnerung, die den historischen Ort und das Wirken der jüdischen Gemeinde nicht erschließe. „Eine Aufzählung trockener historischer Fakten ohne Bezug zu den Menschen ist nach heutigen Maßstäben für ein Gedenken unzureichend“, erklärten die beiden und legten dem Ausschuß am Dienstag Nachmittag ihr Alternativkonzept vor. Zwei reichlich illustrierte Schautafeln, eingebunden in einen Text, der den Einfluß der vor 400 Jahren von Graf Philipp Ludwig II. in Hanau neu angesiedelten Juden „angemessen darstellt“ und das Schicksal der mindestens 630 jüdischen Hanauer, die 1932 noch in der Stadt, anschaulich werden läßt so Daume, Vorsitzender des evangelischen Arbeitskreises „Christen-Juden” Hanau.

Aus Sicht von Monika Kingreen, der landesweit anerkannten Expertin für die Geschichte der Juden in Hessen, ist die Erinnerung an die Hanauer Juden ungeachtet eines von ihr 1998 veröffentlichtem Buches weiterhin lückenhaft. Der von ihr mitentworfene Gedenktext muß etwa offen lassen, wieviel jüdische Hanauer von den Nazis tatsächlich ermordet wurden. Darüber hinaus sollte angesichts des aktuellen Jubiläums „400 Jahre Judenstättigkeit“ nicht verschleiert werden, daß jüdische Menschen das Leben Hanaus wesentlich mitgeprägt haben.

Während Meise die üppigeren Gedenktafeln allzu belehrend findet, zeigte sich Frodl von der „Dynamik” angetan. Miterleben und Nachempfinden persönlicher Schicksale sollte in der modernen Gedenkkultur ein Stück weit berücksichtigt werden, riet der CDU-Politiker. Auch Parteifreundin Gerta Wolf lobte die „dicht gedrängten und ansprechenden Informationen. Beate Funck (SPD) oder Ute Peukert (BfH) hingegen halten die Textmengen eher für eine Aufbereitung als Publikation oder für das Museum geeignet.

 

Versteigerung des jüdischen Vermögens: Die Schnäppchenjagd auf jüdisches Porzellan

Die Akten, die aus der Ermordung von Juden einen legalen Verwaltungsvorgang machten, sind bis heute vollständig erhalten. Mit ihnen lagern Tausende und aber Tausende ähnlicher Mappen über die ganze Republik verteilt.

Und zwar in den Archiven der Oberfi­nanzdirektionen und Finanzämter. die seinerzeit von den Nazis mit der Verwal­tung jüdischen Vermögens betraut wor­den waren, weil die am besten wußten. wo die Konten der Juden sind. Die dort tätigen deutschen Beam­ten legten ordnungsgemäß über jeden Vorgang einen Beleg an. Inzwischen fal­len all diese Unterlagen unter das Steuer­geheimnis und sind auf 80 Jahre für die Öffentlichkeit gesperrt. Eine Rechtsinter­pretation, die auf die Palme bringen kann. Das sind doch keine Steuerak­ten. Die hätten genauso bei der Gestapo lagern können, dann wä­ren sie möglicherweise längst zugänglich.

Aus den Ak­ten geht deutlich hervor, wie raffgierig und schamlos die deutsche Bevölkerung über die Besitztümer ihrer deponierten Nachbarn herfiel. So groß war zum Beispiel der Andrang von Kaufliebhabern für jüdische Immobilien, daß die Finanzäm­ter hierdurch ihren Geschäftsbetrieb re­gelrecht gestört fühlten und öffentlich um Zurückhaltung baten. Nach den Bomben­nächten in Köln wurde dort zeitweilig fast täglich in den Messehallen jüdisches Mo­biliar versteigert. Man genierte sich nicht. nahm alles, was man bekommen konnte.

 

Nach Ansicht des Düsseldorfer Politologen ist dies alles kein Beweis für einen übergroßen Antisemitismus der deutschen Bevölkerung. Seiner Einschätzung nach ging es den Leuten eher darum. „legal Geschäfte zu machen“. Und den Anstrich von Legalität, den hatte dies alles, bei derart viel Institutionen und Behörden, die dabei mitmischten. Und die nach 1945, häufig in gleicher Besetzung, den heimkehrenden Überlebenden aus Konzentrationslagern mit aller Kraft ihre Wiedergutmachungsansprüche zurückzuweisen versuchten. Dabei wußte man genau, was man jedem der Opfer genommen hatte, was der Kassensturz des Düsseldorfer Oberfinanzpräsidenten vom Sommer 1945 beweist: Danach hatte man in seiner Region aus jüdischem Besitz genau 117715455 Mark und 26 Pfennig kassiert.

 

Kölner Finanzbehörde

Der Düsseldorfer Hochschuldozent Wolfgang Dreßen ist - wohl wissend, was er tat - durch eigenes Handeln zu einer umstrittenen Person geworden. Einen Vertrauensbruch habe Dreßen begangen, schimpft beleidigt und gekränkt ein Sprecher der Kölner Oberfinanzdirektion. Der Behörde gehe es ums Prinzip, weshalb man sich über Dreßen bei dessen Düsseldorfer Fachhochschulrektorin und parallel dazu bei der nordrhein-westfälischen Wissenschaftministerin beschwert habe. Ähnlich verärgert klingt Staatssekretär Karl Diller aus Oskar Lafontaines Bundesfinanzministerium. In einem Brief an die Bundestagsabgeordnete der Grünen, Annelie Buntenbach, verurteilt Diller die Vorgehensweise Dreßens und wertet die Beschwerdeaktion der Kölner Finanzbehörde als absolut gerechtfertigt.

Mit dieser Position stehen die Kölner Finanzbehörde und der Bonner Staatssekretär freilich recht einsam auf weiter Flur. Dreßens Rektorin versichert, auf ihren Mitarbeiter werde von seiten der Fachhochschule keinerlei Druck ausgeübt. NRW-Wissenschaftsministerin Gabi Behler ist der Auffassung, „daß es sich bei der Abwägung zweier Rechtsgüter gut vertreten läßt, in begrenztem Umfang Daten zu veröffentlichen, um geschehenes Unrecht als solches deutlich zu machen“. Ihr Staatssekretär Ernst Gerlach meint, das, womit Dreßen an die Öffentlichkeit gegangen sei, „war längst überfällig. Hierbei war er gezwungen - wie das Ergebnis ja deutlich macht -, sich über gewisse Spielregeln einfach hinwegzusetzen.“

Dreßen tat dies bewußt. „Einen anderen Weg hätten ja alle Beteiligten seit Jahren schon einschlagen können, haben dies aber nicht getan“, rechtfertigt er seine Aktion. Der „Vertrauensbruch“, der die Kölner Oberfinanzdirektion so empört, bestand darin, daß er einen Vertrag nicht einhielt; bislang geheimgehaltene Finanzamtsakten aus der Nazi-Zeit aus ihrem Versteck herausholte und ausstellte. Die Oberfinanzdirektion hatte Dreßen nach langem Drängen Zutritt zu ihrem Aktenbe­stand aus den 40er Jahren gewährt. Nicht ohne sich schriftlich versichern zu lassen, daß Dreßen nichts ohne Wissen der Behörde öffentlich machen werde und wenn, dann alle Namen aus den Dokumenten tilge. Darauf hat sich Dreßen formal eingelassen, sein Versprechen aber nicht gehalten.

„Ich war zu dieser Vorgehensweise gezwungen, etwas anderes hätte überhaupt keinen Erfolg gehabt“, davon ist Dreßen überzeugt. Die Resonanz auf sein Vorpreschen gibt ihm recht. Seit er klammheimlich diese NS-Akten aus der Oberfinanzdirektion fotokopierte und mit ihnen - ohne die Namen der darin erwähnten Bürger zu schwärzen - eine Ausstellung im Düsseldorfer Stadtmuseum bestückte, wird endlich öffentlich diskutiert, was längst Thema hätte sein müssen: die Rolle der arischen Nachbarn beim Run auf die Besitztümer deportierter Juden. Und die Mithilfe der Finanzämter, die als Handlanger der Nazis der Schnäppchenjagd auf jüdischen Besitz das Mäntelchen von Recht und Ordnung umhängten.

So ist denn seit Wochen in der Düsseldorfer Ausstellung ebenso wie in einem im Aufbau Verlag erschienenen Buch nachzulesen, welcher Herr Schmidt und welche Frau Meier die Plumeaus der gen Osten deportierten jüdischen Familie des Jakob Rübsteck oder der ebenfalls in ein Konzentrationslager abgeschobenen Sabine Blum erwarben. Wer sich für deren Bratenschüssel, Anrichte oder Serviettenhalter interessierte, wohl wissend, woher das alles stammte. Darauf vertrauend, daß die Deportierten so bald jedenfalls nicht wieder auftauchen würden. Für Dreßen haben sich diese Nachbarn mit Hilfe der Finanzbeamten, die das Mobiliar der Todgeweihten versteigerten, an rassistischem Unrecht beteiligt. Deshalb gelte für sie kein Datenschutz, keine Geheimhaltungsvorschrift, müßten Namen genannt werden.

„Muß das denn sein“, stöhnt dagegen Pressesprecher Erich Schlautmann von der Kölner Oberfinanzdirektion; „es haben doch so viele gekauft bei den Versteigerungen damals“, sagt er. Ob die „rechtens gekauft haben“, wisse er nicht. Aber „muß es sein, daß dieser Vertrauensbruch von Herrn Dreßen so weit geht, deren Namen zu nennen?“ Dreßen sei es bei seiner Vorgehensweise doch lediglich auf „zynische Überspitzung“ angekommen. Und Staatssekretär Diller vom Bundesfinanzministerium meint gar, eine „Zugänglichmachung“ dieser Akten für die Öffentlichkeit komme gar nicht in Betracht.

Bei der Oberfinanzdirektion Münster sieht man dies seit gut fünf Jahren anders. Damals sollte dort das 75jährige Jubiläum der Behörde gefeiert werden, und die Nazi-Zeit tauchte nur in wenigen dürren Sätzen in der Festschrift auf. Jürgen Himstedt. Präsident der westfälischen Finanzbehörde, paßte dies gar nicht. Er gewann die jetzige Leiterin des Finanzamts Lemgo, Ilse Birkwald, für sein Projekt, stellte die Juristin drei Monate von anderer Arbeit frei und ließ sie jene Akten erforschen, zu denen sich Dreßen auf heimliche Weise Zugang verschaffen mußte.

Das Ergebnis von Ilse Birkwalds Recherche ist seit Jahren nachzulesen und soll demnächst in einer Ausstellung „zur Rolle der Finanzverwaltung bei der wirtschaftlichen Ausplünderung der westfälischen Juden“ die tragende Säule sein. Dort wird anhand von Biografien der Täter wie der Opfer und an Beispielen von Originalakten aus den 40er Jahren erläutert werden, wie effektiv die Finanzbehörden seinerzeit vorgingen. „Aus all dem geht hervor, daß diese erstklassige Fachverwaltung damals nicht mehr unterschied, was Recht und was Unrecht war“, kommentiert dies Oberfinanzamtschef Himstedt und meint: „Diese Akten müssen öffentlich gemacht werden. Ich bin gegen jeglichen Täterschutz“. Auch wenn noch abgewogen werden soll, welche Namen genannt, welche geschwärzt werden sollen. Ähnlich argumentieren die hessischen Finanzbehörden, die ihren NS-Aktenbestand, nachdem Dreßens Vorpreschen bekannt geworden war, kurzerhand dem Fritz-Bauer-Institut übergaben.

Dreßen vermutet, daß manche Behörden deshalb so vehement darauf bestehen, die in den NS-Dokumenten enthaltenen Namen müßten unleserlich gemacht werden, „weil es ihre gutbürgerlichen Steuerkunden sind, die da plötzlich in den Akten auftauchen. In Krefeld-Uerdingen, beim Erwerb eines jüdischen Friedhofs, taucht als IG-Farben-Manager der Name einer dortigen upper-class-Familie auf. In Aachen erwarben seit Generationen dort ansässige Juweliere jüdischen Schmuck. In Köln der Bürgermeister einen Gobelin für seine Amtsstube.

Das überzeugendste Argument, die Akten vollständig mit allen Namen ungeschwärzt zugänglich zu machen, kam jetzt aus New York. Von dort meldeten sich Angehörige der ehemals in Köln lebenden Familie Levi. Denen hatte Salli Levi am 11. März 1942 ein Telegramm geschickt, in dem er seine baldige Ankunft in Amerika ankündigte. Das war das letzte Lebenszeichen der Kölner Levis. Aus einer US-Tageszeitung, die über Dreßens Düsseldorfer Ausstellung berichtete, er-fuhren Levis US-Verwandte in diesen Tagen, warum sie vor 57 Jahren vergeblich warteten. Kurz nach Aufgabe des Telegramms an sie war Salli Levi mit Frau und Tochter ins Konzentrationslager verschleppt worden.

 

Akten belegen Bereicherung am Besitz vernichteter Juden

Fast jeder ausgebombte Deutsche hat nach dem Krieg auf Möbeln aus jüdischem Besitz gesessen. Massenhaft bereicherten sich „ganz normale Nachbarn“ am Eigentum der Verschleppten. Das belegen über lange Zeit hinweg streng verschlossene Akten der Oberfinanzdirektion Köln, die der Historiker Wolfgang Dreßen jetzt untersucht hat.

Nahezu jede Firma, jede Institution, jeder Handwerker und Versicherungsvertreter, der mit jüdischen Familien zu tun hatte, mußte Anfang der 40er Jahre gewußt haben, daß die deportierten Juden nicht mehr zurückkommen würden. Dies schließt der Düsseldorfer Wissenschaftler Dreßen aus Aktenmaterial des Archivs der Kölner Oberfinanzdirektion, das er seit Donnerstag in der Ausstellung mit dem Titel „Deutsche verwerten jüdische Nachbarn“ im Düsseldorfer Stadtmuseum zeigt.

Ähnliche Akten, die seiner Einschätzung nach zu Hunderttausenden bundesweit in den Schränken deutscher Finanzämter lagern, belegen nach Dreßens Ansicht das „ordnungsgemäße“ Vorgehen der Behörden bei der Versteigerung jüdischen Besitzes. Jedwede Veräußerung von Möbeln oder Gebrauchsgegenständen der deportierten Juden wurde per Quittung festgehalten und abgeheftet. Aus den Unterlagen ist klar ersichtlich, wer die Bettwäsche, die Handtücher oder den Kohlenkasten seines ehemaligen Nachbarn billig erwarb. Die Käufer hätten gewußt, so Dreßen, „daß die Wäsche aus dem Schrank der deportierten Familie stammte. Sie wußten auch, daß diese Familie nicht zurückkehren würde, um Rechenschaft zu verlangen“. Aus den Belegen gehe eindeutig hervor: Es wurde stets darauf hingewiesen, daß es sich bei dem Erworbenen um ehemaligen Besitz von Juden handelte. „Jeder wußte also, was er tat“, sagt Dreßen.

Nach 1945 haben dann häufig die gleichen Finanzbeamten, die zuvor für die Versteigerung jüdischer Wohnungseinrichtungen zuständig gewesen waren, durch ihre Aussagen bei Wiedergutmachungsklagen überlebender Opfer Entschädigungen verzögert oder vereitelt. Als Beispiel führt Dreßen den Sohn jüdischer Eltern an, die in einem Konzentrationslager ermordet wurden. Als der deportierte Junge in sein Dorf bei Grevenbroich zurückkam und um die Überweisung der Mieteinnahmen des elterlichen Hauses bat, lehnte dies die Oberfinanzdirektion Düsseldorf ab.

 

Akten belegen das Ausplündern

Es geht um Akten, Akten über Menschen: Die Fragen werden immer lauter, welche Belege für das Ausplündern der jüdischen Bewohner noch in den Finanzämtern lagern. Und wie die nichtjüdischen Deutschen, als ihre Nachbarn von den Nazis vertrieben oder deportiert waren, deren Habe nutzten, um den eigenen Hausstand aufzumöbeln. 53 Jahre nach Kriegsende hat der Hessische Finanzminister Karl Starzacher seine Beamten in die Keller geschickt: Vier Leitz-Ordner, die laut Ministerium „sehr detaillierte Aufzeichnungen enthalten“, sind aufgetaucht und werden zum Zwecke der Entschädigung an Ignatz Bubis übergeben.

 

Berlin, 4. November 1941, Wilhelmsplatz 1/2. „Der Reichsminister der Finanzen“ setzt einen Schnellbrief an die Oberfinanzpräsidenten ab, „Betr. „Abschiebung von Juden“. Darin ist verfügt: „Das Vermögen der abzuschiebenden Juden wird zugunsten des Deutschen Reichs eingezogen. Es verbleiben den Juden 100.- RM und 50 kg Gepäck je Person (...). Die Gegenstände, die nicht für Zwecke der Reichsfinanzverwaltung gebraucht werden, sind in geeigneter Weise zu veräußern.“ Auch an „Zweifelsfragen“ hat Minister von Krosigk gedacht: „Als Deckwort für die Abschiebung der Juden ist in Ferngesprächen die Bezeichnung ‚Aktion 3’ zu verwenden.“

„Betrifft Aktion 3“ - diesen Titel trägt eine Ausstellung im Düsseldorfer Stadtmuseum, die zeigt, wie im nationalsozialistischen Deutschland jüdische Nachbarn „verwertet“ wurden. Das in der FR bekanntgemachte Ringen des verantwortlichen Historikers Wolfgang Dreßen um Einsicht in abgelegte Finanzakten kam auch hessischen Beamten zu Ohren. Beim Umzug der Frankfurter Finanzämter in das Behördenzentrum Gutleutstraße, so hieß es noch vergangene Woche im Büro des Finanzministers Starzacher (SPD), sei aber „nur eine kleine Kiste“ mit Dokumenten aus schrecklicher Zeit an das Hessische Staatsarchiv gegangen.

„Wir haben keinen Zugriff mehr auf Akten“, sagte Büroleiter Thomas Kreuder. Und im Hauptstaatsarchiv beschied Volker Eichler die FR-Anfrage: Laut Berichten aus der Nachkriegszeit seien „die gesuchten Verwertungsakten bei Bombenangriffen komplett verbrannt“. An einschlägigen Papieren stünden allein 180 Protokolle der damals vom zuständigen Finanzamt „Frankfurt-Außenbezirk“ veranlaßten Versteigerungen jüdischen Vermögens zur Verfügung. Allerdings hatte der Staatsarchivar in der Frankfurter Oberfinanzdirektion einmal „etwa neun Regalmeter Unterlagen über jüdisches Vermögen gesehen“, die Ordner aber „nur flüchtig angeschaut“.

In dieser Woche dann sind Alexandra Zimpelmann, Pressereferentin im Hessischen Finanzministerium, die Augen übergegangen: Die „ersten vier aufgefundenen Aktenkonvolute“ über die „Juden-

Abwicklung“ (Nazi-Jargon) im Großraum Frankfurt erwiesen sich als peinlich genau geführt: „Namen und alles, gut lesbar“, stellte sie auf den ersten Blick fest. Der zweite ließ die Referentin schaudern: Die Dokumente, gefunden in einem Behördenkeller, geben Aufschluß über den Umgang mit den armseligen Hinterlassenschaften von Zwangsarbeitern des Arbeitserziehungslagers Heddernheim. Deren zerlumpte Hemden und Hosen, so steht zu lesen, seien vernichtet worden. Das Ministerium wird bei einer Pressekonferenz Einblick in das Material geben.

Frankfurt, 16. November 1941: Zwölf Tage nach Beginn der vom Reichsfinanzminister ausgerufenen „Aktion 3“ geht aus der Seilerstraße 14 ein Brief von Hilda Reichenberg an ihren in die USA emigrierten Sohn Ludwig. Es ist einen Monat, nachdem sein „Onkel Julius“, wie - dem Sohn damals mitgeteilt worden war, „abgereist ist“ - der jüdische Frankfurter war deportiert worden. Nun schreibt die Mutter: „Von Onkel Julius haben wir immer noch nichts gehört: Es ist bei den meisten Leuten so. Es scheint dort eine Postsperre zu herrschen (...). Wie lange wir noch hierbleiben, ist uns im Augenblick noch nicht bekannt.“ „Macht Euch aber keine Sorgen um uns“, schließt Hilda Reichenberg den Brief an ihren Ältesten, „Wir sind stark und werden hoffentlich darüber hinwegkommen. Lebt wohl. Seid herzlich gegrüßt und geküßt von Eurer Euch liebenden Mutter.“

Ein Dreivierteljahr später tritt „Aktion 3“ auch für Hilda Reichenberg und ihren Mann Salli in Kraft. Per Schnellbrief der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) „wird Ihnen hiermit eröffnet, daß Sie innerhalb von 2 Stunden Ihre Wohnung zu verlassen haben.“ Die Beiden werden nach Theresienstadt verschleppt (nach Monica Kingreen in: Jüdisches Landleben).

 

Philipp Schunk, Vollziehungsbeamter des Finanzamtes Frankfurt-Außenbezirk, hat 1947 gegenüber der amerikanischen Militärregierung ausgesagt, was danach Sache war. „Der Inhalt der Judenwohnungen mußte möglichst schnell verkauft, werden.“ Was zu holen war, war gut bekannt: Schon im Frühjahr 1938 hatte „jeder Jude sein gesamtes in- und ausländisches Vermögen“ angeben müssen. 1940 waren von der beim Oberfinanzpräsidenten (Goethestraße 9) angesiedelten Devisenstelle „Sicherungsanordnungen“ erlassen worden: Die Geächteten durften Geld nur noch auf einem „beschränkt verfügbaren Sicherungskonto“ deponieren und „nur mit schriftlicher Genehmigung der Devisenstelle darüber verfügen“.

Diverse Stühle, das Stück für eine Mark. Sechs Teller für drei, einen „Eimer alt“ für eine Mark - so wird nun das Hab und Gut der „evakuierten“ Juden von Finanzbeamten akkurat aufgelistet. Bei der Vermarktung des Eigentums von Sara Marta Baum aus der Eschersheimer Landstraße 47, das weist eines der 180 erhaltenen „Protokolle über eine „freiwillige Versteigerung“ aus, erzielt das Finanzamt-Außenbezirk im Juli 1943 genau 22918 Mark; 790,55 Mark bleiben dem Gerichtsvollzieher für seine Mühe.

Etwa 15000 „diesbezügliche Fälle der Verwertung jüdischer Möbel“ haben die Frankfurter Finanzbeamten nach den Recherchen der amerikanischen Militärverwaltung durchgezogen. So kann der Vollziehungsbeamte Philipp Schunk „1 Schlafzimmer zum Preise von RM 600.-, 1 Speisezimmer zum Preise von RM 450.-, 1 Ledersessel zum Preise von RM 150.-, 3 Lampen und 1 Schuhschrank“ erstehen. Sein Amt kassiert - nach einer Abrechnung des Versteigerungshauses Franz Pfaff (Neue Mainzer Straße 14) allein am 6. Januar 1943 19726,90 Mark für die zurückgelassenen Dinge des Lebens der deportierten Frankfurter Nanny Levis, Simon Isaac, Rosa Cahn, Maria Pauson, Hugo Nathan Adler, Daniel Krämer, Karl Ed. Lazarus und Leo Rothschild.

„Über jeden Kauf wurde ein Kaufvertrag getätigt, der jeweils zu den Akten genommen wurde“, berichtete Fanny Kurz nach dem Krieg. Sie war im März 1942 von Amts wegen mit der „Verwertung von jüdischem Vermögen“ beauftragt worden. Doch die Finanzamts-Außenstelle in der Hochstraße 18 ist am 25. September 1944 bei einem Luftangriff ausgebrannt. So daß Hauptstaatsarchivar Volker Eichler sich bis vergangene Woche ziemlich sicher war: „In Frankfurt sind die Verwertungsakten vernichtet worden.“

Daß es doch anders ist und plötzlich Vorgänge auftauchen, die laut Mitteilung aus dem Finanzministerium sogar dazu dienen können, „daß Opfer der Arisierungsmaßnahmen und deren Nachkommen eventuelle Ansprüche belegen und geltend machen können“, kommt erst durch die Beharrlichkeit des Düsseldorfers Wolfgang Dreßen ans Licht. Denn die Frankfurter Geschichte der Zerstörung der Jüdischen Gemeinde zwischen 1933 und 1945 ist noch nicht geschrieben, wie Stadtarchivar Dieter Rebentisch kürzlich eingestehen mußte. Das Fritz-Bauer-Institut hat Monica Kingreen an das Thema gesetzt: Sie, die ihre Recherchen der FR zur Verfügung stellte, veröffentlicht Ende 1999 einen Aufsatzband über „Juden in Frankfurt zwischen 1938 und 1945“.

 

Wie sich Museen Kunst aus jüdischem Besitz aneigneten

Die Politik der Vertreibung und Vernichtung von Juden in der NS-Diktatur machten sich die Städte zu Nutzen, auch um möglichst günstig an die Kunst- und Wertgegenstände der Opfer zu kommen, die flugs als „nationales deutsches Volksvermögen“ definiert wurden.

Doch 1966 schrieb der seit 1938 bis zu seinem Tode 1972 amtierende Direktor des renommierten Frankfurter Museums Städel, Dr. Ernst Holzinger: „Mit der Herrschaft des Nationalsozialismus ist im Jahre 1933 das Verhängnis übers Städel gekommen und im Jahre 1937 ist der nationalsozialistische Bildersturm hereingebrochen ... In keinem anderen deutschen Museum ist dabei so radikal gehaust worden!“ Holzinger nimmt hier ausschließlich die Rolle des Städels als Opfer der nationalsozialistischen „Aktion entartete Kunst“ in den Blick, über seine eigene aktive Beteiligung und die anderer Frankfurter Museumsleiter bei der Aneignung des Kunstbesitzes jüdischer Familien während der NS-Zeit schweigt er - aus gutem Grunde..

 

Im Jahre 1938 konnte die Stadt Frankfurt, begünstigt durch die antijüdischen Exzesse während der „Kristallnacht“, zwei bedeutende Kunstsammlungen mitsamt der Palais von Carl von Weinberg, dem Gründer der Firma Cassella, und des 95-jährigen Freiherrn Maximilian von Rothschild in Niederrad, beziehungsweise der Bockenheimer Landstraße, als „freiwillige“ Verkäufe unter Druck und zu einem Spottpreis in ihren Besitz bringen.

Die bedeutende Kunstsammlung Carl von Weinbergs, der auch wichtiger Mäzen des Frankfurter Städels gewesen war, sollte - so der Frankfurter Oberbürgermeister Krebs - als Ganzes gekauft werden, denn „die für den Erwerb in Frage kommenden 721 Kunstwerke und Gegenstände sind mit einem Wert von über 1.000.000 RM geschätzt (wurde aus dem Entwurf gestrichen). Sie können zum Preis von 750.000 RM erworben werden. Auch dieser Preis ist angemessen und vertretbar.“

Nach der „Kristallnacht“ „kaufte“ die Stadt von Goldschmidt-Rothschild am 11. November 1938 seine 1.400 Gegenstände umfassende Kunstsammlung „von Museumsrang“ völlig unter Wert ab. Wenige Monate später eröffnete man im nun städtischen Palais Goldschmidt-Rothschild die Abteilung II des Städtischen Museums für Kunsthandwerk.

Die politisch erwünschte und durch die Vorgänge der „Kristallnacht“ forcierte Auswanderung der Juden hatte ein neues Problem mit sich gebracht: Man wollte sie zwar zur Auswanderung zwingen, ihren wertvollen Kunstbesitz aber konfiszieren. „Schutz des deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung“ nannte man dies. Reichsweit wurde am 15. Mai 1939 der Einsatz von „Spezialsachverständigen in Kunstfragen“ festgelegt. Für Frankfurt waren dies Dr. Alfred Wolters, Direktor der Städtischen Galerie, zuständig „für Kunst- und Museumsgut“, der Kunsthändler Wilhelm Ettle, Römerberg 11, „für Kunstgut“, der Direktor der Universitätsbibliothek, Prof. Dr. Oehler, „für Bibliotheksgut“, Dr. Hans Bergmann, Mitinhaber der Universitätsbuchhandlung Blazek & Bergmann, „für das Schriftgut lebender Autoren“.

Sie hatten ihre Kenntnisse über „die in jüdischem Besitz befindlichen Gegenstände“ durch zusätzliche „Erkundung in Fachkreisen“ noch zu „vervollständigen“ und auf der Basis der zwangsweise aufgestellten 5.800 Verzeichnisse des Vermögens von Juden in Frankfurt „die gesammelten Kenntnisse nach Personen geordnet mitzuteilen“. Als Profiteure der so „geretteten“ Kunst- und Kulturwerke kamen Museen, Bibliotheken, Archive und der Kunsthandel in Betracht.

Die Zwangsabgabe der Schmuck- und Edelmetallwaren gegen einige Pfennige Materialwert im Frühjahr 1939 für Juden im ganzen Reich führte bei zwei Frankfurter Museen zu Initiativen, sich aus dem Fundus dieses enteigneten „Angebots“ frisch geraubter Antiquitäten und kunstgewerblicher Gegenstände zu bedienen. Bis Mitte Mai 1939 hatte die Städtische Pfandleihanstalt Frankfurt nur aus dem Stadtgebiet bereits rund 10.000 „Ablieferungen“ zu verzeichnen und rechnete mit mehr als 1 Million Reichsmark an Gesamtausgaben. Rund 8.000 Kilogramm silberne Gegenstände hatte die städtische Einrichtung zu dieser Zeit bereits an Schmuckwaren- und Uhrenhändler sowie Gold- und Silberschmiede abgegeben. Diese legten im November 1939 Wert darauf, weitere Silbersachen „gerade jetzt (kurz vor Weihnachten) zu erwerben“, berichtete die städtische Darlehensanstalt unter dem Punkt „Judenware“.

Gleich mit Beginn der Zwangsabgaben der Juden von Gold-, Silber- und Schmuckwaren, die eingeschmolzen werden sollten, intervenierte der Direktor des Frankfurter Stadtgeschichtlichen Museums, Graf Solms zu Laubach, beim Oberbürgermeister, da die „große Gefahr“ bestehe, daß 2kulturell bedeutsame kunstgewerbliche Erzeugnisse unerwünschter Zerstreuung oder gar der Verschrottung anheimfallen“ würden. Diese wollte Ernst-Otto Graf Solms zu Laubach für die Museen, und so wurde er vom Oberbürgermeister ermächtigt, „geeignete Sicherstellungsmaßnahmen zu ergreifen“.

Gerade zu einer Zeit, als die inländischen Quellen zur Erschließung „jüdischen Besitzes“ allmählich erschöpft waren, ergaben sich nach der Besetzung Frankreichs, Belgiens und der Niederlande für die Frankfurter Museumsdirektoren neue attraktive Möglichkeiten, den Besitz ihrer Museen zu erweitern. Bereits wenige Monate nach der deutschen Besetzung von Paris gab es im September 1940 erste Initiativen, Frankfurter Museumsdirektoren in das Zentrum des Kunsthandels zu schicken, um „nicht wiederkehrende Gelegenheiten“ zu nutzen, und ihre Sammlungen „unter günstigen Bedingungen wertvoll zu ergänzen“.

Der Pariser Kunstmarkt war zu dieser Zeit geradezu überschwemmt von Kunstgegenständen aus dem Besitz zumeist jüdischer Familien. Der Direktor des Museums für Kunsthandwerk, Prof. Mannowsky, und der Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums, Graf Solms zu Laubach, der auch die Interessen des Städels und der Städtischen Galerie mit vertreten sollte, erkundeten, ausgestattet mit 5.000 RM in (abgewerteten) Francs, Anfang Dezember 1940 den Kunsthandel in Paris.

Sie fanden, so berichtete Mannowsky, „bei den kleinen und mittleren Händlern Überfluß an Ware, der durch Verkäufe aus Privatbesitz noch dauernd wächst“, und reservierten Gegenstände, „deren Handelswert in Deutschland mindestens das 5- bis 6-fache beträgt”. Prof. Mannowsky empfahl dem Oberbürgermeister dringend, „diese so leicht nicht wieder sich bietende Gelegenheit zu benutzen und eine weitere größere Summe zu Ankäufen in Paris bereit zu stellen”, und schlug weiter vor, „auch im belgischen und holländischen Kunsthandel in ähnlicher Weise Umschau zu halten. Wertvoller deutscher Kunstbesitz ist in den letzten Jahren gerade dorthin abgewandert, der jetzt vielleicht unter günstigen Bedingungen wieder erworben werden“ kann, womit das Eigentum deutsch jüdischer Flüchtlinge gemeint war. Entsprechend wurden „60.000 RM für Ankäufe von Kunstwerken in Frankreich und je 20.000 RM für Ankäufe in Belgien und den Niederlanden“ zur Verfügung gestellt.

Die beiden Museumsdirektoren machten sich im Februar 1941 erneut nach Paris auf, diesmal gemeinsam mit dem Direktor des Städels, Dr. Holzinger, zur Wahrung der Interessen der Städtischen Galerie und des Städels. Sie sollten „auch bei Dr. Gunther Schiedlauski, Leiter des Musée Jeu de Paume, vorsprechen“. Im Jeu de Paume, einem von den Deutschen beschlagnahmten Museum am Place de la Concorde, befand sich seit Oktober 1940 das Depot der größten deutschen Kunstrauborganisation, des „Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg“.

Mehr als 20.000 beschlagnahmte Kunstwerke aus den Sammlungen jüdischer Eigentümer waren dort aus ganz Frankreich zusammengetragen worden. Die Städtische Galerie kaufte beispielsweise u. a. Gemälde in der Pariser Galerie Alice Manteau, von der heute durch Hector Felicianao bekannt ist, daß sie „in eine Reihe von Transaktionen verwickelt (war), die mit dem Verkauf von Beutekunst aus dem Jeu de Paume zu tun hatte“.

In Frankfurt wurden kurz nach dieser Reise im März 1941 weitere 52.000 RM „aus dem Haushalt des Städelschen Kunstinstitutes, der Städtischen Galerie sowie aus Zuwendungen von Stiftungen zur Verfügung“ gestellt für weitere Einkäufe unter besatzungsrechtlichen Bedingungen.

Holzingers Dienstreise führte auch in die besetzten Niederlande. Dort war Kunstbesitz jüdischer Familien, zwangsweise abgegeben, von deutschen Stellen konfisziert oder geplündert und „günstig“ bei der „Dienststelle Mühlmann“ und in den mit der Besatzungsmacht kollaborierenden Kunsthandlungen zu bekommen.

Der Oberbürgermeister von Frankfurt, bestrebt, die Gunst der Stunde für seine Museen zu nutzen, stellte „einen Sonderbetrag von 200.000 RM“ zur Verfügung, unter anderem „100.000 RM für Ankaufspläne in Frankreich und 50.000 RM für Belgien.“ Die „Ankaufsreisen sind für die Museen der Stadt Frankfurt von hervorragendem Erfolg gewesen“. Im August 1941 vermerkte das Kulturamt, daß „ein Teil der Kunstgeschichtler in unserem Amtsbereich ... seit längerer Zeit mit verhältnismäßig geringen Unterbrechungen zur Durchführung von Kunstankäufen im Ausland auf Dienstreisen gewesen“ sei. Besondere Erwähnung fand „der Einsatz“” Dr. Holzingers.

Im Mai 1942, als es um „die Überführung einer Bibliothek nach Frankfurt“ ging, wurde Holzinger vom Oberbürgermeister nach Paris geschickt, um die Bestände der „Kunstbibliothek eines Juden Weil“, etwa 1.500 Bände, in dessen Haus zu „überprüfen“. Es handelte sich um die „Museumshandbibliothek der Weilschen Sammlung“, damit dürfte die Sammlung des bedeutenden jüdischen Kunstsammlers und Bibliophilen David David-Weill gemeint gewesen sein.

Unklar blieb allerdings, „mit wem über den Erwerb verhandelt werden“ könne, da „der Eigentümer Weil aus Paris geflüchtet und für Verhandlungen nicht erreichbar“ sei. Der „im Haus anwesende Kammerdiener Weils“ erschien den Frankfurter Beamten „zu Verhandlungen nicht ermächtigt“. Als der Besitz später auf Grund testamentarischer Bestimmungen dem französischen Staat zufiel, waren die Bemühungen der Stadt, die Bibliothek für einen Kaufpreis von 2.000 RM in ihren Besitz zu bringen, gescheitert.

Im Frühjahr 1941 eröffnete sich für die Museen ein neues Terrain zur Aneignung „jüdischen Besitzes“, diesmal wieder in Frankfurt, und zwar, als im Deutschen Reich zurückgebliebenes Umzugsgut ausgewanderter Juden nach Beschlagnahme durch die Gestapo zur Verteilung anstand.

Im April 1941 wurde allen Frankfurter Speditionen durch die Gestapo mitgeteilt, daß mit sofortiger Wirkung sämtliche eingelagerten Gegenstände von Juden beschlagnahmt waren. Die mehr als 30 betroffenen Speditionen hatten bei der Gestapo innerhalb von 14 Tagen eine Aufstellung aller entsprechenden Einlagerungen einzureichen. Im Auftrag der Gestapo sollte das beschlagnahmte Umzugsgut jüdischer Besitzer öffentlich versteigert werden. Dazu schloß die Frankfurter Gestapo mit den Versteigerungshäusern Franz Pfaff, Inhaber Max Bechler, Neue Mainzer Str. 14, August Danz in der Stiftstraße 41, Emil Neuhof, Zeil 19 und Schweppenhäuser, Taunusstraße 45 am 13. Mai 1941 ein Abkommen über öffentlich allmonatlich stattfindende Versteigerungen.

Zur Bewältigung der großen Mengen von Umzugsgut, schätzungsweise der Hausrat der Bewohner einer mittleren Kleinstadt, schloß die Frankfurter Gestapo am 10. Juli 1941 ein weiteres Abkommen mit den zehn Frankfurter Obergerichtsvollziehern Werner, Puff, Feller, Bender, Naumann, Popp, Urbat, Birkenbach, Berenroth und Morawitz über die „Versteigerung der aus nicht-arischem Besitz ... stammenden beschlagnahmten Gegenstände“.

Die Versteigerungen waren im Frankfurter Volksblatt und im Frankfurter Generalanzeiger annonciert. Da das Pfandlokal der Obergerichtsvollzieher in der Vilbeler Straße 26 nicht ausreichte, hatten die Obergerichtsvollzieher, „„um dem Massenandrang der Steiglustigen gerecht zu werden, ... eigens für die Versteigerung des jüdischen Umzugsguts im Einverständnis mit der Gestapo noch ein besonderes Lokal, die Turnhalle der Klinger-Schule, gemietet.“

In zeitlicher Nähe und im Kontext der Beschlagnahme und Versteigerung des mobilen Besitzes ausgewanderter Juden durch die Gestapo hatte das Propagandaministerium im Mai 1941 eine „Verfahrensordnung der Reichskammer der bildenden Künste als Ankaufstelle für Kulturgut“ erlassen. Die Einrichtung einer zentralen „Ankaufsstelle“ für „Kulturgut aus jüdischem Besitz“ bedeutete Einschränkungen der lokalen Zugriffsmöglichkeiten. Entsprechend wurde Dr. Wolters, Direktor der Städtischen Galerie, sofort initiativ und erläuterte dem Oberbürgermeister, daß die Stadt unbedingt den „Versuch“ machen solle, „in dieses Verfahren eingeschaltet zu werden“.

Oberbürgermeister Krebs stellte rückblickend fest, wie wichtig es gewesen war, daß „die Stadt Frankfurt frühzeitig zum Erwerb bedeutender Frankfurter Sammlungen (Goldschmidt-Rothschild, Weinberg) geschritten“ sei und wandte sich an das Propagandaministerium: „Reiche private Kunstsammlungen und Kunstschätze haben besessen und besitzen zum Teil noch heute die hier ansässigen begüterten Judenfamilien.

Diese Kunstschätze und Kulturgüter, die zum nationalen deutschen Volksvermögen gehören, dem deutschen Volke zu erhalten und sie besonders vor der Abwanderung ins Ausland zu retten und möglichst den öffentlichen Sammlungen und Museen in Frankfurt a. M. zuzuführen, sehe ich als eine verpflichtende Aufgabe meiner Verwaltung an ... halte ich es für geradezu unerläßlich, daß zum Mindesten die von den Frankfurter Judenfamilien zusammengeschacherten Kunst- und Kulturgüter auch in unserer Stadt bleiben.“

Am 20. August 1941 gab der Präsident der Reichskulturkammer die vom Erziehungsministerium benannten Sachverständigen für die „Ankaufstelle für jüdisches Kulturgut“ bekannt. In Frankfurt waren das: Prof. Walter Mannowsky, Direktor des Kunstgewerbemuseums, Dr. Ernst Holzinger, Direktor des Städelschen Kunstinstitutes, und Dr. Richard Oehler, Bibliotheksdirektor Daneben gab es noch einen „Fachreferenten“ beim Landeskulturverwalter des NSDAP-Gaus Hessen-Nassau, den Kunsthändler Wilhelm Schumann.

Die Möglichkeiten, aus dem Umzugsgut jüdischer Familien Kunstwerke zu erwerben, nutzte der Oberbürgermeister und bewilligte dafür im September 1941 außerplanmäßig weitere 50.000 RM, „um solche Kunstgegenstände, die aus beschlagnahmtem jüdischen Besitz stammen und deren öffentliche Versteigerung durch die Dienststellen der Geheimen Staatspolizei erfolgen wird“, zu kaufen.

Er hatte „einen der Museumsleiter beauftragt, bei diesen Versteigerungen die Belange der Stadt wahrzunehmen und in meinem Auftrag die notwendigen Verhandlungen zu führen“ und bekräftigte seine Überzeugung, daß es sich dabei „um nicht wiederkehrende Gelegenheiten zur Vermehrung des städtischen Museumsbesitzes“ handele.

Mit dem Beginn der reichsweiten Deportationen im Oktober 1941 war die Verfahrensordnung „zur Sicherung und Verwertung von Kulturgut aus jüdischem Besitz“ auch auf den Besitz der gewaltsam verschleppten Menschen ausgedehnt worden. Vor der ersten großen Deportationswelle in Frankfurt im Oktober und November 1941 mit mehr als 3.000 Menschen wurde klar gestellt, daß die Bestimmungen „betr.: Sicherung und Verwertung von Kulturgut aus jüdischem Besitz für Zwecke des Reiches“ auch für den zurückgelassenen Besitz der Deportierten gelten. Der Landesleiter hatte sich „unverzüglich mit den zuständigen Dienststellen der Geheimen Staatspolizei und des Reichsfinanzministeriums bezüglich der Verwertung des beschlagnahmten Kulturguts aus jüdischem Besitz ins Benehmen zu setzen“.

Er hatte dann „die beschlagnahmten Kunstgegenstände“ zusammen mit dem „Sachverständigen“ daraufhin zu prüfen, ob an ihrem Erwerb etwa ein Interesse der öffentlichen Hand (Museen, Galerien, Ministerien u. dergl.) bestehen könnte. Dabei hatte es in Frankfurt wohl erst einmal Probleme gegeben, wie aus einem Bericht des Kulturamtsleiters an den Oberbürgermeister im April 1942 hervorgeht, daß „die Leitungen des Städelschen Kunstinstituts und der städtischen Galerie“ gemeinsam „eine sehr große Anzahl von Nachlässen und dergl. durchgesehen“ hatten. Doch hätten sich „ganz große Schwierigkeiten bei der Auflösung jüdischer Haushalte“ ergeben, bei denen „eine bevorzugte Behandlung der Museen vorgesehen“ gewesen sei.

Folglich sei es im Jahre 1941 „nicht in einem einzigen Falle gelungen, aus diesen Quellen etwas zu erwerben“, was daran gelegen habe, daß „die gemäß der Verfahrensordnung beteiligten Museumsbeamten von den vom Finanzamt beauftragten Abwicklern nicht rechtzeitig von den bevorstehenden Verkäufen benachrichtigt“ worden seien. Von der Reichskammer der Bildenden Künste sei aber die Zusage erfolgt, daß dem „Museumsbeamten“ die „Besichtigung und Aussonderung zu versteigernder Kunstwerke ermöglicht“ werde und so hoffe man, daß „sich nunmehr gewisse Ankaufsmöglichkeiten bieten werden.“

Aus dem Besitz der Menschen dieser ersten drei Deportationen waren 150 Gemälde vom Finanzamt-Außen an den Kunsthändler Wilhelm Ettle zur „Verwertung” übergeben worden. Im Dezember 1941 wurde Ettle von der Gestapo verhaftet, da er sich seit längerer Zeit an dem Besitz von Juden zu seinen eignen Gunsten bereichert habe. Die Gemälde der Deportierten wurden nun an den Kunsthändler Julius Hahn übergeben.

Die Städtische Galerie sowie das Städelsche Kunstinstitut erwarben vom Finanzamt-Außen in den Jahren 1942 und 1943 Gemälde aus dem Besitz deportierter oder emigrierter Juden. Vom Oktober 1942 liegt auch ein Hinweis auf die Beteiligung der Sachverständigen für die „Sicherung und Verwertung von Kulturgut für Zwecke der Reiches“ an Aktivitäten gegen sogenannte „entartete Kunst“ vor.

Im Februar 1943 kam der Besitz des Frankfurter Malers und Ostasiatika-Experten Alfred Oppenheim, der im Dezember 1938 nach England hatte entkommen können, zur Versteigerung, darunter umfangreiche Kunstgegenstände und Gemälde. Nach „Durchsicht jüdischen Versteigerungsgutes nach Kulturgut dgl.“ durch Otto Müller für den Obergerichtsvollziehers Naumann, schrieb Dr. Holzinger unter dem Betreff „Sicherung und Verwertung von Kulturgut aus jüdischem Besitz für Zwecke des Reiches“, daß „eine Reihe von Kunstgegenständen und Büchern aus dem ehemaligen Besitz des jüdischen Malers Alfred Oppenheim von den Versteigerungen ausgeschlossen werden“ sollten.

Entsprechend stellte er den Antrag, daß etwa 600 Gegenstände, der Verfahrensordnung entsprechend, „den Frankfurter Museen zugeteilt würden“. Außerdem waren Werke des berühmten Malers des jüdischen Lebens, Moritz Daniel Oppenheim, des Großvaters von Alfred Oppenheim, im Rahmen dieses Verfahrens für die „Bildsammelstelle“ des „Instituts zur Erforschung der Judenfrage“ vorgesehen. Im Zusammenhang mit der Oppenheim-Sammlung kündigte die „Verwertungsstelle“ dem Oberbürgermeister im März 1943 an, „auch für die Zukunft aus Judenvermögen anfallende Kunstwerke von allgemeinem Interesse in erster Linie den hiesigen Museen anzubieten“.

Im März 1943 wandte sich Holzinger mit einer Beschwerde an das Finanzamt-Außen: „Nachdem in der vergangenen Woche schon zwei Gerichtsvollzieher-Versteigerungen stattgefunden hatten, die der Reichskammer für Bildende Künste nicht vorher gemeldet waren, findet heute schon wieder im Mauerweg 1 eine Versteigerung durch Obergerichtsvollzieher Lotz statt, ohne daß sie zuvor gemeldet worden ist.“

Als im April 1943 die Einziehung Holzingers zur Wehrmacht drohte, wurde vom Kulturamtsleiter seine Unabkömmlichkeit mit dessen offizieller Funktion begründet: „Direktor Holzinger ist Sachverständiger des Reichserziehungsministeriums für die Überprüfung des beschlagnahmten jüdischen Kunstbesitzes auf Grund der ‚Verfahrensordnung’. Diese Tätigkeit erfordert fast täglich Besichtigungen undVerhandlungen beim Finanzamt, bei Gerichtsvollziehern und Versteigerern.“

Nach der Kapitulation beschlagnahmte die Kunstschutz-Abteilung der amerikanischen Militärregierung zahlreiche Kunstgegenstände in den Frankfurter Museen. Basis war das alliierte Besatzungsrecht, das die alliierten Grundsätze der Londoner Deklaration von 1943 zu geraubtem Kulturgut umgesetzt hatte. (Die spätere Entschädigungs- und Rückerstattungsgesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland übernahm diese Rechtsgrundsätze). Im Oktober 1946 hielt die amerikanische Militärregierung in einer „Erklärung über die Beschlagnahme und Zurückgabe von denjenigen Kunstwerken, die während des Krieges von Frankfurter Museen und Privatsammlern erworben wurden“ fest, daß die in Frankreich und den Niederlanden während der Besatzung erworbene Kunstwerke an die „Regierungen dieser Länder“ zurückgegeben wurden.

Dies bedeute zwar „nicht die Anklage der ungesetzmäßigen Handlung“, jedoch würden die Käufe selbst „nicht als gültig und rechtmäßig anerkannt“, da sie unter besatzungsrechtlichen Bedingungen erfolgt seien. Solche Kunstwerke aber, die „vom Finanzamt“ oder „aus Sammlungen erworben“, oder „von der nationalsozialistischen Regierung beschlagnahmt“ worden waren, sollten „bis zur Rückgabe an ihre Besitzer“ in der hessischen Sammelstelle der Amerikaner für geraubtes Kunstgut im Central Collecting Point in Wiesbaden aufbewahrt werden.

Des Weiteren unterstanden die Kunstwerke, die „vorher im Besitz von Alfred Oppenheim, des verstorbenen Max von Goldschmidt-Rothschild und Carl von Weinberg“ waren, „zwecks Rückgabe“ der Militärregierung. Auch solche, die zu dieser Zeit „noch im Gewahr der Frankfurter Institute“ waren, die sie „von ihren ursprünglichen Besitzern“ erworben hatten. Eine Rückerstattung des arisierten „jüdischen Silbers“ in den Frankfurter Museen fand hingegen keine Erwähnung in der Erklärung der Amerikaner.

Von der amerikanischen Militärregierung war im Übrigen nur einige Monate zuvor ausgerechnet Dr. Ernst Holzinger als „Direktor der Museen in Großhessen“ ernannt worden. Holzinger war damit auch mit der Rückerstattung all der Museumsstücke beschäftigt, an deren Aneignung er für die Museen während der NS-Zeit großen Anteil gehabt hatte. Im Jahre 1966 wurde er mit der Ehrenplakette der Stadt Frankfurt ausgezeichnet. Aus dem Historischen Museum wurden 1950 jüdische Kultgeräte im Rahmen eines Vergleichs von der Stadt restitituiert.

55 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus wäre es für die Frankfurter Museen an der Zeit, das Wissen um die Aktivitäten ihrer Institutionen und ihres wissenschaftlichen Personals während der NS-Zeit zu erweitern. Noch im Januar 1996 lobte der heutige Leiter des Städels, Prof. Herbert Beck, in einem Zeitungs-Interview seinen Vorvorgänger Holzinger wegen dessen „Arisierungs“-Aktivitäten bei der Sammlung Alfred Oppenheims als einen „Retter, dem Dank gebührt“. Auch die anderen Berufsgruppen, die in die „Arisierung“ eingebunden waren, werden, so ist zu hoffen, ihre Archive öffnen und ihre Aktivitäten während der NS-Zeit bearbeiten.

 

Wiedergutmachung:

Auf politischem Gebiet dauerte es noch länger, bis man sich dieser Frage stellte. Der Hamburger Senator Erich Lueth erließ im September 1951 den Aufruf: „Wir bitten Israel um Frieden!“ Ebenso erließ der Hauptschriftleiter einer Hamburger Zeitung, Rudolf Küstermeier, einen Aufruf. Am 21.9.1951 gab darr der damalige Bundeskanzler Adenauer im Bundestag eire Erklärung ab, in der er die Bereitschaft zu einer materiellen Wiedergutmachung ausdrückte.

In Israel gab es Widerstand gegen Verhandlungen mit der Bundesrepublik Deutschland. Mit 61 : 50 Stimmen gab das Parlament aber am 16. Januar 1952 seine Zustimmung. Die Verhandlungen mit dem Staate Israel und dem jüdischer Weltkongreß fanden in Den Haag statt. Ende August wurde dann vereinbart, daß die Bundesregierung Waren im Werte von 3,45 Milliarden Mark an Israel liefert und weitere 50 Millionen Mark an einzelne Juden. Man wollte sich nicht durch materielle Opfer loskaufen, wollte aber die Grundlage für ein gutes Verhältnis zu Israel schaffen.

Die DDR hat es immer abgelehnt, ein Nachfolgestaat des Deutschen Reiches zu sein. Deshalb hat sie auch keine Wiedergutmachungszahlungen geleistet. In einer Schrift heißt es: „In der DDR ist der Antisemitismus mit den Wurzeln ausgerottet!“

Heute gibt es acht jüdische Gemeinden in der DDR in Berlin, Schwerin, Magdeburg, Halle, Leipzig, Dresden, Karl-Marx–Stadt. In Magdeburg, Erfurt und Karl–Marx–Stadt wurden neue Synagogen gebaut und in anderen Städten die zerstörten Gotteshäuser wieder aufgebaut. Die Kosten für der Bau und die Unterhaltung trägt allein der Staat. Millionenbeträge wurden auch für die Wiederherstellung jüdischer Friedhöfe ausgegeben. Die jüdischen Gemeinden haben Alters- und Pflegeheime, eigene Gärtnereien und in Berlin eine koschere Schlächterei.

 

 

 

Gegenwart (Nach dem Zweiten Weltkrieg)

Durch die Einwanderungen in Palästina Ende des 19. Jahrhunderts und durch die Hitlerzeit bzw. den Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 bahnt sich ein neues Denken der Juden an.

Es kam zur Zuspitzung der Situation in Palästina. Die Araber protestieren gegen die Einwanderer. Während der englischen Mandatszeit entsteht aber eine jüdische Untergrundbewegung, aber auch die jüdische sozialistische Arbeiterpartei.

Schon 1947 regte ein chinesischer Uno-Delegierter an, die heiligen Stätten „einem philosophischen Atheisten mit Menschenfreundlichkeit“ zu unterstellen, wenn die Souveränität über Jerusalem nicht gleich, so ein Vorschlag des Lateinischen Patriarchen aus dem Jahr 2000, dem lieben Gott übertragen werden sollte.

Palästina war bis 1947 britisches Mandatsgebiet. Es war bewohnt von Palästinensern und Juden, die hier auf friedlichem Wege eingewandert waren und sich angesiedelt hatten. Diese Einwanderung wurde gefördert durch die Bewegung des Zionismus, die von Theodor Herzl gegründet worden war. Sie hatte im wesentlichen die Rückkehr der Juden in das Land der Väter zum Ziel.

Unter dem Eindruck der Verfolgungen in Deutschland wollte man nach dem Krieg den Juden einem eigenen Staat geben. Dazu wurde Palästina geteilt. Die vorwiegend von Juden bewohnten Landesteile sollten den Staat Israel bilden, die anderen einen Staat Palästina. Die Landkarte wurde dadurch allerdings ziemlich buntscheckig. Israel war zum Teil ziemlich schmal und hatte keine direkte Landverbindung zu seinem nördlichsten Landesteil.

Im Jahre 1947 kommt es zur Überprüfung der Lage durch die UNO: 33 Länder stimmen für die Teilung des Landes in einen jüdischen und einen arabischen Teil. Jerusalem als heilige Stätte dreier Religionen soll international bleiben. Die Arabischen Staaten lehnen den Vorschlag ab. Ben Gurion erklärt aber am 14. Mai 1948 mit der Unabhängigkeitserklärung die Existenz des neuen Staates Israel am Vorabend der Beendigung des englischen Mandats.

Am Tag darauf erfolgt der Angriff arabischer Armeen auf Israel: Beginn des Unabhängigkeitskrieges, in dem sich der jüdische Staat - wie auch in späteren Nahost-Kriegen - wie durch ein Wunder behaupten kann. Im Jahre 1949 vermittelt die UNO ein Waffenstillstandsabkommen. Jerusalem wird 1949 wieder die Hauptstadt Israels.

Das Ergebnis war allerdings, daß Israel sein Staatsgebiet auf die Grenzen ausdehnte, die bis 1967 bestanden. Die übrigen palästinensischen Gebiete wurden von den arabischen Nachbarn besetzt, das Westjordanland von Jordanien und der Gazastreifen von Ägypten. So waren die Palästinenser ihren Staat los und lebten zum Teil in Flüchtlingslagern in den arabischen Nachbarländern.

Die arabischen Länder erklärten dem „zionistischen Gebilde“ den Krieg. Sie ahnten nicht, daß sie damit ihre palästinensischen Brüder und Schwestern in jenes Flüchtlingselend stürzten, von dem die Lager im Libanon, in Syrien und Jordanien noch heute zeugen.

Was das eine Volk seither als Unabhängigkeitstag feiert, betrauert das andere jedes Jahr als „Nakbah“, als nationale Katastrophe. Seit diesem Krieg, so der Zionismus-Forscher Brenner, sei der „Streit zwischen Palästinensern und Juden um die politische Anerkennung auch ein Kampf um die Leiden der Vergangenheit“. Es könne keinen Frieden zwischen den Völkern geben, meinen selbst vergleichsweise gemäßigte Palästinenser wie der in New York lebende Schriftsteller Edward Said, „bis die Schuld der israelischen Politik anerkannt ist: die Enteignung, die Unterdrückung und der Raub am palästinensischen Volk“.

Im kollektiven Gedächtnis Israels aber wurden Massaker in Palästinenser-Dörfern wie die von Deir Jassin oder Lydda verdrängt. Premier Ben-Gurions Befehl zur Vertreibung der Araber wurde von der israelischen Zensur aus dessen Biographie gestrichen. Erst mit der Friedenseuphorie Mitte der neunziger Jahre wagten kritische Historiker wie Tom Segev und Benny Morris einen Angriff auf die zionistischen Helden von einst.

 

Die Tragödie dieser Flüchtlinge ist der bitterste Preis, den die Gründung des Staates Israel forderte. Das hatten die jüdischen Pioniere nicht gewollt. Allerdings hat man die Palästinenser auch bewußt nicht angesiedelt und in die arabischen Staaten integriert, um immer ein Druckmittel in der Hand zu haben.

In diesen Flüchtlingslagern entstanden auch die verschiedenen Palästina-Befreiungsorganisationen, die den bewaffneten Kampf gegen den Staat Israel aufnahmen. So wurde der Konflikt der Juden mit der Christen abgelöst durch die Auseinandersetzung mit den Palästinensern und den arabischen Staaten.

Die Palästinenser haben keinen international anerkannten Status und kein direktes Vertretungsorgan. Sie mußten sich bisher von den oft untereinander zerstrittenen Gastgeberstaaten vertreten lassen. Sie sind nur eine Organisation und kein Staat. Sie befinden sich in der gleichen Situation wie die Juden vor ihrer Staatsgründung. Erst in letzter Zeit wurde ihre Delegation offiziell von der UNO anerkannt und soll auch bei den Friedensverhandlungen beteiligt werden.

Im Jahre 1956 erfolgt der Überfall Israels auf Ägypten (Suezüberfall) und Syrien. Getrieben von der Urangst vor Vernichtung und zugleich berauscht von ihren militärischen Erfolgen, tappten die jungen Feldherren nach dem „Befreiungskrieg“ in eine regelrechte Expansionsfalle. Erzzionisten wie der heutige Premier Scharon verstiegen sich - mal als Vergeltung, mal zur Prävention - zu immer neuen Militäraktionen gegen die arabischen Nachbarn. Die führten 1956 zum Krieg mit Ägypten um den Suez-Kanal. Doch die Offensive brachte keinen Landgewinn, weil sich Israel auf Druck der USA und der Sowjetunion wieder zurückziehen mußte. Auf Druck der UNO kommt es nach dem Sieg Rückgabe der besetzten Gebiete (Gazastreifen). Auch der Sechstagekrieg gegen Ägypten vom 5. bis 10. Juni 1967 wird von Israel begonnen. Danach gibt es keine Bereitschaft zur Rückgabe der besetzten. Gebiete.

 

Vergrößern konnte sich Israel erst 1967 mit dem durch Zwischenfälle an der Grenze zu Syrien und Drohungen aus Ägypten ausgelösten Sechstagekrieg. Damit aber wurde der junge Staat 70 Jahre nach dem Zionisten-Kongreß von Basel, auf dem die Opfer von Diktatur und Unterdrückung den Aufbruch in eine bessere Welt proklamiert hatten, selbst zu einem Unterdrücker.

Während auf Seiten der Palästinenser islamistische Fanatiker anfangs kaum eine Rolle spielten, sondern allein Arafats säkulare, eher linksradikale PLO das Unrecht der Besatzung mit Flugzeugentführungen und Terroranschlägen der Weltöffentlichkeit grausam ins Bewußtsein rief, bekamen die frommen Fundamentalisten auf jüdischer Seite bereits regen Zulauf.

Bei vielen Israelis setzte der Sieg die Überzeugung frei, daß sich Gottes Pakt mit seinen Auserwählten erneut offenbart hatte. In dem religiösen Fundamentalismus sehen Experten wie Barbara Schäfer vom Institut für Judaistik an der Freien Universität Berlin eine „Reformation des Zionismus“.

Statt das eroberte Westjordanland in Verhandlungen mit den Palästinensern gegen einen Frieden einzutauschen, wurden die neuen Gebiete besiedelt. Die Weigerung der arabischen Seite, Israel anzuerkennen, schien die Okkupation zu legitimieren. Mit der Wiedervereinigung Jerusalems, schwärmte ein sonst so nüchterner Politiker wie Israels damaliger Außenminister Abba Eban, sei „in Volk zur Wiege seiner Geburt zurückgekehrt“. Die militärisch wie moralisch verheerenden Folgen erkannten nur wenige, darunter der Philosoph Jeschajahu Leibowitz: „Wir haben den Sechstagekrieg am siebten Tag verloren“ mahnte der streng

 

Der Krieg, der 1973 am Großen Versöhnungstag von den arabischen Staaten begonnen wurde, wird in die Auseinandersetzung der Welt-Mächte einbezogen. Der Versuch, im Westjordanland und im Gaza-Streifen damals etwa 700.00 Palästinenser in Schach zu halten, markierte denn auch den Anfang vom - vorläufigen -Ende einer der erstaunlichsten Erfolgsgeschichten des vergangenen Jahrhunderts: Im Oktoberkrieg 1973 verlor Israel durch den Überraschungsangriff Ägyptens und Syriens seinen Mythos der Unbesiegbarkeit. Gegen die 1987 ausgebrochene erste Intifada, damals noch vor allem ein Aufstand Steine werfender Palästinenser-Kinder, kam die hoch gerüstete israelische Armee nicht an - wieder einmal konnte sich David gegen Goliath behaupten.

Und seit den blutigen Ostertagen droht der erbitterte Feldzug Scharons gegen den nicht enden wollenden palästinensischen Terror Israel auch noch um seine Ansätze von Integration in die Region zu bringen: die Friedensabkommen mit den arabischen Nachbarstaaten Jordanien und Ägypten, dem Premier Begin 1979 den Sinai zurückgegeben hatte.

Doch das alles scheint den finster entschlossenen Premier nicht zu interessieren. Ganz im Sinne von Zionisten wie Jabotinsky gab er in der Knesset bereits die Parole aus: „Von nun an verlassen wir uns nur noch auf uns selbst.“ Dann allerdings könnte der jüdische Staat schon bald ziemlich allein dastehen. Ein Theodor Herzl hätte daran bestimmt keine Freude.

 

Es entstehen die palästinensischen Befreiungsorganisationen, mit denen die kriegerischen Auseinandersetzungen neben Verhandlungen mit einigen arabischen Staaten und Ägypten weitergehen.

In der UNO-Deklaration vom 10. November 1975 wird behauptet, daß Zionismus Rassismus ist. Dem ist vom Generalsekretär des Ökumenischen. Rates Philipp Potter widersprochen worden.

Während des Sechstagekrieges 1967 erobert Israel Judäa, Samaria, die Golanhöhen, den Gazastreifen und Ost-Jerusalem. Zahlreiche jüdische und christliche heilige Stätten kommen damit unter israelische Verwaltung. Die UdSSR bricht die diplomatischen Beziehungen zu Israel ab. Die Niederlande vertreten die israelischen Interessen in der UdSSR und tragen somit behördlich die Verantwortung für die Auswanderung von Sowjetjuden in den jüdischen Staat. Dieser „Freundschaftsdienst“ wird fast ein Vierteljahrhundert andauern. Die „Palästinensische Befreiungsorganisation“ (PLO) formuliert 1968 ihre Satzung, in der die Existenz des Staates Israel abgelehnt wird.

Seit 1968 beginnt ein zunehmender Antisemitismus in der UdSSR: Hunderte von Sowjetjuden werden verhaftet, weil sie eine führende Rolle in der zionistischen Bewegung einnehmen. Hinter diesen „Gefangenen Zions“, wie Nathan Scharansky und Josef Begun, stehen Hunderttausende von „Refusniks“ - Juden die das Land nicht verlassen dürfen. Viele werden nach ihrem Ausreiseantrag Schikanen ausgesetzt. Seit dem Jahr 1972 steigt die Einwanderung von jüdischen Bürgern aus der UdSSR wieder an. Insgesamt kommen in den 70er Jahren rund 100.000 russische Juden nach Israel.

Während der Olympischen Spiele 1972 in München werden elf israelische Sportler von der PLO ermordet.

 

Der Krieg, der im Herbst 2000 mit der Aksa-Intifada begann, hatte eine ihrer Ursachen in frommem Imponiergehabe. Der damalige israelische Oppositionsführers Ariel Scharon, der damals im September fürchtete, ein Rivale könne ihm an Überzeugungsstärke gleichkommen, wollte den Anspruch der Juden auf den Tempelberg dokumentieren. Mit seinem demonstrativen Besuch der heiligen Stätte der Muslime provozierte er zunächst einen erneuten Krieg der Steine, der dann, nach dem ehernen Gesetz der Vergeltung, eine dramatische Eskalation des Blutvergießens bei Juden und Palästinensern auslöste.

Auch das jüngste Abdriften in ein Chaos kaum noch beherrschbarer Schläge und Gegenschläge belegt einmal mehr, daß sich alle Kombattanten - Juden, Christen und Muslime gleichermaßen - fast immer an den Grundsatz des „Auge um Auge“ gehalten haben. Zwar mögen Theologen darauf hinweisen, daß dieses alttestamentarische Prinzip kein Aufruf zur Rache sei, doch den Rachsüchtigen hat er stets als Legitimierung gedient. „Man haßt hier die Menschen zum Ruhme seines eigenen Gottes“, klagte die Literaturnobelpreisträgerin Selma Lagerlöf.

Es ist ein Hass, der sogar die weniger Frommen befällt. Weder Premier Scharon noch Palästinenser-Führer Arafat zählen in ihren Lagern zu den Religiösen, ihre Auseinandersetzung findet dennoch in einem Bezugssystem archaischer Unversöhnlichkeit statt. Es gilt die Devise, daß verliert, wer zuerst aufhört. Und so wird weiter Vergeltung auf Vergeltung getürmt, „Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Beule um Beule, Wunde um Wunde“, wie es das 2. Buch Mose nahe legt.

 

Dieser Vorschlag wird im wesentlichen durch die westeuropäischen Staaten und zum größten Teil auch von den Kirchen unterstützt. Man spricht vom Lebensrecht beider Völker und stimmt darin- mit der UNO-Resolution 242 überein, in der die Achtung und Anerkennung der Souveränität ‚territorialen Integrität und politischen Urabhängigkeit eines jeder Staates in dem Raum gefordert wird.

Die christlichen Araber unterstützen die Palästinenser, z.B. die christlichen Studentenorganisationen (Tagung im Juli 1969 im Libanon) und die „Weltkonferenz der Christer für Palästina“ (7.-10.5.1970 in Beirut). Hier sieht man den Zionismus in einer Linie mit Imperialismus und Ausbeutung. Auch die Juden müßten befreit werden vom Zionismus als Staat, Ideologie und Institution; er sei „nichts anderes als eine faschistische und rassistische Bewegung“. Hier wird der Zionismus also nicht als eine religiöse Bewegung gesehen, sondern als eine politische.

 

Man spricht sogar davon, daß Palästina zum Bild des leidenden Menschen wurde und Jesus sei zum Palästina-Flüchtling gemacht worden. Die Menschen, die ihre Häuser verlassen mußten, um in der Wüste zu sterben, starben den gleichen Tod wie Jesus. Die Welt braucht heute die Araber, um in ihnen den Erlöser zu finden, der ihre Leiden mitleidet. Die bedeutendste Organisation ist „Al Fatach“ unter Yassir Arafat, die am 1.1.1965 die erste Kommando-Aktion durchführte. Durch teil= weise spektakuläre Aktionen machte sie deutlich, daß die Palästinenser nicht länger Objekt vor Hilfsmaßnahmen oder vor internationalen Absprachen sein wollen‚ sondern ihr Schicksal selber in die Hand nehmen.

Auch die „Volksfront zur Befreiung Palästinas“, deren Führer Georges Habbasch übrigens Christ ist, hat durch Flugzeugentführungen und Bombenanschläge in europäischen Hauptstädten auf sich aufmerksam gemacht. Von ihr hat sich 1 969 die „Demokratische Volksfront zur Befreiung Palästinas“ abgespalten, die nicht nationalistisch, sondern klassenkämpferisch und marxistisch ist.

Dr. Yusif Sayigh, Leiter des Planungskomitees der PLO und Christ, spricht von kolonialen Eroberungen Israels. Man müsse bei der Okkupation von 1948 einsetzen, die nicht dadurch legal wurde, daß sie nun schon Jahrzehnte dauert.

Nicht nur den Palästinensern in Westjordanien und im Gazastreifen müsse das Selbstbestimmungs­recht gegeben werden, sondern auch der Palästinensern in den Flüchtlingslagern. Er leugnet, daß man die Juden ins Meer werfen will, es sei bei ihrer auch Platz für die palästinensischen Juden. Allerdings müßten sich diese Juden identifizieren mit Palästina und seiner arabischen Umgebung und alle zionistischen, kolonialistischen und expansionistischen Haltungen ablegen. Das Beispiel der Verfolgung der Juden im Irak lehrt es anders. Man kann verstehen, daß die Juden ihren eigenen Staat haben wollen, damit sie endlich nach den Schrecken der Naziherrschaft und der weltweiter Verfolgung gesichert leben können.

Die radikalen Gruppen der Palästinabefreiungsorganisation sehen eine Friedensmöglichkeit nur in Verbindung mit der Auflösung des gegenwärtigen Staates Israel. Sie wollen einen weltlichen, multireligiösen Staat, in dem Araber und Juden als gleichberechtigte Partner innerhalb eines demokratischer Systems leben können. Eine Teilung des Landes wird abgelehnt, da eine gerechte Grenzziehung kaum möglich ist und eine Umquartierung der Bevölkerung und Entschädigung auch kaum möglich ist. Eine schweigende Minderheit scheint aber bereit zu sein, die Realität des Staates Israel anzuerkennen. Ein Einheitsstaat scheint ihnen nach allem, was vorgefallen ist, unmöglich zu sein. Sie wollen einen Staat Palästina gebildet aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen.

 

Die Plenarversammlung der Vereinten Nationen nimmt 1975 eine Resolution an, welche Zionismus mit Rassismus gleichstellt. Der Weltkirchenrat nimmt1975 in Nairobi eine Resolution über Israel und den Nahen Osten an, die als anti-israelisch und pro-arabisch eingestuft werden muß. I Jahr 1979 wird ein Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten geschlossen. Im Jahr darauf verlegen dreizehn Länder ihre Botschaft von Jerusalem nach Tel Aviv. Als Protest gegen die diplomatische Evakuierung aus Jerusalem wird dort im September die Internationale Christliche Botschaft gegründet. Sprecher ist Pastor Jan Willem van der Hoeven. Das Projekt findet Unterstützung von Christen aus zahlreichen Ländern.

Die Plenarversammlung der Vereinten Nationen widerruft 1991 die Resolution 3379 (Zionismus = Rassismus) von 1975 mit 111 Stimmen bei 25 Gegenstimmen und 30 Enthaltungen.

In den Osloer-Verträgen kommen Israel und die PLO 1993 überein, daß die in Israel wohnenden (arabischen) „Palästinenser“” innerhalb von fünf Jahren politische Autonomie erhalten. Im Jahr 1994 wird der Friedensvertrag zwischen Israel und Jordanien geschlossen.

In Hebron läßt sich 1995 die amerikanische Initiative „Christian Peacemaker Team“ (CPT) nieder. Die Mitglieder erweisen sich im Laufe der Jahre als Freunde der PLO.

Der neue Staat Israel feiert 1998 sein 50jähriges Bestehen. Israel überschreitet 1999 die Zahl von 6 Millionen Einwohnern, davon etwa 4,8 Millionen Juden. Der starke Zustrom jüdischer Einwanderer aus Osteuropa hält unvermindert an. In Deutschland leben etwa 80.000 Juden, viele von ihnen sind Zuwanderer aus Osteuropa

Israel und die „Palästinenser“ unterzeichnen 1999 ein Zwischenabkommen, demzufolge bis September 2000 eine endgültige Friedensregelung erreicht werden soll. Unter der Devise „Land für Frieden“ soll dabei biblisches Kernland an die „Palästinenser“ abgegeben werden.

Israels Vorbereitungen für das Jahr 2000 laufen auf Hochtouren. Es werden mehrere Millionen Besucher erwartet, darunter auch der Papst.

Es gab es um 1990 etwa 13,5 Millionen Juden in der Welt (0,4 Prozent der Gesamtbevölkerung). Auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion lebten über 2 Millionen. In Israel waren es über 3,5 Millionen. Seit 1948 sind dort etwa 1, 3 Millionen Juden eingewandert, davon 600.000 aus arabischen Ländern. Von Oktober 1989 bis 1999 wandern über 700.000 russische Juden nach Israel ein. Zur arabischen Liga gehören etwa 90 Millionen Menschen). Das Land hat 50 000 Quadratkilometer Nutzfläche und 17.000 Quadratkilometer bewässertes Land. Seit 1948 entstanden 480 neue Dörfer, der Waldbestand wurde versechsfacht. Im landwirtschaftlichen Wachstum steht Israel an erster Stelle in der Welt.

 

 

Land westlich des Jordan, jetzt Palästina-Gebiet (31. Aug. 1988)

Auf Beschluß der PLO ist das von Israel besetzte arabische Gebiet westlich des Jordanflusses jetzt in Palästina-Gebiet umbenannt worden. Wie die palästinensische Agentur WAFA mitteilte wird künftig nur noch diese Bezeichnung für das bisher als Westjordangebiet bezeichnete Territorium verwandt. Die Umbenennung erfolgte im Zusammenhang mit der Entscheidung Jordaniens, die administrativen und rechtlichen Bindungen zu dem von Israel seit 1967 okkupierten Gebiet abzubrechen.

Alle in den besetzten palästinensischen Gebieten bestehenden Gesetze und Verordnungen bleiben bis zum 31. August in Kraft, heißt es in einer von WAFA verbreiteten Erklärung des Vorsitzenden des PLO-Exekutivkomitees Yassir Arafat. Es sei den Mitgliedern des Palästinensischen Nationalrates, des höchsten Organs der PLO, vorbehalten, darüber zu befinden, ob die Gesetzesbestimmungen aufgehoben und durch andere ersetzt werden.

Das von der PLO als Palästina-Gebiet bezeichnete Westjordangebiet zählt gegenwärtig mehr als 800.000 Einwohner auf einer Fläche von 5.879 Quadratkilometern. Rund ein Drittel von ihnen sind Flüchtlinge, die während des israelisch-arabischen Krieges 1948/ 1 49 aus ihrer Heimat vertrieben wurden.

Unter menschenunwürdigen Bedingungen sind fast 100.000 Palästinenser gezwungen, in Flüchlingscamps ihr Dasein zu fristen. Seit nunmehr 21 Jahren hält Israel neben diesem Gebiet entlang des Jordan-Westufers den Gaza-Streifen, Ostjerusalem und die Golan-Höhen okkupiert. In dieser Zeit wurde den arabischen Bewohnern des nunmehr als Palästina-Gebiet bezeichneten Territoriums über die Hälfte des Aderbodens geraubt. Dort sind in sogenannten Wehrdörfern, ausgebaute Siedlungen zionistischer Extremisten entstanden.

Gegen den Terror der Siedler und Besatzungstruppen richtet sich seit fast neun Monaten die machtvolle palästinensische Volkserhebung in den besetzten Gebieten.

Im Palästina-Gebiet sollen alle Repräsentanten der öffentlichen Einrichtungen und Verwaltungen

In den palästinensischen Gebieten im Amt bleiben. Die PLO wird die Verantwortung ihnen gegenüber entsprechend den bei ihrer Ernennung gewährten Bedingungen wahrnehmen.

 

Neue Internet-Datenbank von Yad Vashem

Die Holocaust-Gedenkstätte Yad Va-Shem in Jerusalem hat am 22. November 2004 eine neue Internet-Datenbank eröffnet. Darin sind die Namen von über drei Millionen Holocaust-Opfern gesammelt. Jeder Besucher der Webseite soll kostenlos nach Informationen zu Opfern der Schoah suchen oder selbst Daten eingeben können. Wie die „Jerusalem Post“ berichtete, haben die Mitarbeiter von Yad-Va-Shem über einen Zeitraum von rund zehn Jahren an der Erstellung der „Zentralen Datenbank für die Namen der Schoah-Opfer” gearbeitet. Sie ist erreichbar über einen Link der Homepage von Yad-Va-Shem: www.yadvashem.org.

Es wird die größte Datenbank zu Holocaust-Opfern weltweit sein, teilte der Direktor der Gedächtnisstätte, Avner Schalev, mit. Von den 3,2 Millionen registrierten Namen stammen 2,2 Millionen von Überlebenden und Angehörigen von Opfern. Die restliche eine Million stammt von den Listen der Deportationen, die in den Archiven von Yad-Va-Shem aufbewahrt werden.

Besucher der Internet-Seite können durch die Eingabe von Namen, Geburtsdaten oder einem Wohnort nach Familienangehörigen suchen. Die Suchmaschine bietet auch alternative Schreibweisen des Namens an.

In manchen Fällen gibt die Datenbank zudem detailliertere Informationen zu einer Person heraus, etwa die Nummer des Zuges, mit dem sie abtransportiert wurde, den Ort der Abfahrt oder die Anzahl der Personen, die mit ihr abtransportiert wurden. Zudem kann der Benutzer selbst Daten hinzufügen, die in der Datenbank noch nicht erfaßt sind.

Auf diese Art, so hofft Yad-Va-Shem, könnten weitere fünf Millionen Namen vermißter Opfer in die Datenbank eingespeist werden. „Es ist ein Rennen gegen die Zeit“, sagte Schalev. „Wir müssen so viele Namen wie möglich hinzufügen, bevor die Generation nicht mehr unter uns ist, die sich erinnern kann.“ Die Kosten für den Aufbau der Suchmaschine in Höhe von 22 Millionen US-Dollar wurden hauptsächlich durch private Spenden gedeckt, aber auch durch Fonds, etwa der „Völker-Kommission“ und dem „Projekt Opferlisten“ der Schweizer Banken. Yad-Va-Shem geht davon aus, daß weitere vier Millionen US-Dollar bis 2006 für die Pflege

und den Ausbau der Datenbank nötig sind.

Die neue Datenbank der Holocaust-Gedenkstätte ist auf großes Interesse gestoßen. In den ersten 24 Stunden nach der Eröffnung am 22. November 2004 besuchten etwa 400.000 Benutzer aus aller Welt die neuen Internetseiten mit den Namen von über drei Millionen Opfern der Schoah. Wie ein Sprecher von Yad-Va-Shem mitteilte, nutzen normalerweise pro Monat nur ungefähr 40.000 Menschen die Webseiten der Gedenkstätte.

Ein Benutzer entdeckte in der neuen Datenbank ein Formular, das seine Mutter im Jahr 1957 im Gedenken an ihre Eltern und ihre Schwester ausgefüllt hatte: „Meine Mutter ist vor dreieinhalb Jahren gestorben“, berichtete er. „Plötzlich fand ich mich ihrer Handschrift gegenüber. Ich bekam Informationen über meine Verwandten, darüber, wie sie umgekommen waren, und ich sah, daß die Juden in der Stadt, wo sie lebten, lebendig verbrannt worden waren“

Nach eigenen Angaben hat Yad-Va-Shem mehrere Briefe von Menschen bekommen, die durch diese Datenbank Angehörige ausfindig gemacht haben, von denen sie bisher nichts wußten. So erfuhr eine Frau in den USA, daß ein Bruder ihres Großvaters überlebt hatte und nach Israel eingewandert war.

Die Eröffnung der Datenbank ist Teil mehrerer Aktionen zum 50-jährigen Bestehen der Erinnerungsstätte. Zum Abschluß der Veranstaltungsreihe wird im März 2005 ein neues Holocaust-Museum in Yad-Va-Shem eröffnet. Das Gebäude ist dreimal so groß wie das bisherige Museum der Gedenkstätte und zeigt den Holocaust von einer persönlichen Perspektive.

Zudem sollen neue visuelle Museums-Technologien besonders die jüngere Generation ansprechen. Zum neuen Komplex gehört auch ein Museum für Holocaust-Kunst, ein Ausstellungs-Pavillon, ein Lernzentrum und ein Zentrum für visuelle Zeugnisse und Filme.

 

 

 

 

Juden und Christen

 

„Deutsche Christen“

Ab 1927 entwickelte sich die Bewegung „Deutsche Christen“ um die Pastoren Siegfried Leffler und Julius Leutheuser in Thüringen. Beide waren Mitglieder der 1920 gegründeten und ab 1926 im Reichstag vertretenen extrem antisemitischen NSDAP. Am 6.Juni 1932 wurde die Bewegung in Berlin offiziell gegründet. Ihre Wortführer waren unter anderen die evangelischen Pastoren Friedrich Wieneke und Joachim Hossenfelder, die eine nationalsozialistisch geprägte „christliche“ Propaganda führten. Erklärtes Ziel der „Deutschen Christen“ war die „Wiedergeburt eines wahrhaft artgemäßen Christentums“           auf der Grundlage „eines bewußten völkischen Erlebens“.

In ihren „Richtlinien“ wird der rassistische Antisemitismus offen vertreten. Sodann forderte die Bewegung die Ablehnung der Judenmission, „solange die Juden das Staatsbürgerrecht besitzen und damit die Gefahr der Rassenverschleierung und Bastardierung besteht“. Insbesondere sei die Eheschließung zwischen Deutschen und Juden zu verbieten. Diese „Richtlinien“ wurden von der NSDAP offiziell akzeptiert. Der Boykott jüdischer Geschäfte ab April 1933 wurde von ihnen unterstützt. Sie bekannten sich ausdrücklich zum „Führer Adolf Hitler“ und prägten auch die Parole: „Ein Volk. Ein Gott. Ein Reich. Eine Kirche!“

Aus den „Richtlinien“ der „Deutschen Christen“ von 1932: „Die Grundlinien des Volkstums kann keine menschliche Theorie festsetzen; sie sind durch die Allmacht Gottes festgelegt, der selbst die Rasse und ihre Arteigenschaften schuf und nicht will, daß sein Werk verwischt und verunreinigt werde. Darum ist Reinerhaltung der Rasse Gottesgebot und Christenpflicht und muß genau so gelehrt und gepredigt werden wie Reinigung des Körpers und der Seele. Man komme hier nicht mit dem Einwand: Die Vermischung sei schon soweit fortgeschritten, daß die Grenzlinien unerkennbar seien. Gerade in dem unmöglichen Durcheinander von Deutschtum und Judentum nach dem Kriege, das uns kulturell und sittlich völlig zu ruinieren droht, hat uns Gott den Blick geschärft: Die Rassenfrage ist unverkennbar-deutsche Schicksalsfrage geworden, an der niemand vorübergehen kann, den Gottes Geist in alle Wahrheit führt“.

 

Die „Deutschen Christen“ mobilisierten die Evangelische Kirche für den NS-Staat und seine Rassentheorie. In der evangelischen Kirche entzündete sich am „Arier-Paragraphen“ der sogenannte „Kir­chen­kampf“ zwischen den nationalsozialistisch gesinnten „Deutschen Christen“ einerseits sowie evangeliumstreuen bzw. bekennenden Christen andererseits. Es ging um die Frage, ob der Paragraph auch im kirchlichen Bereich eingeführt werden soll, um Pastoren und Kirchenbeamte jüdischer Abstammung in den Ruhestand zu versetzen. Bei ihrer Reichstagung im April 1933 erklärten die „Deutschen Christen“: „Zum Pfarramt ist nur zuzulassen, wer rein deutschen Blutes ist. Ein kirchliches Ehrenamt darf nur bekleiden, wer kein artfremdes Blut in sich hat“.

Die Kirchenwahlen im Juli 1933 brachten zahlreiche Mitglieder der „Deutschen Christen“ in Kirchenleitungen und Synoden. Nachfolgend wurde in mehreren Landeskirchen der „Arier-Para­graph“ eingeführt: „Geistliche und Beamte, die nichtarischer Abstammung oder mit einer Person nichtarischer Abstammung verheiratet sind, sind in den Ruhestand zu versetzen“.

 

Auf der Kundgebung im Berliner Sportpalast vom 13. November 1933 forderten die „Deutschen Christen“ vehement die Durchführung des „Arier-Paragraphen“ im gesamten Reich. Auf Betreiben des radikalen Flügels wurde eine national-sozialistisch geprägte Beschlußfassung angenommen. Aufgrund der offensichtlichen Schriftwidrigkeit der Beschlußfassung kam es jedoch zu einem Eklat: zahlreiche Mitglieder der „Deutschen Christen“ distanzierten sich von der Bewegung. und ihre Leitung mußte zurücktreten. Wenige Wochen später aber begann sie sich neu zu formieren.

Schließlich wurde der „Arier-Paragraph” dann im August 1934 von der Reichskirchenleitung offiziell in Kraft gesetzt, obwohl sich zuvor verschiedene theologische Gutachten eindeutig gegen den „Arier-Parag­raphen“ ausgesprochen hatten.

Am 23. November 1938 wandte sich der thüringische Landesbischof D. Martin Sasse mit einer kleinen Schrift an die Gemeinden in Thüringen; „Martin Luther über die Juden: Weg mit ihnen!“ (erschienen im Sturmhut-Verlag Freiburg im Breisgau). In dieser Schrift wird mit Zitaten aus verschiedenen Schriften Martin Luthers gerechtfertigt, was in jener Nacht geschah. In seinem Vorwort schreibt Landesbischof Sasse: „Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutsch­land die Synagogen. Vom Deutschen Volke wird zur Sühne für die Ermordung des Gesandtschaftsrates vom Kath durch Judenhand die Macht der Juden auf wirtschaftlichem Gebiete im neuen Deutschland endgültig gebrochen und damit der gottgesegnete Kampf des Führers zur völligen Befreiung unseres Volkes gekrönt. Der Weltkatholizismus und der Oxford-Weltprotestantis­mus erheben zusammen mit den westlichen Demokratien ihre Stimmen als Judenschutzherren gegen die Judengegnerschaft des Dritten Reiches. In dieser Stunde muß die Stimme des Mannes gehört werden, der als der Deutschen Prophet im 16. Jahrhundert aus Unkenntnis einst als Freund der Juden begann, der, getrieben von seinem Gewissen, getrieben von den Erfahrungen und der Wirklichkeit, der größte Antisemit seiner Zeit geworden ist, der Warner seines Volkes wider die Juden. In dieser Schrift soll nur Luther mit seinen eigenen Worten zu uns reden. Seine Stimme ist auch heute noch gewaltiger als das armselige Wort gottferner und volksfremder internationaler Judengenossen und Schriftgelehrter. die nichts mehr wissen von Luthers Werk und Willen.“

Diese Schrift des thüringischen Landesbischofs ist durchaus kennzeichnend für die kirchenpolitische und theologische Situation nicht nur in der Thüringer Evangelischen Kirche, sondern der Deutschen Evangelischen Kirche insgesamt. Die kleinen Gruppen der Bekennenden Kirche haben sich gegen die antisemitische Unterscheidung von arischen und nicht-arischen Christen gewandt. wie gegen die Abwertung des Alten Testamentes und die Leugnung der semitischen Wurzeln der Kirche.

Auf der anderen Seite wurde die antijüdische Propaganda der „Deutschen Christen“ immer stärker. Dabei beriefen sie sich auch immer wieder auf Martin Luther. Daneben wurden auch verschiedene „christliche“ Institute gegründet, welche die „Entjudung von Kirche und Christentum“ vorantreiben sollten. Aus der Schrift  von Landesbischof Sasse/Eisenach von 1938: „Martin Luther über die Juden: Weg mit ihnen!“: „Am 10.November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen.... In dieser Stunde muß die Stimme des Mannes gehört werden, der als der Deutschen Prophet im 16. Jahrhundert aus Unkenntnis einst als Freund der Juden begann, den getrieben von seinem Gewissen ... der größte Antisemit seiner Zeit geworden ist, der Warner seines Volkes wider die Juden“

 

Bekennende Kirche:

Erst der Arierparagraph, der den Ausschluß nicht-arischer, also vornehmlich jüdischer Pastoren forderte, brachte ein Umdenken bei einigen Theologen und Gemeinden. Wegen eine Übernahme des „Arier-Paragraphen” in den kirchlichen Raum trat zunächst die „Jungreformatorische Bewegung“ ein, aus der später der Pfarrer-Notbund hervorging. In ihren Grundsätzen zur Neugestaltung der evangelischen Kirche vom 9. Mai 1933 hieß es: „Wir bekennen uns zu dem Glauben an den Heiligen Geist und lehnen deshalb grundsätzlich die Ausschließung von Nichtariern aus der Kirche ab“. Aber auch hier beschränkten sich die aktive Hilfe und der Beistand auf getaufte Juden.

Unter der Leitung von Pastor Martin Niemöller wurde im September 1933 mit rund 1300 Geistlichen der Pfarrer-Notbund gegründet. Dieser war ein Vorläufer der Bekennenden Kirche, die dann im April 1934 vom württembergischen Landesbischof Theophil Wurm und anderen evangelischen proklamiert worden ist.

Gegen die Anwendung des Arier-Paragraphen bezogen bekennende Christen eindeutig Stellung für Israel und die Juden. Im „Betheler Bekenntnis“ (Anfang 1934) heißt es: „Die Kirche lehrt, daß Gott unter allen Völkern Israel erwählt hat zu Seinem Volke“.

 

Einer der ersten, die die NS-Judenpolitik offen kritisierten, war der Theologe Dietrich Bon­hoeffer. Er setzte sich nicht nur für die Judenchristen ein, sondern auch für Juden. Er war auch einer der wenigen, die schon den Boykott an jüdischen Geschäften im April 1933 kritisierten. Nachdem ihm 1936 die Lehrbefugnis an der Berliner Universität entzogen wurde, leitete er illegale Predigerseminare zur Ausbildung von Vikaren der Bekennenden Kirche. 1943 wurde er verhaftet und wenige Tage vor Kriegsende, am 9.April 1945, im Konzentrationslager Flossenbürg ermordet.

Der Theologie-Professor H. Frick sowie Pastor E. Lamparter traten gegen den Judenhaß ein.

In seinem Buch „Evangelische Kirche und Judentum“ (1928) beschreibt Lamparter die Größe des Judentums und weist jeden Antisemitismus nicht nur vehement zurück, sondern fordert dazu auf, „altes Unrecht gutzumachen und mitzuhelfen, daß kein neues Unrecht mehr geschieht“.

Aber ein gewisser kirchlicher Antisemitismus, traditionell begründet, beherrschte auch das Denken der Bekennenden Kirche. Damit verbunden war der in der Exegese und in der Verkündigung vorhandene Antijudaismus. Von daher beschränkte man sich beim Kampf gegen den Arierparagraphen nur auf den kirchlichen Raum. Gegen die Anwendung desselben im staatlichen Bereich hatte man nichts einzuwenden, ebenso nicht gegen andere antijüdische Maßnahmen in den ersten Jahren.

Der in der sicheren Schweiz wohnhafte deutsche Theologe Karl Barth veröffentlicht 1939 einen neuen Band seiner „Kirchlichen Dogmatik“ unter dem Titel „Israel und die Gemeinde“. Trotz der Tatsache, daß die Judenverfolgung in diesem Jahr ein Ausmaß ohne gleichen erreicht hat, schweigt Barth in seinem Buch darüber und erklärt sich auch nicht solidarisch mit den Juden. Nach dem Krieg gibt Barth öffentlich zu, daß er eine Abneigung gegen die Juden hat.

Die Bekennende Kirche hat vielfältige praktische Hilfe für Judenchristen geleistet. Nach der Verhaftung mehrerer Pfarrer 1937 wurde ihre Arbeit jedoch immer stärker beschnitten. Unter den Verhafteten waren auch Martin Niemöller und Pfarrer Paul Schneider. Letztgenannter leistete besonders mutigen Widerstand im Konzentrationslager und wurde bald als „Prediger von Buchenwald“ bekannt. Während seiner Gefangenschaft verurteilte er offen die Verbrechen der Nationalsozialisten an Juden und anderen Verfolgten. 1938 fand er nach seinen Folterungen den Tod im Konzentrationslager.

Unter der Leitung von Pfarrer Heinrich Grüber ist 1937 in Berlin das „Büro Grüber“ ins Leben gerufen worden. Dieses leistete Rechtsberatung, Hilfen für Auswanderer und Sozialhilfe.

Der evangelische Pfarrer Heinrich Grüber steht für viele Geistliche und Christen, die sich mit vielen anderen Widerstandskämpfern für die Verfolgten einsetzten, ihnen auf der Flucht ins Ausland halfen, sie versteckten und immer wieder öffentlich ihren Mund auftaten, um das Unrecht faschistischer Rassenhetze anzuprangern. Sie sollen hier auch stellvertretend für die stehen, die ihre Solidarität mit den jüdischen Mitbürgern mit dem Verlust der eigenen Freiheit oder gar mit dem Tod in den Folterkammern oder den Konzentrationslagern bezahlen mußten.

Mit der Verhaftung von Grüber wurde das Büro 1940 geschlossen.

 

Aus dem Bereich der Bekennenden Kirche fehlen auch weitgehend mahnende und betroffene Stimmen zu den Ereignissen der „Reichskristallnacht“. Verblendete versuchten eine christliche Rechtfertigung des „Volkszornes”. Zudem befand sich die Bekennende Kirche zum Zeitpunkt des Pogroms in einer heftigen Auseinandersetzung mit dem Reichsminister für Kirchenangelegenheiten über eine Fürbittliturgie angesichts des sich abzeichnenden Einmarsches der Deutschen Truppen in die Tschechoslowakei. „In dieser verzweifelten Lage der Bekennenden Kirche ereignete sich der 9. November mit all den Terrorakten gegen die jüdische Bevölkerung. Es fand eine aus dem Schritt geratene und auf den Mund geschlagene Schar von Christen vor... Es mag in dieser Zeit gewesen sein, daß er (Bonhoeffer) jenen Ausspruch tat, der sich seinen Schülern eingeprägt hat: Nur wer für die Juden schreit. darf auch gregorianisch singen.” (Eberhard Bethge in seiner Bonhoeffer-Biographie).

Nur wenige aber intensivierten ihre Hilfe für die jüdischen Mitmenschen. Als das schreiende Unrecht an den Juden immer unübersehbarer wurde, ließen sich viele auf Schweigen und Stillhalten ein, um „Schlimmeres zu verhüten“. Ihr Wille zum Handeln wurde auf diese Weise gelähmt.

Mit dem Beginn der „Endlösung“ mußte auch ihnen klar werden, daß sie mit ihrem Schweigen nicht geholfen, sondern geschadet hatten. Jetzt war es aber für Proteste zu spät. Denen, die jetzt protestierten; drohte das gleiche Schicksal wie den Juden.

 

Nach Bekanntwerden der NS-Pläne zur Vernichtung aller europäischen Juden gab es zahlreiche Protestschreiben an die Regierung, die aber praktisch ignoriert wurden. Daneben kam es zu vielfältigen Einzelaktionen von Christen gegenüber Juden, teilweise auch unter Lebensgefahr. So wurden zum Beispiel Juden in Pfarrhäusern oder in diakonischen Einrichtungen versteckt, um sie dem Zugriff der Gestapo und anderen NS-Kommandos zu entziehen. Dadurch konnten zwar nicht sehr viele, aber wenigstens doch einige vor dem sicheren Tod im Konzentrationslager gerettet werden.

Einzelne Pfarrer haben in ihrer Predigt vor ihren Gemeinden das maßlose Unrecht als Unrecht oder gar als Verbrechen angeprangert (in Thüringen sei dabei dankbar Pfarrer Werner Sylten erwähnt). Sie haben sich für die Auswanderung und Unterstützung von Juden eingesetzt oder auch unter Gefährdung ihrer eigenen Existenz und ihren Familien für Juden eingesetzt und jüdische Freunde versteckt haben. Landesbischof Wurm hat in einem Schreiben an den Reichs­justiz­minister die Gewalttätigkeiten gegen Juden verurteilt.

 

Evangelische Kirche

In Washington findet 1944 eine nationale christliche Konferenz statt, die sich für die schnelle Umwandlung „Palästinas“ in einen jüdischen Staat ausspricht. In Washington findet 1945 die „Internationale Christliche Konferenz für Palästina“ statt. Die christlichen Zionisten rufen zur freien jüdischen Auswanderung nach Palästina" sowie zur Gründung eines jüdischen Staates in Eretz Israel auf.

Nach dem Krieg wurde naturgemäß das Problem der „Schuld“ besonders thematisiert. So hat der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) im Oktober 1945 das „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ verfaßt. Darin erheben die evangelischen Christen Selbstanklage darüber, „nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt“ zu haben.

Die Kirche hat erst zu Beginn des Jahres 1947 zur Judenfrage Stellung genommen (Bruderrat der Bekennenden Kirche, Kassel). Und die Synode 1950 in Weißensee formulierte: „Wir sprechen es aus, daß wir durch Unterlassen und Schweigen vor dem Gott der Barmherzigkeit mit schuldig geworden sind an dem Frevel, der durch Menschen in unserem Volk an den Juden gegangen worden ist!“

Der Weltkirchenrat verurteilt 1961 den Antisemitismus als „ein Verbrechen gegen Gott und den Menschen“ und bekundet: „Die historischen Ereignisse, die zur Kreuzigung geführt haben, dürfen nicht derart dargestellt werden, daß sie dem heutigen jüdischen Volk anlasten. was unserer Menschheit in ihrer Gesamtheit angelastet werden muß.“ Wo es sich um den Staat Israel handelt, entwickelt sich der Rat jedoch zu einem antizionistischen Stützpfeiler der „palästinensischen Befreiungstheologie“.

Die Bischöfe sprachen 1975 sich öffentlich gegen einen UNO-Beschluß aus, der am 10. November 1975 den Zionismus als eine Form des Rassismus bezeichnete. Offenbar ging es hier aber mehr um einen Akt der Solidarität mit den Arabern und eine Kampagne der Entwicklungsländer gegen die Industrieländer. Schon am nächsten Tag hat der Generalsekretär des Weltrates der Kirchen, Philipp Potter aus Jamaika, eine Gegenerklärung herausgegeben. Dieser Erklärung haben sich die Bischöfe angeschlossen.

Diese Stellungnahme wurde den DDR-Delegierter bei der Weltkirchenkonferenz in Nairobi zur Information übermittelt, allerdings mit einer Sperrfrist versehen. Durch die Indiskretion eines DDR-Journalisten (er stand neben dem Fernschreiber und las unberechtigterweise mit) wurde sie vorzeitig bekannt. Der Staatssekretär für Kirchenfragen war darüber sehr erbost. Vor allem rügte er, daß die Kirchen der DDR hier anders gesprochen haben als die Regierung in der UNO abgestimmt hat. Es bestand die Gefahr, daß es zum Abbruch der Beziehungen zu den Kirchen kam; aber man hat dann doch davor abgesehen.

Später folgten die beiden EKD-Studien „Christen und Juden I/II“ (1975/ 1991): „Wie ernst und glaubwürdig die Verurteilung des Antisemitismus ist, zeigt sich am christlichen Bekenntnis zur Mitschuld am Holocaust. Es genügt nicht, den Antisemitismus abzulehnen... Auch Schweigen und Geschehenlassen, wie es die Haltung der Kirchen im ‚Dritten Reich’ weitgehend charakterisierte, verstrickt in Schuld und muß bekannt werden. Die Christen und die Kirchen sind aber auch durch ihre unheilvolle alte Tradition der Entfremdung und Feindschaft gegenüber den Juden hineinverflochten in die Vorgeschichte und Geschichte des Holocaust. Diese Tradition hat dazu beigetragen, den Verbrechen an den Juden den Boden zu bereiten.“ Auch auf landeskirchlicher Ebene wurden verschiedene Stellungnahmen verfaßt, so etwa die Handreichung der Evangelischen Kirche im Rheinland von 1980.            „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden”

Der Weltkirchenrat nimmt 1983 in Vancouver eine Resolution über Israel und den Nahen Osten an, die einseitig antiisraelisch und pro-arabisch abgefaßt ist.

Der jahrelange Streit zwischen Befürwortern und Gegnern der Judenmission erreicht 1999 einen Höhepunkt. Anlaß ist die Zulassung der judenmissionarischen Organisation „Evangeliumsdienst für Israel“ (EDI) zum evangelischen Kirchentag in Stuttgart. Es gibt einen Versöhnungsmarsch von Christen nach Jerusalem mit Bitte um Vergebung für den christlichen Antisemitismus besonders bei den Kreuzzügen.

 

Auch im freikirchlichen Bereich ist das Verhältnis zu Israel und den Juden Gegenstand der

Besinnung geworden. Die Evangelische Allianz hat 1999 eine „Handreichung“ zum Thema Christen und Juden veröffentlicht: „Besonders in Zeiten, in denen sich das Christentum mit politischer Macht verband, wurden Juden oft diskriminiert, unter Druck zur Taufe genötigt oder grausam in christlichem Namen verfolgt und getötet. Dies war möglich geworden durch eine Theologie, die das Kreuz Christi zu einer Waffe gegen Juden verkehrte......Mit dieser Geschichte der aktiven Verfolgung und des passiven Desinteresses ist die christliche Kirche und Theologie tief in die nationalsozialistische Judenverfolgung und -vernichtung verstrickt. Deshalb bekennen wir, daß wir als Christen an den Juden schuldig geworden sind.“

 

Arbeitsgruppen: Neben all diesen Erklärungen sind eine Reihe von kirchlichen und unabhängigen Gesprächskreisen, Arbeitsgruppen, Vereinigungen und Organisationen entstanden, die sich um ein erneuertes Verhältnis zwischen Christen und Juden bemühen, teilweise auch praktische Hilfe leisten.

Seit 1948 wurden zum Beispiel in verschiedenen Städten Deutschlands „Gesellschaften für christlich jüdische Zusammenarbeit“ gegründet, die seit 1950 jährlich eine „Woche der Brüderlichkeit“ durchführen. Dadurch wird das besondere Verhältnis von Christen und Juden immer wieder in den Blickpunkt gerückt.

Verschiedene Gesprächskreise „Juden und Christen“ bemühen sich um einen Dialog zwischen den beiden Religionen zum Zwecke der gemeinsamen Annäherung und des besseren gegenseitigen Verständnisses. Zahlreiche Christen haben auch die - unter Kirchenmitgliedern strittige - Mission an den Juden wieder aufgenommen. Überdies sind zahlreiche Schriften besonders über das Judentum und zur Problematik des christlichen Antijudaismus herausgegeben worden.

Dennoch bleibt noch viel Nachholbedarf im Verhältnis der Christen gegenüber Juden und dem Judentum. Das bedeutet konkret auch: Nachholbedarf im Verhältnis von „Altem“ und „Neuem“ Testament, von Gesetz und Evangelium, von Israel und Kirche. Erst wenn dies geschehen ist, wird der immer noch offen oder verdeckt bestehende theologische Antijudaismus endgültig überwunden und ein wirklich „christliches“ Verhältnis zu den Juden möglich sein. Zudem sollte die Christenheit vielmehr als bisher nach den Hauptgeboten der Liebe leben - nur dann ist sie wirklich glaubwürdig gegenüber den Juden und auch gegenüber der ungläubigen Welt.

 

 

Katholische Kirche:

Die Katholiken in Deutschland haben sich in besonderer Weise von Hitlers Regierungserklärung vom 23. März.1933 täuschen lassen. Darin hatte der Reichskanzler erklärt, daß die neue Regierung in den christlichen Konfessionen wichtigste Faktoren zur Erhaltung des Volkstums sehe. Die Rechte der Kirchen sollten unangetastet bleiben und die Beziehungen zum Heiligen Stuhl ausgestaltet werden. Beruhigt durch diese Erklärung stimmte am 24.3.1933 auch die Zentrum-Partei dem „Ermächtigungsgesetz“ zu. Kurz darauf hoben die katholischen Bischöfe ihr zuvor ausgesprochenes Beitrittsverbot zur NSDAP auf.

Noch 1933 wurde zwischen Berlin und Rom ein Konkordat abgeschlossen, mit dem sich die katholische Kirche angesichts der unsicheren politischen Lage absichern wollte. Bald aber zeigte sich, daß die NS-Regierung weder die Regierungserklärung noch das Konkordat einzuhalten willig war.

Als Reaktion auf die zahlreichen Konkordats-Verletzungen erließ Papst Pius XI. (1922-1939) schließlich 1937 die Enzyklika „Mit brennender Sorge“. Hierin heißt es: „Wer die Rasse oder das Volk oder den Staat ... zur höchsten Norm aller, auch der religiösen Werte macht und sie mit Götzenkult vergöttert, der verkehrt und .fälscht die gottgeschaffene und gottbefohlene Ordnung der Dinge“. Ein Jahr später legte Pius XI. vor einer Pilgergruppe folgendes Bekenntnis ab: „Der Antisemitismus ist eine abstoßende Bewegung, an der wir Christen keinerlei Anteil haben dürfen. ... Wir sind im geistlichen Sinne Semiten“.

Allerdings gab es auch unter Katholiken Judenfeindlichkeit und einige antijüdische Veröffentlichungen. In verschiedenen Schriften agitierte zum Beispiel Pfarrer Philipp Häuser gegen die Juden und stellte das jüdische Volk als sündhaft und minderwertig dar. Er befürwortete einen „echt christlichen Kampf gegen das Judentum“.

Mutige öffentliche Proteste gegen die antijüdischen Maßnahmen des NS-Staates waren aber - ähnlich wie auf evangelischer Seite - die Ausnahme. Die Mehrheit der deutschen Bischöfe folgte dem vorsichtigen Verhalten des Breslauer Kardinals Bertram und setzte auf vertrauliche Eingaben bei der Reichsregierung. Dr. Theologie-Professor Engelbert Krebs (1881-1950) hebt in seinem Werk „Urkirche und Judentum“ die jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens hervorgehoben.

Papst Pius XI. gibt 1937 seine Enzyklika „Mit brennender Sorge“ heraus, in der er Rassenlehren als unvereinbar mit der christlichen Wahrheit abweist. Der Antisemitismus wird aber von ihm nicht direkt erwähnt oder kritisiert.

Nach der „Reichspogromnacht“ vom 9./10. November 1938 war es der Berliner Dompropst Bernhard Lichtenberg, der ein öffentliches Fürbittgebet für die Juden einlegte. Sein Eintreten auch gegen die Euthanasiemorde an Behinderten trug ihm schließlich die Verhaftung ein, die später zu seinem Tod auf dem Wege ins Konzentrationslager führte.

Neben dem Berliner Dompropst wagten insbesondere der Berliner Bischof Kardinal Graf von Preysing sowie der Bischof von Münster, Kardinal von Galen, immer wieder öffentliche Proteste. Letztgenannter prangerte in seinen Predigten vom Juli August 1941 vor allem die Euthanasie-Verbrechen der NS-Diktatur an.

Im Juli 1941 veröffentlichten die deutschen Bischöfe auch eine gemeinsame Erklärung. Darin heißt es, daß niemand das Recht habe, einen Unschuldigen zu töten - außer im Kriege oder bei legitimer Verteidigung. Die letzte offizielle Verlautbarung des katholischen Gesamtepiskopates in der NS-Zeit war der „Dekalog-Hirtenbrief“, der am 12. September 1943 von den Kanzeln verlesen wurde. Hierin wird die Tötung von Menschen wegen ihrer Rasse oder Herkunft verurteilt.

Nachfolgend gab es noch verschiedene Predigten und Einzelproteste gegen die NS‑ Verbrechen. Jedoch ist festzustellen, daß die Vernichtung der Juden meist immer nur vorsichtig angesprochen wurde; im Vordergrund stand die Kritik an der Ermordung psychisch Kranker und Behinderter. Papst Pius XII. (1939-1958) verzichtete auf einen Protest gegen die NS-Ver­nichtungspolitik, um „größeren Schaden zu vermeiden“, wie er 1943 schrieb.

 

 

Daneben aber gab es auf katholischer Seite auch eine Vielzahl von Einzelaktionen und Hilfsmaßnahmen von Laien. Priestern und Ordensleuten für verfolgte Juden. Besonders wirksame Hilfe leistete auch der Raphaelsverein, der 1871 zur Betreuung von katholischen Emigranten gegründet wurde und insbesondere Judenchristen bei ihrer Ausreise unterstützte. Nach seiner Zwangsauflösung im Juni 1941 setzte das Caritas-Notwerk die Hilfe für Christen jüdischer Abstammung fort.

Auch die katholische Seite hat nach dem Zweiten Weltkrieg Stellung bezogen, so zunächst in einer Erklärung vom August 1945 seitens der deutschen Bischöfe. Sie schreiben unter anderem: „Viele Deutsche, auch aus unseren Reihen, haben sich von den falschen Lehren des Nationalsozialismus betören lassen,... viele leisteten durch ihre Haltung den Verbrechern Vorschub, viele sind selber Verbrecher geworden.“

Papst Johannes XXIII. Erklärt 1959, daß das antijüdische „pro perfides Judaeis“ aus der Karfreitagsliturgie entfernt wird. Ein großer Schritt auf dem Weg zu einem neuen Verhältnis zum Judentum war die Erklärung „Nostra Aetate“ des 2.Vatikanischen Konzils (1963). Darin heißt es: „Im Bewußtsein des Erbes, das sie mit den Juden gemeinsam hat, beklagt die Kirche ... alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit von irgendjemandem gegen die Juden gerichtet haben.“

Als erster Papst macht Paul VI. im Jahr 1964 eine Pilgerreise ins Heilige Land. Er besucht Israel und die von Jordanien besetzten Gebiete, darunter Ost-Jerusalem. In Nordwestgaliläa beginnt der Bau der christlichen Siedlung Nes Ammim („Banner für die Völker“). Die Initiatoren möchten dem jüdischen Volk damit „das andere Gesicht“ des Christentums zeigen.

Unter Papst Johannes XXIII. bekundet das Zweite Vatikanische Konzil 1965 in der revolutionären Erklärung „Nostra Aetate“ offiziell, daß der Tod Jesu dem jüdischen Volk nicht angelastet werden könne und daß man auch nicht behaupten dürfe, daß Gott die Juden verworfen habe. Wohl wird betont, die Kirche sei das neue Volk Gottes.

In einem Brief an die Vatikanzeitung „Osservatore Romano“ kritisiert der amerikanisch-katholische Theologe und christliche Zionist John Oesterreicher 1971 sowohl die anti-israelischen Ansichten der Zeitung als auch das Verhalten der katholischen Kirche: „Während Christen und Moslems in Israel unter der jordanischen Verwaltung (1948-1967) Religionsfreiheit genossen, wurde dieses Recht den Juden vorenthalten. Sie durften nicht einmal an der Westmauer beten. Wo war denn der christliche Protest gegen die Zerstörung aller Synagogen im jordanisch regierten Teil Jerusalems?“

Den letzten Höhepunkt dieser Entwicklung stellt das Vatikan-Dokument „Wir erinnern: Eine Reflexion über die Shoa“ von 1998 dar, worin es heißt: „Am Ende dieses Jahrtausends möchte die katholische Kirche ihr tiefes Bedauern über das Versagen ihrer Söhne und Töchter aller Generationen zum Ausdruck bringen.“ Unter Hinweis auf Röm.11, 17-24 wird auch gesagt, daß die Juden „unsere geliebten Brüder und in gewissem Sinne wirklich ‚unsere älteren Brüder’ sind“.

Aus dem „Wort der deutschen Bischöfe aus Anlaß des 50. Jahrestages der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz“ (27. Januar 1995, andere Angabe 24. April 1995): Am 27. Januar 1945 wurden die Konzentrationslager Auschwitz I und Auschwitz-Birkenau befreit. Unzählige Menschen sind dort auf schreckliche Weise umgebracht worden. Polen, Russen, Sinti und Roma sowie Angehörige anderer Nationen. Die überwiegende Mehrheit der Gefangenen und Opfer dieses Lagers waren Juden.... Es hat unter Katholiken vielfach Versagen und Schuld gegeben. Nicht wenige haben sich von der Ideologie des Nationalsozialismus einnehmen lassen und sind bei den Verbrechen gegen jüdisches Eigentum und Leben gleichgültig geblieben. Auschwitz stellt uns Christen vor die Frage, wie wir zu den Juden stehen und ob unser Verhältnis zu ihnen dem Geist Jesu Christi entspricht. Antisemitismus ist ‚eine Sünde’ gegen Gott und die Menschheit, wie Papst Johannes Paul II. mehrfach gesagt hat. In der Kirche darf es keinen Platz und keine Zustimmung für Judenfeindschaft geben. Christen dürfen keinen Widerwillen, keine Abneigung und erst recht keinen Hass gegen Juden und Judentum hegen. Wo sich eine solche Haltung kundtut, besteht die Pflicht zu öffentlichem und ausdrücklichem Widerstand. Die Kirche achtet die Eigenständigkeit des Judentums.

Zugleich muß sie selbst neu lernen, daß sie aus Israel stammt und mit seinem Erbe in Glaube, Ethos und Liturgie verbunden bleibt.“ „Es gab das eindeutige Nein der Kirche zur nationalsozialistischen Rassenideologie. Aber es gab keinen öffentlichen Aufschrei, als sie rücksichtslos ins Werk gesetzt wurde“.

Der Vatikan veröffentlicht 1975 „Richtlinien und Anregungen zum Verhalten gegenüber dem Judentum“. Diese sind eine Abweisung der katholischen Lehre, derzufolge das Judentum starr und lieblos sei, und ein Appell an Katholiken zur Bekämpfung des Antisemitismus.

Der Vatikan veröffentlicht 1985 „Das gemeinschaftliche Band - Christen und Juden (Notizen zum Predigen und Unterrichten)“. Darin wird eine positive Haltung zum Judentum gefordert. Es ist das erste offizielle Dokument des Vatikans, in dem der Staat Israel genannt wird. Papst Johannes Paul II. stattet 1986 der Großen Synagoge in Rom einen offiziellen Besuch ab.

Im vatikanischen Dokument „Kirche und Rassismus“ von 1989 wird der Antisemitismus als die tragischste Form verurteilt, die die Rassenideologie im 20. Jahrhundert angenommen hat. Trotz des Dokuments bleibt die politische Haltung des Vatikans gegenüber Israel negativ. So steht man auf dem Standpunkt, daß Jerusalem internationalisiert werden solle, womit der Vatikan die Interessen der PLO unterstützt.

Nach jüdischen Protesten gegen die Errichtung eines katholischen Klosters in Auschwitz gibt 1989 der polnische Kardinal Josef Glemp eine Reihe antisemitischer Aussagen ab. Der Vatikan verurteilt Glemp und fordert dazu auf, das Kloster zu verlegen.

Vertreter Israels und des Vatikans unterzeichnen 1993 ein Grundsatzabkommen, in dem gegenseitige Anerkennung und Normalisierung der Beziehungen vereinbart wird. Das Abkommen betrifft nicht nur die politischen Beziehungen zwischen Israel und dem Heiligen Stuhl, sondern auch die Beziehungen zwischen dem jüdischen Volk und der katholischen Kirche. „Die zahllosen im Laufe der Jahrhunderte durch die Kirche von den Juden geraubten Besitztümer (darunter Kunstgegenstände, Judaika und Synagogen) sowie die seit dem 4. Jahrhundert vom Vatikan verwahrten Tempelschätze werden dem jüdischen Volk nicht zurückgegeben.

Der Vatikan und Israel gehen 1994 vollständige diplomatische Beziehungen ein. Im Jahre 1998 kommt die Vatikan-Erklärung „Wir erinnern: Eine Reflexion über die Shoa“.

 

Christliche Zionisten

Der niederländische Geschäftsmann und christliche Zionist Karel van Oordt gründet 1981

„Christenen voor Israel“ (Christen für Israel). Diese Stiftung entwickelt sich zur größten christlich-zionistischen Organisation in Europa (1999 mehr als 70.000 Freunde). „Christenen voor Israel“ (Christen für Israel) startet 1992 eine erfolgreiche Großaktion für den Bau eines Auffangzentrums für Neueinwanderer in Jerusalem (das „Holland-Dorf“).

„Christenen voor Israel“ gründet 1996 einen amerikanischen Zweig und wird damit international. In den Jahren danach folgen Zweige in Kanada, Deutschland und Großbritannien. Damit entsteht gleichzeitig die europaweit größte pro-israelische christliche Organisation „Christians for Israel International“. „Christenen voor Israel“ (Christen für Israel) startet 1997 mit der Aktion „Bring die Juden heim“. Anlaß ist der 50. Geburtstag des Staates Israel. Das Projekt hat das Ziel, 50.000 ukrainischen Juden die Auswanderung nach Israel durch die Organisation „Good News Travels“ zu ermöglichen.

Zusammen mit dem jüdischen Volk sehen sie voller Hoffnung und mit sehnsüchtigem Verlangen der Erlösung, und dem Erlöser für Israel entgegen. Christlicher Zionismus hat alte biblische Wurzeln. Christliche Zionisten leben, beten und arbeiten aufgrund prophetischer Erwartung der Wiederherstellung von Israel und der Wiederkunft des Messias zu Seinem Friedensreich. An dieser Wiederherstellung von Israel, welche der Endzeit und der Wiederkunft des Messias vorausgeht und durch diesen vollbracht werden soll, arbeiten sie von Herzen mit. Hierfür beten christliche Zionisten, und sie sehen mit Freude, wie der Herr in dieser Zeit wirksam ist mit dem „Wiederaufbau von der verfallenen Hütte Davids“. Obwohl die christlichen Zionisten immer ein kleiner Zweig der Reformation waren, ist doch ein großer und wichtiger geistlicher Einfluß von ihnen ausgegangen.

Die Saat des christlichen Zionismus wurde erneut in die Herzen von Gläubigen gesät. Aber ständig nur „Kirche“ lesen, wenn „Israel“ oder „Jerusalem“ dasteht, ist für den „gewöhnlichen“ Bibelleser doch ein sehr großer Sprung. Ein ehrliches und offenes Herz kann es nicht akzeptieren, wenn die Verfluchungen für die Juden reserviert, die Segnungen aber der Kirche zugedacht werden. Dieser Diebstahl des jüdischen Erbes ist der Kirche teuer zu stehen gekommen.

Durch das Studium des prophetischen Wortes wuchs vor etwa 200 Jahren langsam aber sicher auch bei Pietisten sowie bei einer Anzahl englischer Puritaner die Einsicht, daß es für die Juden an der Zeit sei, in das verheißene Land zurückzukehren. Auffallend war, daß diese christlichen Zionisten diese Vision mit großem Enthusiasmus verkündigten und in die Praxis umsetzten, lange bevor die jüdische zionistische Bewegung unter Leitung von Theodor Herzl in Gang kam.

Wir dürfen niemals vergessen, daß diese christlichen Zionisten eine sehr kleine Strömung innerhalb der Kirche waren. Die Mehrheit der Kirche blieb hart bei der Verkündigung, daß die Kirche das „geistliche Israel“ wäre und daß die Juden keinerlei Rolle mehr spielten in Gottes Plan mit dieser Welt. Die christlichen Zionisten wurden in den meisten Fällen als eine kleine sektiererische Randerscheinung, innerhalb der Kirche angesehen.

Doch gerade in diesen Gruppen lebte eine enthusiastische Erwartung der Wiederkunft von Jesus als Messias und der Aufrichtung Seines Reiches. Manchmal gingen die Leiter dieser Gruppen selbst zur politischen Aktion über und suchten Kontakt mit Staatsoberhäuptern. Dabei wollten sie Rechte für Juden erwirken, um sich in „Palästina“ niederlassen zu dürfen. Diese Aktivitäten blieben ohne direkte Resultate. Doch waren sie geistlich trotzdem wichtig und trugen dazu bei. einen Nährboden zu schaffen für die spätere Rückkehr des jüdischen Volkes.

Bezeichnend für diese Bewegung von christlichen Zionisten aus dem 19. Jahrhundert war die Erwartung von der baldigen Wiederkunft des Herrn Jesus sowie ein fester Glaube an die buchstäbliche Erfüllung von Gottes Verheißungen und Prophetien für Israel. Hinzu kam eine Liebe für das jüdische Volk und eine Atmosphäre von großen Erweckungen.

Im Jahre 1809, als noch sehr wenige Juden daran dachten, nach Israel zurückzukehren, wurde von protestantischen Christen die „London Jewish Society“ - LJS - (Londoner Jüdische Vereinigung) gegründet. Kaum siebzig Jahre vor der „Geburt“ des Zionismus riefen Christen die Juden auf, zurückzugehen in das verheißene Land. Auf politischem Gebiet trat die LJS an die Regierungen von Europa heran - mit dem prophetischen Wort von der Rückkehr des jüdischen Volkes. Seit 1820 halfen sie den Juden in „Palästina“ so gut sie konnten: Sie stifteten Schulen, Arbeitsplätze und 1844 ein Krankenhaus. Interessant ist, daß die jüdischen Multimillionäre und Wohltäter, Baron de Montefiore und Baron von Rothschild, später auch Krankenhäuser in Jerusalem stifteten, wohl mit dem deutlichen Hintergedanken, dieser „Missionierung“ etwas entgegenzusetzen.

Der Schwerpunkt der christlich-zionistischen Bewegung liegt heute in den USA. Gegenwärtig sind es die amerikanischen Evangelikalen, die Israel kräftig unterstützen. Sie arbeiten zusammen in der Nationalen Christlichen Leiterschaftskonferenz für Israel (NCLCI). Und sie unterstützen Israel im Hinblick auf Jerusalem und leisten auch viel finanzielle und soziale Hilfe.

„Christlicher Zionismus lohnt!“ Im geistlichen Sinn können wir feststellen, daß Erweckung und eine klare biblische Sicht für Israel als Gottes auserwähltes Volk zusammengehören. Wenn christlicher Zionismus und geistliche Erweckung zusammengehen, sind beide besonders fruchtbar.

 

 

Unterweisung

Schuld:

Die jungen Leute von heute können gar nicht mehr verstehen, was mit den Juden zur Zeit der Naziherrschaft in Deutschland und Europa geschehen ist. Auch viele ältere, die diese Zeit noch miterlebt haben, wissen nicht darüber Bescheid. Sie haben das alles nicht aus eigener Anschauung miterlebt. Und wenn man heute Bilder davor sieht und Berichte liest, dann sind das zunächst nur Dokumente und es ist noch nicht in den Herzen der Menschen.

Wenn wir aber den Menschen sehen, wie Gott ihn sieht, wenn wir ihn als Sünder sehen, der zu allem Bösen fähig ist, dann begreifen wir, wie so etwas geschehen konnte. Daraus ergibt sich das Grundproblem: Wie können wir das grausame Böse überwinden, das in jedem vor uns sitzt? Auch bei uns gibt es Haß und Vorurteile gegenüber anderen Menschen. Die Verfolgung der Juden ist nur ein besonders krasses Beispiel der Unmenschlichkeit.

Gott war bei den Geschehnissen jener Jahre           mit dabei. Wir müssen nach seinem Willen und dem Warum dieses Leidens fragen. Aber wir dürfen auch die frohe Botschaft hören‚ daß er die Menschen dennoch liebt und ihren durch seinen Sühnetod der Weg zum ewigen Heil eröffnet.

Wir können nicht generell von einer Kollektivschuld an jenen Geschehnissen reden. Aber wir können uns auch nicht aus der Verhaftung in die Volksgemeinschaft herauslösen .Vielleicht sollt er wir aber (wie Theodor Heuß) von einer „Kollektivscham“ sprechen. Und es gibt auch eine Vergebung, nicht im Vergessen, aber im überwinden dessen, was gewesen ist.

 

Betroffenheit:

Über die Ereignisse der Judenverfolgung in unserer jüngeren Vergangenheit kann nur in der Haltung der Betroffenheit gesprochen werden. Jeder Deutsche ist auch nach 50 Jahren in diese Ereignisse hineingezogen. Die Geschehnisse sind im Namen eines Deutschen Reiches betrieben worden, das seine Vorzüge anderen Völkern aufzwingen wollte. Wir stehen beschämt vor dieser Tatsache - unabhängig von unserer eigenen direkten Beteiligung an diesen Ereignissen.

Als Christen sind wir zusätzlich betroffen, weil wir erkennen, daß Äußerungen kirchlicher Repräsentanten und einzelner Christen den Weg zur Vernichtung von 6 Millionen Juden haben ebnen helfen - unabhängig davon, daß sehr eigene Interessen von Nichtchristen hinzukamen. Die Juden‑ und Ghettoordnung von Speyer 1468 oder die Äußerungen Luthers stehen ja nicht allein. Noch selbst die Bekennende Kirche hat bei ihrem gewiß bemerkenswerten Einsatz vieler, das eigene Leben um des Evangeliums willen zu riskieren, die Hilfe für die von den Nationalsozialisten verfolgten Juden nicht als ihre vordringliche Aufgabe erkannt. Und das Umstoßen oder Übermalen von Grabsteinen auf jüdischen Friedhöfen in heutigen Tagen zeigt, daß wir - wer immer zu solchen Taten auch fähig ist - weiter um die Bewältigung dieses Themas bemüht sein müssen.

 

Behandlungsmöglichkeiten:

Gegen das einseitig formulierte Urteil „Durch das Betreiben des Todes Jesu Christi haben sich die Juden selbst für immer von Gott getrennt und Gottes Strafe auf sich gezogen“ wäre herauszuarbeiten:

1. „Die“ Juden ist eine sehr gefährliche Verallgemeinerung. Am Tod Jesu waren neben den Römern einige, nie alle Juden beteiligt.

2. „Die Juden haben sich selbst für immer von Gott getrennt”. Dagegen ist festzuhalten: Paulus hebt Römer 9-11 die bleibende Erwählung auch des konkreten Israel hervor (11, 25—32), auch wenn Paulus Jesu Tod und Auferstehung als neue, für jeden einzelnen geltende Mitte des Weges Gottes zum Menschen verkündet (10, 4.9).

3. „Sie haben Gottes Strafe auf sich gezogen“. Da dies so verstanden wurde, daß Menschen die Strafe in Gottes Auftrag vollziehen können ist festzuhalten: Auch wenn Mt 27, 25 „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“ die Bereitschaft signalisiert, die Folgen für die Kreuzigung selbst zu übernehmen, steht dem nach Lk 23, 34 die Bitte des Gekreuzigten entgegen, sein Vater möge den Peinigern ihr Tun vergeben: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!“

Nach den Evangelien faßt Jesus die Gebote so zusammen: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt ... Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mt 22, 37.39; Mk 12,30 f. vgl. Lk 10, 27). Zugleich erfährt das Verhältnis zum Nächsten die weitestgehende Erweiterung, die denkbar ist: „Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen“ (Mt 5, 44; vgl. Lk 6. 27 f.). Was aber bei der Verfolgung durch andere gilt, schließt erst recht die Verfolgung anderer aus.

Paulus nennt als einzige Möglichkeit, die Botschaft Jesu weiterzugeben, die Form der Bitte: „So sind wir nun Botschafter an Christi Statt. denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi Statt: Laßt euch versöhnen mit Gott!“ (2. Kor. 5, 20).

 

Sitz im Leben“:

1. Sitz im Leben. Die Betroffenheit des Zeitgenossen

Da und dort gibt es noch jüdische Mitbürger, die dem Grauen entgangen sind. Die Betroffenheit der meisten artikuliert sich selten unter uns. Es gibt keinen breiten Strom des Redens in der christlichen Gemeinde über jene Ereignisse. So war es von Anfang an. Die Betroffenheit war und ist eingewickelt in ohnmächtige Resignation. Das einfache Erzählen des Zeitgenossen ist ein schmales Rinnsal. verstellt von der Angst, eigenes Unvermögen weiterzugeben. Kann einer so schonungslos erzählen, daß es sein eigenes Schuldbekenntnis wird? Gehört hier nicht vieles in die Beichte?

Was bedeutet das für die Verkündigung? Wer nichts aus eigener Erfahrung zu erzählen hat, sollte sich zurückhalten. Möglich ist entweder in direkter wörtlicher Zitierung oder als Nacherzählung die Weitergabe von Primärzeugnissen der Zeitgenossen.

 

2. Sitz im Leben: Die Hilflosigkeit der Nachgeborenen

Evangelische Vikare fragten 1977 unmittelbar nach einem Besuch von Maidanek polnische katholische Priesterschüler in Lublin: Wie lebt ihr mit dieser Vergangenheit? Die erstaunliche Antwort: „Das ist ein Problem der älteren Generation, das wir respektieren, aber es ist nicht unser Problem!“ Haben diese jungen Polen nicht recht? Denken viele Jüngere unter uns nicht genauso? Gerät das Thema „Kristallnacht“ nicht in die unvermeidbare Nachbarschaft aller Gedenktage: Einige wenige Interessenten bemühen sich um Vergegenwärtigung! Für die Gemeindearbeit bietet es eine gewisse Abwechslung. Die Geschichte als Steinbruch für interessante Illustrationen gegenwärtiger Probleme lockt vielleicht manchen. Je länger je nötiger sind auch Informationen vonnöten.

Extreme historische Situationen erwecken neugierige Fragen. Aber das ist wohl nur die eine Seite. Die andere ist das Wissen darum, mit dieser so verlaufenen Geschichte verflochten zu sein. Das lähmende Schweigen der Zeitgenossen wird zur lähmenden Hilflosigkeit der Nachgeborenen. Wie kann man nach Auschwitz glauben? Wie kann man es als Deutscher? Je länger je mehr werden die Gedenkstätten des Grauens touristische Sehenswürdigkeiten. Historische Einzelheiten werden uninteressant. Sie bündeln sich in der angstvollen Frage: Warum konnte das geschehen unter uns, vor uns?

 

3. Sitz im Leben: Die theologische Unausweichlichkeit

Wir Christen können den Baum nicht absägen, auf dem wir gewachsen sind. Die Unauflöslichkeit zwischen dem neuen und dem alten Israel, zwischen dem Neuen und Alten Testament ist oft genug zum Schaden aller von der Kirche hintangestellt worden. Gedenktagen und Jubiläen haftet die Zufälligkeit menschlichen Zeitmaßes an. Die theologischen Grundlagen stehen aber alltäglich an: Der Vater Jesu Christi, zu dem wir täglich bitten, ist zugleich der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Mit diesem Gott bleiben wir an die reale Geschichte gebunden, als deren Herr er sich immer wieder erwiesen hat. Insofern verbietet es sich für uns, seine Geschichte außer Kurs setzen zu wollen. Aus dem Alten Testament können wir lernen, mit geschichtlichen Katastrophen, und das heißt mit menschlicher Schuld, weiterzuleben. Hier wird nicht nur Geschichte „bewältigt“, sondern Schuld vergeben. Die Geschehnisse der Kristallnacht mit ihren Vorläufern seit 1933 bis zu den Krematorien der Konzentrationslager sind keine einmalige Entgleisung der menschlichen Geschichte während die programmatischen Ziele der Rassenlehre, die Präzision der bürokratischen Vernichtungsmaschine und das Ausmaß der Vernichtung einerseits und Opferbereitschaft und menschliche Bewährung andererseits einmalig genannt werden können. Das Geschehen steht im Zusammenhang mit dem, was zwischen Christen und Juden immer wieder geschehen ist, und immer wieder zu geschehen droht!

 

4. Sitz im Leben: Die politische Aktualität

Kaum ein Landstrich der Welt wird dem Fernsehzuschauer so oft vorgestellt wie der Nahe Osten. Jede Erwähnung der Worte Israel, Juden, Jerusalem, Palästina hat, ob uns das gefällt oder nicht, tagespolitische Assoziationen beim Hörer zur Folge. Auch wenn wir angeblich nur von historischen und theologischen Fragen reden; erwecken unsere Worte Meinungen zur politischen Entwicklung im Nahen Osten. Die theologisch zu fordernde Bejahung der Christen, daß die Juden das auserwählte Volk Gottes sind und bleiben, kann aber nicht heißen, die israelische Politik theologisch zu verklären und die Politik der Araber unreflektiert abzulehnen.

Was bedeutet das für die Verkündigung? Die Wortwahl muß sorgsam überlegt werden. Man hüte sich davor, Israel zu sagen und damit das alte Israel genauso wie den heutigen Staat zu meinen. Bewußte Doppeldeutigkeit im Gebrauch der Worte verwirrt. Zum anderen sind Fürbittformulare sehr genau zu überlegen, ob sie theologische Wunschvorstellung mit einer irgendwie entstandenen politischen Meinung des Predigers vermischen und die Gemeinde einseitig vereinnahmen. Unser Glaube, daß Gottes Zusage des verheißenen Landes dem auserwählten Volk auch heute noch gilt, darf uns nicht zu einer folgenschweren Identifizierung von „Land und „Staat Israel“ verführen. Die politische Meinungsbildung über diesen Krisenherd ist unabhängig von dieser Fragestellung je nach den erreichbaren Informationen nötig.

 

5. Sitz im Leben: Der moralische Appell

Auf dem Gedächtnismal von Hiroshima steht eingezeichnet: „Schlaft ruhig - das wird sich nicht wiederholen!“. Der Satz darf dort stehen. Aber in unserem Bewußtsein darf er so nicht lauten. Er muß lauten: „Wacht unruhig; sonst wiederholt sich das!“ (Albrecht Geres, Tagwerk)

Wichtig ist:

1. Die Aufhellung gesellschaftlicher Normvorstellungen (gedankenloses Weitertragen von Vorurteilen, politischer Opportunismus u. v. a.)

2. Alle Negationen können nicht aus sich selbst leben (Nie wieder!). Wofür setzen wir uns also ein. wenn wir Rassen- und Völkermord verurteilen?

3. Der alttestamentlich begründete und neutestmentlich in der Auferstehung Jesu Christi manifestierte Überschuß an Hoffnung macht moralische Appelle evangeliumsgemäß! Es lohnt sich, dem Unrecht dieser Welt zu widersprechen, weil der Herr dieser Welt trotz aller Torheiten und Greueltaten diese Welt nicht untergehen läßt.

 

Praktische Hinweise:

1. Verkündigung aus Anlaß der Kristallnacht? Keiner sollte sich schämen, wenn es ihm hier die Worte verschlägt. Vielleicht sollte das Gedenken mit einem zwei- bis dreiminütigem Schweigen geschehen? Freilich nicht als Pflichtübung oder Demonstration, sondern aus der Betroffenheit derer, die Gottes Vergebung nicht leichtfertig erbitten wollen. Rhetorische Schuldbekenntnisse helfen nichts.

2. Wer aus obenstehenden Ortsbestimmungen zaghaften Mut gewonnen hat, den Mund aufzutun, der sollte sich mühen, den ganzen Gottesdienst und die ganze Predigt dieser Frage unterzuordnen. Eine einzeilige Erwähnung im Fürbittgebet, ein paar Erwähnungen, etwa zu Beginn der Predigt können der Sache nur schaden. Die Kristallnacht ist kein x-beliebiges Predigtbeispiel.

 

Neues Testament:

Arnold Zweig geht in seinem 1932 erschienene Romane Vriendt kehrt heim“ weiter. Er meint, die Wurzeln des Antisemitismus in den Evangelien selbst, ja sogar in einer ihrer Quellenschriften und dort in einem wesentlichen Kernstück, dem Passionsbericht, entdeckt zu haben. Nach Zweigs Ansicht ist der Prozeß Jesu bereits vor der schriftlichen Fixierung der vier Evangelien in der Darstellung der Urgemeinde zugunsten der Römer und zuungunsten der Juden verzeichnet worden. Zunächst aber muß etwas richtiggestellt werden. Der „Ur-Markus“ ist nicht erst sechzig Jahre nach den Ereignissen niedergeschrieben worden (also um das Jahr 90 nach Christus).

Nachdem die Worte und Taten Jesu erst mündlich überliefert worden waren, hatte man sie doch spätestens um 60 nach Christi Geburt, also rund dreißig Jahre nach Jesu Kreuzigung, aufgeschrieben. Als aber die synoptischen Evangelien niedergeschrieben wurden, hatte sich der christliche Glaube noch keineswegs die herrschenden Schichten des römischen Reiches erobert.

In den Evangelien spiegelt sich eins Verhältnis wider, das zur Zeit ihrer schriftlichen Fixierung zwischen der christlichen Gemeinde und der jüdischen Synagoge bestanden hat. Wir rechnen damit, daß die Evangelien in der Zeit zwischen den Jahren 60 (noch vor dem Jahr 70, da der Tempel zerstört wurde) und 100 nach Christi Geburt in ihrer endgültigen Fassung niedergeschrieben worden sind, und zwar das Markusevangelium zuerst (noch vor der Zerstörung des Tempels) und das Johannesevangelium zuletzt.

In diesen Jahrzehnten hat sich aber das Verhältnis zwischen Christen und Juden grundlegend geändert. Es braucht uns nicht zu befremden, daß sich diese Veränderung auch in den Evangelien niedergeschlagen hat. Schließlich haben die Evangelisten als Menschen ihrer Zeit zunächst einmal für Menschen ihrer Zeit geschrieben und darum auch die Probleme ihrer Zeit in ihren Zeugnissen und Berichten verarbeitet. So spiegeln sich die Auseinandersetzungen, die es in jenen Jahrzehnten zwischen Christen und Juden gegeben hat, auch in den Evangelien wider.

Wir können allerdings das Bild der christlichen Gemeinde in Jerusalem auch mit Hilfe der Apostelgeschichte nicht in allen Einzelheiten nachzeichnen; denn der Verfasser der Apostelgeschichte wollte gar keinen historisch getreuen Bericht von den ersten Jahrzehnten der christlichen Gemeinde geben, sondern zeigen, daß sich die Heidenmission gradlinig aus der Verkündigung der Apostel ergeben habe. Ihm ging es dabei um die Überwindung des Konfliktes zwischen Juden und Christen. Wenn in der Apostelgeschichte trotzdem von Spannungen im Verhältnis zwischen Juden und Christen die Rede ist, handelt es sich dabei um tatsächliche Ereignisse, die auch Lukas in seiner Darstellung nicht hat umgehen können. Insofern ist Lukas gerade an diesen Stellen ein historisch unverdächtiger Zeuge.

 

Erster Zeitabschnitt: 30–44 nach Christus: Die christliche Gemeinde als Gruppe innerhalb der jüdischen Tempelgemeinde.

Die christliche Gemeinde ist zunächst eine Gruppe innerhalb der Tempelgemeinde. Der Rat des Gamaliel, die Christen gewähren zu lassen, kennzeichnet die zunächst abwartende Haltung gegenüber den Christen.

Innerhalb der christlichen Gemeinde sind bald zwei Gruppen zu unterscheiden: die aramäisch sprechende Gruppe, die sich um die Apostel schart, und die griechisch sprechende Gruppe der Hellenisten. Nach dem Tode des Stephanus wurde die grie­chisch sprechende Gruppe, die durch die „Sie­ben“ vertreten und durch ihre Verbindung zu Stephanus besonders belastet war, aus Jerusalem vertrieben, während die Apostel und die um sie gescharte Gruppe in Jerusalem bleiben konnten (Apg. 8,1). Die Gemeinde lebt in Frieden (Apg. 9,31). Ihr schließen sich auch Priester (Apg. 6,7b) und sogar auch Pharisäer (Apg. 15,5) 1 an.

 

Zweiter Zeitabschnitt: 44—67 nach Christus. Der Konflikt zwischen der christlichen Gemeinde und der jüdischen Tempelgemeinde.

Zunächst ist die Gefahr eines Konfliktes zwi­schen Christen und Juden gebannt. Doch währt diese Zeit nicht lange. Inzwischen hat Paulus mit der Heidenmission begonnen. Es bilden sich außerhalb des jüdischen Landes christliche Ge­meinden, die zum großen Teil aus Heiden­christen, zu einem kleinen Teil aus Judenchristen bestehen.

Jedenfalls war mit dem Aposteldekret, die Wirkungsgebiete untereinander aufzuteilen, die Spannung innerhalb der christlichen Gemeinde überbrückt. Doch für die Gemeinde in Jerusalem selbst hatte das Dekret schwerwiegende Folgen; denn die Juden mußten in den Abmachungen des Aposteldekretes einen Bruch mit den Traditionen der Väter sehen.

 

Daß sich das Verhältnis zwischen Christen und Juden geändert hat, machen mehrere Ereignisse deutlich. Um die Gunst der Juden zu gewinnen, läßt König Herodes Agrippa I. (41-44 nach Christus) einige Glieder der christlichen Gemeinde in Jerusalem verhaften (Apg.12,1). Jakobus, einen der zwölf Apostel, den Sohn des Zebedäus, läßt er mir dem Schwert hinrichten (Apg. 12,2). Dem Apostel Petrus hat er ein ähnliches Schicksal zugedacht (Apg. 12,3). Da aber König Herodes Agrippa nach wenigen Jahren stirbt, kommen seine Pläne nicht ganz zum Zuge. Aber die christliche Gemeinde in Jerusalem bleibt bedroht. Schließlich macht der Hohe Rat, wie der jüdische Geschichtsschreiber Josephus (gest. um 100 nach Christus) berichtet, im Jahre 62 nach Christus dem Herrenbruder Jakobus, dem Führer der Gemeinde, den Prozeß. Jakobus wird offenbar des Religionsfrevels für schuldig befunden; denn er wird als Gotteslästerer gesteinigt.

 

Dritter Zeitabschnitt: 67-94 nach Christus. Die Trennung der christlichen Gemeinde von der jüdischen Synagogengemeinde.

Als der römische Statthalter Floms im Jahre 66 nach Christus dem Tempelschatz Geld entnahm, stellte die Priesterschaft das tägliche Opfer für den Kaiser ein, das im Tempel dargebracht werden mußte. Diese Maßnahme kam einer Kriegserklärung gleich. Rasch griff der Aufstand von der Stadt auf das Land über. Die jüdische Diaspora unterstützte den Aufstand zwar nicht, aber in den von Juden geschlossen bewohnten Gebieten Palästinas konnte sich kaum ein Jude der Aufstandsbewegung fernhalten. Die Aufständischen wurden von dem Gedanken eines politischen Messiastums bewegt und sahen in ihrem Aufstand einen Kampf für die Geltung des mosaischen Gesetzes. Wer den Aufstand ablehnte, war damit in ihren Augen ein Feind des Gesetzes. Wer ihnen aber wegen seiner zweideutigen Einstellung zum Gesetz schon verdächtig war, wurde ihnen nun auch in seiner politischen Einstellung fragwürdig.

Das bedeutete für die christliche Gemeinde in Jerusalem eine zunehmende Isolierung. Weil die Judenchristen in Jerusalem die politisch-messianischen Hoffnungen der Aufständischen nicht teilen konnten, hielten sie sich von dem Kampf gegen Rom fern. Schließlich trennten sie sich von dem Schicksal ihres Volkes. Im Jahre 67 nach Christus verließen sie Jerusalem und wanderten nach Pella im Ostjordanland aus. Damit stellten sie sich in einen entschiedenen Gegensatz zu den Juden; denn die Aufstandsbewegung hatte inzwischen alle Schichten des jüdischen Volkes ergriffen. Die Kluft zum jüdischen Volke verbreiterte sich, als die Nosrim die Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 nach Christus als Gottes Strafgericht ansahen, das über die Stadt gekommen war, weil sie ihren Messias nicht angenommen hatte.

Nach der Zerstörung des Tempels trat an die Stelle des Hohenpriesters und des Hohen Rates die Versammlung der führenden Schriftgelehrten. Unter der Leitung eines „Fürsten“ wurden nun alle Streitigkeiten der Schriftgelehrten entschieden. Hier wurden die Sadduzäer für Ketzer erklärt.

Hier in Jamnia faßte die Versammlung der Schriftgelehrten den Beschluß, in das Achtzehnbittengebet, das in jedem Synagogengottesdienst gebetet wird und das jeder Jude täglich zu beten hat, hinter der elften Bitte die Verwünschung der Nosrim aufzunehmen: „Die Nosrim und die Häretiker mögen umkommen in einem Augenblick, ausgelöscht werden aus dem Buch des Lebens und mit den Gerechten nicht aufgeschrieben werden.“ Mit diesem Beschluß war es den Judenchristen unmöglich gemacht, sich am jüdischen Gebetsleben zu beteiligen. So wurden die Judenchristen dadurch mittelbar aus der Synagoge ausgestoßen. Ein unmittelbarer Ausschluß der Judenchristen aus der Synagoge ist allerdings niemals ausdrücklich erklärt worden.

Durch die Zerstörung des Tempels war der Tempelkult hinfällig geworden. An seine Stelle trat der Synagogengottesdienst. Zu den großen Festen konnten keine Wallfahrten zum Tempel mehr gehalten werden. Es konnten keine Opfer mehr gebracht und keine Passahlämmer mehr geschlachtet werden. Aber die pharisäischen Schriftgelehrten haben die Erinnerung daran wachgehalten. Sie haben sich auch weiterhin um d as Studium des ganzen mosaischen. Gesetzes gemüht, auch wenn viele Vorschriften des Gesetzes, zum Beispiel sämtliche Opfervorschriften, sinnlos geworden waren. Dieser Umstand führte dazu, daß sich der Unterricht der Schriftgelehrten immer mehr in theoretische Erörterungen verlor, die der Wirklichkeit des täglichen Lebens nicht entsprachen.

Seitdem sich in Jamnia der Pharisäismus gefestigt hatte, gingen Juden und Judenchristen endgültig verschiedene Wege.

 

Nach dem Zeugnis der vier Evangelien und der Apostelgeschichte sind an der Hinrichtung Jesu Juden und Heiden gemeinschaftlich beteiligt. Die Juden haben zwar den Anstoß gegeben, aber die Ausführung haben die Römer übernommen. Wenn auch der römische Statthalter vor, dem Volk seine Hände wusch und erklärte: „Ich bin unschuldig an seinem Blut; sehet ihr zu!“ (Matth. 27,24), so kann er damit doch nicht die Verantwortung für die Hinrichtung Jesu von sich abschieben. Er hat den Hinrichtungsbefehl gegeben. So sagen es uns alle vier Evangelien. Darum ist es auch folgerichtig, wenn im Glau­bensbekenntnis nicht Herodes oder Kaiphas, sondern Pontius Pilatus genannt wird. Seine Entscheidung hat den Ausschlag gegeben.

Es darf aber auch der Anteil der Jünger an Jesu Kreuzigung nicht außer Acht gelassen werden. Der Jünger Judas verrät seinen Herrn. Der engste Kreis der Jünger ist nicht imstande, mit Jesus in Gethsemane zu wachen. Die Jünger ver­lassen ihren Herrn bei dessen Verhaftung. Der Jünger Petrus verleug­net seinen Herrn. Auf dem Wege zum Kreuz folgt kein

Allerdings verschob sich allmählich innerhalb der Christenheit das Urteil darüber, wer an der Kreuzigung Jesu verantwortlich beteiligt ge­wesen sei. Je größer der Anteil der Heiden­christen an der Gemeinde wurde und je mehr der Einfluß der Judenchristen zurücktrat und schließlich völlig verschwand, um so mehr wurde in der Darstellung und im Verständnis der Pas­sionsgeschichte der römische Statthalter entlastet, die Juden dafür aber belastet. Schließlich redete man nur noch von der Alleinschuld der Juden.

Die Anfänge zu dieser Entwicklung können wir im Johannesevangelium beobachten, ohne daß dort unmittelbar Anstöße zu dieser Entwicklung gegeben worden wären. Im Johannesevangelium wird Pontius Pilatus als der zögernde Mann dargestellt, der mit der ganzen Sache am liebsten nichts zu tun haben möchte, der aber schließlich doch den Befehl zur Kreuzigung gibt (Joh. 19,16). So sind es im Passionsbericht des Johan­nes keineswegs allein die Juden, die die Schuld am Tode Jesu tragen; aber wir können im Johannesevangelium schon so etwas wie den Versuch einer Entlastung für Pontius Pilatus wahrnehmen.

Eine ähnliche Entwicklung ist im Johannesevan­gelium im Blick auf die Jünger festzustellen. Hier werden in gewisser Weise auch die Jünger entlastet. Es wird nicht erwähnt, daß die Jün­ger ihren Herrn verlassen haben. Sie werden einfach nicht mehr genannt. Aber Petrus und Johannes folgen Jesus in den hohenpriesterlichen Palast. Die Verleugnung des Petrus erscheint im Johannesevangelium in einer gegenüber den synoptischen Evangelien gemilderten Form. Und schließlich steht der Jünger Johannes unter dem Kreuz. Jesus richtet ein Abschiedswort an ihn.

Bei vielen Christen begründete der sogenannte „Antijudaismus“ im Neuen Testament die Judenfeindschaft. Primitiv hieß das: Die Juden haben Christus getötet. Es ist wahr, daß Jesus sich mit den Führern des Judentums auseinandersetzte, aber das war ein „innerjüdischer Konflikt“, und Jesus hat sich. immer seinem Volk zugehörig gefühlt. Paulus hat sich in 1. Thessalonicher 2,14-16 sehr scharf ausgedrückt. V. 15: Die (Juden) haben Jesus und die Propheten getötet, haben uns verfolgt, gefallen Gott nicht und sind allen Menschen feind.

In Römer 9 sind aber ganz andere Töne zu hören. Paulus spricht von großer Traurigkeit und Schmerzen um seine Brüder „nach dem Fleisch“ darüber, daß sie von Christus „geschieden“ sind und daß er es lieber für sie sein würde. Genau die gleiche Spannung finden wir bei Johannes. Im Kap. 4,22 sagt er: „Das Heil kommt von den Juden“.

 

Zu Unrecht hat die Kirche geglaubt, das Judentum zu kennen und es allein auf der Grundlage des Alten Testaments und den Angaben des Neuen Testaments bestimmen zu dürfen. Aus diesen Gegebenheiten entnahm die Kirche den Anspruch, zu wissen, was das Judentum ist und zu sein hat. Das Bild des Judentums darf in der Unterweisung nicht allein auf der Grundlage des Alten und Neuen Testaments gezeichnet werden.

Christen machen sich Bilder vom Judentum. Wenn es jedoch um die Bestimmung der eigenen christli­chen Identität geht, setzen sie sich oft wieder gegen diese Bilder ab und teilen dem Judentum eine nega­tive Rolle zu. Auf diese Weise darf nicht versucht werden, die Richtigkeit der eigenen Überzeugung nachzuwei­sen.

Die jüdische Tradition kennt kein AT. Die Bezeichnung AT schließt die Existenz eines NT ein. In der Kirche können beide nicht ohne einander bestehen. In der jüdischen Tradition jedoch hat Tenach (Tora, Propheten und Schriften) einen eigenen, selbständigen Platz.

Betonen sollte man, daß Tora viel mehr umfaßt als das Wort „Gesetz“. Unter Tora wird nicht allein die von Gott offenbarte Lehre verstanden, innerhalb derer die einzelnen Gebote ihren Sinn und ihre Bedeutung erhalten. Tora ist auch in dem Sinne zu lernen, daß man sich selbst mit dem Tenach beschäftigt und im Alltag nach dessen Vorschriften handelt, auf eine Art, die der Situation, in der man lebt, angepaßt ist. Die Tora ist eine „Anweisung zum Leben“.

Bei der Behandlung des Sabbats sollten Verbote und Gebote so besprochen werden, daß vom Sabbat ein ausgewogenes Bild entsteht. Der Sabbat ist für die jüdische Gemeinschaft ein Tag der Ruhe, der Besinnung, des Studiums und des Familienlebens.

Vermieden werden sollte es in der Unterweisung, Tenach/AT und die darauf fußende Tradition dem Neuen Testament so gegenüberzustellen, daß das Judentum als eine Religion der Angst, harter Gerechtigkeit, kalter Berechnung oder Gesetzlichkeit angesehen wird, wogegen das Christentum sich als die (wahre) Religion der Liebe und Gnade abhebt.

Man sollte es vermeiden, Begriffe wie Gesetz und Gnade, Gesetz und Evangelium. Arbeit und Gnade, so als Gegenüberstellungen zu behandeln als gelte Gesetz und Arbeit nur für das Judentum und Evangelium und Gnade nur für das Christentum.

Vermeiden sollte man, in der Unterweisung zu lehren, daß das Judentum verworfen werden müsse oder daß die Verheißung für die Juden aufgehoben sein soll, da Jesus von ihnen nicht als Messias anerkannt wird.

Vermeiden sollte man in der Unterweisung, das Judentum allein auf der Grundlage von Altem Testament und Neuem Testament zu behandeln. Ohne das Einbeziehen der nachbiblischen Literatur und Tradition kann man kein richtiges Bild vom Judentum erhalten.

Man sollte danach streben, die Diskussionen zwischen Jesus und anderen Juden als eine typisch jüdische Weise des Umgangs mit dem Tenach zu sehen. Jesus stand nicht dem Judentum gegenüber, sondern nahm als Jude teil an den damals aktuellen Diskussionen innerhalb der verschiedenen jüdischen Gruppierungen.

Vermeiden sollte man, das Neue Testament historisch als einzige Quelle zu verwenden, auf dessen Grundlage theologische Urteile über das Judentum gefällt werden können. Zumindest sollte man Literatur wie die der Gemeinschaft von Qumran und Flavius Josephus dabei mit einbeziehen.

 

Jüdisches Volk

Bei der Behandlung des Judentums wird oft eine scharfe Zäsur beim Jahr 70, dem Fall Jerusalems, vorgenommen. Die Geschichte des jüdischen Volkes sollte jedoch in ihrer historischen Kontinuität erzählt werden. Es sollte in der Unterweisung vermieden werden, den Fall Jerusalems und die Zerstörung des Zweiten Tempels als Strafe für das Nichtannehmen von Jesus Christus, zu werten oder die Ereignisse als Zeichen der Verwerfung des Jüdischen Volkes bzw. der Aufhebung der Verheißung an Israel zu betrachten. Man sollte vermeiden, die Diaspora erst mit dem Jahre 70 beginnen zu lassen und diese Diaspora mit der Legende vom „Ewigen Juden“ in Verbindung zu bringen.

In der Unterweisung sollte man dem Aufmerksamkeit schenken, worunter die Juden im Namen der Kirche zu leiden hatten, daneben aber auch den Einfluß der jüdischen Tradition auf das christliche Denken hervorheben. Vermeiden sollte man, das Judentum in der Kirchengeschichte ausschließlich in Krisensituationen (Verfolgungen, Kreuzzüge u. a.) darzustellen.

Die Fragen um Auschwitz, sowohl für Juden als auch für Christen, sollten ausführlich behandelt werden.

Wenn der Zionismus und der Staat Israel ins Gespräch kommen, sollten hinsichtlich theologischer Interpretationen zwei Fehldeutungen vermieden werden: Das fundamentalistisch-escha­tologische Modell: der Staat Israel soll der Beginn des Weltendes sein. Das prophetische Modell: der Staat Israel wird, anders als alle Staaten der Welt, vorwiegend auf der Grundlage prophetischer Vorstellungen beurteilt.

 

Jesus

In der Unterweisung wird die Person Jesu oft isoliert beschrieben oder scharf gegen seine Umgebung abgesetzt. Dieses Schwarz-Weiß-Bild führt oft zu einer Verzerrung des Judentums jener Zeit. In der Unterweisung sollte man darauf hinweisen, daß Jesus einen Teil des Judentums seiner Zeit ausmacht, bzw. darstellt und verkörpert.

Nachdruck sollte in der Unterweisung auf die Tatsache gelegt werden, daß Jesus ein Jude war. Das heißt, daß sein Leben, seine Lehre und Praxis im Rahmen der damaligen jüdischen Praxis, der Halacha, und nicht im Widerspruch dazu verstanden werden muß.

Vermeiden sollte man, Jesus als Gegner oder Feind des Judentums seiner Zeit darzustellen.

Wenn man den Diskussionen zwischen Jesus und den Vertretern jüdischer Gruppierungen Aufmerksamkeit schenkt, wie z. B. den Pharisäern, sollte man nicht nur auf die Spannungen, sondern zugleich auf die gegenseitigen Übereinstimmungen hinweisen.

Bei der Behandlung des Prozesses Jesu oder des Entstehens des Christentums aus dem Judentum, läuft der kirchliche Unterricht Gefahr, an anti-jüdische Modelle der Kirchengeschichte anzuschließen. Gerade bei diesen Themen sollte man Sorgfalt walten lassen, so daß sie nicht wieder für Antisemitismus Anknüpfungspunkte bieten können.

Nachdruck sollte man in der Unterweisung darauf legen, daß die Schuld am Leiden Jesu nicht dem jüdischen Volk zugesprochen werden kann - weder den damaligen Juden noch dem jüdischen Volk der späteren Zeit.

Das Wort „Spätjudentum“ als Bezeichnung für das Judentum vor dem Fall Jerusalems im Jahre 70 muß vermieden werden. Das Christentum darf nicht als Ersatz des Judentums angesehen werden.

Man sollte danach streben, das Entstehen des Christentums als eine allmähliche Entwicklung zu behandeln. Es gab keinen plötzlichen Bruch mit dem Judentum, der durch das Auftreten Jesu von Nazareth oder durch die Verkündigung des Paulus verursacht wäre.

Man sollte das Verhältnis Kirche und Synagoge unter Hervorheben der Gemeinsamkeiten behandeln, wie z. B. dem Gebet und besonders der Praxis des täglichen Lebens sowie der Verantwortlichkeit für die Welt. Erst dann können Unterschiede und Übereinstimmungen deutlich hervortreten.

 

Jüdische Religion

In der Unterweisung wird das Judentum meistens als eine „versteinerte“ und „überholte” Religion behandelt. Das Judentum sollte als eine eigene, lebendige Fortsetzung der biblischen Tradition betrachtet werden. In diesem Kontext sollte man auch dem Judentum in der Gegenwart Aufmerksamkeit schenken.

Es sollte vermieden werden, in der Unterweisung die Bezeichnung jüdisch-christliche Tradition so zu verwenden, als ziele sie ausschließlich auf eine durch das Christentum fortgesetzte prophetische Tradition des Alten Testaments.

Man sollte in der Unterweisung danach streben, das Judentum und das Christentum als zwei selbständige Fortsetzungen der alttestamentlichen Tenach-Tradition sowie der Traditionen, die in der Zeit zwischen den beiden Testamenten entwickelt wurden, zu behandeln. Was das Judentum betrifft, so muß auch der talmudischen und späteren Fortsetzung der Tenach-Tra­dition Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Man sollte in der Unterweisung bei der Behandlung des Judentums anstreben, die Themen aufzunehmen, die innerhalb des Judentums selbst von großer Wichtigkeit sind. Zu denken ist dabei an Themen wie: Halacha (die praktischen Lebensregeln), Staat Israel, Sabbat, Feste.

Letztlich aber dürfte auch dem religiösen Judenhaß ein massenpsychologisches Motiv innegewohnt haben: Alle gesellschaftlichen Bildungen zeigen - wie Soziologen beobachtet haben - das Bestreben. ihre innere Homogenität zu bewahren und mithin Fremdes und Fremdartiges in einer psychologischen Reflexbewegung abzuwehren. Die vorgebrachten Gründe - seien sie nun religiöser oder rassistischer Art - sind in der Tat nichts anderes als nachträgliche Rationalisierungen der reflexartigen Abwehrbewegung gegen das Fremde schlechthin.

Als Christen sind wir zur Solidarität auch mit den Juden aufgefordert. Gerade wir in Deutschland sollten es tun, wo hier doch das Ebenbild Gottes in so grausamer Weise verletzt wurde. Wir sollten auch bedenken, daß ein Kampf gegen die Juden sich mit innerer Folgerichtigkeit zum Kampf gegen die Christen ausweitet.

 

   

Leitlinien für den christlich jüdischen Dialog*

Verabschiedet von der „Konsultation Kirche und jüdisches Volk“ der Untereinheit „Dialog mit Menschen verschiedener Religionen und Ideologien“ des Ökumenischen Rates der Kirchen, London-Colney, 26. Juni 1981 (Auszüge).

 

Bibeltreue gläubige Christen meinen oft, daß sie „das Judentum“ kennen, weil sie das Alte Testament, die Berichte über die Streitgespräche zwischen Jesus und jüdischen Lehrern sowie die frühchristliche Darstellung des Judentums der damaligen Zeit kennen. Keine andere Religion ist jemals so gründlich von den Predigern und Lehrern der Kirche „definiert“ worden wie das Judentum. Diese Einstellung wird oft noch dadurch bestärkt, daß man über die Geschichte jüdischen Lebens und Denkens in den 1900 Jahren seit der Trennung der Wege von Judentum und Christentum nichts weiß.

 

Für viele Christen ist das Judentum als lebendige Religion mit der Ankunft des Christus und der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem zu seinem Ende gekommen: Die Kirche als Gottesvolk ist an die Stelle der Juden getreten, das heute noch lebende Judentum erscheint als eine erstarrte Gesetzesreligion.

Aus dieser Sicht war der Bund Gottes mit dem Volk Israel nur eine Vorbereitung auf das Kommen Christi; danach war er abgetan. Deshalb hat man das Judentum der ersten Jahrhunderte vor und nach der Geburt Jesu als „Spätjudentum“ bezeichnet. Die Pharisäer wurden als Ausbund jüdischer Gesetzlichkeit verstanden; Juden und jüdische Gruppen wurden als dunkle Folie gezeichnet; die Wahrheit und Schönheit des christlichen Glaubens wollte man dadurch hervorheben, daß man das Judentum als falsch und häßlich darstellte.

 

Im Verlauf einer erneuten Beschäftigung mit dem Judentum und im Dialog mit Juden lernen Christen, daß das Judentum der Zeit Jesu am Anfang einer langen Entwicklung stand. Unter Führung der Pharisäer begann im jüdischen Volk eine geistige und geistliche Erneuerung von gewaltiger Kraft, die es dem jüdischen Volk ermöglichte, die Katastrophe zu überleben, die die Zerstörung des Tempels bedeutete. Diese Erneuerung führte zum rabbinischen Judentum, das Mischna und Talmud schuf und das die Grundlagen für ein kraftvolles, schöpferisches Leben durch die Jahrhunderte hindurch legte.

Christen sollten nicht vergessen, daß viele der Kontroversen zwischen Jesus und den „Schriftgelehrten und Pharisäern“, die im Neuen Testament überliefert sind, ihre Parallelen innerhalb des Pharisäismus und des daraus entstandenen rabbinischen Judentums haben. Diese Kontroversen fanden in einem jüdischen Kontext statt; als jedoch die Worte Jesu von Christen benutzt wurden, die sich nicht mehr wie Jesus mit dem jüdischen Volk identifizierten, wurden seine Worte oft zu Waffen im antijüdischen Kampf, und so wurde ihre ursprüngliche Absicht auf tragische Weise verzerrt. Infolgedessen begann eine innerchristliche Auseinandersetzung über die Frage, wie die Abschnitte des Neuen Testaments zu verstehen seien, die antijüdische Aussagen zu enthalten scheinen.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Glaubensweisen müssen sorgfältig bedacht werden. Indem die Kirche im Alten und Neuen Testament die eine und gültige Offenbarung der Erlösung sieht, teilt sie Israels Glauben an den einen Gott, den die Kirche im Geist als Gott und Vater ihres Herrn Jesus Christus kennt. Für Christen ist Jesus Christus der eingeborene Sohn des Vaters, durch den Millionen Menschen berufen sind, den Gott zu lieben und anzubeten, der zuerst den Bund mit dem Volk Israel schloß. Wenn Christen den einen Gott in Jesus Christus durch den Geist kennen, dann beten sie zu diesem Gott mit dem trinitarischen Bekenntnis zur fleischgewordenen Gegenwart Gottes und damit in einer Sprache, die dem jüdischen Gottesdienst fremd ist.

Christen und Juden glauben gemeinsam, daß Gott Mann und Frau als Krone der Schöpfung geschaffen und daß er sie berufen hat, in Verantwortung vor ihm Haushalter der Schöpfung zu sein. Juden und Christen lernen in ihrer Heiligen Schrift, daß sie für ihre Nächsten verantwortlich sind, vor allem für die Schwachen, die Armen, die Unterdrückten. Auf unterschiedliche Weise erwarten Juden und Christen den Tag, an dem Gott die Schöpfung erlösen wird. Im Dialog mit Juden können Christen zu einem tieferen Verständnis der Exodus-Hoffnung auf Befreiung gelangen, zum Beten und Arbeiten für das Kommen von Gerechtigkeit und Frieden auf Erden.

 

Christliches Zeugnis: Die Absage an den Proselytismus (Abwerbung bei einer anderen Religion) und die Mahnung zur Achtung der Identität und Integrität aller Menschen und aller Religionen ist auch in der Beziehung zu Juden unabdingbar, ganz besonders dort, wo Juden als Minderheit unter Christen leben. Die Bemühungen, jede Art von Zwang zu vermeiden, sind von höchster Bedeutung. Im Dialog sollten Wege gefunden werden, wie Sorgen, Erkenntnisse und Vorsichtsmaßregeln in dieser Hinsicht untereinander ausgetauscht werden können.

Es gibt Christen, die der Judenmission eine besondere heilsgeschichtliche Bedeutung beimessen, und es gibt Christen, die glauben, daß die Bekehrung der Juden das eschatologische Ereignis sein wird, das die Geschichte der Welt zu ihrem Ende bringt. Es gibt solche, die der Judenmission keine besondere Bedeutung zuerkennen, sie jedoch in die eine Mission an alle einschließen, die Christus nicht als ihren Heiland angenommen haben. Und es gibt solche, die glauben, daß Judenmission kein Teil eines glaubwürdigen christlichen Zeugnisses ist, weil das jüdische Volk seine Erfüllung in der Treue zum alten Gottesbund findet.

Im Dialog mit Juden sollte bewußt sein, daß ein Jude, der Jesus als Messias anerkennt, nach rabbinischer Überlieferung als Abtrünniger angesehen wird. Für viele Christen jüdischer Herkunft ist jedoch ihre Zugehörigkeit zum jüdischen Volk ein wesentlicher Teil ihres geistigen und geistlichen Lebens. Sie geben dieser Realität auf verschiedene Weise Ausdruck, einige, indem sie Teile der jüdischen Tradition im Gottesdienst und in der Lebensführung übernehmen, viele, indem sie sich dem Wohlergehen des jüdischen Volkes und des Staates Israel besonders verpflichtet fühlen. Unter den Christen jüdischer Herkunft findet sich ein ebenso großer Spielraum hinsichtlich der Einstellungen gegenüber der Frage der Mission wie unter anderen Christen; so gelten für sie auch dieselben Regeln für den Dialog und gegen jeden Zwang wie sonst unter Christen.

 

Antisemitismus: Antisemitismus ist nach wie vor eine Sorge im christlich jüdischen Dialog. Die erste Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen verdammte in Amsterdam 1948 den Antisemitismus: „Wir rufen alle von uns vertretenen Kirchen auf, den Antisemitismus, gleichviel welchen Ursprungs, als schlechterdings mit christlichem Bekenntnis und Leben unvereinbar zu verwerfen. Der Antisemitismus ist eine Sünde gegen Gott und Menschen“. Dieser Appell ist immer wieder neu bekräftigt worden.

Christen müssen sich der tragischen Geschichte des Antisemitismus offen stellen, die die Kreuzzüge, die Inquisition, Pogrome und den Holocaust einschließt. Nur wenn sie diese Geschichte zur Kenntnis nehmen, können Christen. das tief verwurzelte Mißtrauen verstehen, das viele Juden gegenüber Christen und Christentum bis heute haben. Christen sind aufgerufen, den Antisemitismus mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen, um so mehr, als es erschreckende Anzeichen eines wachsenden neuen Antisemitismus in vielen Teilen der Welt gibt.

Diejenigen, die in Ländern leben, in denen es zu antisemitischen Ausschreitungen kommt, haben die Verpflichtung, den anderen Christen die stets gegenwärtige Gefahr aufzudecken, die sie selbst im Antijudaismus und Antisemitismus erkannt haben.

Die christliche Antwort auf den Holocaust muß die feste Entschlossenheit sein, daß derartiges nie wieder geschehen darf. Die Verachtung für Juden und Judentum, wie sie in manchen Teilen der Christenheit gelehrt wurde, war eine der Wurzeln für den nationalsozialistischen Holocaust. Die Kirche muß lernen, das Evangelium so zu predigen und zu lehren, daß es nicht gegen das jüdische Volk benutzt werden kann. Die Kirchen müssen in vorderster Reihe stehen bei dem Bemühen, alle Voraussetzungen zu beseitigen, die zu weiteren Verfolgungen und zu neuem Mord am jüdischen Volk führen könnten.

 

Das Land: Das unauflösliche Band zwischen Land und Volk Israel hat nach Jahrhunderten der Zerstreuung ihren Ausdruck im Staat Israel gefunden. Das Recht des Staates Israel auf eine Existenz in Sicherheit und Frieden ist für das jüdische Bewußtsein grundlegend, daher ist es ein Thema von höchster Bedeutung in jedem Dialog mit Juden.

Wenn Christen in den Dialog mit Juden eintreten, erkennen sie auch das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung und auf die Verwirklichung ihrer nationalen Identität an. Es ist wichtig, auch Palästinenser - Christen wie Muslime - ihre besondere Verbindung mit dem Land „mit eigenen Worten“ aussagen zu lassen. Es muß in Gottes Plan eine Möglichkeit geben für alle, in Sicherheit und Frieden zu leben!

Für Muslime hat das Land eine besondere Bedeutung und ist mit seinen heiligen Stätten ein integraler Bestandteil der muslimischen Welt, Symbol für Gottes universale Verheißung an alle Nachkommen Abrahams. Für unzählige Christen hat das Land eine beson­dere Bedeutung, es ist das Land der Bibel. In die­sem Lande wurde Jesus geboren, hier wirkte und lebte er, hier litt er, starb und von den To­ten auferweckt. Wurde. Für Juden aber ist die Beziehung zum Land grundlegend. Es ist das Land der Väter und das Land der Verheißungen.

 

Die Geschichte der Juden in Deutschland war, wie wir sahen, voller Leid, Enttäuschungen, Diskriminierungen und Verfolgungen. In anderen Ländern Europas war das ähnlich. Wir können heute nur staunen über den Mut, die Standhaftigkeit, die Geduld und die Kraft der Juden in Deutschland, die sie im Laufe der Geschichte bewiesen haben.

 

„Schlußstrich“?

Laut einer Forsa-Umfrage wünschen sich 69 Prozent der 18 Jahre alten Bundesbürger, daß ein Schlußstrich unter die deutsche Vergangenheit gezogen werde. Gegen diese Haltung, gegen die Weigerung, sich mit dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte, den zwölf Jahren nationalsozialistischer Schreckensherrschaft auseinander zu setzen, traten anläßlich der Gedenkfeier in der Westend-Synagoge am Sonntagabend am 10.11.2002 Frankfurts Oberbürgermeisterin Petra Roth, die hessische Wissenschaftsministerin Ruth Wagner sowie der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt, Salomon Korn, ein. „Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist noch nicht einmal vergangen“, erklärte etwa Ruth Wagner.

 Deren Aktualität – „daß in Deutschland wieder jüdische Menschen antisemitisch beschimpft werden“ – sei besonders für sie, als liberale Politikerin, in diesen Tagen bedrückend. So sprach Wagner eine persönliche „Entschuldigung“ an den anwesenden Michel Friedman, den stellvertretenden Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, aus, der in den vergangenen Monaten mehrfach von dem FDP-Politiker Jürgen Möllemann attackiert worden war: „Wir empfinden das als Beleidigung, die inakzeptabel ist“, sagte Ruth Wagner wörtlich.

 Salomon Korn zog eine, direkte Linie von der „früh verweigerten Auseinandersetzung mit der historischen Schuld der Deutschen, von der Verdrängung und Leugnung“ des „größten staatlich organisierten Verbrechens der Geschichte“, dem Völkermord an den europäischen Juden, bis hin zu einer neuen Erscheinungsform des Antisemitismus, den er als „schuldreflexiv“ bezeichnete.

Das Unbehagen an der eigenen Geschichte wecke Abwehr und Aggression gegenüber denjenigen, die durch ihre Anwesenheit an diese Geschichte erinnern. Und mit seiner Rede in der Paulkirche vor vier Jahren habe Martin Walser „die intellektuelle Variante des Unbehagens am Unbehagen geadelt. Die Bewältigung der eigenen Geschichte fiel seinem Seelenfrieden zum Opfer“, warf Korn dem Schriftsteller vor.

Gleichzeitig warnte er davor, dem Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden, nachzugeben. Denn „jeder Versuch, der Auseinandersetzung auszuweichen, wird selbst ein Teil von ihr und verlängert sie.“

Überdies sei die Annahme der Schuld ein generationsübergreifendes Projekt, wobei die Familie „die wichtigste Agentur der Aufklärung“ verkörpere. Doch in keinem anderen Land klafften offizielle und private Erinnerung so weit auseinander wie hierzulande. Nur zu oft würden Väter und Großväter von gewöhnlichen Mitläufern zu Widerstandskämpfern umgedeutet.

 

Gerhard Koch: Laßt die Dinge endlich ruhen

Wie sehen die Dinge aus, die wir endlich ruhen lassen sollen? Sie auf wenigen Seiten so zu schildern, daß dem Leser ein Eindruck vermittelt wird, der auch nur annähernd der Wirklichkeit gleichkommt, dürfte eine kaum lösbare Aufgabe sein.

Eine zusammenfassende, von näheren Einzelheiten absehende Schilderung, etwa eine statistische Darstellung, kann allenfalls den äußeren Umfang des Geschehenen angeben. Aber was besagt schon die Mitteilung, daß der Mordmaschinerie des NS-Regimes so und so viele Millionen jüdischer, polnischer und russischer Menschen zum Opfer gefallen seien? Solche pauschalen Angaben pflegen weniger Eindruck zu machen als die konkrete Schilderung des Sterbens eines einzigen Menschen. Stärker wirkt es bereits, wenn die Zahlen nach Männern, Frauen, Kindern und Säuglingen aufgegliedert werden. Da mag vielleicht schon dieser oder jener betroffen die Stirn runzeln. Folgt gar ein detaillierter Augenzeugenbericht über eine Massenerschießung oder über die Erschießung eines Kindes in den Armen der Mutter, so wird gewiß manch einer entsetzt sein. Doch wird er sich bald mit dem Gedanken beruhigen, daß es gelegentliche Grausamkeiten verrohter Elemente im Kriege zu allen Zeiten und bei allen Völkern gegeben habe; Krieg sei eben Krieg; man dürfe deshalb solche bedauerlichen Vorkommnisse nicht überbewerten.

Um klarzumachen, daß es sich hier jedoch keineswegs um gelegentliche Exzesse krimineller Außenseiter, sondern um staatlich organisierte, systematische Massenmorde vorher nie gekannten Ausmaßes handelt, müßte man die zu Tausenden vorliegenden konkreten Einzelheiten schildern, die von den Strafverfolgungsbehörden in jahrelanger, mühseliger Arbeit aufgedeckt worden sind. Man müßte die unzähligen Augenzeugenberichte, deren Unmittelbarkeit einem den Puls stocken läßt, wörtlich wiedergeben, ebenso die nicht minder haarsträubenden eigenen Verlautbarungen der NS-Mordorganisationen über ihre Tätigkeit und ihre Vorhaben.

Es liegt auf der Hand, daß dieses ganze ungeheuerliche Geschehen nicht das Werk weniger sein kann; vielmehr dürfte die Zahl der unmittelbar oder mittelbar Beteiligten praktisch unabsehbar sein (wenn man sich nicht auf die Führerschaft der NS-Mordorganisation beschränken will).

Wer sind nun die Menschen gewesen, die leitend, ausführend oder fördernd an jenen Mordtaten mitgewirkt haben? Ist es, wie man annehmen möchte, der Abschaum des Volkes gewesen, emporgetaucht aus der kriminellen Unterwelt und wieder dorthin zurückgekehrt? Keineswegs (wenn man von Ausnahmen, wie dem berüchtigten Regiment Dirlewanger, absieht). Es handelt sich vielmehr um Menschen aller sozialen Schichten, um Arbeiter, Handwerker, Kaufleute, Polizeibeamte, Offiziere, Generäle, Arzte, Juristen und sonstige Akademiker. Insbesondere die führenden Stellen der Gestapo sind häufig, die der berüchtigten Einsatzgruppen und Einsatzkommandos fast durchweg mit Akademikern, meist Juristen, besetzt gewesen.

Wo sind diese Menschen geblieben? Sind die Mörder etwa noch unter uns? Sie sind es. Wir finden sie in allen privaten und staatlichen Bereichen, unter anderem als Arzte, Richter, höhere Verwaltungsbeamte, Polizeibeamte, Lehrer; ja selbst einen Oberstudiendirektor (Hauptfach: Religion) hat man als ehemaligen Führer eines Mordkommandos entlarvt.

Vor allem die Polizei ist in erschreckendem Maße von ehemaligen Angehörigen der nationalsozialistischen Mordorganisationen durchsetzt und zwar auch in den leitenden Stellen. Sogar ein Landeskriminalpolizeichef hat wegen des Verdachts des 30.000fachen Mordes festgenommen und angeklagt werden müssen. So sehen „die Dinge“ aus. Können und dürfen wir sie ruhen lassen?

Die Strafverfolgungsbehörden haben insofern gar keine Wahl. Sie sind gesetzlich verpflichtet, jedem Mordverdacht nachzugehen, solange die Strafverfolgung noch nicht verjährt ist. Die Mordtaten des NS-Regimes verjähren aber frühestens im Mai 1965. Allerdings könnte der Bundestag die Verfolgung jener Mordtaten schon jetzt durch ein Amnestiegesetz unterbinden. Aber wäre das überhaupt vertretbar?

Das wäre eine schmähliche Kapitulation des Rechtes vor Unrecht. Freilich möchte man zweifeln, ob jener epidemische Verfall des Rechts- und Anstandsgefühls, der unser Volk dahin gebracht hat, daß man nicht einmal mehr bei einem Arzt, einem Professor, einem Polizeichef, einem Richter, einem Offizier, einem Religionslehrer oder einem Gymnasialdirektor sicher sein kann, keinen ehemaligen Massenmörder vor sich zu haben, überhaupt noch rückgängig zu machen ist. Trotzdem müssen wir es nach besten Kräften versuchen, wenn wir uns nicht vollends um den Ruf einer zivilisierten Nation bringen wollen.

Zu diesem Versuch gehört, daß wir jene Mörder und Mordgehilfen, die ihre Verbrechen im Namen Deutschlands begangen und ihn damit für unabsehbare Zeit mit Schande bedeckt haben, rücksichtslos zur Rechenschaft ziehen. Solange wir nicht alles tun, uns von diesem Aussatz zu befreien, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn in der Welt immer wieder vor uns gewarnt wird. Vor allem die Völker, die selber unter jener Geißel gelitten haben, betrachten uns noch immer mit Furcht und Mißtrauen und machen ihr Urteil über uns logischerweise davon abhängig, wie wir uns zu den NS-Verbrechern stellen.

Erst wenn wir auch den leisesten Anschein beseitigt haben, daß wir uns mit diesen identifizieren, wird die Welt den Beteuerungen unserer politischen Repräsentanten, daß der Nationalsozialismus tot und sein Wiederaufleben ausgeschlossen sei, Glauben schenken. Solange noch nazistische Massenmörder oder deren Handlanger mit auffallend milden Strafen davonkommen, zum Teil sogar die bürgerlichen Ehrenrechte (und damit das aktive und passive Wahlrecht) behalten, solange sich immer wieder aufs neue herausstellt, daß unser Staatsapparat bis in die leitenden Stellen hinein mit ehemaligen Angehörigen der NS-Mordorganisationen durchsetzt ist, wird sie mit Recht im Mißtrauen beharren.

Würden wir die Strafverfolgung der NS-Verbrecher einstellen, so blieben zwangsläufig viele von ihnen unentdeckt und säßen weiterhin unangefochten in Schlüsselstellungen der Polizei bzw. im sonstigen Staatsdienst. Welche Gefahren für unseren Rechtsstaat damit verbunden wären, zum Beispiel im Falle rechtsradikaler Unterwanderungs- oder Umsturzversuche, dürfte sich jeder selbst ausmalen können.

Und wie könnten wir überhaupt noch die Stirn haben, über einen Dieb oder einen Betrüger zu Gericht zu sitzen, wenn wir jene Massenmörder ungeschoren ließen? Ihre konsequente Verfolgung und Verurteilung zu Strafen, die der Ungeheuerlichkeit ihrer Taten angemessen sind, ist aber vor allem deshalb unerläßlich, weil allen, die je wieder versucht sein könnten, sich zum willfährigen Werkzeug eines Terrorregimes zu machen, drastisch vor Augen geführt werden muß, daß jeder, der dieser Versuchung nachgibt, unnachsichtig zur Rechenschaft gezogen wird, sobald das Regime ihn nicht mehr zu schützen vermag.

Schließlich muß das ganze Ausmaß und die ganze Ungeheuerlichkeit der NS-Verbrechen ans Tageslicht gebracht werden, damit jedermann sieht, wohin es führen kann, wenn die Schranken des Rechtsstaats niedergerissen werden, und damit jeder Versuch, das NS-System zu verharmlosen und dem Volke die Rückkehr zu diesem oder einem ähnlichen System schmackhaft zu machen, im Keime erstickt wird. Auch deshalb dürfen wir nicht auf die restlose Aufklärung der Wahrheit verzichten.

 

Freilich begegnet die Justiz bei der Aufklärung und Aburteilung von NS-Verbrechen erheblichen Schwierigkeiten. Die Taten liegen rund 20 Jahre zurück. Selbst gutwillige Zeugen können daher mitunter nur noch lückenhafte Angaben machen, weil vieles bereits ihrem Gedächtnis entfallen ist. Ferner liegt es in der Natur der Sache, daß es überhaupt schwierig ist, brauchbare Zeugen zu finden. Die meisten der Opfer sind tot, die Überlebenden in alle Winde zerstreut und zum Teil nur schwer oder gar nicht mehr zu ermitteln. Trotzdem ist es der Zentralen Stelle in Ludwigsburg und den übrigen Staatsanwaltschaften im Verein mit den Sonderkommissionen der Polizei in zäher Kleinarbeit gelungen, unzählige davon ausfindig zu machen und zu vernehmen. Die deutschen Zeugen sind nicht selten ehemalige Kameraden der Beschuldigten und schweben dann bei wahrheitsgemäßer Aussage möglicherweise in der Gefahr, unversehens selber zu Beschuldigten zu werden.

Doch finden sich auch viele ehemalige Angehörige unverdächtiger deutscher Besatzungsdienststellen als Zeugen, die keinen Grund haben, mit der Wahrheit hinter dem Berge zu halten. Viele Beschuldigte behaupten, nur deshalb mitgemacht zu haben, weil sie im Weigerungsfalle für ihr eigenes Leben gefürchtet hätten. Bei den Mannschaftsdienstgraden wird man das nicht ohne weiteres von der Hand weisen können, während bei der Führerschaft der NS-Mordorganisationen, die sich naturgemäß aus bewährten Gefolgsleuten des Regimes zusammensetzte, von einem solchen „Befehlsnotstand“ normalerweise keine Rede sein kann. Es ist bisher jedenfalls noch kein einziger Fall festgestellt worden, wo jemand, der sich weigerte, an den Mordtaten teilzunehmen, deswegen bestraft oder gar erschossen worden ist. Vielmehr sind solche Fälle dadurch erledigt worden, daß der Betreffende als „zu weich“ von seinem Dienst abgelöst und anderweitig verwendet wurde. Diese Umstände machen einen einwandfreien Schuldnachweis oft schwer, aber, wie die erreichten Resultate zeigen, keineswegs unmöglich. Sie rechtfertigen es daher nicht, „die Dinge endlich ruhen zu lassen“.

Nach alledem ist dieses Ansinnen zurückzuweisen. Seine gleisnerische Natur ergibt sich übrigens schon aus dem Worte „endlich“, das den Anschein erweckt, als ob man erst in letzter Zeit der Verfolgung der NS-Verbrecher überdrüssig geworden sei, sie also ursprünglich gebilligt habe. Die Kreise, aus denen das Ansinnen zu kommen pflegt, haben sich jedoch zu keiner Zeit an der Aufdeckung der NS-Verbrechen und der Bestrafung der Täter interessiert gezeigt.

 

Aktion Sühnezeichen

Die Verachtung der Juden bis hin zu ihrer völligen Ausrottung wollen einige Christen mit entschlossenem Willen zur Versöhnung sühnen. Wir zitieren darum zweitens einen Auszug aus dem Aufruf zur Gründung der Aktion Sühnezeichen von Präses Kreyssig vom April 1958: „Wir Deutschen haben den zweiten Weltkrieg begonnen und schon damit mehr als andere unmeßbares Leiden der Menschheit verschuldet; Deutsche haben in frevlerischem Aufstand gegen Gott Millionen von Juden umgebracht. Wer von uns Überlebenden das nicht gewollt hat, der hat nicht genug getan, es zu verhindern. Wir haben vornehmlich darum noch immer keinen Frieden, weil zu wenig Versöhnung ist. Dreizehn Jahre sind erst in dumpfer Betäubung, dann in neuer angstvoller Selbstbehauptung vergangen. Es droht zu spät zu werden. Aber noch können wir, unbeschadet der Pflicht zu gewissenhafter politischer Entscheidung, der Selbstrechtfertigung, der Bitterkeit und dem Haß eine Kraft entgegensetzen, wenn wir selbst wirklich vergeben, Vergebung erbitten und diese Gesinnung praktizieren. Des zum Zeichen bitten wir die Völker, die Gewalt von uns erlitten haben, daß sie uns erlauben, mit unseren Händen und mit unseren Mitteln in ihrem Land etwas Gutes zu tun, ein Dorf, eine Siedlung, eine Kirche, ein Krankenhaus oder was sie sonst Gemeinnütziges wollen, als Versöhnungszeichen zu errichten ...“.

Mit dem Aufruf zur Aktion Sühnezeichen bekommen junge Leute einen besonderen Auftrag. Sie haben die Zeit des „Dritten Reiches“ nicht miterlebt. Es ist für sie eine Geschichtsepoche, zu der der einzelne keine persönliche Beziehung mehr haben kann. Durch den Aufruf wird aber jeder in einen Geschichtszusammenhang gestellt, der die Frage nach der Mitverantwortung und Schuld des deutschen Volkes aufwirft.

In diesen Geschichtszusammenhang hineingestellt zu sein kann indessen nicht heißen, daß sich jeder Deutsche mit Schuld zu belasten hat, ohne sie nachfühlen zu können. Hinter aller Geschichte stehen Menschen, und denen gegenüber könnte es wichtig sein, Mitgefühl zu haben, denn durch sie wird Geschichte lebendig. Mitgefühl zu haben könnte hier bedeuten, dem anderen zuzuhören, geduldig zuzuhören, ohne gleich die Frage zu stellen, die sehr schnell als Vorwurf klingt: Warum hast du nichts dagegen getan? Diese Frage, an. die ältere Generation gestellt, hat gleichfalls eine Bedeutung für die Gegenwart. Durch sie werden heute alle gefragt, wie bewußt sie Berichte und Ereignisse aus der Umwelt aufnehmen, wie stark sie Ungerechtigkeiten mitempfinden können, ob sie Minderheiten und deren Situation kennen und viele Fragen mehr.

So bringen ältere Juden durch ihre eigene, ganz persönliche Geschichte Erfahrungen mit, die als solche große Anfragen an die Deutschen stellen. Viele Berichte und Bücher, wie z. B. „Kennzeichen J“ und „Die Synagoge in der deutschen Geschichte“, beide von Helmut Eschwege, können von uns als Dokumentation gelesen werden, wie Deutsche mit einer organisierten Vernichtung die Juden ausrotten wollten und damit brutal in jede Familiengeschichte eingegriffen haben. Solches Wissen überschattet heute alle persönlichen Kontakte zu Juden. Die Kontakte bedürfen deshalb eines besonderen Einfühlungsvermögens.

Für Aktion Sühnezeichen sehen wir hier immer wieder eine besondere Aufgabe: Für jeweils 14 Tage im Sommer oder durch Wochenendeinsätze im Laufe des Jahres gehen Gruppen unterschiedlichen Alters und verschiedener Konfessionen aus dem In- und Ausland auf die jüdischen Friedhöfe und helfen dort den Mitarbeitern. Vorrangig geht es um gärtnerische Arbeiten, die für die Pflege und Erhaltung der Friedhöfe wichtig sind. Durch die Einsätze auf den Friedhöfen in Berlin, Dresden, Gotha, Nordhausen und Dessau halten wir Kontakte zu den jüdischen Gemeinden. Sie sind für unsere Arbeit sehr wichtig geworden.

 

 

Stolpersteine Maintal

 

Wachenbuchen: Alt Wachenbuchen 40

Hier wohnte Mathilde Strauß geborene Strauß, geboren am 4. Juli 1868 in Meerholz, umgezogen am 31. Juli 1939 nach Frankfurt, umgebracht am 21. November 19451 in Lodz

 

Hier wohnte Arthur Strauß, geboren am 8. Februar 1894 in Wachenbuchen, umgezogen am 31. Juli1939 nach Frankfurt, umgebracht am 10. Mai 1942 in Lodz

 

Hier wohnte Henny Strauß, geboren am 12. Oktober 1896, umgezogen am 31. Juli1939 nach Frankfurt, verschollen, wahrscheinlich umgebracht.in Lodz

 

Hochstadt: Ritterstraße 11

Hier wohnte Sally Katz, geboren am 3. November 1887 in Hochstadt, verschleppt am 30. Mai.1942, umgebracht im Osten, vielleicht in Majdanek          

 

Hier wohnte Recha Katz geborene Kahn, geboren am 3. Jul 1886 in Nieder-Flor­stadt, verschleppt am 30. Mai 1942, umgebracht im Osten, vielleicht in Sobibor

 

Hier wohnte Lina Katz, geboren am 4. Oktober 1899 in Hochstadt, später in Bingen verheiratete Kahn, umgebracht im Osten

 

Hier wohnte Leopold Katz, geboren am 15. Mai 1928 in Frankfurt, geflohen am 15. November 1938 nach Holland, später in Jerusalem

 

 

Dörnigheim: Frankfurter Straße 9

Hier wohnte Isaak Schönfeld, geboren am 14. Februar 1861 in Dörnigheim, umgebracht am 27. April 1943 in Theresienstadt. Es überlebten die Töchter Berta Beck und Rosa Knieling                                                           

Hier wohnte Lina Schönfeld, Tochter Isaak Schönfelds, geboren am 16. Mai 1890 in Dörnigheim, verschleppt im Mai 1942 und umgebracht am 31. Mai 1942                     

 

Hier wohnte Johanna Brouwer, geboren am 8. Dezember 1894 in Dörnigheim, später in Köln-Brück, Schicksal unbekannt, umgebracht im Osten.

 

Hier wohnte Paula Hofmann geborene Schönfeld, geboren am 9. Juli 1898 in Dörnigheim, später in Dietesheim,             umgebracht am 5. Dezember 1943 in Auschwitz

 

Hier wohnte Hermann Schönfeld, geboren am 24. Oktober 1900 in Dörnigheim,

verzogen am 31. Juli 1941 nach Frankfurt, (verschleppt am 22. November 1941), gestorben 1941 in einem Konzentrationslager im Osten.

 

Hier wohnte Rosi Schönfeld geborene Schuster, geboren am 3. Oktober 1906 in Altenstadt, verzogen am 31. Juli 1941 nach Frankfurt, (verschleppt am 22. November 1941), umgebracht 1941 in einem Konzentrationslager im Osten

 

Hier wohnte Horst Schönfeld, geboren am 17. Januar 1930 in Hanau, verschleppt am 22. November 1941, erschossen am 25. November 1941 in Kaunas (Litauen)

 

Hier wohnte Gerhard Schönfeld, geboren am 11. Juli 1931in Dörnigheim, verschleppt am 22. November 1941, erschossen am 25. November 1941 in Kaunas (Litauen)

 

Bischofsheim: Niedergasse 1

Hier wohnte Hermann Goldschmidt, geboren am 27.Oktober 1890, umgezogen 1941 nach Frankfurt, ausgewandert nach New York

 

Hier wohnte Leopold Blumenthal, geboren am 10. Juli 1878 in Kirchbracht, Schicksal unbekannt, umgebracht vielleicht in Lodz.                              

 

Hier wohnte Bertha Blumenthal geborene Goldschmidt, geboren am 5. April 1878 in Bischofsheim, verschleppt am 5. September 1943, gestorben (nach der Befreiung) am 19. Mai 1945 in Theresienstadt

 

Hier wohnte Manfred Blumenthal, geboren am 27. Oktober 1906 in Bischofsheim, verheiratet in Wesenheim, später in New York

                                  

Hier wohnte Hugo Blumenthal, geboren am 29. Dezember 1907 in Bischofsheim, (inhaftiert im Konzentrationslager Buchenwald), umgezogen am 15. November 1940 nach Frankfurt, Schicksal unbekannt

 

(Die Textstellen in Klammern könnten bei Platzmangel weggelassen werden)

 

Inzwischen sind weitere Stolpersteine verlegt worden

 

Leserbrief: Ist es schon wieder so weit?

Zu den Leserbriefen von Frau Schall und Frau Romeiser

Das hat gerade noch gefehlt, daß sich zu der Aktion des Arbeitskreises „Brüder-Schönfeld“ jetzt Menschen zu Wort melden, die gar nicht betroffen sind. Die heutigen Bewohner der Häuser sind vorher schriftlich und zum Teil mündlich informiert worden. Es hat keiner Einwände erhoben. In Hochstadt haben sich die heutigen Eigentümer für die Information bedankt und ausdrücklich gesagt, sie hätten nichts dagegen. In Wachenbuchen war der Besitzer des Hauses anwesend, in Dörnigheim kamen zwei Bewohner des Hauses zur Verlegung der Steine dazu. In Bischofsheim wohnen Ausländer in dem Haus.

Außerdem ist den späteren Eigentümern der jüdischen Häuser kein Vorwurf zu machen. Sie haben nichts mit den Naziverbrechen zu tun und sich nicht aktiv an der der Vertreibung oder Verschleppung der Juden beteiligt. Sie haben nur das Haus vom Staat (!) gekauft, zu dem vom Staat geforderten Preis. Außerdem ist der Kaufpreis nach dem Krieg überprüft worden und in manchen Fällen ist noch Geld nachbezahlt worden. Der Erwerb der Häuser war also völlig legal. Es besteht kein Grund, sich dafür zu schämen, daß man in einem Haus wohnt, das früher Deutschen mit jüdischem Glauben gehörte. Was sollte man also diesen Eigentümern antun, wenn man vor dem Haus auf öffentlichem Gelände ein kleines Denkmal setzt für Menschen, für die es keinen Grabstein gibt?

Die kleinen Messingplatten werden „Stolpersteine“ genannt, damit man beim Vorübergehen nicht im wörtlichen Sinn darüber stolpern soll, aber erinnert wird an frühere Einwohner, denen schweres Unrecht geschehen ist. Daß dies nicht vergessen wird, ist der Sinn dieser Steine. Die Steine sind nicht wie ein Denkmal an einem weit entfernten Ort, sondern liegen am Ort des Geschehens.

 

Entwurf: Ist es schon wieder so weit?

Zu den Leserbriefen von Frau Schall und Frau Romeiser vom 12. und 14. März

Das hat gerade noch gefehlt, daß sich zu der Aktion des Arbeitskreises „Brüder-Schönfeld“ jetzt Menschen zu Wort melden, die gar nicht betroffen sind. Die heutigen Bewohner der Häuser sind vorher schriftlich und zum Teil mündlich informiert worden. Es hat keiner Einwände erhoben. In Hochstadt haben sich die heutigen Eigentümer für die Information bedankt und ausdrücklich gesagt, sie hätten nichts dagegen. In Wachenbuchen war der Besitzer des Hauses anwesend, in Dörnigheim kamen zwei Bewohner des Hauses zur Verlegung der Steine dazu. In Bischofsheim wohnen Ausländer in dem Haus.

Außerdem ist den späteren Eigentümern der jüdischen Häuser kein Vorwurf zu machen. Sie haben nichts mit den Naziverbrechen zu tun und sich nicht aktiv an der der Vertreibung oder Verschleppung der Juden beteiligt gewesen. Es gibt nur einen Fall in Maintal. Wo ein Mieter darauf gedrängt hat, die jüdischen Hauseigentümer zu vertreiben. Aber die neuen Eigentümer haben nur das Haus vom Staat (!) gekauft, zu dem vom Staat geforderten Preis. Kein Käufer wird doch sagen: „Ich halte den Preis für ungerecht, ich zahle freiwillig mehr!“ Das Geld wäre ja sowieso nicht den früheren Eigentümern zugute gekommen.

Außerdem ist der Kaufpreis nach dem Krieg unter rechtsstaatlichen Verhältnissen überprüft worden. Einige haben auch noch etwas nachgezahlt. Der Erwerb der Häuser war also völlig legal. Es besteht kein Grund, sich dafür zu schämen, daß man in einem Haus wohnt, das früher Deutschen mit jüdischem Glauben gehörte. Was sollte man also diesen Eigentümern antun, wenn man vor dem Haus auf öffentlichem Gelände ein kleines Denkmal setzt für Menschen, für die es keinen Grabstein gibt?

Die kleinen Messingplatten werden „Stolpersteine“ genannt, damit man beim Vorübergehen nicht im wörtlichen Sinn darüber stolpern soll, aber erinnert wird an frühere Einwohner, denen schweres Unrecht geschehen ist. Daß dies nicht vergessen wird, ist der Sinn dieser Steine. Die Steine sind nicht wie ein Denkmal an einem weit entfernten Ort, sondern liegen am Ort des Geschehens.

Als eine Hochstädter Familie 1938 in das Haus einer jüdischen Familie als Mieter (nicht Eigentümer) einzog, hat man ihr die Fenster eingeworfen. Ist es schon wieder eine Schande, in einem früheren „Juden-Haus“ zu wohnen?

 

 

Feste

 

Das jüdische Jahr

Die israelitische und auch noch die jüdische Zeitrechnung gehen vom Mondjahr und nicht vom Sonnenjahr aus. Ein Mondumlauf dauert knapp 29 ½ Tage. Der Monatsbeginn wurde früher in Israel durch Beobachtung des Himmels ermittelt. Sichteten zuverlässige Zeugen die Mondsichel am Vorabend des 30. Tages – der Tag fing ja am Vorabend an – so wurde dieser Tag als erster des neuen Monats bestimmt. War es nicht der Fall, so zählte der 30. noch zum alten Monat. Durch Boten und Signale wurde die Nachricht des Monatsbeginns verbreitet. Für weiter entfernte Gemeinden, die nicht signalisiert werden konnten. blieb hier eine Unsicherheit. Darum hielten die Gemeinden der Diaspora, da die Festtermine ja von den Monatsbeginnen abhängig sind, immer zwei Festtage statt eines Festtages. Dabei ist es bis heute geblieben.

Zwölf Mondmonate ergeben noch lange kein Sonnenjahr. Um die Zeitdifferenz auszugleichen, mußte etwa alle drei Jahre ein Zusatzmonat eingeschaltet werden. Dieser Zusatzmonat fällt nun nicht etwa an das Jahresende im Herbst, sondern in das Frühjahr. Dies ist darauf zurückzuführen, daß Israel vorübergehend, seit den Zeiten der babylonischen Vorherrschaft. babylonischem Vorbild folgend, den Neujahrstermin ins Frühjahr verlegt hatte, an den Beginn des Monats Nisan, der unserem März/April entspricht. Verdoppelt wurde gegebenenfalls der Vormonat Adar, und das wurde auch später noch beibehalten.

 

Das Festjahr

Die Gemeinsamkeiten von Kirche und Judentum erklären sich daraus, daß die Kirche einst aus dem Judentum hervorgegangen ist. Jesus und seine Jünger waren Juden, und sie feierten selbstverständlich die Feste der jüdischen Gemeinde mit und begingen mit ihr den Sabbat. Die mit diesen Feiertagen verbundenen Gebete und Gesänge begleiteten sie in ihrem Leben, und sie nahmen die in ihnen enthaltenen Glaubensaussagen in sich auf. Das letzte Mahl, das Jesus mit seinen Jüngern einnahm und auf Grund dessen wir das Abendmahl feiern, war nach den Zeugnissen der Synoptiker ein Passamahl. Das Pfingstereignis geschah an dem folgenden großen jüdischen Fest, dem Wochenfest. '2u dem Menschen nach Jerusalem zu pilgern pflegen. So rührt die Beschäftigung mit jüdischen Festen auch an den Ursprung christlicher Feste.

Christliche Glaubenserfahrung führte im Raum der Kirche auch zu einer Umgestaltung des Festjahres. Nur diejenigen jüdischen Feste, an denen entscheidende, den Glauben an Jesus Christus begründende Ereignisse geschehen waren, feierte die christliche Gemeinde weiter, und sie feierte sie in neuer Weise.

Der jüdische Festkalender, wie er heute vorliegt, ist eine historisch gewachsene Größe. Grundlage sind die Feste des alten Israels. Aber es läßt sich schon im Alten Testament eine Entfaltung und Umgestaltung des Festkalenders beobachten. Neue Feste kamen hinzu, und diejenigen, welche man seit jeher gefeiert hatte, bekamen eine immer tiefere religiöse Sinndeutung. Dieser Prozeß setzte sich auch nach Abschluß des biblischen Kanons fort.

Die israelitisch-jüdische Glaubenserfahrung war und ist ein lebendiger Prozeß, und dieser Prozeß führt zu einer ständigen Umgestaltung des Festkalenders. Am Anfang standen die alten Erntefeste mit ihrem Dank für Gottes Gaben. Sie erhielten einen vertieften Ideengehalt durch den Bezug auf grundlegende Ereignisse aus der alten Errettungs- und Führungsgeschichte Israels: Errettung aus Ägypten, Gesetzgebung am Sinai und Bewahrung beim Wüstenzug. Weitere Feste traten hinzu, in denen entscheidende religiöse Erfahrungen – Gottes Gericht, menschliche Buße und göttliche Vergebung – ihren Ausdruck fanden: Neujahr und Versöhnungstag. Eine noch später hinzugekommene Gruppe von Festen hat politische Ereignisse zum Anlaß, in denen Gottes Führung gesehen wird. Es handelt sich hier nicht nur um Chanukka und den 9.Ab, sondern auch um Purim, obwohl es unserem Verständnis nach nicht auf einem Geschichtsereignis, sondern auf einer Legende fußt; denn einst hat man das Buch Ester gewiß als Geschichtsbericht angesehen.

 

Die Hauptfeste des jüdischen Jahres (in der Diaspora):     

Tischri                      

1. - 2.     Neujahrsfest (Sept./Okt.)

10.    Versöhnungstag

15.-22.   Laubhüttenfest

   23.      Gesetzesfreude

Kislew                         25.-2.  Tebet Chanukka (Nov./Dez.)

 

Adar                               13.     Fasten Ester (Febr./März)

                                    14.-15. Purimfest

Nisan                          15.-22. Passa (März/April)

Siwan                          6.- 7.  Wochenfest (Mai/ Juni)

Ab                                   9.     Fasttag des 9. Ab (Juli/Aug.)

 

Im Schaltjahr, d. h. wenn der Monat Adar verdoppelt wird, feiert man die in ihn fallenden Feste (Fasten Ester und Purim) erst im Adar II.

 

Die Feste Altisraels

Die Feste Altisraels waren vom Arbeitsleben der Hirten und Bauern bestimmt. Aus der frühesten Zeit Altisraels, da die Israeliten noch nicht ansässig waren, sondern als Hirten umherzogen, stammt das Passafest. Begangen wurde es im Frühjahr, wenn in der Steppe die Gräser, die durch den Herbst- und Winterregen aufgesprossen waren, zu verdorren begannen und die Wanderhirten mit ihren Ziegen- und Schafherden zum Kulturland aufbrachen, wo sie die Trockenzeit überstehen konnten.

Passah (Pesach) mit dem vorausgehenden Sederabend beginnt am Vorabend des 15. Nisan, hat seinen Höhepunkt in der Vollmondnacht dieses Frühlingsmonats (März/April) und dauert bis zum 22. Nisan. Die zeitliche Ausdehnung dieses Festes, das seinem Ursprung nach ein Fest des Aufbruchs ist und nur aus der einen nächtlichen Feier bestanden hatte, erklärt sich daraus, daß das ursprünglich selbständige Fest des ersten Gerstenschnitts, Mazzot, allmählich in Passa aufgegangen ist. Dieser Prozeß begann bereits in alttestamentlicher Zeit; zur Zeit der Abfassung des Neuen Testaments sah man Passa-Mazzot als ein Fest an, das man entweder „Passa-Fest” (Lukas 2,41) oder „Fest der ungesäuerten Brote” (Lukas 22,17) nannte.

Die Mischna schließlich enthält zwar einen Traktat über Passa (Pesachim), aber keinen über Mazzot und spricht nur noch von „ Passa”. Zum Passamahl gehört auch der Verzehr der ungesäuerten Brote (Matzen), aber das Getreide hierfür muß nicht, wie beim alten Mazzotfest, aus der neuen Ernte stammen. Man verzehrt sie, entsprechend der Passa-Perikope des Alten Testaments (zu Mose 1 2,8), im Gedanken an die Notsituation beim Auszug aus Ägypten (Pesachim 10,5).

Der Sinngehalt der beiden miteinander verbundenen Feste wird also deutlich von Passa bestimmt. Der ursprüngliche Sinn des Passafestes, die Begehung des Weidewechsels; ist durch die alttestamentliche Wissenschaft erst erschlossen worden. Bezeugt im Alten Testament ist nur ein Sinn von Passa: die Vergegenwärtigung des Heilsereignisses der Errettung aus Ägypten.

Dieser mehrschichtige Vorgang - die Beziehung von Passa auf ein Rettungsereignis in Israels Geschichte und das Aufgehen eines alten Erntefestes in das Passafest und seine Unterstellung unter dessen Ideengehalt - entspricht dem Wachsen und Werden israelitisch-jüdischen Glaubens. Das alte Israel hatte seinen Gott vor allem als Spender von Fruchtbarkeit und Gedeihen erlebt. Die Gotteserfahrung Israels war aber dann - vor allem durch die Propheten vermittelt - weit über diesen Bereich hinausgegangen. Das führte zu einer vertieften religiösen Deutung der Feste, so daß sich in ihnen alles das aussprechen konnte, was das Glaubensleben ausmachte: Sünde und Gnade, Rettung und Bewahrung, Mitteilung der Gebote und Gehorsam gegenüber den Geboten.

Ansatzpunkte dafür boten Ereignisse aus der alten Errettungs- und Führungsgeschickte Israels. Passa hatte schon frühzeitig einen solchen Ansatzpunkt gefunden. Was lag näher, als daß Mazzot, das zeitlich Passa benachbart war, davon mit vereinnahmt wurde?

Die Passa-Perikope des Alten Testaments (2. Mose 11,1 - 13,16) läßt das Passamahl im Zusammenhang mit dem eiligen Aufbruch aus Ägypten erfolgen. Der Herr setzt zur letzen Plage an den Ägyptern an, der Tötung der Erstgeburt. Die Israeliten werden angewiesen, während der Nacht des Verderbens in den Häusern zu bleiben, pro Familie ein Stück Kleinvieh zu schlachten und gemeinsam zu verzehren, mit dem Blut des geschlachteten Tieres aber die Haustüren zu bestreichen, damit der Verderber nicht hineingelangen kann. Als dann das Unheil losbricht, erfaßt es die Ägypter, die Israeliten aber werden bewahrt. Zum Passamahl verzehren sie ungesäuerte Brote mit bitteren Kräutern ; sie sind dabei marschbereit, haben den Gürtel umgeschnallt, die Sandalen an den Füßen und den Stab zur Hand, so daß sie dann, als die Plage unter den Ägyptern ihnen die Chance gibt, sofort aufbrechen können.

 Eingeschoben in die oben skizzierte Haupthandlung sind in den Text Reflexionen, Rückblicke und Vorausblicke. Manches davon setzt den Passabrauch der späteren Gemeinde voraus. Darunter sind die Kinderfragen besonders kennzeichnend, die mit Erklärungen beantwortet werden. Die erste dieser Fragen steht in 2. Mose 12,26 und bezieht sich auf das Schlachten des Passalammes sowie das Bestreichen der Türpfosten mit Blut Die Antwort (V. 27f.) lautet: „Es ist das Passaopfer für den Herrn, der an den Kindern Israels vorüberging in Ägypten, als er die Ägypter schlug und unsere Häuser errettete.”

Eine Kinderfrage steht wohl auch hinter der Anweisung an den Hausvater, seinem Sohn den Sinn der Matzen zu erklären (2. Mose 13,8): „Das halten wir um dessentwillen, was uns der Herr getan hat, als wir aus Ägypten zogen.” Ergänzt wird diese Auskunft durch 5. Mose 16, 3, wo die ungesäuerten Brote als „Brot des Elends“ bezeichnet werden, weil Israel in ängstlicher Hast aus Ägypten weggezogen sei. Ein Mahl im Familienkreis mit ungesäuerten Broten und Bitterkräutern und dem Verzehr eines Lammes bzw. eines Stückes hiervon bei ständiger Erinnerung an den Aufbruch aus Ägypten: Das ist das Passamahl bis heute geblieben. Erzählungen des Rettungsgeschehens durch den Hausvater, Fragen der Kinder nach dem Sinn der einzelnen Bräuche und deutende Worte des Hausvaters: Das waren und das sind auch heute noch wesentlichen Bestandteile der häuslichen Feier.

Die häusliche Feier wird Seder genannt, weil sie nach einer bestimmten Ordnung (= Seder) stattfindet. Man hält sie an den beiden ersten Abenden des Festes ab. Sein zentraler Ideengehalt ist die Befreiung aus der Knechtschaft. Es wird dabei nicht nur in die Vergangenheit geschaut, sondern auch in die Zukunft. „Nächstes Jahr in Jerusalem” ist der abschließende Gruß der Passa-Liturgie. Damit ist ein Ausblick in die messianische Zeit gegeben. Ein auf dem Tisch stehender gefüllter Becher darf nicht geleert wenden. Er ist für den wiederkommenden Elia bestimmt, der in Verkleidung eines fremden Gastes erscheinen kann.

Für den Seder-Abend wurde der lange Tisch im Wohnzimmer aufgestellt und hergerichtet, und vielleicht mußte das Zimmer für diese Gelegenheit so lang sein, der Tisch faßte sehr viele Gäste. Die ganze Familie war für den Seder-Abend versammelt, der in unserem Hause gefeiert wurde. Es war Sitte, zwei, drei fremde Leute von der Straße hereinzuholen, die an die Festtafel gesetzt wurden und an allem teilnahmen. Am obersten Ende saß der Großvater und las die Haggadah, die Geschichte vom Auszug der Juden aus Ägypten. Es war sein stolzester Augenblick: nicht nur war er über seine Söhne und Schwiegersöhne gesetzt, die ihm Ehre erwiesen und seine Anweisungen alle befolgten, er, der Älteste, mit seinem scharfen Raubvogelkopf, war auch der Feurigste von allen, nichts entging ihm, während er im Singsang las, bemerkte er die geringste Bewegung, jeden kleinsten Vorgang im Tisch und sah durch einen Blick oder durch eine leichte Handbewegung nach dem Rechten. Es war alles sehr warm und dicht, die Atmosphäre einer uralten Erzählung, in der alles genau vorgebildet war und seine Stelle hatte. An den Seder-Abenden bewunderte ich den Großvater sehr, und auch seine Söhne, die es mit ihm nicht leicht hatten, schienen gehoben und heiter.

Als der Jüngste hatte ich meine eigene, nicht unwichtige Funktion, ich mußte das „Ma-nischtanah” sagen. Die Erzählung vom Auszug aus Ägypten ist eingekleidet in die Frage nach dem Anlaß des Festes. Der Jüngste der Anwesenden fragt gleich zu Beginn, was diese Vorrichtungen alle bedeuten: das ungesäuerte Brot, die bitteren Kräuter und die anderen ungewohnten Dinge auf der Tafel. Der Erzähler, in diesem Falle der Großvater, beantwortete die Frage des Jüngsten mit der ausführlichen Geschichte des Auszuges aus Ägypten. Ohne meine Frage, die ich auswendig hersagte, wobei ich das Buch in der Hand hielt und mich stellte, als ob ich lese, konnte die Erzählung nicht beginnen. Ihre Einzelheiten waren mir bekannt, man hatte sie mir oft erklärt, aber mich verließ während der ganzen Verlesung nicht das Gefühl, daß der Großvater mir auf meine Frage antwortete. So war es auch für mich ein großer Abend; und ich kam mir wichtig, ja unentbehrlich vor, es war ein Glück, daß es keinen jüngeren Vetter gab, der mich von dieser Stelle verdrängt hätte. Aber obwohl ich jedem Wort und jeder Bewegung des Großvaters folgte, freute ich mich während der ganzen Dauer der Verlesung auf das Ende. Denn da kam das Schönste: die Männer standen alle plötzlich auf und tanzten ein wenig umher und sangen tanzend zusammen „Had gadja, had gadja” - „Ein Lämmlein, ein Lämmlein”. Das war ein lustiges Lied, und ich kannte es schon gut, aber es gehörte dazu, daß ein Onkel mich zu sich heranwinkte, sobald es zu Ende war, und mir jede einzelne Zeile davon ins Spanische übersetzte (Aus Elias Canetti: „Die gerettete Zunge”, Verlag Volk und Welt, Berlin 1979, S. 41f.)

 

Pesach und Sederabend

Zu Pesach wird der Auszug der Israeliten aus der Sklaverei der Ägypter gefeiert. Es soll daran erinnert werden, wie wichtig es ist, den Kampf für die Freiheit in jeder Generation fortzusetzen. Pesach war und ist an erster Stelle ein Familienfest, an dem den Kindern beigebracht wird, daß sie Juden sind.

Der Höhepunkt des achttägigen Pesachfestes ist der Sederabend (Seder bedeutet „Ordnung“). Der Sederabend wird streng nach der Haggada gefeiert. Der Hausherr, in seinem weißen Sterbegewand, leitet der Sederabend und sitzt auf einem mit Kissen belegten Stuhl. Vor ihm auf dem Tisch die Mazzot (ungesäuerte Brote) und der Sederteller, auf den Tellerchen liegen Karpes (ein grünes Kraut), Salzwasser, Maror (ein bitteres Kraut), Charoset (ein Mus aus Mandeln, Äpfeln, Feigen und Zimt, erinnert an Lehm), ein gebratenes Ei (weist hin auf die jüdische Unsterblichkeit), ein Knochen mit etwas Fleisch (Erinnerung an das frühere Pesachlammopfer).

Am Anfang des Abends hebt der Vater eine Mazze und sagt: „Siehe, das ist die Kost, die unsere Väter in Ägypten gegessen haben“. Das jüngste Kind stellt die Frage: „Ma nischtana...?“ (Warum ist heute abend alles anderes als an anderen Abenden?“

An diesem Abend trinken alle vier Gläser Wein. Am Ende des Abends öffnet man die Tür, denn vielleicht kommt in diesem Jahr Elia, der Vorläufer des Messias. Am Ende des Abends wünscht man sich „Nächstes Jahr in Jerusalem!“ Jeder feiert Sederabend als ob er selbst bei dem Auszug aus Ägypten dabei gewesen ist. Dies am eigenen Leib und Seele zu erfahren, ist das große Geheimnis des Sederabends.

 

Die Feier: Der Vater führt Michael in das Wohnzimmer und setzt sich. Michael bekommt feuchte Hände vor lauter Aufregung. „Michael, ich möchte dich gerne zu unserem diesjährigen Pessach-Fest einladen. Ich habe dazu eine Überraschung für dich: Da du der Jüngste in unserer Familie bist und für uns fast so etwas wie unser eigener Sohn, hast du in diesem Jahr die Aufgabe, mir die Fragen nach dem Auszug aus Ägypten zu stellen.“ Michael ist gleichzeitig erfreut und verwirrt: „Danke! Aber was soll ich denn fragen ...?“ „Sarah wird dir dabei helfen.“

In den nächsten Tagen ist Sarahs Familie damit beschäftigt, das Haus sauber zu machen. Als sich Michael beim Frühstück beschwert, daß es heute so komisches Brot gibt, das eigentlich nach nichts schmeckt, klärt Sarah ihn auf. „Es ist uns verboten, in der Pessach-Zeit gesäuertes, also normales Brot zu essen. Das hier sind sogenannte Mazzen. Sie werden ohne Sauerteig oder Hefe gebacken Wenn man sich einmal daran gewöhnt hat, ist es auch nur noch halb so schlimm. Bier darf auch nicht im Haus sein.“

Heute ist der große Tag! Gemeinsam mit Sarah überlegt sich Michael die Fragen, die er während des Essens stellen soll. Und noch etwas beschäftigt ihn: „Was soll ich eigentlich anziehen? Gibt es da auch eine bestimmte Vorschrift?“ Sarah grinst: „Nein, diesmal nicht, aber wir ziehen eigentlich immer unsere schönsten Kleider an.“ „Na“, denkt Michael, „ob mein neues T-Shirt wohl schick genug ist?“

In der Küche wird schon eine Weile kräftig gearbeitet. Sarah und Michael gucken in jeden Topf in der Hoffnung, etwas Leckeres abzustauben. Michael beobachtet, wie Sarah ihren Finger in eine braune Masse steckt und ihn genießerisch abschleckt. „Was ist das?“ Skeptisch betrachtet Michael die braune Masse. „Das ist Charosset, eine Masse aus Äpfeln, Mandeln, Rosinen, Zimt, Zucker und ein wenig Wein.“

„Finger weg“, ruft Esther lachend, „das brauchen wir noch! Ihr könnt lieber schon mal den Tisch mit dem schönen Geschirr decken!” Michael ist froh, etwas tun zu dürfen, damit die Zeit schneller umgeht.

Abends sitzt die ganze Familie um den festlich gedeckten Tisch. Michael wundert sich, denn an seinem Platz stehen vier Becher mit jeweils ein wenig Wein. Dazu entdeckt er noch einen weiteren Becher. „Der ist für den Propheten Elia“, erklärt Sarah. Michael betrachtet die Seder-Platte auf dem Tisch genauer. „Kannst du mir erklären, was diese einzelnen Zutaten zu bedeuten haben, Sarah?“

„Ja, klar Das Stück gebratener Knochen heißt Seroa und soll an das Pessach-Opfer erinnern. Das hart gekochte Ei, wir nennen es Beiza, erinnert an die Zerstörung des Tempels und an die Opfergaben, die bei jeder Wallfahrt dargebracht wurden. Das Bitterkraut oder Maror soll an die Bitterkeit der Sklavenarbeit erinnern. -Wie du siehst, ist es bei uns heute Meerrettich. Die Petersilie oder der Sellerie, auch Karpos genannt, soll an das Ysop erinnern, das benutzt wurde, um mit dem Blut der Opfertiere die Türpfosten zu markieren. Das Charosset kennst du ja schon, es symbolisiert die Lehmziegel, die das Volk Israel in Sklavenarbeit herstellen mußte. Das da in der Mitte ist eine Schale mit Salzwasser. Es soll an die Tränen und an den Schweiß erinnern, die in der Sklaverei vergossen wurden.“

Sarahs Vater steht auf und spricht einen Lobpreis über seinen Becher Wein. Danach wird ein Becher getrunken. Anschließend spricht er ebenfalls ein Gebet über die Mazze und teilt eine in zwei Hälften. Eine Hälfte wird verteilt. Sarah läßt die andere Hälfte nicht aus den Augen. „Achte darauf wo sie verschwindet! Meine Eltern werden sie später verstecken. Wer sie wieder findet, bekommt ein Geschenk!“

Bevor der zweite Becher Wein getrunken wird, muß Michael die vier Fragen stellen, die Sarah ihm genannt hat: „Was unterscheidet diese Nacht von anderen Nächten? Warum essen wir in dieser Nacht ungesäuerte Brote? Warum essen wir in dieser Nacht Bitterkräuter? Warum tauchen wir in dieser Nacht unsere Kräuter in Salzwasser?“ Michael ist sehr erleichtert, daß er nichts vergessen hat.

Der Vater holt die Haggada hervor. „Das ist das Buch, in dem der Auszug aus Ägypten beschrieben wird“, erklärt Sarah leise. Schon beginnt Sarahs Vater die Geschichte zu erzählen. In der Geschichte erlebt Michael das Abenteuer des Volkes Israel noch einmal. Er ist völlig hingerissen von der spannenden Erzählung des Vaters. Anschließend gibt es ein richtiges Festessen. „Ich kann nicht mehr“, stöhnt Michael und hält sich den Bauch.

„Mist“, sagt Sarah, „du hast jetzt auch nicht zufällig die zweite Hälfte der Mazze im Auge behalten?“ Michael schüttelt den Kopf. „Dann los, wir müssen sie suchen!“ Sarah springt sofort auf. „Denk an das Geschenk!“ Wie der Blitz saust Michael los und beginnt fieberhaft zu suchen. Fast im gleichen Moment fällt der Blick der beiden auf das Regalbrett über der Tür. „Da!“, schreien sie, stürzen auf das Stück Brot zu, das dort oben liegt und stoßen mit den Köpfen zusammen. „Au!“ „Na, das ist ja eine schöne Bescherung“, lacht der Vater, der im Türrahmen auftaucht, „jetzt muß ich mir ja zwei Geschenke ausdenken!“ „Wirklich ein lustiges Fest!“, brummt Michael und

reibt sich seinen Schädel.

 

Erntefeste

Die anderen altisraelitischen Feste waren reine Ackerbaufeste. Ihre Feier vollzog sich an den Heiligtümern, die es überall im Lande gab, und alle Männer waren verpflichtet, an diesen Festen zu ihrem Heiligtum zu ziehen (2. Mose 23, 14-17; 34, 23; 5. Mose 16, 16). Es handelt sich also um Wallfahrtsfeste. Ihre Reihe wurde mit dem Fest der Gerstenernte eröffnet. (Bei uns läge es im frühen Frühjahr - wenn sich die Felder begrünen; doch Palästina hat andere klimatische Verhältnisse). An diesem Fest, das sieben Tage lang begangen wurde, aß man die ersten Brote aus dem Mehl der neuen Ernte, die in ihrer noch nicht durch Sauerteig berührten Ursprünglichkeit verzehrt wurden. Nach diesen ungesäuerten Broten, den Matzen, wurde das Fest Mazzot genannt.

 

Abgeschlossen wurde die Getreideernte mit dem Fest der Weizenernte. Da es sieben Wochen nach dem Anfang von Mazzot begann – Palästina hat in dieser Jahreszeit eine gleichmäßige Witterung, und so kann man mit einem feststehenden Reifeabstand rechnen – wurde es Wochenfest genannt, Schabuot. Das Wochenfest (Schabuot) erfolgt 50 Tage nach dem Beginn von Passa, am 6. und 7. Siwan (Mai/Juni). Es hat lange nicht die Bedeutung wie Passa oder Laubhütten. Von seinem agrarischen Charakter, den es im alten Israel und noch im frühen Judentum gehabt hatte, ist heute – zumal in Ländern unserer Breiten, wo die Ernte weit später stattfindet – nur noch wenig zu spüren. Dafür tritt die in nachexilischer Zeit eingeleitete Verknüpfung mit der Offenbarung am Sinai – nach 2. Mose 19,1 sind die Israeliten in dem Monat, in den das Wochenfest fällt, am Sinai angekommen – stärker hervor. Nach dem Zeugnis des babylonischen Talmuds (Pesachim 68b) ist Israel am Wochenfest die Tora gegeben worden. Diese religiöse Füllung – die Gebotsmitteilung am Sinai – gibt dem Fest sein Gepräge.

 

Als größtes und bedeutendstes Erntefest folgte im Herbst das Fest der Weinlese. Es lag nach dem alten Festkalender an der Jahreswende (2. Mose 23,16; 34,22). Den drei Erntefesten ist die Freude über die geschenkte Gottesgabe gemeinsam (1. Mose 16).

 

Beim Herbstfest kommt aber noch etwas anderes hinzu, fällt es doch mit dem Ende der sommerlichen Trockenperiode zusammen. Die Regenzeit, welche den Umbruch des Ackers und neue Vegetation ermöglicht, kündigt sich an. Aber sicher ist das Eintreten des Regens nicht, und es gibt in Palästina auch trockene Herbste und Winter, die schlimme Hungersnöte zur Folge haben können. So tritt bei dem Herbstfest neben den Dank an Gott für die Erntefrucht auch die Bitte um Regen für das kommende Erntejahr.

 

Nach dem Festbrauch des Wohnens in Laubhütten wurde das Herbstfest „Laubhütten” genannt (Sukkot). Das Herbstfest mit seinem Doppelcharakter der Rückschau auf das abgelaufene Erntejahr und der Vorausschau auf das kommende markiert den entscheidenden Einschnitt in der Folge der Jahreszeiten für den palästinensischen Bauern. Es hat hiermit Neujahrscharakter. Israel hat den Übergang von dem einen Jahr ins andere ursprünglich wohl nicht punktuell gesehen, sondern mit dem siebentägigen Herbstfest begangen.

Einen ganz anderen Charakter hat das bald darauf, am 15. - 22. Tischri folgende Laubhüttenfest das bis heute wie schon zu biblischen Zeiten, Züge eines Erntedankfestes bewahrt hat und auf den Ton der Dankbarkeit für alle Gottesgaben gestimmt ist. Zurückgetreten ist nur die einst so wichtige Regenbitte, für die in den zumeist kühleren und feuchteren Ländern der Diaspora kein so dringlicher Anlaß besteht.

Mit dem Laubhüttenfest zieht ein Stück Natur ins jüdische Haus und in die Synagoge, der schon in 3. Mose 23,40 gebotene Feststrauß, aus Zitrusfrucht (Etrog), Palmwedel, Myrtenzweig und Bachweide bestehend. Einst hatte man diese Feststräuße, Lulab genannt, beim Tempelgottesdienst getragen und hin und her geschwungen, wenn während des Hallel (Psalm 113-118) die Worte fielen „danket dem Herrn, denn er ist freundlich und seine Güte währet ewiglich”, und dann wieder bei „ach Herr, hilf doch, ach Herr, gib doch Gelingen!” jetzt geschieht das in der Synagoge.

Doch Laubhütten ist mehr als nur ein Erntefest. Das an ihm gebotene Wohnen in provisorisch errichteten Lauben, die in Höfen und auf flachen Dächern aufgestellt werden, hat schon im Alten Testament einen Bezug auf die Geschichte Gottes mit seinem Volk bekommen. In 3. Mose 2 3,42f. wird das Wohnen in Hütten mit der Begründung angeordnet, „daß eure Nachkommen wissen, wie ich die Kinder Israel habe in Hütten wohnen lassen, als ich sie aus Ägyptenland führte, ich, der Herr, euer Gott.“ Dementsprechend wird zu Laubhütten des Wüstenzuges des Volkes Israel, gedacht, der Kärglichkeit des Lebens damals, aber auch der gnädigen Hilfe und Weisung Gottes auf diesem Wege.

 

„Laubhütten“ in Hessen

Die Denkmalpflege sieht sich in den letzten Jahren mehr und mehr zur Rettung der wenigen Reste jüdischen Kulturguts gefordert, die das Nazi-Regime und der Zweite Weltkrieg übriggelassen haben. Um so mehr verwundert es, daß es noch immer gebaute Dokumente jüdischer Religionsausübung gibt, von denen bisher weder die Denkmalpflege noch die Kunstwissenschaft Notiz genommen haben: die „Laubhütte“ oder „Sukkah“.

Da die „Laubhütte“ hier zum ersten Mal als Gegenstand der Denkmalpflege vorgestellt wird, sei es dem Autor erlaubt, zunächst einige allgemeine Informationen zu geben, bevor die wenigen bis heute erhaltenen bzw. bekannten Exemplare dieser Denkmalgattung vorgestellt werden.

I.. Die „Laube“ (vom germanischen Wort „louba“, Schutzdach aus Rinde) mit den daraus abgeleiteten Lehnworten „Loggia“ und „Loge“ kennzeichnet eine seit altersher gebräuchliche Architekturform, einen galerieartigen, an den Seiten offenen Raum, zumeist Anbau eines Hauses. Die lateinische Übersetzung lautet „Tabernaculum“ (Vocabularius Teutonicus, 1482) und bedeutet auch „Altarbaldachin“. Seit dem 16. Jahrhundert taucht auch die Bedeutung „Gartengebilde aus leichtem Lattenwerk“ auf, das schon im Mittelalter gleichermaßen als „Tabernaculum“ oder „Hag“ (zum Beispiel „Rosenhag“) bezeichnet wurde. Dies zum Sprachlichen.

Hier interessiert nur der spezifisch-jüdische Inhalt des Wortes „Laubhütte“, doch muß darauf hingewiesen werden, daß der gebaute Gartenraum als künstlerisches und religiöses Phänomen für eine umfassende Tradition in Orient und Antike steht. Dies kann hier nur angedeutet werden. Der Rahmen spannt sich von altägyptischen Tempel- und Grabarchitekturen über die „mythologischen Lauben“ der Ptolemäer, in denen Blumen, Früchte und Weihgeschenke dargebracht wurden, bis hin zu den „elysischen Weinlauben“ in etruskischen Gräbern. Die Reihe setzt sich nahtlos fort in römische und frühchristliche Zeit und bis in die Neuzeit. Die Laube war fast immer mit Vorstellungen vom Paradies und von der „Hütte Gottes“ verbunden.

Die Vorstellung von der aus Asten und Blättern gefertigten „Urhütte“ als Beginn alles menschlichen Bauens, wie sie bereits in italienischen Architekturtraktaten des 16. Jahrhunderts angeklungen ist, kehrt als Titelblatt in Laugiers berühmten „Essais sur l’architecture“ von 1753 wieder (Abb. 1).

Für unser Thema, die jüdische Laubhütte, sind vor allem diese Vorbilder wichtig: der tragbare Opferaltar und die Hütten der Juden während ihrer Wanderung in der Wüste und die Beschreibungen des Tempels Salomons im Pentateuch (Abb. 2).

II. Das „Laubhüttenfest“ (Sukkoth), ursprünglich wohl eine Art von Erntedankfest, ist nach der Gesetzgebung das dritte der großen jüdischen Feste. Es wird Anfang Oktober begangen und trägt seinen Namen von der uralten Sitte, dabei in sogenannten „Laubhütten“ (Sukkah) zu wohnen, die man in den Höfen, Straßen und Gärten oder auch in den Häusern und auf den Dächern erbaute. Dies im Gedenken an den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten (Leviten 23, 43; Nehemia 8, 14f.): „In Hütten sollt ihr wohnen sieben Tage“.

Maße und Aussehen der Hütte waren im Talmud exakt vorgeschrieben, ebenso die zeremoniellen Handlungen, die darin vorgenommen wurden, so zum Beispiel das Lesen der heiligen. Schriften (Thora), das feierliche Wasserschöpfen oder die abendliche Lichtfeier. „Sie verfertigen aber unter freyem Himmel eine Hütten, bedecken dieselbe mit grünem Laub ..., doch so, daß man noch die Sterne dadurch sehen kann“ (P. Chr. Kirchner. Jüdisches Ceremonial, 1724).

In der Regel wurden die Laubhütten eigens zum Fest im Herbst aus Latten und Zweigen errichtet und hinterher wieder abgerissen, wobei die Vorschriften des Talmud offenbar streng befolgt wurden, wie alte Abbildungen des 17. und 18. Jahrhundert zeigen (Abb. 3-6). Dies ist auch heute zumeist noch der Fall.

Doch gibt es auch Beispiele, wo die Laubhütten keine vorübergehenden Konstruktionen waren, sondern ständige bauliche Anlagen, die das Jahr über stehen blieben und auch benutzt wurden. Von diesen ist in diesem Aufsatz die Rede.

Es war früher wie noch heute vielfach üblich, eine große Laubhütte für die ganze Gemeinde im Hof der Synagoge zu erbauen. wo sie für die Dauer des Festes stehen blieb. Der Autor hatte selbst Gelegenheit, eine solche Laubhütte im Hof der Synagoge von Florenz zu besichtigen. Ebenfalls aus Italien sind zwei Synagogen bekannt, wo dauernde Installationen zur Ausschmückung einer solchen gemeinschaftlichen Laubhütte vorhanden sind: ein mit einem Luzernar gedecktes Vestibül bei der Synagoge von Modena, vor allem aber ein schöner Säulenportikus mit Holzgestänge und Drähten im Hof der Synagoge von Ferrara (Abb. 7), der alljährlich zum Fest mit Zweigen einer eigens zu diesem Zweck in Bordighera gezüchteten Palme („palma ebraica“) verkleidet wurde.

 

III. Es hat offenbar zu allen Zeiten auch schon Privatleute gegeben, die sich permanente Laubhütten errichtet haben. Dem Frankfurter Forscher Isidor Kracauer („Die Geschichte der Judengasse in Frankfurt am Main“, Frankfurt 1904) verdanken wir einen eindrucksvollen Bericht über die bedrängten und hygienisch katastrophalen Wohnverhältnisse der Juden, die seit 1462 in einem Ghetto, im früheren „Wollgraben“ außerhalb der Stadtmauern, zusammengepfercht auf engstem Raum leben mußten.

Der Grundplan der Judengasse von 1711 zählt beiderseits der engen, an den Enden jeweils durch Tore abgeschlossenen Gasse nicht weniger als 194 lange. schmale Parzellen, auf denen nicht nur vorn das Wohnhaus, sondern auch eine Unzahl von Schuppen und kleinen Nebengebäuden stand. Matthäus Merian vermittelt in seiner Stadtansicht von 1628 anschaulich den eklatanten Unterschied zwischen den Wohnverhältnissen der Christen und Juden (Abb. 8).

 

Kracauers Publikation enthält eine große Zahl von schriftlichen und bildlichen Dokumenten, unter anderem auch über die einst dort befindlichen Laubhütten, von denen übrigens einige im Holzmodell der Judengasse im neueröffneten Jüdischen Museum in Frankfurt wiederzuerkennen sind. Was das Holzmodell jedoch nicht verdeutlicht, sind die zahllosen Kleinstgebäude in den Höfen (Abb. 9 und 10). So gab es nach dem „Judenbau-Buch“, Kracauers wichtigster archivalischer Quelle, am Anfang des 17. Jahrhunderts in den Hinterhöfen der Judengasse „Ställe, Schuppen und kleine Bäulein“, die sich an die Stadtmauer lehnten, aber nicht über diese hinausragen durften.

„Dort standen“, schreibt Kracauer, „wohl auch Laubhütten (Lauberhütten, Sicke, Sicklin), unter ihnen seltsamer Weise manchmal auch Abtritte“ (Profei). Das „Judenbaubuch“ notiert beispielsweise: „Das Haus zum Wolf hat wie verschiedene andere im Hof eine Lauberhütten und ein heimlich Gemach darunter“, ebenso wie das Haus zur Sonne, „bei diesem ist die Profei gewölbt“. An anderem Ort heißt es: „Bei Seligmann zum Paradeiss ist das Haus so baufällig, alss eines zu sein mag; im schwarzen Hirsch ist die Sicke (Laubhütte) zu repariren“.

Die Laubhütten und Profeien waren zumeist über hölzerne Stege, gelegentlich auch einmal über unterirdische Gänge mit den Vorderhäusern verbunden und nahmen einen Teil des knappen Hofraums zwischen Vorder- und Hinterhaus, genannt „in die Sicke“, ein.

Der Maler Karl Theodor Reiffenstein beschrieb im 19. Jahrhundert die Hinterhöfe so: „Sie waren mit einer Menge seltsamer Hinterbauten und Sommerhäuschen besetzt, die meisten auf der Mauer ... aufgesetzt waren“. Diese Situation zeigen seine Zeichnungen (Abb. 10 und 18) und ein altes Foto von 1856 (Abb. 9).

Kracauer bildet sogar einige Zeichnungen solcher Kleingebäude aus dem Rechnei-Register des Historischen Museums ab: Das Haus zum schwarzen und weißen Bären besaß ein zweigeschossiges Gartenhäuschen, unten massiv, oben als offene Fachwerklaube konstruiert (Abb. 11).

Zum Gartenhaus zum güldenen Faß (Abb. 12) schreibt er: „Die Brüstung im ersten Obergeschoß ist mit Balustern ausgefüllt, die Decke des Obergeschosses scheint in gewölbeartiger Verschalung ausgeführt gewesen zu sein. Dieses kleine, zierliche Gebäude diente wohl auch als Laubhütte“. Zu einer dritten Zeichnung bemerk Kracauer: Die Skizze (Abb. 13) „stellt einen sehr luftigen, zweigeschossigen Bau aus Fachwerk dar, als ‚Hinterbäulein zur roten Traube’ bezeichnet, den Anschein nach mit einer gewölbten Holzdecke, die Brüstung im Obergeschoß ist mit Rankenwerk verziert; auch hier ist das Bestreben sichtbar, das Auge durch einigen Schmuck zu erfreuen. Der Bau ward wohl auch als Laubhütte benutzt“.

Durch die wertvolle Hilfe eines mit vorzüglichem Gedächtnis ausgestatteten Fuldaer Bürgers bin ich zur Kenntnis von der früheren Existenz solcher Laubhütten in Fulda (Heinrichstraße 33) gelangt. Er schickte mir freundlicherweise eine Zeichnung und Fotos (Abb. 14 und 15). Über die Laubhütte schreibt er folgendermaßen: „Wir wohnten seinerzeit in Nachbarschaft etlicher jüdischer Familien. Auch unser Hauseigentümer war jüdischer Religion. Sie nannten die Laubhütte ‚Sugge’. So klang es jedenfalls phonetisch; die Schreibweise ist mir nicht bekannt. Das Foto zeigt die Laubhütte nur am Rande. Gegenstand der Aufnahme war das 1944 durch Bomben zerstörte Gebäude im Hintergrund. Die eigentliche Laubhütte befindet sich auf dem Bild in einem recht verkommenen Zustand, was einmal auf die Kriegseinwirkung zurückzuführen ist und zum anderen darauf, daß sie seit 1938 nicht mehr ihrem eigentlichen Zweck diente, sondern zur Lagerung von Brennmaterial usw. benutzt wurde. Die Laubhütte stand hinter Wohngebäude und Hof am Rande des Obst-, Gemüse- und Blumengartens und war in Holzbauweise an die Mauer zum Nachbargrundstück fest angebaut und mit einem grünen Anstrich versehen. Sie hatte einen Holzfußboden mit einem Linoleumbelag. Die rückwärtige fensterlose Wand sowie die übrigen Freiflächen waren tapeziert. An einen Bildschmuck o. ä. kann ich mich nicht erinnern. An den Festtagen war sie bestimmt in irgendeiner Form ausgeschmückt. Das nach vorn geneigte Dach war mit Blech beschlagen und hatte zwei aufgesetzte, geteilte große Dachluken, die sich mittels eines von innen zu bedienenden Seilzuges aufklappen ließen. Ansonsten bitte ich die Ansicht aus der beigefügten Skizze zu entnehmen. Die Ausstattung der Hütte bestand lediglich aus einer schmalen Tafel mit einer der Familiengröße entsprechenden Anzahl von Stühlen. Um zu verhindern, daß bei geöffnetem Dach Laub o. ä. in den Raum fielen, war an der Innendecke im Bereich der Luken ein Weidengeflecht angebracht, so daß man also noch immer unter freiem Himmel saß.

Auf dem Nachbargrundstück befand sich ebenfalls eine fest installierte Laubhütte, die am Wohngebäude selbst angebaut war. Wegen ihrer geringeren Größe besaß sie nur eine einzige Dachöffnung, die mit dem gleichen Mechanismus wie vor bedient werden konnte. Die Seilrolle war dabei an der Hauswand befestigt.

Eine auf dem anderen Nachbargrundstück wohnende jüdische Familie errichtete dagegen am Laubhüttenfest auf der Rasenfläche hinter dem Haus eine zerlegbare Laube - ähnlich einer heutigen Baubude -, die auch über ein aufstellbares Dach verfügte.“

 

IV. Der Schlußabschnitt ist den bis heute erhaltenen Laubhütten, das heißt den mir zur Kenntnis gekommenen, vorbehalten. Die Anregung verdanke ich dem Michelstädter Ehrenbürger Martin Schmall, der sich in seinem Buch „Die Juden in Michelstadt“ bereits um dieses Thema verdient gemacht hat.

Im Odenwald gab es überdurchschnittlich viele jüdische Kleingemeinden. Das hatte seinen Grund in der besonderen Haltung der Standesherrschaft, des Erbacher Grafenhauses, das in der Aufnahme von Juden ein fiskalisches Privileg sah, das ihnen wirtschaftliche Vorteile brachte. „Das Schutzgeld ... in diesen Gebieten war weitaus niedriger als bei den .Großstaaten, und insoweit fand zugunsten der Schutzjuden ein unlauterer Wettbewerb unter den Schutzherren statt“ (P. Arnsberg). So gab es in fast allen Städten und größeren Dörfern der Grafschaft Erbach - außer in Erbach selbst - jüdische Gemeinden, Synagogen und Friedhöfe. Nur hier, soweit mir bisher bekannt ist, gibt es bis heute noch einige Laubhütten. Es soll mich jedoch freuen, wenn sich diese Feststellung - vielleicht sogar als Folge dieses Artikels - einmal als voreilig herausstellen wird.

Am Anfang steht das Beispiel einer Laubhütte in Reichelsheim, die es nach dem Abbruch des Hauses 1964 leider nicht mehr gibt. Es handelt sich um das frühere Haus des Moses Maier, das in der Beerfurther Straße 5 stand. Es war ein besonders schönes Exemplar, das bisher nicht als Laubhütte identifiziert worden ist. Dem Haus selbst, einem typischen Odenwälder Wohnstallhaus mit massivem Sandsteinsockel (mit Stall), hoher Freitreppe und Fachwerkobergeschoß aus der Zeit um 1780/1820, war vorn ein geräumiger, weit über die Freitreppe erkerartig vorspringender Anbau aus Fachwerk vorgesetzt, der sich auf fünf Holzständer stützte. Der Anbau war mit einem Satteldach gedeckt und enthielt vermutlich einen großen ungeteilten Raum.

Michelstadt: In seinem zitierten Buch schreibt M. Schmall: „Alte Michelstädter können sich wohl noch erinnern, daß im Herbst in jüdischen Anwesen, meist auf Veranden, in Anbauten oder im Garten einfache Hütten aufgebaut wurden, deren Dach mit Tannengrün bedeckt, die Wände mit Bachweiden verkleidet und mit Myrthe und Lulav (Palmzweige)[Hier endet leider das Material, der Artikel stammt aus Denkmalpflege in Hessen 1/1989].

 

Trauertag

Der größte Trauertag des jüdischen Jahres ist der 9. Ab (der Monat Ab entspricht Juli/August). An diesem Tage gedenken die Juden der Zerstörung Jerusalems und des Tempels durch Titus im Jahre 70 n. Chr. Nach jüdischer Tradition war auch die Zerstörung des ersten Tempels Jeremia 52,12 nennt freilich den 10. Ab – am gleichen Tag erfolgt. Am 9. Ab ist religionsgesetzlich nicht nur Essen und Trinken, sondern auch Salben, Baden sowie Schuhanziehen verboten. Es gelten die gleichen Trauerbräuche wie beim Tod eines nahen Verwandten. Das Studium der Tora ist untersagt, und man liest nur solche Stücke aus Bibel und Talmud, die traurig zu stimmen vermögen. Beim Vorabendgottesdienst werden die fünf Klagelieder der Bibel in Trauermelodie vorgetragen; ihnen schließen sich andere Trauerlieder an.

 

Simchat Tora (Fest der Gesetzesfreude)

Simchat Tora bedeutet „Freude an der Tora“. Das Fest Simchat Tora wird überall auf der Welt mit großer Freude und Ausgelassenheit gefeiert. An diesem Tag wurde die Tora zu Ende gelesen und wieder neu angefangen. Zu Simchat Tora werden Kinder gruppenweise zur Tora aufgerufen. Nach der Toraverlesung wird mit den Torarollen in den Armen durch die Synagoge und auch auf der Straße getanzt. Kinder winken dabei mit bunten Fahnen.

Zu erwähnen ist noch, daß nur der erste beziehungsweise die beiden ersten Tage Hauptfeiertage sind - das gilt auch für die anderen mehrtägigen Feste. Hervorgehoben beim Laubhüttenfest ist wieder der letzte, der achte Tag. An ihn schließt sich ein anderes Fest an, das Fest der Gesetzesfreude Simchat Tora. Es wird am 23. Tischri begangen. Simchat Tora ist ein Spätling unter den jüdischen Festen. Es fällt auf den Tag, da der einjährige Zyklus der Toraverlesung abgeschlossen wird. Dieser Zyklus ist im 9. Jahrhundert nach Christus eingeführt worden. und so dürfte das Fest erst in dieser Zeit aufgekommen sein. Alle Torarollen in den Synagogen werden an diesem Tage aus den Toraschreinen herausgehoben und von den Gottesdienstteilnehmern nacheinander herumgetragen. Die übrigen stehen Spalier und küssen den Samtmantel, mit dem die Pergamentrolle behängt ist. Lebhafte Weisen ermuntern zum Tanz mit der Tora, und keiner entzieht sich der allgemeinen Fröhlichkeit. Die Tora ist gnädige Gottesweisung wird so als Quelle geistlichen Lebens bezeugt.

 

Roschhaschana (Jüdisches Neujahr) und Jom kippur(Versöhnungstag)

Bei der weiteren Ausgestaltung des Festkalenders ist das Neujahrsfest auf einen festen Termin gelegt worden, den 1. Tischri, d. h. den ersten Tag des Monats, in den Laubhütten fällt. Überhaupt wurden alle Festtermine genau bestimmt, auch die der alten Erntefeste, die zuvor nur vom Stand der Vegetation abhängig gewesen waren. Voraussetzung hierfür war eine exaktere Kalenderberechnung. Hierauf müssen wir noch etwas eingehen.

Das Neujahrsfest wird am 1. und 2. Tischri (September/ Oktober) begangen. An ihm wird der Blick des Juden auf den Beginn überhaupt, die Weltschöpfung, zurückgelenkt. Aber noch stärker ist ein anderer Aspekt dieses Festes. Nach jüdischem Glauben hält Gott in der Neujahrsnacht in seinem himmlischen Wohnsitz Gericht und bestimmt die Geschicke. Für das Nebeneinander von Schöp­fungs- und Gerichtsgedanken ist ein Neujahrsgebet im jerusalemischen Talmud (Rosch haschschana 57a) bezeichnend: „Dies ist der Tag des Anfangs Deiner Werke, eine Erinnerung an den ersten Tag ... Und an ihm wird über die Städte verhängt; welche für das Schwert und welche für den Frieden, welche für die Hungersnot und welche für die Sättigung bestimmt sind. Und die Geschöpfe werden an ihm gesichtet: je nach dem, was sie aufzuweisen haben, werden sie zum Leben oder zum Tode bestimmt.” Der Gerichtsgedanke verleiht dem Fest einen ernsten Charakter und treibt den Menschen zur Einkehr und Buße. Zu solcher Haltung will der Klang des Widderhorns aufrufen, das bereits vom Beginn des Vormonats ab beim Schluß der täglichen Andacht ertönt. Bußgebete werden an den Tagen zuvor noch vor dem täglichen Morgengebet gehalten.

Die jüdischen Gemeinden feiern am 7. und 8. September Rosch ha Schana feiern, was wörtlich übersetzt „Haupt des Jahres“ heißt. Dieses jüdische Neujahrsfest ist der große Gerichtstag Gottes, nicht nur über die Juden, sondern über alle Völ­ker und Menschen. Mit ihm beginnen die zehn Bußtage, die am Jom Kippur enden, dem wichtigsten jüdischen Feiertag. Dieser „Sühnetag“ ist ein Tag des Fastens und Betens um die Vergebung der Sünden gegenüber Gott und den Mitmenschen. Einige liberale Gemeinden halten nur einen Tag Rosch ha Schana.

 

Rosch Haschana gehört zu den Hohen Feiertagen, wird immer Ende September oder Anfang Oktober gefeiert und eröffnet eine Reihe von zehn Bußtagen. Es ist auch der Tag des „himmlischen Gerichtes“. Nach jüdischer Überlieferung gibt es im Himmel ein symbolisches Buch, in dem an der einen Seite die guten und an der anderen Seite die schlechten Taten jedes einzelnen Juden aufgezeichnet sind. Gott liest zehn Tage in diesem Buch und am Jom kippur richtet er: Wer mehr gute Taten als schlechte vorweist, darf weiter leben. Wer mehr schlechte als gute Taten hat, „dessen Namen wird ausgelöscht“.

Am Rosch Haschana wird auf dem Schofar, einem Widderhorn, geblasen. Dieses Schofarblasen erinnert an die Schöpfung der Welt, die Pflicht zur Buße, die Offenbarung am Sinai, die Worte der Propheten, die Zerstörung des Jerusalemer Tempels, Abrahams Gehorsam, das Weltgericht der messianischen Zeit, Israels Erlösung und die Auferstehung der Toten.

Am Rosch Haschana werden runde Challot gegessen oder Challot in Form eines Leiters. Auch im Form eines Vogels, der „die Hoffnungen der Juden zum Himmel tragen“. Es ist Tradition am Neujahrstag Süßes zu reichen: Äpfel mit Honig und Lekach (Honigkuchen).

Die Tage zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur sind besonders wichtig. In diesen Tagen muß der Jude sich zuerst mit seinen Mitmenschen versöhnen, zum Beispiel mit seinen Nachbarn, Kollegen, Lehrern. Jom Kippur ist der Heiligste Tag des jüdischen Jahres. An diesem Tag wird völlig gefastet. Am Tag davor werden Krapfen gegessen. Am Jom Kippur vergibt Gott Sünden. Das Kol Nidrei wird gebetet, aus dem Buch Jona gelesen. Am Ende des Neila-Gebetes schließt ein langer Ton des Schofars den Fastentag ab.

Der Festgruß bis zum Ende der zehn Bußtage lautet: „Leschana towa tikatewu“ (Möget ihr gut angeschrieben sein im Lebensbuch!). Man wünscht sich zum Neujahr „Schana towa!“

 

 

Man kann das Neujahrsfest in seiner Bedeutung nur voll erfassen, wenn man es in Verbindung mit dem heiligsten Tag des jüdischen Lebens, dem Versöhnungstag (Jom Kippur) sieht, der am 10. Tischri begangen wird und einen noch ausgeprägteren Bußcharakter hat. Schon in biblischer Zeit war der 10. Tischri der Tag einer großen allgemeinen Sühnung, wie aus 3. Mose 16 hervorgeht. In einem Sühneritus wurden die Sünden des Volkes auf einen Sündenbock übertragen, der dann in die Wüste getrieben wurde. Im Judentum geschah dann eine immer tiefere Verinnerlichung des Sühnegedankens.

Die Fastensitten am Jom Kippur sind so streng, daß man seine Begehung in keinem Falle auf zwei Tage ausdehnt. Das Neujahrsfest kann als eine Art Auftakt zum Versöhnungstag verstanden werden; denn zu Neujahr wird das Geschick des Menschen im Himmel beschlossen, besiegelt aber wird es erst am Versöhnungstag. Die zehn Tage von dem einen Fest zum anderen sind eine Frist der Besinnung, in welcher der Mensch seine Haltung zu. Gott und zu den Mitmenschen ändern kann.

Bezeichnend hierfür ist ein Spruch im jerusalemischen Talmud (Rosch haschschana 57a): „Drei Schreibtafeln gibt es: eine für die vollkommenen Frommen, eine für die vollkommenen Frevler und eine für die Mittelmäßigen. Die vollkommenen Frommen erhalten ihr Urteil zum Leben unmittelbar zu Neujahr, die vollkommenen Frevler erhalten ihr Urteil zum Tode unmittelbar zu Neujahr. Den Mittelmäßigen sind zehn Tage der Buße gewährt zwischen. Neujahr und Versöhnungstag. Wenn sie Buße tun, werden sie mit den Frommen aufgeschrieben, wenn aber nicht, werden sie mit den Frevlern aufgeschrieben.” Welcher Mensch würde es wohl wagen, sich zu den vollkommenen Frommen zu rechnen; wer würde sich so weit aufgeben, daß er sich als vollkommenen Frevler einstuft? So ist jeder zur Buße aufgerufen.

Nun ist freilich das Mißverständnis möglich, die Buße auf die Zehntagefrist zu beschränken. Dem wirken die religiösen Lehrer im Judentum entgegen. Auch das Mißverständnis, Buße sei etwas, das sich allein zwischen Mensch und Gott abspiele, wird abgewehrt. Im Mischnatraktat Joma, dem Traktat, der sich mit dem Versöhnungstag (Jom Kippur) befaßt, wird darum betont (8,9), daß der Versöhnungstag Sünden gegen Gott unmittelbar sühnt, Sünden gegen den Mitmenschen jedoch nur dann, wenn man sich mit ihm zuvor versöhnt hat. So bittet man einander im Kreise der Angehörigen um Verzeihung und sucht die Aussöhnung mit den Menschen, zu denen eine gewisse Spannung besteht.

Was Buße in der Tiefe bedeutet, sagen die Schriftlesungen des Versöhnungstages aus. Am Vormittag wird als Prophetenlesung Jesaja 57,14-8,14 verlesen, wo als wahres Fasten die Werke der Nächstenliebe ans Licht gestellt werden. Am Nachmittag folgt die Verlesung des Buches Jona. Worauf es hierbei ankommt, ist, daß es nicht heißt „Gott sah ihr Fasten”, sondern „Gott sah ihre Taten, daß sie sich bekehrten von ihrem bösen Wege” (Jona 3,10). Zugleich wehrt das Buch Jona einem engherzigen Verständnis von. Buße- und Vergebung, sind es doch Heiden, die Buße tun und denen Gott die Strafe erläßt. Besonderer Ausdruck der Bußhaltung sind die weißen Sterbegewänder, in welchen die Gemeinde sich in der Synagoge versammelt. Sie will damit kundtun, daß sie eigentlich den Tod verdient hätte und ganz auf die Gnade Gottes angewiesen ist. Der Glaube an den Gott, der in seiner Gnade Sünden vergibt, spricht auch aus dem Namen dieses Tages: Jom Kippur, das heißt Tag des Zudeckens (der Sünden).

 

Chanukka (Weihe - und Lichterfest)

Das Tempelweihfest (Chanukka= Einweihung) fällt in unsere Weihnachtszeit. ein achttägiges Fest, das am 25. Kislew (der Monat entspricht November/Dezember) beginnend, die Wiedereinweihung des Tempels nach den Makkabäersiegen des Jahres 164 v. Chr. feiert. Seinem Charakter nach ist es ein frohes Lichterfest. Der Chanukkaleuchter hat 8 Arme An allen acht Abenden zündet man in den Fenstern der Wohnungen Kerzen an. Damit wird an das Licht erinnert, das damals den Tempel erleuchtete. Der Legende nach hatte man bei der Neueinweihe des Tempels nur noch ein kleines Gefäß mit von den Heiden nicht entweihtem Öl gefunden, das acht Tage lang bis zur Bereitung neuen heiligen Öles für den goldenen Leuchter im Heiligtum reichte. Mit seinem Lichterbrauch erinnert Chanukka an die Bräuche, mit denen wir Advent und Weihnachten begehen. Durch die gemeinsame Lichtsymbolik lassen sich Brücken schlagen. wenn auch nicht der je verschiedene Sinnbezug vergessen werden darf.

Das achttägige Lichterfest Chanukka feiert die Erinnerung an die Tempelweihe des Makkabäers Juda im Jahr 165 vCh. und die Wiederentzündung der Menora (siebenarmiger Leuchter). Nach der Legende fand man damals im Tempel nur einen kleinen Krug mit Öl. Hiermit könnte die Menora jedoch nur kurz brennen. Ein Wunder geschah, mit dem bißchen Öl brannte die Menora acht Tage. Dieses Wunder feiert man Ende Dezember durch das Zünden der acht Kerzen durch den Schamasch. Diese Menora nennt man eine Chanukkia. Chanukka ist ein Kinderfest. Jeden Abend wird eine Kerze mehr gezündet, bis alle acht brennen. Es wird gespielt mit dem Sewiwon (Dreidel) und in Öl gebackene Speisen gegessen.

Purim

Purim, das Fest der Lose (Buch Esther), hat karnevalähnlichen Charakter. Es wird gegen Ende des Winters, am 14. und 15. Adar (Februar/März) begangen Man freut sich darüber, daß in der Perserzeit eine große Verfolgung der Juden durch die Königin Esther verhindert wurde. Eingeleitet wird es am 13. Adar mit einem Fasttag, den „Fasten Ester”. Purim ist ein profanes, weltliches Fest, das einen freudigen Charakter hat. Die Festlegende hierzu ist das Buch Ester, aus dem an dem Tage vorgelesen wird, und zwar von einer handgeschriebenen Rolle. Der Inhalt des Buches: Die Jüdin Ester, die Pflegetochter Mardochais, wird zur Gemahlin des Königs Ahasveros (Xerxes) erhoben, ohne daß dieser weiß, daß sie Jüdin ist. Der Großwesir des Königs, Haman, der ein Feind Mardochais und überhaupt der Juden ist, setzt beim König den Beschluß durch, am 13. Adar alle im persischen Reich wohnenden Juden töten zu lassen. Ester, durch Mardochai instruiert, tritt beim

König für die Juden ein. Der erweist zunächst Mardochai, der ihm bei früherer Gelegenheit das Leben gerettet hat, alle Ehren und läßt Haman dann an dem Galgen, den dieser für Mardochai errichtet hat, aufhängen. Schließlich erläßt der König ein Edikt, welches das Gegenteil des zuvor von Haman veranlaßten Ediktes ist: Nicht die Juden sollen am 13. Adar getötet werden, sondern ihre Feinde. Das geschieht dann am 13. und 14. Adar, woraufhin für die Juden in Susa, der Hauptstadt des Perserreiches, wo das Gemetzel länger andauerte, der 15. Adar und für die Juden in den Provinzen der 14. Adar als Festtag bestimmt wird, - Verfolgung und dann auch Errettung in der Diaspora-Existenz ist im Judentum immer wieder ein aktuelles Thema, und dieser stets neuen Aktualität verdankt das Fest seine Beliebtheit.

Am Spätnachmittag des 14. Adar findet ein fröhliches Mahl statt, das sich unter allerlei Mummenschanz, Spielen und Belustigungen bis tief in die Nacht hinzieht. Immer, wenn beim Verlesen der Esterrolle der Name „Haman” fällt. beginnt die Jugend mit Rasseln Lärm zu machen. Scherzlieder sind verbreitet, und es gibt auch Dramatisierungen der Purimgeschichte. Purim fällt in die Karnevalszeit, und Maskeraden und Mummenschanz sind, von Italien ausgehend, von Karneval auf Purim übertragen worden. Anders dürfte es bei den Lichterbräuchen zu Chanukka, Advent und Weihnachten stehen. Hier dürfte der jüdische Brauch auf den christlichen eingewirkt haben; denn Chanukka bestand als Lichterfest längst, ehe es Advent und Weihnachten gab.

 

Purim (Fest der Lose)

Purim ist ein fröhliches Volksfest mit einem historischen Zusammenhang. Der Vertraute des Perserkönigs Achaschwerosch will die Juden des ganzen Landes an einem Tag ausrotten, weil der Jude Mordechai sich nicht vor ihm bückte, Haman läßt durch das Los (Pur) den Tag entscheiden. Königin Ester, die zweite Frau des Königs und eine Pflegetochter Mordechai unterrichtet den König von dem bösen Plan. Sie erreicht, daß Haman gehängt wird und die Juden gerettet werden. Mordechai und Ester bestimmen Purim als Festtag für alle späteren Geschlechter,

In der Synagoge wird jedes Jahr am Purim die ganze Esterrolle (Megiläat Ester) verlesen. Jedesmal, wenn das Wort „Haman“ fällt, machen die Kinder einen Höllenlärm, sie stampfen mit den Füßen und drehen die „Rätsche“.

Am Purim verschenkt man Freunden und Verwandten „Schlachmones“, Süßigkeiten hübsch in Kartons verpackt. Die Armen erhalten Geldspenden. Es ist auch Tradition am Purim „Hamantaschen“, ein dreieckiges Gebäck mit Mohn gefüllt zu backen. Das Gebäck erinnert an Hamans Hut. Zu Purim muß so viel Wein getrunken werden, daß man keinen Unterschied mehr weiß zwischen Mordechai und Haman, zwischen Gut und Böse. Zu Purim verkleidet man sich und trägt Masken. Die Maskenbälle sind bei den Juden beliebt als „Heiratsmarkt“.

 

 

Sitten und Gebräuche

 

Der Sabbat

Im Dekalog wird die Arbeitsruhe am Sabbat geboten. Dieses Gebot, das ursprünglich Freizeittätigkeiten wie Reisen nicht berührte (2. Könige 4, 23), wurde seit der Exilzeit immer schärfer ausgelegt (Jeremia 17, 21f; Nehemia 13, 15 bis - 2), bis hin zu den Bestimmungen in Mischna und Talmud, welche praktisch alles, was irgendwie mit Arbeit zu tun haben könnte, als verboten aufzählen. Das prägt das Leben der jüdischen Gemeinde, und ein Außenstehender mag diesem freiwilligen Verzicht auf Aktivität verständnislos gegenüberstehen. Aber es wird dadurch das gewährt, was jeder Mensch immer wieder braucht: ein Ruhepunkt nach der Hast des Alltags, eine Oase der Einkehr und Besinnung. So wird der Sabbat von frommen Juden auch empfunden.

Schon am Freitagabend legt man festliche Gewänder an und richtet die Tafel her, steckt die Sabbatkerzen in den Leuchter, und die Hausfrau entzündet sie zu Beginn der Dämmerung. Nach dem Besuch der Synagoge setzt man sich zu Tisch, und der Hausherr spricht über den Wein den Segen, der mit dem biblischen Bericht über den siebenten Tag der Weltschöpfung beginnt: „So wurden vollendet Himmel und Erde mit ihrem ganzen Heer. Und so vollendete Gott am siebenten Tag seine Werke, die er machte, und ruhte am siebenten Tage von allen seinen Werken“. Der Sabbat beginnt, wie sich hieran zeigt, am Freitagabend, und er endet am Samstagabend. Das entspricht der antiken Tageseinteilung.

Der Synagogengottesdienst am Freitagabend ist in seinem ersten Teil der Begrüßung des Sabbats gewidmet. Erst werden die Psalmen 95–99 und 29 gebetet; die Gott als König preisen, dann folgt das Sabbatlied von Salomo Alkabez, das neun Strophen hat, die immer mit dem gleichen Kehrvers enden. „Lecha dodi likrat kalla pene schabbat nekabbela” (Auf, mein Freund, der Braut entgegen, die Gegenwart des Sabbats wollen wir empfangen). Bei der neunten Strophe wendet sich die gesamte Gemeinde um und verneigt sich vor der als Person gedachten Königin Sabbat. (Dieser Hinweis soll nur dazu helfen, sich in ein Stück jüdischer Liturgie hineinzufinden, wo auch der christliche Gast mittun kann und mittun sollte, wenn er an einer Sabbatrüste teilnimmt).

Der Morgengottesdienst' am Sabbat hat eine andere, reicher ausgestaltete Liturgie, zu der jedoch das Sabbatlied von Salomo Alkabez mit seiner einprägsamen Melodie die nicht gehört. Der Sabbat hat einen mehrfachen Sinngehalt, der durch die Begründung der Arbeitsruhe in den, beiden Dekalogen gegeben ist. Der Mensch soll von der Arbeit ruhen, weil Gott an diesem Tage, die Arbeitsruhe haltend, seine Weltschöpfung beschloß. Das lenkt die Gedanken auf, die Schöpfung.

Der Mensch soll die Arbeitsruhe. auch den von ihm abhängigen Menschen und Tieren gewähren. Das ist ein soziales Anliegen, eine ständige Erinnerung an gefordertes humanitäres Verhalten. Der im Zusammenhang damit gebrachte Hinweis auf die Knechtschaft in Ägypten ergibt den dritten Gedankenkreis. Der Sabbat bildet in seiner festen Grundstruktur, die auch dann keine Veränderung erfährt, wenn er auf einen Feiertag fällt, und durch seine stetige Wiederkehr das Rückgrat des religiösen Jahres für das Judentum.

 

Wie ist der Sabbatmorgengottesdienst aufgebaut?

Der Sabbat beginnt am Vorabend - entsprechend 1. Mose 1,5: Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag - mit einem Abendgottesdienst und einer häuslichen Feier, der Hauptgottesdienst findet jedoch am Sonnabendvormittag statt. Überlieferungsgetreue Juden beginnen den Tag mit dem ausführlichen Morgengebet; daher setzt auch der Sabbatgottesdienst der Gemeinde mit diesen regelmäßigen Tagesgebeten ein. Sie bestehen aus Psalmen, Meditationen, Dank an den Schöpfer und Vater sowie Lehrstücken über die einstigen Tempelopfer. So steht am Anfang des Gottesdienstes ein ausführlicher Gebetsteil.

Diesem folgt die Schriftlesung. Sie beginnt mit dem feierlichen Öffnen des Thoraschreins, dem „Ausheben“ der handgeschriebenen und mit Samtmantel und Schmuck versehenen Thorarolle, die zum Lesepult getragen, enthüllt und an dem für den betreffenden Sabbat bestimmten Wochenabschnitt (Sidra-Perikope) aufgerollt wird.

Hierauf werden nacheinander sieben Männer aufgerufen, am Beginn und Ende eines Unterabschnittes sprechen sie den Thorasegen. Die Lesung im überlieferten Sprechgesang wird vom Kantor gehalten. Das jeweils zu lesende Wort wird mit dem Zeiger (Jagd-Hand) angezeigt; die Ehrfurcht gebietet, die Schrift in der Rolle nicht mit den Fingern zu berühren. Nach der Thoralesung vollzieht sich eine weitere Lesung, die des Prophetenabschnitts (Haftara) im Sprechgesang aus einer gedruckten hebräischen Bibel. Die Schriftlesungen werden abgeschlossen durch das „Einheben“ der Thorarolle in den Schrein. In nichtorthodoxen Gemeinden ist die Lesung kürzer und erfolgt in der Landessprache.

Danach kann, vor allem in liberalen Gemeinden, eine Predigt gehalten werden. In orthodoxen Gemeinden tritt an ihre Stelle .meist ein Lehrvortrag am Nachmittag.

Der abschließende Gebetsteil umfaßt Psalmengebete und aus nachbiblischer Zeit überlieferte Gebete und (wie schon der Gebetsteil zu Beginn) auch das „Höre, Israel“ (Schma Jisrael. 5. Mose 6, 4 ff.: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist ein einziger Gott), das jüdische Glaubensbekenntnis. Auch der aus dem christlichen Gottesdienst bekannte Priestersegen (4. Mose 6,24–26) ist Teil dieser Gebete und wird vom Kantor gesprochen. An Feiertagen wird er, oft von Nachkommen der Priester, in feierlicher Form gespendet.

 

Ein Rabbi: „Der Sabbat ist ein ewiges Zeichen zwischen Gott und den Kindern Israels. Denn in sechs Tagen machte der Herr, gelobt sei sein Name, Himmel und Erde. Aber am siebten Tag ruhte er und erquickte sich.“

Ein frommer Jude aus Jerusalem, erzählt: Die ganze Woche leben wir auf den Sabbat hin. Am Freitag kaufen wir gute Speisen, backen besonderes Brot, schmücken die Wohnung, baden uns und ziehen uns festlich an. Der Sabbat soll wie eine Königin, wie eine Braut empfangen werden.

Unsere Frauen haben bei der häuslichen Sabbatfeier eine besondere Rolle: Sie begrüßen den eintretenden Sabbat mit dem Entzünden der beiden Sabbatkerzen, über denen sie den Segen sprechen.

Die Männer gehen am Freitagabend in die Synagoge und begrüßen den Sabbat dort. Dann eilen wir schnell nach Hause. Ich als Hausvater begrüße den Sabbat mit dem Friedensgruß und spreche das Lob für die Hausfrau.

Dann vollziehe ich den Kiddusch, die Segnung des Tages. Ich erhebe dabei den bis zum Rand

mit Wein gefüllten Becher, trinke daraus und reiche ihn weiter. Alle, die an der Sabbatfeier teilnehmen, bis hin zum jüngsten Kind, trinken einen Schluck Wein aus dem Becher.

Ich spreche das Tischgebet: Gepriesen seist du, Ewiger, unser Gott. König der Welt, der hervorbringt Brot aus der Erde. Dann nehme ich vom Sabbatbrot, schneide für mich und alle anderen ein Stück ab und teile es aus. Die Sabbatmahlzeit soll so schön und festlich sein wie möglich, denn am Sabbat ist jeder Jude ein König in seiner Stube. Dazu gehört auch das Singen von. Sabbatliedern. Am Schluß steht der Psalm 126.

Am Samstag gehe ich mit meinen Söhnen in den Synagogengottesdienst. Ansonsten ist der Tag der Ruhe gewidmet. Es ist ein sehr erholsamer Tag. Gegen Abend verabschiede ich den Sabbat im Kreis der Familie. Dann essen wir gemeinsam das Abendbrot.

 

Sabbat und Hawdala

Eine jüdische Legende erzählt: Der Sonntag ging mit dem Montag, Dienstag mit Mittwoch, Donnerstag mit Freitag. Da sagte Gott: „Samstag, Israel wird dein Partner sein. Der Sabbat ist deine Braut“. Der Sabbat ist für die Juden nicht nur ein Ruhetag, sondern auch ein heiliger Tag. Ein Tag von sozialer Bedeutung: Mit dem Auszug aus Ägypten wird Israel erlöst von der Sklaverei. Von geistiger Bedeutung: Der Sabbat erinnert an die Schöpfung Gottes. Am Sabbat erhalten die Juden eine extra Seele, die sie am Sabbatende bei der Hawdalafeier wieder abgeben müssen.

 

Die Sabbatfeier beginnt am Freitagabend 45 Minuten vor Einbruch der Nacht. Die Hausfrau zündet die Sabbatkerzen an und segnet das Licht. „Baruch ata adonaj elohenu melech haolam ascher kidschanu bemizwotav weziwanu lehadlik ner schel schabbat“ (Gelobt seist Du Ewiger, unser Gott, König der Welt, der uns durch seine Gebote geheiligt hat und uns befohlen hat das Sabbatlicht anzuzünden).

Vater und Söhne sind noch in der Synagoge, wo sie mit dem Lied „Lecho dodi likras kalla“ (Auf mein Freund, der Braut entgegen, Königin Sabbat wollen wir empfangen) die Braut eingeholt haben. Nach der Synagoge gehen sie nach Hause, wo es hell und gemütlich ist. Mann und Frau haben im Judentum verschiedene Aufgaben, der Mann kümmert sich um den Gottesdienst, die Frau ist verantwortlich für die „warme jüdische Atmosphäre im Haus und für die Erziehung der Kinder“.

Alle sind festlich gekleidet, der Tisch ist feierlich gedeckt und es duftet herrlich nach Sabbatspeisen. Besonders früher galt „Frejtag oif der nacht, ist jeder Jid e melech“ (Am Sabbat fühlt sich jeder Jude ein König), im Vergleich zu den Wochentagen, die oft voll Erniedrigung, Haß und bittere Armut sind.

Vater hebt den Kidduschbecher und segnet den Wein „Baruch ata …..pore pri haggafen“ (Gelobt ...Frucht des Weinstocks geschaffen). Diese drei Worte stehen auch auf dem Kidduschbecher. Er segnet die beiden Challot (Sabbatbrote): Er hebt das Brett mit den Challot, geht mit dem Messer darüber, segnet sie, streut Salz darüber, gibt jedem ein Stück Brot und jeder sagt den Chailasegen:

„Baruch ata ... hamozi lechem min haarez“. Vor der Mahlzeit segnen die Eltern ihre Kinder. Während der Mahlzeit werden schöne und fröhliche Semirot (Sabbatlieder) gesungen.

Wenn am Samstag die Sonne im Westen untergeht, zieht sich die Extraseele allmählich zurück. Die Stimmung wird wehmütig. Man verabschiedet sich vom friedlichen Sabbat wenn drei Sterne am Himmel stehen mit der „Hawdalafeier“. Dazu wird ein Becher mit Wein bis zum Rand gefüllt und eine Besomimbüchse mit Nelken bereitgestellt. Während ein Kind die brennende Hawdalakerze in die Höhe hält, spricht der Vater den Segensspruch über den Wein und jeder riecht an die Büchse. Es folgt den Segensspruch über Duft und Licht: „Gelobt seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der scheidet zwischen Heiligem und Alltäglichem, zwischen Israel und den Völkern, zwischen dem siebten Tag und den Arbeitstagen“. Die Orthodoxen, bei denen es oft lustig zu geht, beten dazu: „.verzeihe Sünden uns, gebe Kinder uns und Reichtum in Menge, gleich dem Sande und den Sternen der Nacht“. Die Kerze wird in den Wein gelöst und man wünscht sich „Gut Woch!“ und antwortet darauf mit „Gut Jahr!“

In orthodoxen Kreisen sprüht man etwas von dem restlichen Wein auf den Fußboden. Das bringt Glück in die Wohnung für die kommende Woche. Anschließend singt man miteinander: „Seitdem ich Sabbat feiere, sorgt Gott für mich. Es gibt ein ewiger Bund zwischen Ihm und mir“.

 

Gottesdienst

Der Gottesdienst wird von den mündigen Juden gehalten. Ein Rabbiner ist nicht erforderlich. Aber der Gottesdienst findet nur statt, wenn mindestens 13 Männer (ab 13 Jahre) anwesend sind. Gebet, Schriftlesung und Belehrung charakterisieren den Gottesdienst. Die Gottesdienstsprache ist Hebräisch. Im Mittelpunkt steht die Thorarolle. Sie. wird aus dem Thoraschrein genommen und ist dann zunächst verhüllt mit dem Thoramantel. Sie wird durch die Gemeinde getragen, damit jeder sie berühren kann. Wenn sie aufgerollt wird, sucht man mit dem Thorazeiger die zu lesende Schriftstelle. Die Trennung der Geschlechter in der Synagoge ist heute weitgehend aufgehoben.

 

Der jüdische Gottesdienst und Bar Mizwah

Christlicher und jüdischer Gottesdienst haben eine gemeinsame Grundlage in der biblischen Überlieferung. Beide haben Schriftlesung, Gebet und Gesang als wesentliche Elemente, beide kennen einen festen Ablauf (Liturgie) und die Beteiligung der ganzen Gemeinde. Unterschiedlich ist jedoch in manchem die Weise, wie die Gegenwart Gottes im Gottesdienst vorgestellt und erfahren wird. Christlicher Gottesdienst ist bezogen auf Jesus Christus, wie dies besonders in den Sakramenten der Taufe und des Abendmahls zum Ausdruck kommt.

Jüdischer Gottesdienst ist insbesondere ausgerichtet auf die Thora (die fünf Bücher Mose als göttliche Lehre und Weisung), er hat Elemente des Opferdienstes im Tempel aufgenommen in der Form des Gebetes (Lobopfer).

Wie in christlichen Gemeinden gibt es auch in jüdischen nicht überall den gleichen Ablauf des Gottesdienstes. Hier wirken sich vor allem Unterschiede zwischen (strenggläubigen) „orthodoxen“ und (für gottesdienstliche Reformen aufgeschlossenen) „liberalen“ bzw. „Reform“-Gemeinden aus. In den deutschen jüdischen Gemeinden findet sich nach 1945 vorwiegend der „orthodoxe“ Typ. In den westlichen Nachbarländern sind die „liberalen“ häufiger vertreten. Insgesamt besteht aber eine große Übereinstimmung im Aufbau der Gottesdienste.

 

Was erscheint im jüdischen Gottesdienst als ungewöhnlich?

Synagogen sind so unterschiedlich gestaltet wie christliche Kirchen auch; ins Auge fällt aber überall der Thoraschrein (Aron hakodesch) an der Stirnseite, davor das Pult des Vorbeters und die Kanzel. Das große Pult für die Thoralesung (Almemor) ist oft im Zentrum des Raumes. Es gibt keinen Altar, meist auch keine Orgel.

Jüdischer Gottesdienst ist Laiengottesdienst, er verlangt die aktive Beteiligung der Beter. Sein Hauptteil kann erst beginnen, wenn eine Zehnzahl (Minjan) von – über dreizehnjährigen – Männern versammelt ist. Die Frauen sitzen meist getrennt. Der Gottesdienst ist nicht abhängig von der Anwesenheit eines Angehörigen einer Priester- oder Levitenfamilie oder eines Rabbiners. Das Amt des Vorbeters bzw. Kantors (Chasan) kann grundsätzlich jedem übertragen werden, es gibt aber auch beamtete Kantoren. Bei der Thoralesung wirken reihum die Männer der Gemeinde mit.

Der jüdische Gottesdienst hat andere Ausdrucksformen der Andacht als der christliche. Die Männer tragen beim Gebet eine Kopfbedeckung sowie den Gebetsmantel (Tallith). Manche bewegen sich beim Beten rhythmisch hin und her. Mitunter fällt auf, daß einzelne später kommen, früher gehen, zwischendurch hinausgehen; im „Haus des Vaters“ fühlt man sich ungezwungen zu Hause.

Jüdischer Gottesdienst gebraucht fast ausschließlich die hebräische Sprache (in unterschiedlicher Aussprache), die Landessprache wird nur bei der Predigt (die nicht regelmäßiger Bestandteil ist) und beim sogenannten Gebet für das Vaterland verwendet. Der Sabbatmorgengottesdienst dauert zwei bis drei Stunden; in nicht-orthodoxen Gemeinden ist er kürzer, die Landessprache wird darin häufiger verwendet.

 

Was erscheint im jüdischen Gottesdienst als vertraut?

Rabbiner und Vorbeter tragen im Gottesdienst meist Talar und Beffchen wie evangelische Pastoren, sowie ein Barett. Dies geht auf eine Anordnung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm II. zurück und ist nichts spezifisch Jüdisches. Auch wer nicht Hebräisch kann, wird bald erkennen, daß die Gebete mit dem vertrauten „Amen“ abgeschlossen werden. Ebenfalls bekannt sind „Halleluja“ und andere Gebetsrufe. Der psalmodierende Sprechgesang bei Gebeten und Lesungen erinnert an liturgisches Singen im Gottesdienst und geht auf die Tempelzeit zurück. Daneben erklingen auch Melodien, die alten Volksliedern ähnlich sind.

Das Gebetbuch (der Siddur) ist Gottesdienstordnung, Gebet- und Gesangbuch in einem und enthält für Gemeinde, Kantor und Rabbiner die gleichen Texte, meist mit paralleler Übersetzung in der Landessprache, so daß auch der des Hebräischen nicht Kundige sich beteiligen kann, wenn er die im betreffenden Gottesdienst vorkommenden Abschnitte kennt oder sich zeigen läßt.

 

Heilige Schrift

Der „jüdische Bibel“ besteht aus den fünf Büchern Mose, den Newiem (Propheten) und Ketuwiem („Geschrifte“). Hieraus bildet sich das Wort „TENACH“. Mit der Hebräischen Bibel ist das sogenannte „Alte Testament“ gemeint. Bei den Juden hat Gott keinen Sohn und auch kein „Neues Testament“.

 

Siddur

Das jüdische Gebetbuch (Siddur) ist 3000 Jahre alt und enthält die Gebete für Sabbat, Wochentage und Feiertage sowie Tischgebete.

 

Schulchan Aruch

Schulchan Aruch bedeutet „Gedeckter Tisch“, ist in einfacher Sprache verfaßt und beschreibt für jeden verständlich eine Anleitung fürs tägliche jüdische Leben (Jom jom). Es besteht aus vier Teilen: Lebensweg - Praktisches für Zuhause und Synagoge - Speisegesetze - Ehegesetz - Zivilstrafrecht.

 

Haftara

Abschluß. Ein Teil aus dem Buch der Propheten, das am Sabbat, an Feiertagen und Fastentagen nach der Sidre (Teil aus der Tora) vorgelesen wird.

 

Neer Tamid

Ewigbrennende Lampe vor der Heiligen Arche in der Synagoge. Es ist auch der Name für ein Lämpchen, das angezündet wird nach dem Sterben eines Familienmitgliedes, speziell für Kinder für zum Beispiel ihre verstorbene Mutter. Danach wird es einmal im Jahr angezündet am Sterbetag. (Seelenkerze)

 

Jad

Anzeiger in Form einer Hand mit ausgestrecktem Finger, meist aus Silber. Den Toratext darf nicht mit der Hand berührt werden.

 

Talit

Gebetsmantel oder Gebetsschal, der von jüdischen Männern getragen wird während des Morgengebets. Er wird über der Kleidung getragen. Talit aus Wolle für Wochentage, Talit aus Seide für Feiertage. Am Talit sind Zizot befestigt. Jüdische Männer werden in ihrem Talit beerdigt, von dem an einer Seite die Zizot (Fransen) fehlen.

 

Talit Katan

Weil es sehr lästig ist, den ganzen Tag ein Gebetsmantel zu tragen, wird ein Talit getragen, den man unter der Kleidung trägt. Die Zizot haben 39 Knoten, weil das Wort „Adonaj echad“ (Gott ist Einzig), den Zahlenwert 39 hat. 4. Mose 15,38: „Sprich zu den Kindern Israels und sage ihnen, sie sollen sich an den Ecken ihrer Kleider Schaufäden machen“.

 

Tefillin (Einzahl Tefilla, Mehrzahl Tefillin).

Tefillin werden immer paarweise getragen, an der Stirn und am Arm, nur von Männern und Knaben über 13 Jahre. Der Gebetsriemen besteht aus zwei kleinen Kästchen aus hartem Pergament. Das Kästchen für den Stirn enthält in vier Abteilungen je einen Pergamentstreifen mit Texten aus der Tora: Deut. 6,4-9, Deut. 11, 13-20, Exodus 13, 1-10 und Exodus 13,11-16. Das Kästchen für den Arm enthält alle Texte auf einem Pergament. Das Wickeln muß oft geübt werden. Die Arm-Tefillin werden siebenmal um den Arm gewickelt. Zuerst wird der Riemen um den Arm geschlungen, das Ende wird noch dreimal um die Hand und dreimal um den Ringfinger und den Mittelfinger gewickelt. Nur so entsteht das Wort „schaddaj“ (Allmächtiger). Das „Tefillin legen“ ist eine Pflichtübung: „Du sollst die Worte der Tora an Deine Hand zum Zeichen knüpfen und sie sollen zur Stirnbinde zwischen Deinen Augen sein“.

 

 

Mezuza (Türpfosten)

Die Mezuza ist ein Streifen Pergament auf dem ein Bibeltext geschrieben wurde. Das Pergament wird eingerollt und in eine Hülse aus Olivenholz, Keramik oder Silber gesteckt und schräg auf Augenhöhe am Türpfosten befestigt. Sie ist in jedem jüdischen Haushalt vorhanden und dient wie Talit und Tefillin als Erinnerung an Gottes Gesetz. Der Mensch ist ja vergeßlich: „... und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore“.

 

Kippa (Jüdische Kopfbedeckung)

Der Jude hat einen „direkten Draht zu Gott“. Er kennt keine Zwischenpersonen, wie Jesus, Maria und Heiligen. Zwischen Jude und Gott ist die Kippa. Manche tragen sie ständig, andere nur bei den Mahlzeiten, in der Synagoge und am Friedhof. In Deutschland wird die Kippa aus historischen Gründen nicht in der Öffentlichkeit getragen. Die Kippa ist eine Art „Politikum“: Am hohen Feiertagen ist sie weiß, sonst wird eine buntgehäkelte Kippa getragen, die heute auch winzig klein sein darf. Ultraorthodoxe Juden tragen eine schwarze Kippa mit einem schwarzen Hut darüber.

 

Mizrach (Gebetserinnerung in Richtung Osten)

Mizrach bedeutet „Osten“, die Richtung, wohin sich Juden im Westen richten beim Beten. Mizrach bedeutet auch eine Zeichnung oder Stickerei mit jüdischen Symbolen, die zuhause an der Ostwand der Wohnung hängt.

 

Kaschrut (jüdische Speisegesetze)

Es gibt unter Nichtjuden viel und manchmal banales Unwissen über die Kaschrut. Die wichtigsten Gebote, an denen sich die meisten Juden in der Welt halten, sind: Das Verbot Blut zu essen und Das Verbot Fleisch und Milchspeisen gleichzeitig zuzubereiten und zu essen. Das bedeutet, daß man zwei verschiedene Küchen oder zumindest eine Ecke für Fleisch und eine Ecke für Milchiges haben muß. Geschirre für Fleischiges und Milchiges und ein Pesach-Geschirr sind dann nötig. Viele Haushalte haben getrennte Kochtöpfe.

 

Kaddisch.

Das Kaddisch ist kein eigentliches Totengebet, sondern vielmehr ein Glaubensbekenntnis, das Ausdruck für die Ergebung in Gottes Willen sein will. Nach alter Überlieferung soll das Kaddisch des Sohnes den Vater von den Qualen und Unannehmlichkeiten des Jenseits freimachen.

 

Jüdischer Schmuck

Schmuck aus Israel ist in der ganzen Welt gefragt und begehrt. Traditionsreiche Symbole in handwerklicher Tradition gefertigt in kleinen Handwerksbetrieben oder in Kibbuzim ist zum Beispiel der Davidsstern. Er gilt allgemein als Schutzsymbol gegen negative Einflüsse von außen und erst im 14. Jahrhundert bekam das in der Kabbalistik häufig gebrauchte Symbol seine Bedeutung als „Magen David“. Auch die Mezuza aus Silber kann als Schmuck getragen werden. Auch die Chamsa (Glückshändchen), die Menora oder ein Amulett sind beliebt. Ein Symbol, das gerne von der Jugend getragen wird, ist das Chajzeichen. Das Wort Chaj besteht aus zwei hebräischen Buchstaben. Es ist ein Zahlwort und gleichzeitig das Wort für Leben. Es beinhaltet den Wunsch nach Gesundheit und Wohlergehen.

Israel steht bekannt um seinen dezenten Designerschmuck, natürlich in Handfertigung mit Elatsteinen, in Bicolor mit Gold und Silber, mit Süßwasserperlen, Schmuck in jemenitischer Tradition. Internationale Preise erhielten Ben Zion David, Megido und Shula Sheik aus dem Kibbuz Belt Nir.

 

 

In Haus und Familie

Der fromme Jude hält am Morgen, Mittag und Abend die Gebetszeiten. Dafür legt er die Gebetsriemen (Tefillin) und den Gebetsmantel (Tallit) an. Außerdem tritt man nur bedeckten Hauptes vor Gott. Am Pfosten der Wohnungstür befindet sich die Mesusa, eine kleine Kapsel mit Gebetsröllchen. Sie wird berührt, wenn man eintritt oder hinausgeht. Dies ist ein Zeichen dafür, daß man in ständigem Gespräch mit Gott lebt.

Die Sabbatfeier beginnt am Freitag um 18 Uhr mit dem Gottesdienst in der Synagoge. Die Hausfrau zündet die Sabbatlichte an und spricht den Lichtersegen.

Die Speisen werden im strenggläubigen Haus koscher zubereitet, das heißt nach den jüdischen Speisevorschriften. Dazu gehört auch das Schächten der Tiere, die zur Mahlzeit zubereitet werden. Am siebenten Tag nach der Geburt werden die männlichen Kinder beschnitten. Dies geschieht meist in der Synagoge.

Die Bar-Mizwah-Verpflichtung auf das Gesetz geschieht am Sabbat nach der Vollendung des 13. Lebensjahres (Bar Mizwah = Sohn der Pflichten). In der Synagoge muß dann das erste Mal vor der Gemeinde der Wochenabschnitt der Schrift o. a. gelesen werden. In der liberalen Synagoge öffnet man heute auch Mädchen diesen Weg.

Die Ehe wird unter der Chuppa geschlossen. Dabei wird der Ehebrief verlesen. Für eine etwaige Ehescheidung muß auch heute noch der Scheidebrief geschrieben werden.

Der fromme Jude wünscht sich einen bewußten Tod mit dem. Bekenntnis aus Deuteronomium 6,4 auf den Lippen (Schema Israel). Die letzte Ruhestätte ist „Ort des Friedens” im Warten auf den. Messias und die. Auferstehung. Die Trauerzeit beträgt sieben Tage, für die Eltern länger. Das Gebet zum Gedenken an die Toten. (Kaddisch) ist im Grunde ein Lobpreis Gottes.

 

Die Bar Mizwah (vergleichbar unserer Konfirmation)

In ihrem dreizehnten Lebensjahr besuchen die jüdischen Jungen den Bar-Mizwah-Unterricht (Bar= Sohn, Mizwah = Gebot). Dort lernen sie alles, was für ein Mitglied der jüdischen Gemeinde wichtig ist. Am ersten Sabbat nach seinem dreizehnten Geburtstag wird der Junge feierlich in die Gemeinde der erwachsenen Juden aufgenommen. Bar Mizwah, das ist nicht nur der Name des Festes, der junge ist jetzt ein Bar Mizwah, ein Sohn des Gebotes.

 

Symbole

Davidsstern und Menora (Katechese)

Unsere Aktionen, etwa jüdische Friedhöfe mitzupflegen u.a.m., können nur Zeichen der Versöhnung sein, können nur Antwort auf Entgegenkommen sein. Wiedergutmachen können wir nichts. Aber wir können etwas anderes tun. Wir können versuchen zu verstehen. Als Möglichkeit dazu bietet sich das Symbol des Davidsterns an, den wir auf einem Blatt Papier Format A 3 aufzeichnen und im Raum aufhängen, daneben zeichnen wir einen siebenarmigen Leuchter.

Er wird von den Juden als Wappen oder Schild Davids bezeichnet und besteht aus zwei Dreiecken, die ineinandergeschoben sind. Der siebenarmige Leuchter (Menora) geht auf 2. Mose 25,31ff. zurück und ist ein Leuchter, der aus röhrenförmigen Leuchterarmen und Mandelzweigen gestaltet wird. Er gilt als Lebensbaum und wurde in Verbindung zu den Himmelskörpern, besonders zu den Sternen gebracht. Ihre Lebenssäfte erhält die Menora von zwei flankierenden Ölbäumen, wie es in der Vision des Sacharja geschildert wird (Sach 4,1–14). Die Menora gilt als weiblicher Ölbaum. In der jüdischen Symbolik spielt das Olivenöl als Träger von Licht und Leben eine besondere Rolle. Daher ist die Menora der Lebensbaum schlechthin.

 

Seit dem Mittelalter verliert die Menora ihre ursprüngliche Geltung als öffentliches Wahrzeichen des Judentums und wird durch den Davidstern ersetzt. Wir erläutern nun die Symbolik des Davidsterns. Die Dreizahl ist für das Judentum das Zeichen des Göttlichen. Drei Engel besuchen Abraham, um ihm Gottes Willen kundzutun (1. Mose 18,zff.), drei Männer sind im Feuerofen und verbrennen nicht, weil Gott sie bewahren will (Dan 3), drei Tage ist Jona im Bauch des Fisches, ehe er errettet wird (Jona 2, 1 ff.). Diese Zahlensymbolik läßt sich bis ins Neue Testament hinein verfolgen (Auferweckung Jesu nach drei Tagen u.a.m.).

Der sechseckige Stern Davidsstern besteht aus zwei Dreiecken, von denen das nach oben gekehrte Dreieck Feuer, das nach unten zeigende Wasser bedeutet. Feuer und Wasser bilden den Himmel. Von einem Kreis umgeben, bedeutet dies: Stein der Weisen.

Die beiden ineinanderverwobenen Dreiecke des Davidsterns sollen nach jüdischem Verständnis versinnbildlichen, daß Göttliches und Menschliches miteinander verbunden sind, d. h., daß Gott bei den Menschen sein will und die Menschen bei (mit) Gott sind. Das ist für die frommen Juden ein Symbol, das sie verstehen und das für sie trotz aller Schmähungen (Tragen des Judensterns als brandmarkendes, abwertendes Erkennungszeichen) das Zeichen ihres Glaubens ist. Noch heute ist der Davidstern das Signum der jüdischen Gemeinde, über Jahrtausende hin bewahrt.

Jesus von Nazareth hat an diese jüdische Tradition angeknüpft. Der Davidstern wurde mit dem Stern von Betlehem in eins gesetzt, der für den Christen das Sinnbild des Neuen Bundes Gottes mit den Menschen geworden ist. Für den Christen hat der Stern von Betlehem, die Botschaft von der heilbringenden Geburt des Retters, den Davidstern sozusagen abgelöst. Der Stern ist für uns ein Schmuckelement zu Advent und Weihnachten geworden. Das sollte uns aber nicht dazu verleiten zu meinen, wir seien in unseren Gottesbeziehungen „weiter“ als die Juden.

 

 

 Was ist eigentlich koscher?

Zunächst ist jede Nahrung eingeteilt in koscher und nicht koscher, und auch nicht alles, was grundsätzlich erlaubt ist, darf zusammen gegessen werden. Noch hinzu kommen Vorschriften für bestimmte Feiertage. Die Koscher-Nahrungsmittel sind weiter unterteilt in Fleischprodukte (basari), Milchprodukte (chalavi) und neutrale (pareve).

Oberstes Gebot: eine Milch zum Fleisch: An drei Stellen in der Bibel ist gesagt, daß man das Zicklein nicht in der Milch seiner Mutter kochen soll. Hieraus leitet sich für die jüdische Küche das Verbot ab, Fleisch und Milch oder Milchprodukte in irgendeiner Form zusammenzubringen. Sie sind sowohl bei der Zubereitung als auch beim Konsumieren völlig zu trennen. Jüdische Haushalte haben zwei Sets von Kochutensilien, Geschirr, Besteck. Diese müssen sogar in separaten Schränken aufbewahrt und getrennt gereinigt werden. Und natürlich dürfen auch die Lebensmittel nicht zusammen gelagert werden. Fromme jüdische Familien benötigen zum Beispiel zwei Kühlschränke. Weiter dürfen Milch- und Fleischprodukte nicht gleichzeitig auf einem Herd oder in einem Ofen gegart werden. Das gilt auch für Hotels.

Nach dem Verzehr eines Fleischgerichts muß ein Zeitraum von sechs Stunden vergangen sein, bevor ein Milchprodukt gegessen werden kann. Umgekehrt ist die Wartezeit meist kürzer, richtet sich nach der Art des Milchprodukts – nur eine halbe Stunde bei Trinkmilch, aber sechs Stunden bei Hartkäse.

Bei Fleisch gibt es weitere Regeln. Koscher sind Tiere, die gespaltene Klauen haben, Paarzeher sind und wiederkäuen, z.B. Rind, Schaf, Ziege – bis auf das Hinterteil. Die anderen, wie zum Beispiel Schwein, Pferd, Kaninchen, sind grundsätzlich „treife“ oder nicht-koscher. Erlaubt ist auch noch das übliche Hausgeflügel – Huhn, Gans, Ente und Pute.

Erlaubte Tiere müssen nach rabbinischen Angaben geschlachtet werden. Verlangt wird unter anderem eine Methode, die eine möglichst weitgehende Ausblutung des Fleisches garantiert. Schächten nennt sich dieses Verfahren. bei dem Tieren alle Weichteile des Halses mit einem scharfen Messer durchtrennt werden.

Zum Kombinieren: die Neutralen. Dazu zählen alle Pflanzen, Eier soweit sie von Hausgeflügel stammen und kein Blut enthalten, und Fische, die Flossen und Schuppen tragen. Verboten sind Schalen- und Weichtiere, auch Fische wie Aal, Stör, die keine Schuppen haben. Fisch muß vor dem Fleischgericht gegessen werden. Zu servieren ist auf neutralem Geschirr oder dem für die Milchprodukte.

Bei Obst, Gemüse, Salat, Kräutern und Gewürzen ist sorgfältig darauf zu achten, daß keine Insekten, Würmer und so weiter enthalten sind, deren Verzehr verboten ist. Sonst sind die Speisen nicht mehr koscher. Ein ganz angenehmer Nebeneffekt der religiösen Vorschriften, in der jüdischen Küche geht es sehr sauber zu. Und genau dies prüft auch der Rabbiner bei einem persönlichen Besuch, wenn er einen Produktionsbetrieb zertifiziert. Das Koscher-Zertifikat wird befristet ausgestellt, das heißt es muß immer wieder erneuert werden. In jedem Fall signalisiert es nicht nur Juden, daß sie hier zugreifen können, sondern ist für alle ein in Hinweis auf hygienisch einwandfreie Ware. Und „glattkoscher“ ist die Steigerungsform von koscher, bedeutet streng koscher, alle Anforderungen einwandfrei erfüllt.

Wein und Festtage: Kaum Chancen, das Zertifikat zu erhalten, haben die Hersteller von Traubensaft und Wein in Deutschland. Das Kulturgut Wein, in der Bibel häufig erwähnt, sowie auch der Traubensaft sind nur koscher, wenn sie von gläubigen Juden unter Aufsicht eines Rabbiners hergestellt wurden.

Besondere Vorschriften gelten auch noch für die Festtage. Am Sabbat, dem siebten Tag der Woche (Freitagabend bis Samstag) darf im Rahmen eines allgemeinen Arbeitsverbotes nicht gekocht werden. Die jüdische Küche hat besondere Gerichte entwickelt, die am Vortag fertiggestellt und nur noch im Backofen gegart werden.

Eine große Besonderheit in bezug auf die Küche ist noch während des Passah-Festes zu beachten, das im Frühling in Erinnerung an den Auszug der Kinder Israel aus Ägypten gefeiert wird. Es darf kein Sauerteig, kein gesäuertes Brot und kein Krümel anderer gemahlener oder ungemahlener Getreideerzeugnisse im Haus sein, nur Matze, ungesäuertes Brot, auch ohne Hefe zubereitet.

 

Die Beschneidung

Die Beschneidung (Milah) ist die Entfernung der Vorhaut (Orla) vom männlichen Glied und als solche das grundlegende Gebot des Judentums, das Siegel des Bundes (Berit) den Gott mit Abraham geschlossen hat, woraus der Bund Gottes mit dem Volk Israel wurde. Darum heißt dieser Bund auch „Berit Avraham“ oder einfach „der Bund“.

 

Den Ursprung des Beschneidungsgesetzes finden wir in 1. Mose 17,10-14: „Das ist aber mein Bund, den ihr halten sollt zwischen mir und euch und deinem Samen nach dir: Alles, was männlich ist unter euch, soll beschnitten werden. Ihr sollt aber die Vorhaut an eurem Fleisch beschneiden.

Das soll ein Zeichen sein des Bundes zwischen mir und euch. Ein jegliches Knäblein, wenn es acht Tage alt ist, sollt ihr beschneiden bei euren Nachkommen… Und wo ein Mann nicht wird beschnitten an der Vorhaut seines Fleisches, des Seele soll ausgerottet werden aus seinem Volk, darum daß er meinen Bund unterlassen hat“.

 

Der Jude ist zu drei Bundeszeichen (Oth Berit) verpflichtet:

1. die Beschneidung (1. Mose 17,10-14): alle Männlichen am 8. Tag nach der Geburt zu beschneiden als „ewiges Bundeszeichen“.

2. das Teffilin-Riemenanlegen gilt als Zeichen (=Oth), daß man dadurch an alle 613 Ge- und Verbote gedenke. So steht es im „Schma Israel“ (Höre Israel), 5. Mose 6,4-9, siehe Vers 8.

3. Der Schabbat ist ein Bundeszeichen (2. Mose 31,13-17) „für ewige Zeiten zwischen mir (Gott) und den Israeliten“.

 

 

Das erste Zeichen weist auf den ersten Bund Gottes mit dem Volk Israel hin, als physische Dazugehörigkeit zu Gottes Volk. Das zweite Bundeszeichen erhält seine Gültigkeit durch die Einhaltung der Gesetze und das dritte Bundeszeichen, der Schabbat, fügt dem die verheißene ewige Ruhe hinzu.

Der Prophet Jeremia vertiefte das Bundeszeichen zum Symbol der Herzens-Beschneidung:

„Beschneidet euch für Gott und tuet ab die Vorhaut eures Herzens“ (Jer. 4,4). Die Triebe des menschlichen Herzens sollen nicht zügellos walten, sondern zum Heil des Menschen in rechten Schranken gehalten und daher durch ihre Beschneidung veredelt werden, damit sie sich heilsam entfalten. Wie der Weinstock soll sich auch der Mensch durch die Beschneidung über die allgemeine Natur erheben und veredeln.

Die von Gott geschaffene Natur liefert das Korn, der Mensch bereitet daraus das Brot, das heißt erst durch des Menschen Hand erreicht es seinen vollen Wert und seine Vollendung. Der Mensch wurde zum Diener und Werkzeug Gottes und damit zu seinem Mitschöpfer berufen und soll den ihm übergebenen Rohstoff des natürlichen Willens durch Beschneidung nach dem höheren Willen Gottes formen. Mit den Worten: „Wandle vor mir und werde vollkommen“ (1. Mose 17,1 u. 5. Mose 18,13) wird die Errichtung des Bundes Gottes mit Abraham eingeleitet. Die Beschneidung, Berit-Mila, ist das Symbol der Gemeinschaft Israels mit Gott und der Liebe zu ihm, das Siegel des heiligen Bundes an seinem Fleische.

 

Die Beschneidung im historischen Rückblick.

Abram, der erste Hebräer, beschnitt sich selbst im Alter von 99 Jahren, danach erst bekam er von Gott seinen neuen Namen Abraham, um anschließend alle Männer seines Hauses und später auch seinen Sohn Isaak an dem von Gott angeordneten achten Tag nach der Geburt zu beschneiden. Ismael wurde im Alter von 13 Jahre beschnitten, darum lassen sich alle Moslems erst mit dem 13. Lebensjahr beschneiden.

Nicht immer wurde die Beschneidung konsequent durchgeführt. In den Wirren der Wüstenwanderung geriet die Beschneidung in Vergessenheit, so daß Josua die in der Wüste Geborenen vor dem Einzug ins Gelobte Land bei Gilgal noch beschneiden lassen mußte. Unter der Herrschaft des syro-griechischen Antiochus IV. Epiphanes (175-164 vor Chr.) wurde die Beschneidung bei Todesstrafe verboten. In nachchristlicher Zeit wurde die Beschneidung zu antijüdischer Polemik und entwickelte sich zum äußeren Unterscheidungszeichen zwischen Juden und Christen, obwohl nachweislich die in Eretz-Israel verbliebenen messianischen Juden sich bis zum 4. Jahrhundert beschneiden ließen, daher hieß ihr in Jerusalem residierender Bischof auch „Bischof der Beschneidung“.

Erst unter dem stärker werdenden Druck nach dem Konzil zu Nicäa, im Jahre 325, wurde die Beschneidung unter den Christen endgültig abgeschafft, ungeachtet dessen, daß auch Jesus am achten Tage beschnitten (Luk. 2,21) wurde, was in den Kirchenkalender als „Festum circum­cisionis" (Beschneidungsfest) einging und acht Tage nach dem Geburtsfest Jesu am 1. Januar gefeiert wird. Paulus hat den Vollzug der Beschneidung an den Heidenchristen abgelehnt und bekämpft (Gal. 5,1-6), wenngleich er sie den Judenchristen zugestand (Römer 2,25) und sogar seinen Begleiter Timotheus beschnitt (Apg. 16,3).

Die Beschneidung ist ein uralter Brauch; etwa jeder 7. Mensch auf der Erde ist beschnitten. Im Altertum war sie unter anderem bei den Edomitern, Moabitern, Ammonitern, Arabern, Athiopiern und bei den Ägyptern üblich (vgl. Jer. 9,25). Von Israels Nachbarvölkern waren nur die Philister unbeschnitten. Heute lassen sich immer mehr Nichtjuden beschneiden - doch nicht aus religiösen, sondern aus hygienischen Gründen. Ein zum Judentum übertretender Nichtjude muß sich beschneiden lassen, egal welchen Alters. Und es gibt auch Fälle, wo der Knabe eine Beschneidung von Natur hat, das heißt er wurde bereits ohne Vorhaut geboren. In diesem Fall werden ihm nur ein paar Tropfen Blut abgenommen. Nur bei Krankheit, wie zum Beispiel Gelbsucht, darf die Berit-Mila über den vorgeschriebenen 8. Tag hinaus verschoben werden. Die Beschneidung darf und soll auch am Schabbat oder am Feiertag vorgenommen werden.

 

Der praktische Ablauf der Beschneidung

Obwohl die Beschneidung ein ganz einfacher und gefahrloser Eingriff ist, herrscht während der Durchführung eine gewisse Spannung. Da die Väter es heute nicht mehr selbst tun, wie einst Abraham, wird dafür ein ausgebildeter Fachmann, ein Mohel, gerufen, der aber kein Chirurg ist. Er muß sich jedoch innerlich dazu berufen fühlen! Der Mohel stellt sich uneigennützig zur Verfügung, ihm wird dafür höchste Ehre erwiesen.

Der Tag der Beschneidung beginnt mit einem Besuch in der Synagoge. Der Mohel und der Sandak (Pate) singen bei der Morgenandacht das „Lied am Schilfmeer“ aus 2. Mose 15,1-19. Es werden viele Lichter angezündet, damit es im Raum sehr hell ist. Dann kommen die zwei Hauptpersonen: der zu beschneidende Knabe (Nimol) und der Pate (Sandak). Zwei noble Stühle stehen bereit; einer für den Sandak und der rechte bleibt frei für den Propheten Elia, der als Ankünder des Messias (Mal. 3,1 u. 23) und „Bote des Bundes“, sowie als Zeuge der Beschneidung erwartet wird. Der Mohel, der vor dem Stuhl des Elia steht, spricht ein Gebet.

Dann wird das Kind hereingetragen und alle Anwesenden sagen „Baruch Haba! - Gelobt sei, der da kommt!“ Der Knabe wird samt Kissen vom Mohel hochgehoben und auf den Schoß des Sandaks gelegt - ein Symbol der Darbringung vor dem Altar. Die Ehre, Sandak zu sein, wird normalerweise den Großvätern zuteil. Nachdem der Mohel und das Kind aus hygienischen Gründen gewaschen sind, folgt die Beschneidung.

Der Akt der Beschneidung wurde früher mit einem Steinmesser vollzogen (2. Mose 4,25; Jos. 5,2), heute mit einem Stahlmesser, das gemäß Psalm 149,6 beidseitig geschliffen ist. Zuerst schneidet der in einen Tallit (Gebetsmantel) eingehüllte Mohel die obere Vorhaut ab, danach die untere Vorhaut, die bis hinter die bloßgelegte Eichel (Peria) geschoben wird. Schließlich wird die blutende Wunde mit dem Mund oder Glasrohr abgesaugt (Meziza).

Dabei spricht der Mohel: „Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du uns geheiligt durch deine Gebote und uns die Beschneidung befohlen.“ Dann antwortet der Vater: „Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du uns geheiligt durch deine Gebote und uns befohlen, den Sohn in den Bund unseres Vaters Abraham aufzunehmen.“ Dazu sprechen die Anwesenden: „Wie er in den Bund eingeführt worden, so möge er in die Thora, in die Ehe und in die Ausübung guter Werke eingeführt werden.“ Zum Schluß des Eingriffs wird die geringfügige Blutung gestillt und verbunden.

Dann wird das in den Bund Abrahams aufgenommene Kind auf den Elia-Stuhl gelegt. Über einen Becher Wein erbittet der Mohel den Segen Gottes für das Kind und gibt ihm feierlich seinen hebräischen Namen. Dann steckt er dem Kind seinen in Wein getauchten Finger zum Ablutschen in den Mund und sagt die Verse aus Hesekiel 16,6: „Ich sprach zu dir, als du so in deinem Blute dalagst: Du sollst leben!“ Nachdem dann auch der Sandak aus diesem Becher Wein trinkt, endet die Zeremonie mit einer feierlichen Mahlzeit (Se’uda).

 

Status und Rolle der Frau in Israel und im Judentum

Wie in der Vergangenheit, so nimmt die jüdische Frau in Israel auch in der Gegenwart eine verdienstvolle Rolle ein. Tausendjährige Betrachtungen und Rabbinatsurteile haben ihren Status als Grundpfeiler des jüdischen Familienlebens befestigt und bestätigt.

D a Mann und Frau als Gottes Ebenbild geschaffen wurden, nehmen beide eine ehrenvolle und wertvolle Stellung ein. In 1. Mose 5,2 lesen wir, Gott habe ihnen - Adam und Eva - zusammen den einen Namen Mensch gegeben, das heißt Adam und Eva bilden gemeinsam eine Einheit. Da sich jedoch Mann und Frau voneinander unterscheiden, wurden ihnen unterschiedliche Rollen gemäß ihren Eigenschaften zugeteilt. Der Mann ist seiner Natur nach der Stärkere und daher betätigt er sich von der Heimstätte her auswärts. Die Sorge um die wirtschaftliche Existenz lastet mehr auf seinen Schultern als auf denen der Frau. Die Macht der Frau ist dagegen auf die Heimstätte gerichtet. Sie trägt nicht nur die Verantwortung für das häusliche Wohlergehen der Familie, sondern prägt und steuert auch den Charakter des ganzen Hauses. Darum soll der Mann im Einklang mit ihrem Ratschlag handeln.

Die am meisten betonte Berufung der Frau hängt mit der Schwangerschaft und Geburt zusammen. Vielleicht gerade deshalb handelt die Frau in der Erziehung ihrer Kinder eher emotionell und mit Herzenswärme. Zur gemeinsamen Rolle des jüdischen Mannes und der jüdischen Frau gehört es, für die Kontinuität der Generationen zu sorgen und die Hoffnung auf Schaffung einer besseren Generation aufrechtzuerhalten, und darüber hinaus die Kontinuität des jüdischen Volkes und die Ausrufung des Namens Gottes in der Welt zu gewährleisten, das heißt den Aufbau einer besseren Welt zu fördern.

Die Heilige Schrift berichtet uns über verschiedene Fälle, in denen die Frau auf Grund ihres Verständnisses für bedeutsame Änderungen sorgte. Es war Eva, die Adam überredete, von der verbotenen Frucht des Baumes der Erkenntnis zu essen (1. Mose 3, 6-7). Sarah drängte auf die Beseitigung der Hagar und des Ismael. In diesem Zusammenhang sagte Gott zu Abraham (1. Mose 21,12): „Allem was Sara dir gesagt hat, dem gehorche“. Isaak gibt den Segen weiter an denjenigen, den Rebekka erwählte, da sie es schon wußte, als beide Söhne noch im Mutterschoß waren (1. Mose 27, 6-13). Jakob verläßt erst mit ausdrücklicher Zustimmung von Rachel und Lea seine Stadt Haran, um sich in das Land seiner Väter zu begeben, obwohl der Engel Gottes ihm dies vorher schon ausdrücklich befahl (1. Mose 31,1-17).

Das Judentum hat der Frau mit Rücksicht auf ihre Eigenart und ihr Temperament das Zentrum der Familienheimstätte zugewiesen und ihr die damit verbundenen Aufgaben übertragen: das Haus aufrecht zu erhalten, sowie Kinder zu gebären und zu erziehen. In all diesen Bereichen kann die Frau ihre Talente anwenden. Es heißt in 1. Mose 2,22: „Und Gott der Herr baute ein Weib aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm“. Dies wird von den Rabbinern dahingehend ausgelegt, daß Gott der Frau mehr Verstand gab als dem Mann. Gegen diese Auslegung hat die Halacha auch nichts einzuwenden, im Gegenteil, sie bejaht und sie spornt die Frau darin sogar an.

Das ideale Engagement der „Eschet Chajil“ (beispielhaften Frau) ist somit eine Synthese zwischen der Wahrung der Persönlichkeit und der Familieneinheit, der Kinderpflege und -erziehung und der Förderung einer jüdischen Atmosphäre in der Familie. Da, wo die Frau den ihr zugewiesenen Bereich verläßt, bricht das Familienleben zusammen.

Wenn es jedoch die Talente und die Zeit der Frau zulassen, sich auch außerhalb der Familienheimstätte zu betätigen und darin Selbsterfüllung zu suchen, daß sie dem Mann in der wirtschaftlichen Anstrengung, die Familie zu ernähren, behilflich ist - ohne ihre eigentliche Pflicht zu vernachlässigen - ist dies keineswegs eine Verletzung religiöser und moralischer Pflichten, sondern trägt dazu bei, aus der Frau eine „Eschet Chajil“ zu machen.

Die Gebote (Mitzwot), die der Frau obliegen, sind anderer Natur als diejenigen, die auf den Mann entfallen. Vielleicht sind die Mitzwot, die dem Mann auferlegt sind, auffälliger. Männer legen Teffilim (Gebetsriemen) an, sind bei den Andachten in der Synagoge ausschlaggebend, lesen in der Öffentlichkeit aus der Thora vor und betätigen sich als Rabbiner und dergleichen.

Ebenso wie die biologische Rolle der Frau anders geartet ist als die des Mannes und ebenso wie der Körperbau der Frau anders ist, so ist auch die Art des Gottesdienstes der Frau anders. Es gibt drei Mitzwot, zu denen ausschließlich die Frau verpflichtet ist:

Nidah (Beachtung der unreinen Tage):

Ist die Frau unrein, muß sie jedem physischen Kontakt mit ihrem Ehemann ausweichen. Während dieser Tage der physischen Trennung widmet sich die Frau der inneren und seelischen Vorbereitung für das geheiligte Tauchbad (Mikwe). Erst danach dürfen die intimen Beziehungen zwischen

Mann und Frau wieder aufgenommen werden. Eine der großen Gefahren im Eheleben ist die Neigung, der Routine zu verfallen. Beachtet ein Ehepaar hingegen die Reinheitsgesetze der Familie, kann eine lähmende Routine verhindert werden und es ist möglich, das Eheleben allmonatlich zu erneuern (3. Mose 18,19).

Intime Ehebeziehungen darf es nicht geben solange die Frau unrein ist, und wer gegen dieses Gesetz verstößt, begeht die gleiche Sünde, als würde er oder sie am Fastentag Jom Kippur Nahrung einnehmen. Auf diese Weise leistet jeder seinen Beitrag zum Gottesdienst.

Challah (Segnung des Schabbatbrotes)

Heutzutage, wo es kein Tempelheiligtum mehr in Jerusalem gibt und auch keine Priester damaligen Stils, kann man an die Priester keine Abgaben mehr verteilen. Der Anbruch des Teigstücks der Challah (Schabbatbrotes) erfolgt nur noch symbolisch, damit wir dessen eingedenk bleiben, daß wir heute alle Lebensbedürfnisse befriedigen können, es jedoch auch Zeiten gab - und vielleicht auch wieder geben wird - in denen dies nicht selbstverständlich ist. Deshalb muß man einen Teil des Teigs absondern und verbrennen. Bei einem Teigballen, der mehr als 1.200 Gramm wiegt, muß diese Prozedur durchgeführt werden. Übersteigt das Gewicht des Teiges 2.250 Gramm, so muß die Frau beim Absondern der Hebe folgenden Segensspruch sagen: „Gelobt seiest du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du uns mit deinen Geboten geheiligt und uns befohlen hast, ein Stück Challah abzusondern“. Die sephardischen Juden nennen es Challah Trumah - gespendete Challah. Daran erinnert auch Paulus: „Ist der Anbruch heilig, ist der ganze Teig heilig“. Auch heute noch legt man auf dieses Gebot Wert. Da es jedoch nur selten zu Hause ausgeübt wird, weil ja heutzutage zum Unterschied zu früheren Zeiten die Frauen zu Hause kein Brot mehr backen, geschieht die Segnung dafür in der Bäckerei oder Brotfabrik.

Hadlakat Nerot (Schabbat-Kerzenanzünden)

Vor Beginn des Schabbath ist die Frau verpflichtet, in der Wohnstätte der Familie zwei Kerzen zu entzünden, die den ganzen Abend über, wenigstens aber während des Schabbathmahls brennen sollen. Bei der Beachtung dieses Gebotes wird der Frau der Vorzug eingeräumt, weil sie für das Heim der Familie verantwortlich ist. Es ist üblich, daß der Ehemann die Kerzen für die Einweihung des Schabbath vorbereitet. Nur wenn die Frau nicht zu Hause oder nicht in der Lage ist, die Kerzen anzuzünden, darf der Mann dies an ihrer Stelle tun. Der Segensspruch für das Anzünden der Kerzen lautet: „Gelobt seiest Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der uns mit seinen Geboten geheiligt hat und uns befohlen hat, Schabbath‑Kerzen zu entzünden“.

Nach dem Anzünden der Kerzen ist es üblich, noch einige Zeit lang mit geschlossenen Augen leise ein Gebet zu sprechen - eine persönliche Bitte in beliebigem Stil. Es sind persönliche Anliegen, die man von ganzem Herzen vorbringt. Das Gebot, Schabbath-Kerzen zu entzünden, hängt mit dem häuslichen Frieden zusammen, denn wenn die Frau ihre Augen wieder öffnet, bedeutet dies den Beginn des Schabbath „Schabbath Schalom!“ Die Frau sorgt so für den Übergang vom Profanen, vom Alltäglichen zum Geheiligten. So ist es die Frau, die den Schabbath in der Heimstätte gebührlich empfängt und einläßt.

 

Die Anfangsbuchstaben dieser drei Hauptgesetze der Frau (Hadlakat-Nerot, CHala und Nidah) ergeben das hebräische Wort „HaCHeN“, was wiederum „die Anmut“ bedeutet. Die Erfüllung der Gesetze macht die Frau anmutig. König Salomon würdigt die Stellung der Frau: „Chochmat Naschim Bantah Bejtah - Die Weisheit der Frauen hat ihr Haus erbaut“ (Sprüche 14.1). „Matzah Ischah - Matzah Tow - Wer eine Frau gefunden hat, hat etwas Gutes gefunden“ (Sprüche 18.22).

 

Der Status der Ebenbürtigkeit zwischen Mann und Frau, wie er sich in unserer Zeit eingebürgert hat, ist gut, vorausgesetzt, daß die Frau nicht ihre einzigartige Stellung als Frau und geistige Führerin dieses wundersamen Turmes, den wir Familienheim nennen, einbüßt.

 

 

Spezialausdrücke

 

Minjan (Zehnzahl): Jüdischer Gottesdienst ist Laiengottesdienst, er verlangt die aktive Beteiligung der Beter. Sein Hauptteil kann erst beginnen, wenn eine Zahl von zehn über dreizehnjährigen Männern versammelt ist.

 

„Schadchen“: Der jüdische Heiratsvermittler

 

Aron Hakodesch: Thoraschrein -

 

Parochet: reich bestickter großer Samtvorhang

 

Ner Tamid: das ewige Licht -

 

Almemor: viereckiges Podium

Jad: Lesefinger

 

Eurogbüchsen: für den Gebrauch beim Laubhüttenfest (aus Silber).

 

 

Kashruth: Speisegesetze, äußerst strenge Bestimmungen. Am bekanntesten ist das Verbot des Genusses von Blut. Verboten sind z. B. auch der Genuß von Schweinefleisch oder Aal.

 

Schächten: Für das Schächten gibt es besondere Schächtmesser und kultische Wetzsteine.

Die Schlachttiere wurden durch Durchtrennen der Halsschlagader „geschächtet“, um vollständig auszubluten.

Schochet: Schächter

 

Koscher: Alle erlaubten Speisen müssen koscher sein. Fleischspeisen müssen streng getrennt von Milch und Milchprodukten aufbewahrt und verzehrt werden. Haushaltsgeräte und Besteckteile tragen deshalb oft kennzeichnende Aufschriften.

 

Abgeschlossen wurde die Getreideernte mit dem Fest der Weizenernte. Da es sieben Wochen nach dem Anfang von Mazzot begann – Palästina hat in dieser Jahreszeit eine gleichmäßige Witterung, und so kann man mit einem feststehenden Reifeabstand rechnen – wurde es Wochenfest genannt, Schabuot.

 

So tritt bei dem Herbstfest neben den Dank an Gott für die Erntefrucht auch die Bitte um Regen für das kommende Erntejahr. Nach dem Festbrauch des Wohnens in Laubhütten wurde das Herbstfest „Laubhütten” genannt (Sukkot).

 

Erzählungen des Rettungsgeschehens an Passa durch den Hausvater, Fragen der Kinder nach dem Sinn der einzelnen Bräuche und deutende Worte des Hausvaters: Das waren und das sind auch heute noch wesentliche Bestandteile der häuslichen Feier. Die häusliche Feier wird Seder genannt, weil sie nach einer bestimmten Ordnung (= Seder) stattfindet. Man hält sie an den beiden ersten Abenden des Festes ab. Sein zentraler Ideengehalt ist die Befreiung aus der Knechtschaft. Es wird dabei nicht nur in die Vergangenheit geschaut, sondern auch in die Zukunft. „Nächstes Jahr in Jerusalem” ist der abschließende Gruß der Passa-Liturgie. Damit ist ein Ausblick in die messianische Zeit gegeben.

 

Das Wochenfest (Schabuot) erfolgt 50 Tage nach dem Beginn von Passa, am 6. und 7. Siwan (Mai/Juni). Es hat lange nicht die Bedeutung wie Passa oder Laubhütten.

 

Minjan (Zehnzahl): Jüdischer Gottesdienst ist Laiengottesdienst, er verlangt die aktive Beteiligung der Beter. Sein Hauptteil kann erst beginnen, wenn eine Zahl von zehn über dreizehnjährigen Männern versammelt ist.

 

 

„Schadchen“: Der jüdische Heiratsvermittler

 

Aron Hakodesch: Thoraschrein -

 

Parochet: reich bestickter großer Samtvorhang

 

Ner Tamid: das ewige Licht -

 

Almemor: viereckiges Podium

Jad: Lesefinger

 

Eurogbüchsen: für den Gebrauch beim Laubhüttenfest (aus Silber).

 

 

Kashruth: Speisegesetze, äußerst strenge Bestimmungen. Am bekanntesten ist das Verbot des Genusses von Blut. Verboten sind z. B. auch der Genuß von Schweinefleisch oder Aal.

 

Schächten: Für das Schächten gibt es besondere Schächtmesser und kultische Wetzsteine.

Die Schlachttiere wurden durch Durchtrennen der Halsschlagader „geschächtet“, um vollständig auszubluten.

Schochet: Schächter

 

Koscher: Alle erlaubten Speisen müssen koscher sein. Fleischspeisen müssen streng getrennt von Milch und Milchprodukten aufbewahrt und verzehrt werden. Haushaltsgeräte und Besteckteile tragen deshalb oft kennzeichnende Aufschriften.

 

 

 

 

Vor allem junge Juden denken an Auswanderung Trendwende: Israels Bevölkerung schrumpft                                                                   24.04.07

Die Einwanderung nach Israel steckt ein Jahr vor dem 60. Jahrestag der Staatsgründung in einer schweren Krise. Das Land hat für potenzielle Immigranten an Attraktivität verloren, gleichzeitig zieht es vor allem russische Juden zurück in ihr wirtschaftlich boomendes Herkunftsland oder westliche Staaten. Verzeichnete die Einwanderungsstatistik 2006 bereits ein 18-Jahres-Tief, so wird in diesem Jahr erstmals seit mehr als 20 Jahren eine negative Zahlenbilanz erwartet. Mehr Juden könnten Israel verlassen als neue ins Land kommen.

Dabei hatte Israel gehofft, eine Änderung des Aufnahmeverfahrens für russische Juden in Deutschland könne neue Bürger nach Israel bringen. Deutschland war lange ein Hauptziel von Juden aus der früheren Sowjetunion. Die Jewish Agency - diese organisiert die „Alija” (hebräisch: Aufstieg) von Juden nach Israel - hatte auf einen Kurswechsel Deutschlands gedrängt. Vor knapp zwei Jahren waren die Bedingungen für eine Aufnahme jüdischer Zuwanderer in Abstimmung mit dem Zentralrat der Juden dann verschärft worden. Dennoch geht die Einwanderung nach Israel weiter zurück.

Die israelische Tageszeitung „Jediot Achronot” berichtete, in diesem Jahr würden nur noch 14.400 Neubürger erwartet. Gleichzeitig könnten 20.000 Israelis dem Land den Rücken kehren. Eine solche negative Bilanz in der Einwanderung habe es nur nach dem Jom-Kippur-Krieg (1973) und in den Inflationsjahren 1983 und 1984 gegeben.

Eine Umfrage unter 500 Israelis ergab, dass etwa ein Viertel der Bevölkerung an Auswanderung denkt. Bei den jüngeren Leuten trage sich fast die Hälfte mit solchen Überlegungen. Junge Menschen geben fehlende Bildungschancen als Hauptgrund für Unzufriedenheit mit der Lage im Land an. Auf Platz zwei folgt fehlendes Vertrauen in die von Affären und Korruption belastete politische Klasse Israels.

 

 

Die vernachlässigten Opfer                                                                                   19.04.07

Einmal im Jahr steht in Israel das Leben für zwei Minuten still. Am Holocaust-Tag heulen Sirenen, Autofahrer halten an, im Fernsehen läuft „Schindlers Liste”. Am Holocaust-Tag zu Beginn dieser Woche allerdings wurde nicht Steven Spielbergs Melodram gezeigt, sondern ein Film über die traurige Wahrheit im israelischen Alltag der Holocaust-Überlebenden. Die für Israel peinliche Recherche der beiden Filmemacher Orli Vilnai Federbusch und Guy Meroz veranlasste Sozialminister Isaak Herzog zu dem Satz: „Ich schäme mich, wie wir mit den Holocaust-Überlebenden umgehen.”

 

In Israel leben noch etwa 250.000 Menschen, die der Mordmaschinerie der Nationalsozialisten entkommen sind. Doch ausgerechnet der Staat, der wegen des Holocaust überhaupt erst gegründet worden ist, von Juden für Juden, vernachlässigt die Überlebenden. Einer Studie des israelischen Holocaust-Dachverbands zufolge, die am Tag der Ausstrahlung des Films in dieser Woche veröffentlicht wurde, erhalten von den in Israel wohnenden Schoah-Uberlebenden nur 30.000 eine monatliche Rente - von gerade einmal etwa 250 Euro. Insgesamt 80.000 Holocaust-Opfer leben laut Film und Studie unterhalb der Armutsgrenze.

In der Dokumentation kommen hochbetagte Holocaust-Überlebende zu Wort, die im Winter in ihren Wohnungen frieren, die kein Geld für Lebensmittel haben und hungern, die mitunter ein Jahr auf ein Brillengestell oder ein Hörgerät von der Krankenkasse warten. Sie weinen vor der Kamera und sagen, nie hätten sie geglaubt, dass sie ausgerechnet von Israel ignoriert würden.

Nathan Durst von der israelischen Vereinigung „Amcha”, die den Überlebenden psychosoziale Unterstützung anbietet, ist erbost: „Es ist absolut inakzeptabel, dass sich Holocaust-Überlebende in Israel täglich zwischen Essen und Medikamenten entscheiden müssen.” Es sei „sehr leicht, diese Opfer zu vergessen, denn sie machen keinen Lärm”. Diese Aufgabe hat aber nun der Film übernommen: In ihm wird Israel als „der schlechteste Ort für Holocaust-Überlebende” bezeichnet.

 

Mehrere Behörden und Institutionen seien zwar für deren Anliegen zuständig. Wenn es aber um die Bezahlung von Unterstützung gehe, schiebe eine Behörde der anderen die Verantwortung zu.

Die ohnehin meist an schweren Traumata leidenden Schoah-Opf er seien jetzt zugleich Opfer der Entschädigungs-Bürokratie. Die in New York ansässige „Jewish Claims Conference” etwa, deren

Aufgabe die Rückerstattung von enteigneten Vermögenswerten an Holocaust-Opfer ist, hält nach Angaben der Filmemacher zwischen 300 und 900 Millionen US-Dollar zurück - aus bürokratischen Gründen. Nicht nur die Claims Conference und Israels Regierung werden in dem Film angeklagt, sondern auch israelische Banken, die angeblich bis heute Vermögen von Überlebenden zurückhalten.

Manche in Israel lebende Schoah-Opfer sehen den einzigen Ausweg im Auszug aus dem gelobten Land. Manche hat es daher im hohen Alter ausgerechnet nach Deutschland verschlagen. Wie Lilo Clemens. Sie lebt heute wider ihren eigentlichen Willen in Berlin, weil die Bundesregierung Holocaust-Überlebenden eine monatliche Rente garantiert und die Bezahlung ihrer Medikamente über‑

nimmt. Clemens erhält nun jeden Monat etwa 1.200 Euro. Sie sagt: „Es ist eine Schande für Israel, daß ich in Deutschland leben muß.“.

 

 

 

Suchdienst des Internationalen Roten Kreuzes

Der Suchdienst des Internationalen Roten Kreuzes im nordhessischen Bad Arolsen - das sind riesige Mengen vergilbten Papiers. Karteikarten, Aktenordner, Pappschuber, Dokumentenmappen. Mehr als 30 Millionen Unterlagen liegen hier, meist älter als 60 Jahre. Fünf Gebäude voller Akten - das größte NS-Opfer-Archiv der Welt. Und fünf Gebäude voller Schicksale. Die Lebens- und Leidenswege von mehr als 17 Millionen Menschen sind hier dokumentiert.

Für jeden Menschen wurde ein Kärtchen angelegt - selten mit dem tatsächlichen Namen. „Man war mit Dutzenden Sprachen konfrontiert” sagt Wolfgang Luckey, Chef der Namenskartei. Ein Pole wurde vom deutschen Aufseher als Schikowski eingetragen, ein Italiener schrieb ihn Filtzkowski, und ein französischer Mithäftling Jekowski. Keine Schreibweise stimmte - er hieß Zychowski. Deshalb machte man 1946 aus Sh, Sch. Zc, C oder Z einfach S - , die deutschen Umlaute fielen ebenso raus wie das Ph. Die einzige Chance, sich zurecht zu finden.

Der Dokumentenbestand umfasst fast 26.000 laufende Meter, bis vor kurzem kamen jedes Jahr 250 Meter hinzu. Manche Akte wächst so immer weiter, die dickste umfasst 189 Unterlagen: Geburtsurkunde, Soldbuch, Haftunterlagen, Lohnlisten. Als die Zwangsarbeiter entschädigt werden sollten, brauchten die Mitarbeiter bis zu drei Jahre, um das 60 Jahre zurückliegende Unrecht dokumentieren zu können. Künftig sollen es nur noch acht Wochen sein, sagt der neue Arolsen-Direktor Reto Meister. „Das sind wir den Opfern von damals einfach schuldig."

Bei Gabriele Wilke ist die Arbeit mit Händen greifbar: eine ganze Wand aus Stahlschränken. Wenn die Leiterin der Abteilung KZ-Dokumente an den großen Handrädern dreht, fahren die Schränke leise surrend zur Seite. „Majdanek” steht an einem, „Treblinka” an einem anderen, meist finden sich mehrere Lagernamen auf einem Schrank. Nur einer steht gleich auf einer ganzen Reihe Aktenwände: „Auschwitz”.

„Die meisten Akten wurden von der SS vernichtet. Wir haben dennoch zehntausen­de”, sagt Wilke. Das bekannteste Doku­ment in ihren Händen ist „Schindlers Lis­te”. Sie schlägt ein großes Buch auf. „Mauthausen - Männer - alphabetisch”. Darin die Namen Tausender. In der Spalte „To­desart” steht oft gar nichts. „Aber hier se­hen wir, dass an einem Tag zwischen 11.20 und 12.34 Uhr Dutzende fast gleichzeitig starben. Massenerschießung.”

Wilkes Alltag besteht jedoch nicht nur aus Akten. Im Lager Neuengamme bei Ham­burg fanden die Befreier 1945 noch tausen­de Umschläge mit „Effekten”. Einige lie­gen noch in Arolsen. Darin Taschenuhren, Eheringe, kleine Puderdosen, mal ein Lip­penstift oder auch ein Rosenkranz. Und immer wieder Fotos. Alle paar Monate kann ein Umschlag an die Hinterbliebenen gehen - oder vielleicht sogar an die Men­schen selbst, die vor 70 Jahren mit blauer Tinte sauber und sorgfältig in Sütterlin­schrift ihre Erinnerungen aufschrieben.

Bad Arolsen ist ein beschauliches Städt­chen mit gerade einmal 18.000 Einwoh­nern. Doch vor wenigen Wochen spielte „Arolsen” sogar im US-Kongress in Wa­shington eine Rolle. Die Abgeordneten lob­ten die Arbeit des Archivs und forderten seine schnelle Öffnung. Seit Jahren werden in Arolsen zu Millionen Akten eingele­sen - vermutlich die umfangreichste Digi­talisierung der Welt. „In unseren Regalen lagern noch Schätze für Historiker, deren Wert gar nicht zu beziffern ist”, schwärmt der sonst betont sachliche Meister. Die Ge­schichtsschreibung sei dabei nur der zwei­te Aspekt. „Das Papier kann sicherlich vor allem verdeutlichen, wie Regime entstehen und wie sie funktionieren.“

 

 

Virtuelle Synagogen: Im Computer entstehen Synagogen Stein für Stein neu

 

Synagogen:

Seit dem November 1938 sind Synagogen in Deutschland eine verschollene Architektur. Nur einige Monumentalbauten der Jahrhundertwende, wie die in Essen oder Frankfurt am Main, haben ihrer bloßen Größe und Massivität wegen die „Kristallnacht“ und den Bombenkrieg überdauert. So konnten sie zur Sühne wieder aufgebaut oder, wie die Berliner Synagoge in der Oranienburger Straße, als Mahnmale konserviert werden. Doch wie die vielen verschwundenen Synagogen führten auch die wenigen geretteten lange ein Geisterdasein: Mit schamvoll abgewandtem Blick reagierten viele nichtjüdische Deutsche auf diese Zeugen des Holocaust, mit niedergeschlagenem lebten die neuen Jüdischen Gemeinden bei uns.

Vieles hat sich in den letzten Jahren geändert, das Miteinander von Juden und Nichtjuden ist offener geworden, in Dresden entsteht, viel beachtet, eine neue Synagoge. Die Stille des Verlusts aber ist schlagartig wieder da, wenn man Worms besucht. Dort hatten die Nazis eine der ältesten Synagogen Deutschlands geschleift. Übrig geblieben waren ein prachtvolles Stufenportal von 1147, ein Werk der Dombauhütte, und einige Grundmauern. Daraus rekonstruierte man von 1959 bis 1961 den romanischen Männerbau, dazu die so genannte Raschi-Kapelle von 1623 und den gotischen Frauenbau von 1212. Kleiner als die berühmte Prager „Altneuschul“, kann das Ensemble es ästhetisch mit ihr aufnehmen, nicht aber an Ruhm und Besuchern.

Die Judengasse folgt dem Verlauf der Stadtmauer, und in dieser nach rechts zur alten Synagoge (Männer Kippa aufsetzen). Sie wurde 1034 erbaut und 1145 zerstört. Der Neubau ist von 1175. Im Jahre 1938 wurde sie erneut zerstört und 1959–61 wieder aufgebaut. Wenn man rechts um die Synagoge herum geht, kommt man zur Mikwe von 1185, in die man hinabsteigen kann. Noch ein Stück weiter steht das Raschi-Haus, das seinen Namen nach einem französischen Rabbi Raschi trägt, der eine Zeit lang in Worms gewirkt haben und 1180 in Troyes gestorben sein soll. In dieser Kapelle befindet sich ein die Wand eingelassener steinerner Sitz für den Rabbi Raschi. Dann zeigt man der romanischen Zeit angehörige Gebetbücher für die Festtage in hebräischer Quadratschrift auf Pergament geschrieben und mit Miniaturmalereien versehen, eine Thorarolle, Messingleuchter u. a. mehr. Die Juden sollen seit Christi Geburt in Worms ansässig sein und wie die Sage geht, ihren Glaubensbrüdern in Jerusalem die Kreuzigung Christi widerraten haben. Heute ist in dem Haus das Judaika-Museum Raschi-Haus untergebracht,

In Deutschland einzigartig ist die Wormser Anlage auch deshalb, weil es hierzulande seit den Pogromen des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts keine mittelalterlichen Synagogen mehr gibt. Ihre Pracht bezeugt nur noch der bekannte Stich Altdorfers, der das kostbar gestaltete Innere der Regensburger Synagoge unmittelbar vor deren Abriss wiedergibt. Der Rest sind einige Ausgrabungen und die schütteren romanischen und gotischen Ostwände der Männer- und Frauen-Synagoge von Speyer. Sie stehen in einem Hinterhof, mitten in der Altstadt, nahe dem Dom, und doch abgeschieden wie in einem Niemandsland.

 

 

Architektur-Studenten der Technischen Hochschule (TH) Darmstadt haben die drei in der Pogromnacht 1938 zerstörten Frankfurter Synagogen wieder sichtbar gemacht. Die Hauptsynagoge in der ehemaligen Judengasse sowie die Bethäuser an der Friedberger Anlage und am Börneplatz können mit vielen architektonischen Details vom 19. Juni an im Museum Judengasse aus jeder beliebigen Perspektive betrachtet werden - dreidimensional am Computer.

Faszinierend, wie in maurischen Formen das Innere der Hauptsynagoge sichtbar wird. Der Betrachter fühlt sich an die Moschee von Cordoba erinnert: rot-weiße Bogendurchgänge säumen das Hauptschiff des Sakralbaus, verziert sind die Wände mit fein ausgearbeitetem islamischem Dekor. Im Computer blättert man die Ansichten der Synagogen wie in einem Katalog auf. Noch lebendiger wird der Zugang sein, wenn ein aus den Computer-Bildern erstellter Film vorliegt.

Die Leistung der Studenten ist auch für den Laien unverkennbar: Was vorher wegen fehlender Beschreibungen der Vorstellungskraft verschlossen war, ist jetzt auf der Basis weniger Fotos, der Grundrißpläne und nach Gesetzen der Baulogik Bauteil für Bauteil dreidimensional im Rechner rekonstruiert. Allein der Vergleich der innen üppig dekorierten Hauptsynagoge mit der eher nüchtern gehaltenen Synagoge am Börneplatz zeigt dem Betrachter im Computer-Album die Bandbreite jüdischer Baukunst.

Das Erscheinungsbild im Computer könne wegen der spärlichen Unterlagen jedoch nur eine Annäherung sein, sagt der Initiator des Projekts, Marc Grellert. So hätten über die Farbgebung überhaupt keine Unterlagen zur Verfügung gestanden. Dennoch ist es den Studenten gelungen, die architektonische Schönheit der Sakralbauten in über 100 digitalen Einzelbildern zu dokumentieren.

Seine Motivation sei ein Verantwortungsgefühl gegenüber der deutschen Geschichte gewesen, sagt Grellert, der die Visualisierung zusammen mit seinen Kommilitonen Daniela Boro­wicz, Joachim Merk, Patricia Sauerwein, Peter Gallenz, Nadine Paraton, Alexandra Michels und Ralf Cisarz im CAD-Seminar (Computer Aided Design) des Bensheimer Architekten und Professors, Manfred Koob, realisiert hat. Dabei habe er nicht nur Interesse für die jüdische Kultur und Lebensweise wecken, sondern auch „mahnen und erinnern” wollen.

Salomon Korn, Architekt und Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde: „Ich bin sehr dankbar dafür.” Die Visualisierung der Synagogen bedeute für viele Mitglieder der Jüdischen Gemeinde, von denen viele aus dem Osten stammen, ein Stückchen Identitätsfindung. „Die im Computer wieder sichtbar gewordenen Synagogen machen für sie die Frankfurter jüdische Geschichte, die ja nicht ihre ist, sinnlich erfahrbar.” Der Blick müsse jedoch distanziert-kritisch bleiben: „Denn der Bruch durch das Nazi-Regime war ja da, und der soll auch im Bewußtsein bleiben.”

Die Computer-Bilder machten deutlich, wie stark die Juden vor dem Krieg über ihre Architektur auch mit Deutschland verbunden waren: Daß sie ihre Synagogen architektonisch „fast zur Kirche gemacht haben, läßt den Integrationswillen der Frankfurter Juden deutlich erkennen. Das ist ja ein fast unterwürfiges Sich-Identifizieren mit dem Volk, mit dem man lebt. Das wurde von den Deutschen überhaupt nicht honoriert.”

Die 1860 errichtete Hauptsynagoge der liberalen Juden sei architektonisch ein Kompromiß. „Sie ist innen eher islamisch gestaltet und außen eine Mischung zwischen europäischem und islamischem Stil. Das zeigt die zwiespältige Situation der Juden zwischen morgenländischer Herkunft und abendländischer Existenz.” Ein rein orientalisches Erscheinungsbild der Synagoge hätte eine optische Ausgrenzung aus dem deutschen Vaterland nahegelegt, eine Synagoge rein im europäischen Stil hätte „Gesichtslosigkeit” bedeutet.

 

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts sind die Frankfurter Juden laut Salomon Korn dazu übergegangen, die Sakralbauten „Tempel“ zu nennen. „Das ist deshalb interessant, weil es bedeutet, daß Deutschland als Ende einer langen Reise durch die Diaspora empfunden wurde. Deutschland war für sie das neue Gelobte Land, nicht mehr Palästina.”

Mit ihrer im Renaissance-Stil gestalteten Synagoge am Börneplatz (1882) habe die Hauptgemeinde versucht, sich architektonisch sowohl von den Liberalen als auch von den kaisertreuen Neo-Orthodoxen abzugrenzen.

Zur Börneplatz-Synagoge sagt Korn: „Das ist im Grunde keine sakrale Architektur, sondern ein Repräsentativ-Stil für öffentliche Gebäude, Banken und Villen, zur Demonstration staatlicher Macht.“

Die Synagoge der Neo-Orthodoxen an der Friedberger Anlage, am Platz des heutigen Bunkers, ist in Korns Augen „stilistisch merkwürdig”. „Die starken Jugendstil-Elemente außen wirken einerseits sehr kirchlich, aber der Giebel und die gedrungenen Türme sind wiederum untypisch für eine Kirche.” Innen habe die Israelitische Religionsgesellschaft versucht. sich mit „neuer Ornamentik” von Kirchenbauten abzusetzen. Die von den Rothschilds finanziell stark unterstützte Religionsgesellschaft, laut Korn betont regierungstreu, habe eine visuelle Einbindung in die Frankfurter Architektur versucht „Sie wollten auf keinen Fall ein orientalisches Gotteshaus, sondern deutlich deutsch sein.”

Die größte Leistung der Computerbilde: sei, daß sie das Raumerlebnis der drei zerstörten Synagogen wiedergeben, urteil Korn. „Der Farbeindruck, der ja grandios gewesen sein muß”, sei wegen fehlende Unterlagen zwangsläufig „fast geraten”.

Hochschullehrer Koob hofft nun für seine Studenten auf Sponsoren: „Um da Projekt zur Reife zu bringen, wäre e schön, wenn sich Geldgeber für eine intensive Forschungsarbeit, für eine Buch Dokumentation und für je einen Vier Minuten-Film pro Synagoge fänden.”

 

 

Internetdatei „Synagogen“:

Dipl. Ing. Marc Grellert (Wissenschaftlicher Mitarbeiter)

Technische Universität Darmstadt

Fachgebiet CAD in der Architektur

El-Lissitzky-Str.1

64287 Darmstadt

Tel: 06151 166607

Fax: 06151 163736

Email: grellert@hrzpub.tu.darmstadt.de

 

 

Email an Grellert:

Sehr geehrter Herr Grellert, Ihre Sammlung der Synagogen finde ich prima. Gerne will ich auch zur Vervollständigung beitragen. Deshalb schicke ich Ihnen alles, was ich über die Synagogen in Wachenbuchen und Hochstadt gesammelt habe. Die Hochstädter Bilder könnten Sie vielleicht von Ihren Studenten noch einmal neu zeichnen lassen, damit die Qualität besser wird. Leider gibt es keine Fotografie, aber die Bauzeichnungen sind für Sie vielleicht besonders interessant. Erhalten ist in Hochstadt noch die jüdische Schule neben der Synagoge, heute ein Wohnhaus (Hauptstraße 43).

Zu Ihrem Eintrag über Wachenbuchen ist zu bemerken: Die Synagoge steht in der Straße Alt-Wachenbuchen 34, das Schulhaus hatte die Hausnummer Alt-Wachenbuchen 36 (Wachenbucher Straße und Hauptstraße sind alte Bezeichnungen, auch Hainstraße stimmt nur insofern, als die Synagoge an der Ecke Alt-Wachenbuchen/Hainstraße steht).

Die Synagoge wurde schon am 8. November innen demoliert.

Die heutige Nutzung ist allein „Wohnhaus“ (nicht mehr Werkstatt).

Ich habe auch noch umfangreiches Material über die jüdischen Gemeinden in allen Maintaler Stadtteilen. Dieses wird demnächst unter " w ww.people.freenet.de/peterheckert " veröffentlicht.

Schließlich möchte ich Ihnen mitteilen, daß ich auch Material über die Synagogen in Schmalkalden und Aschenhausen (Rhön) habe. Falls Sie daran Interesse haben, lassen Sie es mich wissen.

Mit freundlichem Gruß Peter Heckert, Hauptstraße 13, 63477 Maintal, Telefon 06181/432297, Email: heckertp@arcor.de

 

Antwort von Grellert:

Die Bilder und Texte als Kommentar selbst dem Archiv hinzufügen:

Synagoge Suchen anklicken, Name des Ortes eintragen und auf Suchen klicken.

Dort in der linken Menueleiste unter Hinzufügen auf „Kommentar hinzufügen“ oder Bilder klicken und die Informationen so abspeichern.

Ich würde auch die Basisinformationen entsprechend verändern/ergänzen. Hierfür ist aber

die Voraussetzung, dass mir eine entsprechende Literaturquelle mit Impressum, Titel und Inhalt der Veröffentlichung als Kopie vorliegt, damit die wissenschaftlichen Kriterien eingehalten sind und für mich und auch für andere die Quelle nachvollziehbar ist. Über eine Zusendung würde ich mich natürlich freuen.

Um die Basisinformationen zu ändern bräuchte ich nicht nur das Impressum, sondern auch den tatsächlichen Text. Könnten Sie mir den als Kopie zuschicken oder zu faxen. Vielen Dank für Ihre Mühe - über weitere Mitarbeit würde ich mich sehr freuen.

 

 

Es gibt im Synagogen-Internet-Archiv einen Ort Hochstadt :

Ort: Hochstadt

Straße / Ortsteil: Hauptstraße

Bundesland: Hessen

Nutzungsbeginn: Um 1850

Nutzungsende:Vermutlich November 1938, spätestens 1940 (Verkauf)

Zerstörungen in der NS-Zeit:Synagoge im November 1938 innen demoliert

Erhalten:Keinerlei Bausubstanz vorhanden

Heutige Nutzung am Standort:Keine Informationen

Ist das das Hochstadt, das Sie meinen?

 

Sie können eigene schon im Computer befindliche Texte in anderer Form wie Bilder abspeichern. In das Kommentarfeld können Sie über den Windows-Befehl Einfügen (Strg V) eine zuvor in die Zwischenablage kopierten Text (Strg C) einfügen. Sie können auch Ihre Internet Seite als Link dem Archiv hinzufügen. Unter EINGEBEN: Link „http://people.freenet.de/peterheckert/ Juden.htm“ eintragen

 

 

Verbrennungsöfen

 

Der Gleichmut der Ofenbauer

Die Erfurter Firma Topf & Söhne lieferte die Öfen für Auschwitz

Über Auschwitz zu sprechen ist schwer. Das hat sein Gutes, weil es einem stets klar vor Augen hält, daß Auschwitz außerhalb dessen liegt, was man für menschenmöglich hielt. Zugleich aber kann man sich nicht mit Wittgenstein behelfen und schweigen, denn es muss über die Schoa gesprochen werden. U sich diesem notwendigen Sprechen zu nähern, ist es gut, ganz konkret zu werden - und sich zum Beispiel mit den Mordutensilien zu befassen. Für diese Dinge nämlich gibt es durchaus Wörter: Schürhaken, Lüftungsanlage, Leichenverbrennungsofen, Doppelmuffel-Ofen (Die Muffel ist in einem Ofen die Brennkammer, in einem Krematoriumsofen also das Gehäuse, in das die Leiche gelegt wird.)

Die Auschwitzer Öfen stellte die Firma Topf & Söhne in Erfurt her und auch die speziellen Schürhaken. Zudem baute sie die Be- und Entlüftungsanlagen, die nötig waren, um die Gaskammern nach einer Massentötung schnell wieder zugänglich zu machen, damit die Häftlinge des Sonderkommandos die Leichen herausziehen, ihnen die Goldzähne ausbrechen, die Haare abschneiden und sie dann zum Verbrennen in die Dreimuffel-Öfen verbringen konnten.

 

Die Firma Topf wurde 1878 vom Braumeister Johann Andreas Topf als feuertechnisches Baugeschäft gegründet. Vor dem Ersten Weltkrieg gehörte sie zu den weltweit führenden Herstellern von Mälzerei-Anlagen für Brauereien. Außerdem wurden Dampfkessel, Schorn­steine, Speicher, Entlüftungsanlagen gebaut und ab 1914 Einäscherungsöfen für kommunale Krematorien. In dieser Branche war Topf bald führend, wenngleich das Geschäft immer nur einen kleinen Teil des Gesamtumsatzes ausmachte.

Der Firmengründer starb 1891. Sein Sohn Ludwig führte das Unternehmen unter dem Namen J. A. Topf & Söhne erfolgreich weiter. Schon vor seinem frühen Tod im Alter von einundfünfzig Jahren im Jahre 1914 hatte es über fünfhundert Mitarbeiter. In der Weimarer Republik wurde es von Direktoren geleitet, die Ludwig Topf eingesetzt hatte. Seine 1903 und 1904 geborenen Söhne Ludwig und Ernst-Wolfgang traten Ende der zwanziger Jahre als Angestellte in den Betrieb ein, den die Weltwirtschaftskrise wenig später fast zahlungsunfähig machte. Ende April 1933 traten die Brüder in die NSDAP ein.

Als der Betrieb der Deutschen Arbeitsfront beitrat, wurden sie als „Betriebsführer“ eingesetzt, und als er 1935 in eine Kommanditgesellschaft umgewandelt wurde. übernahmen sie seine Leitung als allein haftende Gesellschafter. Die Umsätze stiegen wieder, was vor allem dem Silobau zu danken war. Im „Gedenkblatt“ zum sechzigjährigen Firmenjubiläum im Jahr 1938 heißt es, im Geiste der Zeit: „Schon an den Anfängen unserer Firma stand nicht das ,Kapital' Pate - sondern Erfindungsgeist, Schaffensfreude und Tüchtigkeit.“ Im folgenden Jahr hatte Topf & Söhne 1150 Mitarbeiter.

Nach dem Beginn des Krieges stiegen die Gefangenenzahlen in den KZs an. Im Winter 1939 starben in Buchenwald infolge einer Ruhrepidemie so viele Gefangene, daß das Weimarer Krematorium, in dem die Leichen aus dem KZ bis dahin verbrannt wurden, die Massen nicht bewältigen konnte. Erfurt liegt nicht weit von Weimar, und Topf & Söhne lieferte zum ersten Mal an die SS einen fahrbaren Einäscherungsofen, wie er in der Weidewirtschaft zur Kadaververbrennung verwendet wurde.

Diesen Ofen hatte der bei Topf & Söhne angestellte Ingenieur Kurt Prüfer im Mai 1939 entwickelt, womöglich bereits im Auftrag der SS. Aufgrund der speziellen Nachfrage entwickelte Kurt Prüfer dann einen fahrbaren Doppelmuffel- Ofen. der auch später, als schon stationäre Öfen vorhanden waren, immer wieder benutzt wurde, wenn die Leichenzahlen in den KZs plötzlich anstiegen.

Mit diesem Auftrag begann die Zusammenarbeit mit der SS: „Bis 1941 montierte die Firma in verschiedenen Konzentrationslagern zwei Arten sog. Doppelmuffel- Ofen: Anfangs im Werk fertiggestellte mobile Öfen, die auch eingemauert wurden, dann daraus entwickelte stationäre Öfen, deren Einzelteile erst im Lager zusammengesetzt wurden. Beide Typen unterschieden sich erheblich von Einäscherungsöfen in Krematorien außerhalb der Lager. In den Lagern wurden Tote nicht mehr einzeln und in Särgen verbrannt. Deshalb konnten die Türen der Verbrennungskammern wesentlich kleiner gehalten sein. In diesen Öfen waren die Körper direkt den Flammen ausgesetzt. Die sonst übliche Absperrvorrichtung zwischen Feuerung und Ofenkammer entfiel. Während man in den Krematorien außerhalb der Lager auf ausreichende Sauerstoffzufuhr und Zeit für die vollständige Einäscherung des Leichnams achtete, wie auch auf rauch- und geruchlose Verbrennung, war dies für die Beseitigung der Leichen in den Lagern unerheblich. Hier kam es auf Geschwindigkeit und sparsamen Brennstoffeinsatz an. Die Leichen verbrannten deshalb nur unvollständig. Es entstanden schwarzer Rauch, Funkenflug und Gestank.“

So steht es im Begleitband zu der Ausstellung über Topf & Söhne, die bis zum 18. September im Jüdischen Museum in Berlin zu sehen ist und anschließend in Erfurt und Auschwitz gezeigt werden wird. Die Schau „Techniker der .Endlösung“ wurde in der Gedenkstätte Buchenwald erarbeitet und ist in jeder Hinsicht bemerkenswert. Denn was einem an dieser Geschichte den Atem verschlägt, ist nicht. daß die Firma Topf & Söhne ihre Produkte überhaupt in KZs geliefert hat. Es haben auch andere Firmen zum Funktionieren der Mordmaschinerie beigetragen, doch haben die ihre gewöhnlichen Produkte geliefert: das Insektenvernichtungsmittel, das sie sowieso herstellten, oder die Wäschetinte, die zur regulären Produktpalette gehörte. Topf & Söhne aber hat die Öfen für Auschwitz eigens entwickelt. Mit schönem Erfolg: Am 4. November 1941 etwa bestätigte die Firma der Bauleitung der Waffen-SS in Auschwitz den Auftrag über fünf „Topf-Dreimuffel-Einäscherungs-Öfen mit Druckluft-Anlage“ nebst „Sarg-Einführungs Vorrichtungen“, fünf Saugzuganlagen und einen Müllverbrennungsofen. Zur „Ausführung“heißt es: „Erwähnen möchten wir, daß die Einäscherungskammern in den Ofen jetzt größer gebaut werden als bei den bisherigen Öfen. Hierdurch wollen wir eine größere Leistung erreichen.“ Die Leistung reichte der gefräßigen Todesmühle aber noch immer nicht: Im Frühjahr 1943 wurden in Auschwitz-Birkenau zehn weitere Dreimuffel sowie zwei Achtmuffel-Öfen in Betrieb genommen.

Es gibt keinen Hinweis darauf, daß Ingenieure oder Firmenleitung besonders eifrige Nationalsozialisten oder Antisemiten gewesen wären. Vielmehr bauten sie die Ofen offenbar aus keinem anderen Grund als dem, daß sie in Auschwitz gebraucht wurden. Weil dort halt nicht, wie in einem gewöhnlichen Krematorium, höchstens fünf Leichen am Tag zu kremieren waren. sondern Tausende. Und das über Jahre.

Während der NS-Zeit wurden Entwicklung. Herstellung und Lieferung der Öfen innerhalb der Firma nicht geheimgehalten. Erst nach dem Krieg behauptete man, nicht gewußt zu haben, wozu sie dienten. Doch waren Monteure von Topf & Söhne teilweise monatelang in Auschwitz. und sie schrieben auf ihre Tageszettel nicht, wie es der Sprachregelung der SS entsprochen hätte, sie hätten im „Leichenkeller“ gearbeitet, sondern schrieben „Auskleidekeller-- Sie wußten also, wozu dieser Raum gedacht war. Auch nahmen der leitende Ingenieur Prüfer und sein Chef Ludwig Topf an „Probeläufen“ ihrer Anlagen in Auschwitz teil. Und ein „Probelauf“ bedeutete einen kompletten Tötungsvorgang: Test der Lüftungsanlage nach Massenmord in der Gaskammer, Test der Ofen bei der anschließenden Verbrennung der Leichen. Kurt Prüfer war für die Entwicklung der Ofen zuständig, ab 1941 als Leiter der neuen Abteilung „Spezialofenbau“. Doch sein Kollege Fritz Sander entwickelte aus eigenem Ehrgeiz einen besonders effektiven Ofen, den er dann zum Patent anmeldete. In diesem sollten, nach zweitägiger Aufheizung, ohne weitere Brennstoffzufuhr kontinuierlich Leichen verbrannt werden können. Prüfer bezweifelte die Funktionsfähigkeit; er verfolgte bei dem Riesenofen. den nun er entwickelte. ein anderes Konzept.

Die Aufträge der SS trugen nie mehr als zwei Prozent zum Gesamtumsatz von Topf & Söhne bei. Prüfer erhielt eine Prämie von zwei Prozent des Bruttoumsatzes jedes von ihm bearbeiteten Auftrages, verdiente aber dennoch weniger als vor der Weltwirtschaftskrise und kündigte darum im Februar 1941. Die Brüder Topf ließen ihn aber nicht ziehen, denn: „Daß Sie an dringlichen Aufgaben arbeiten, wissen Sie selbst am besten!“ Man einigte sich auf eine Gehaltsaufstockung von 5,6 Prozent gleich 24 Reichsmark.

Topf & Söhne lieferte Öfen nach Buchenwald, Dachau, Mauthausen, Gusen und Auschwitz, war aber nicht der einzige Zulieferer der SS. Die Berliner Heinrich Kori GmbH etwa lieferte Öfen unter anderem nach Sachsenhausen, Bergen-Belsen, Ravensbrück, Majdanek und ebenfalls nach Dachau. Daß Topf & Söhne Geschäfte mit der SS gemacht hat, war immer bekannt; immerhin prangte an jedem Ofen das Firmensignet. Nach Kriegsende wurden vier leitende Angestellte verhaftet. Fritz Sander starb im März 1946, die anderen wurden von den Sowjets zu fünfundzwanzig Jahren Straflager verurteilt; Kurt Prüfer starb dort im Jahr 1952. Ludwig Topf legte am 27. April 1945 die vom Betriebsrat getragene Sprachregelung fest, man habe gewöhnli he Öfen geliefert nd „Schimmeres“ verhindert, Epidemien im Lager etwa. Sein Verhaftung fürchtend, nahm er sich am 31. Mai 1945 das Leben: „Werde ich verhaftet, so wird man mir schlimmstes Unrecht antun. Ich tat bewußt und absichtlich niemlas Böses, aber man tat es mir!“

Sein Bruder Ernst-Wolfgang gründete in Wiesbaden neuerlich eine Ofenbaufirma: die ging 1963 in Konkurs. Die Fabrik in Erfurt baute keine Krematoriumsöfen mehr, sondern wurde als VEB Erfurter Mälzerei- und Speicherbau fortgeführt. 1993 wurde die Firma privatisiert, 1996 Insolvenz angemeldet. Das Betriebsgelände wurde Ende 2003 unter Denkmalschutz gestellt: die Stadt Erfurt will das Verwaltungsgebäude kaufen (Iris Hanika).

 

Yadvashem

Zunächst die Seite www.yadvashem.org“ aufrufen.

Dort steht auf der rechten Seite die Schaltfläche „Shoa-Related-Lists Database“.

Wiederum rechts steht ein Satz, der endet mit „….which can be searched here“.

Dort auf „here“ clicken, dann erscheint die Suchmaske.

Besser gleich auf „advanced search“ clicken, weil man dann auch das Geburtsdatum und andere Angaben eingeben kann.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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