Gott und Christus

 

Inhalt: Grundwissen über Kirche, Entstehung des Jahweglaubens, Zeittafel, Kreationisten, Gott, das Böse, Christus, Bultmann: Theologie des Neuen Testaments, Feminismus.

 

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Entstehung des Jahweglaubens

(nach Spiegel 52/2002)

 

Darf man dem Propheten Samuel glauben, so begann der biblische König David seine Laufbahn als Hirtenjunge. Er war blond, von „schöner Gestalt“ und spielte süß die Harfe. Als junger Held tötete er mit der Steinschleuder den riesenhaften Philister Goliath. Dann, angeblich um 997 vCh warf er seine Armee gegen Jerusalem. Seitenlang feiert das Alte Testament den Mann als Auserwählten und Gesalbten des Herrn. 40 Jahre lang saß der Gründer der jüdischen Nation auf dem Thron, ehe er als Inhaber eines Reichs verblich, das vom Euphrat bis zum Mittelmeer reichte.

Nur, wo sind die Spuren dieses glanzvollen Landes? Wer heute durch den Osten von Jerusalem läuft, stößt an einem Steilhang auf ein Grabungsareal, „Davidstadt“ genannt. Soldaten bewachen kümmerliche Ruinen. Ein Haus zum Beispiel war 16 Quadratmeter groß und besaß weder Küche noch Fenster. Gekocht wurde draußen. Daneben liegt eine Steinplatte mit einem Loch, das „Klo“.

Ist das Davids Glanz und Herrlichkeit? Laut 1. Könige, Kapitel 10 gab es in der Hauptstadt „Silber so häufig wie Steine“. Davon kann keine Rede sein. Unter dem Spaten der Ausgräber ist das bronzezeitliche Jerusalem zum Dorf geschrumpft. Es war ein Ort mit kaum 2000 Einwohnern. Der Berliner Ägyptologe Rolf Krauss spricht von einem „Provinznest“.

Solche Befunde stehen nicht allein. Moderne Bibelkundler klopfen schon seit längerer Zeit wie mit der Abrißbirne gegen das Alte Testament. Sichtbar wird ein Gespinst aus Legenden.

Von allen Seiten rücken die Fahnder an. Pollenanalytiker streifen durch die militärisch besetzten Gebiete Judäa und Samara. Orientalisten entziffern Keilschrifttafeln. Und auch in alten Texten vom Nil finden sich Hinweise auf die wahre Geschichte der Hebräer.

Vor allem die historische Basis der Bibel wankt. Den jüngsten Hieb hat jetzt Israel Finkelstein, Chef-Ausgräber an der Universität Tel Aviv, geführt. Sein Buch „.Keine Posaunen vor Jericho“ bestätigt, daß Kerntexte der Bibel unwahr sind:

-           Ein Auszug jüdischer Stämme aus Ägypten fand nie statt.

-           Kanaan wurde nicht, wie im Buch Josua beschrieben, gewaltsam erobert.

-           Die Ur-Reiche von David und Salomo sind Trug. Diese israelitischen Könige

herrschten nur über „unbedeutende Teile von Randregionen“ (Finkelstein).

Als Märchen und monumentale Überschminkung - so steht das Wort Gottes mittlerweile da. Wo die Forscher geschichtliche Fakten vermuteten, sehen sie nun politische Propaganda. „Wir stehen vor einem Dammbruch“, gibt Dirk Kinet zu, der an der Universität Augsburg Biblische Sprachen lehrt.

Denn auch die Entwicklung des Monotheismus verlief völlig anders, als die Heilige Schrift glauben 4machen will. Im Gewand der Ewigkeit tritt Gott dort an. Er steht jenseits der Zeit - ein Wesen, das nie geboren wurde und nie sterben wird.

Bereits der Erzvater Abraham opfert (angeblich um 1800 vCh) diesem allmächtigen Wesen. „Gott ist einzig“, bekennt auch Mose, nachdem sich ihm der Herr im brennenden Dornbusch offenbart.

Nur allzugern verklärten konservative Bibelkundler das Volk Israel zur Sonder-Ethnie. Doch die Archäologie macht jetzt klar: Auch der Herrgott hat mal klein angefangen. Anfangs sei Jahwe nur ein Wettergott gewesen, erklärt der Augsburger Experte Kinet: „Er war ein Garant der Fruchtbarkeit, dessen sexuelle Darstellung erst langsam zurückgedrängt wurde.“

Götzen aus Ton und Metall wurden im Heiligen Land entdeckt, auch kleine Tonfiguren mit

drallen Brüsten und Pos. Die Geburt Gottes aus dem Schoß der Vielgötterei - das ist der Rahmen, in dem die neuen Erkenntnisse angesiedelt sind:

-           In Jerusalem blühte die Tempelprostitution:

-           Gott besaß ursprünglich eine nackte Begleiterin:

-           noch um 100 vCh hingen die Bauern der Gegend heidnischen Ritualen an.

Vor allem in Ugarit, 400 Kilometer nördlich von Jerusalem, kommt „die dunkle Vergangenheit der Religion Israels zum Vorschein“, wie es der französische Ausgräber Andrè Caquot ausdrückt. Ritualtexte und Goldstatuen wurden freigelegt. Ein Fund zeigt ein Männchen mit Bart. Es ist der weise Greis und Himmelsvater „El“ - eine Urform Gottes.

Die Einsicht, daß sich der Herr aus einem heidnischen Götzen entwickelte, mag schmerzen, ist aber längst überfällig. Wie mit dem Fernrohr blicken die Experten in jene Wolke zurück, in der sich die Geburt des Allmächtigen vollzog. Die Forschung sieht immer klarer die metaphysische Baustelle, auf der diese Macht Schritt für Schritt erschaffen wurde.

Mit ihren teils sensationellen Einsichten zerren die Wissenschaftler jenes Glaubenswerk ans Licht der Vernunft, das immer noch wie eine düstere und mysteriöse Festung dasteht.

Nur allzugern räumten fromme Exegeten den Hebräern eine historische Sonderstellung ein. „Im vollen Bewußtsein einer erhabenen Idee“" habe ein semitischer Hirtenclan „alle Güter dieser Welt geopfert, Qualen erduldet und sein Leben hingegeben“, formulierte Simon Dub­now in seiner zehnbändigen „Weltgeschichte des Jüdischen Volkes“.

Richtig an solchen Verklärungen ist, daß Kanaan wie kaum ein anderer Landstrich der Antike mit Krieg überzogen wurde. Mal legten die Pharaonen ihre Klaue auf das Land, die Babylonier führten hier Massendeportationen durch. Es folgten Perser und Griechen. Schließlich kamen die Römer und machten das Gebiet zur Kolonie.

Mauerbrecher und Wurfmaschinen ließ der römische Kaiser Vespasian beim großen jüdischen Aufstand 70 nCh gegen Jerusalem in Stellung bringen. Rund 20.000 Legionäre zogen heran. Die unbotmäßigen Bauern leisteten Widerstand. Sie verbanden ihre Häuser mit Fluchttunneln.

Es half nichts. Im August des Jahres war die Festung am Berg Zion erschöpft. Legionäre in Kettenhemden durchbrachen die gegnerischen Reihen und erstürmten den Hügel, auf dessen Kuppe der große Jahwe-Tempel stand. Dort zündelten sie.

Eindringlich hat der Historiker Josephus Flavius, Zeuge des Überfalls, von der Untat erzählt. Er beschreibt die Holzkreuze entlang den Straßen, an denen angenagelte Rebellen hingen. Vorbei an dieser Kulisse entführten die Sieger die Tempelschätze nach Rom, darunter den siebenarmigen Leuchter Menora.

Viele Demütigungen flossen in die Bibel ein, Verzweiflung und aus Wut geborene Allmachts­phantasien sind darin gestaut. Per Federstrich verwandelten ihre Verfasser den Turm von Babel zur Bauruine (in Wahrheit wurde das über 90 Meter hohe Gebäude fertiggestellt). Beim Propheten Ezechiel fällt Gott den Pharao an wie ein wildes Tier: „Ich tränke das Land bis hin zu den Bergen mit der Flut deines Blutes.“

Aber erst jetzt, über 2000 Jahre nach Erschaffung all dieser Mythen und religiösen Urbilder, setzt ihre nüchterne Aufarbeitung ein. Die Forscher dringen an die Wurzeln des Alten Testaments vor - allerdings mit der Axt. Immer deutlicher wird, daß Gottes Wort, das  „Buch der Bücher“, voller Mogeleien steckt.

Eine Gruppe von Fälschern, „Deuteronomisten“ genannt, bürsteten Realgeschichte um; sie verzerrten die Wirklichkeit, schafften unbequeme Fakten beiseite und erfanden, nach Art eines Hollywood-Drehbuchs, die Geschichte vom Gelobten Land.

Wie die Arbeit im Einzelnen ablief, ist längst nicht vollständig geklärt. Die biblische Zensurbehörde ging geschickt vor. Wie Mehltau liegt ihre Version der Zeitläufe auf der Geschichte. Im Prinzip arbeitete sie so perfekt wie das Wahrheitsministerium von George Orwell.

Nur der Tatort steht fest: Es war der Tempel von Jerusalem, in dem alle Fäden zusammenliefen. Auf jenem Hügel der Stadt, wo sich heute die Aksa-Moschee und der Felsendom erheben, lag einst das Zentralheiligtum der Stadt. Bärtige Priester mit Kleidern, an denen Kordeln. Schellen und Edelsteine hingen, liefen in dem Gemäuer umher. Sie hantierten mit Räucherwerk und schlachteten Stiere. Bei einem der Riten benetzten sie ihre Ohrläppchen mit Widderblut.

Wer den Tempel der Länge nach durchschritt, gelangte am Ende vors Allerheiligste, den „Debir“. Dort standen im Zwielicht zwei mit Gold überzogene Kerubim: geflügelte Löwen mit menschlichem Gesicht. die den Thron Jahwes bewachten. Dieser war leer. Es ist das Nichts, die große Negation - als Chiffre für die Unendlichkeit des Geistes -, die als Pionierleistung der jüdischen Theologie gilt. Während alle Welt noch Tamtam machte und Götzen verehrte, erließen die Juden ein Bilderverbot und stießen ins Reich des Universellen vor.

Aber stimmt das überhaupt? Auch ihre geistige Erst-Tat wird den Hebräern streitig gemacht. Um die Frage nach Alter und Erscheinungsdatum der Heiligen Schrift brennt eine Debatte. Drei Lager liegen im Clinch:

-  Die Traditionalisten behaupten: Haupttexte der Bibel etwa ab 1000 vCh entstanden.

- Die Gemäßigten tippen auf 600 vCh

-  Die „Minimalisten“ halten das Alte Testament für ein „hellenistisches Werk“. Es sei in der Substanz erst nach 330 vCh - und damit nach dem Tod der griechischen Philosophen Sokrates und Platon verfaßt worden. [Die Bibel ist eine Bibliothek mit Werken aus verschiedenen Jahrhunderten]

Noch weiter geht ein Mann aus Heidelberg. Bernd Jörg Diebner redet schnell, er hat schütteres Haar und lehrt seit 30 Jahren Theologie. Anfang des Jahres, nach langem Zögern, entschloß sich die Evangelische Fakultät den Gelehrten zum Professor zu berufen. Er ist 63 Jahre alt. Bis zum letzten Platz war die mit Holz ausgeschlagene Aula besetzt, als der frisch Gekürte zu seiner Antrittsvorlesung schritt. Israel sei eine „mystische Größe“, verkündete der Akademiker. Dann beschrieb er die Tora als „diplomatisches Kompromißpapier“, an dem womöglich noch bis 50 nCh gefeilt wurde.

Für Diebner ist die Bibel das Ergebnis eines Machtgerangels um die religiöse Federführung - ein kulturpolitischer Krimi, angeführt vom Hohepriester in Jerusalem, der historische Fakten umschrieb und „seine eigenen Großmachtträume in die Vergangenheit projizierte“. Gut für den Professor, daß  heute keiner mehr verbrannt wird, wenn er den Herrn lästert.

 

Die Hauptfigur der Bibel wirkt uneinheitlich. Mal heißt sie Jahwe, mal El oder Elohim. Zuweilen erscheint Gott als Wolke, dann wieder kleidet er sich in eine Feuersäule und weist Mose den Weg.

Wer hat sich diese Mammutschrift ausgedacht? Die ältesten bislang gefundenen Schriftrollen, die Texte biblischer Propheten enthalten, stammen aus Qumran am Toten Meer. Einige der Fetzen konnten mit der Kohlenstoffisotop-Methode datiert werden: die frühesten sind um 240 vCh entstanden.

 

Nach Ansicht der Forscher reichen die Ursprünge der Bibel und ihrer Propheten aber viel weiter zurück. Die Qumran-Rollen seien nur Abschriften von Abschriften. Dutzende von Orten und Personen werden in der Bibel genannt. Aus all diesen Eckdaten schuf die Forschung eine Chronologie, die dem konservativen Forschungslager bis heute als Richtschnur gilt. Demnach lebten die Erzväter um etwa 1800 vCh Und um 1250 vCh zogen die Israeliten aus Ägypten aus.

Diese vermeintlich bronzezeitliche Vorgeschichte Israels wird im 1. Buch Mose ausgebreitet. Alles beginnt mit Abraham. einem Hirten, der aus Ur (im heutigen Irak) stammte. Von dort bricht der Mann auf Geheiß Gottes nach Kanaan auf.

 

Was für eine Gründerstory! Eng verzahnt mit dem Willen des Allmächtigen, der für die Gebietsansprüche bürgt, wird das Feindesland aufgerollt. Und all dies geschieht in einer Zeittiefe, die legendär und „bronzezeitlich“ zu nennen wäre.

An dieser Fama orientierten sich früher auch die Archäologen. Als man bei Grabungen nahe Jericho gewaltsam zerstörte Mauern fand, waren sogleich die Posaunen schuld. Jeder kaputte Ziegel wurde als Manöverschaden aus Josuas Blitzkrieg gedeutet.

Erst in jüngerer Zeit geriet diese Lesart der Bibel zunehmend in Bedrängnis. Abraham reitet ständig auf Kamelen herum. Wie war ihm das möglich? Als Lastenträger kamen diese Tiere erst nach 1000 vCh zum Einsatz [Die Geschichte wurde doch erst später formuliert].

Bald geriet auch Mose in Verdacht, nur eine Fabelfigur zu sein. Um 950 vCh habe der Verfasser der Sinai-Geschichte gelebt, und zwar als Hofschreiber im Palast von König David, so der alte Verdacht. Nur, warum zahlen die Juden dann (in 1. Mose, 42) ihr Getreide mit Metallgeld? Die ältesten Münzen stammen aus Kleinasien und wurden erst im 7. Jahrhundert  erfunden.

Keine Frage: Der Pentateuch, die fünf Bücher Mose, die von den gläubigen Juden als Tora verehrt und für besonders heilig gehalten werden, ist keine Primärquelle aus der Bronzezeit. Schriftkundige „Fälscher“ haben ihr nur eine künstliche Patina verpaßt.

Vor allem das Buch Josua verdreht die Realgeschichte total. Rasant prescht darin der Feldherr bei seinem Eilkrieg über den Jordan und rottet, angetrieben vom jähzornigen Herrn, die Urbevölkerung und deren Vielgötterei aus.

Die neuen Grabungen, die Israels Antikenbehörde derzeit durchführt, zeigen nun das ganze Ausmaß des Schwindels. „Die Besiedlung Kanaans verlief in Wahrheit friedlich und langsam“, erklärt Finkelstein [war schon lange vorher erkannt].

Fakt ist, daß um 1200 vCh semitische Hirtenstämme von der Wüste aus ins westjordanische Bergland einsickerten und dort seßhaft wurden. Es waren Leute, die auf Holzpritschen schliefen und kein Schweinefleisch aßen. Ihre Häuser hatten Platz für vier bis fünf Personen.

Der Norden der Region bis hoch zum See Genezareth bot den Neusiedlern einige Annehmlichkeiten. Zwischen den sanften Hügeln zogen sie Wein und Oliven. Weiter südlich, zwischen Jerusalem und Hebron, ging es karger zu. In zerklüfteten Schluchten wuchsen stachelige Sträucher, die Wasserlöcher waren knapp. Insgesamt lebten um 1000 vCh in den Bergen von Kanaan nur rund 50.000 Menschen. Der Süden war besonders ungastlich und extrem dünn besiedelt.

Zudem gab es ständig Ärger mit den Nachbarn. Edomiter und Moabiter lebten in der Nähe. Zur Küste hin, in der fruchtbaren Küstenebene, hatten sich die - vielleicht von Kreta stammenden - Philister in riesigen Städten breit gemacht. Weiter nördlich siedelten Phönizier, umtriebige Seehändler, die Kinder opferten.

Uneingeschränkter Chef im Land aber war der Pharao. Er beutete die Kupferminen des Landes aus. Um 1250 vCh ließ Ramses II. eine Kette von Burgen und Wasserstellen quer durch das Land errichten, den „Horusweg“- Ausfallstraße für die Nilarmeen.

Es ist schwer vorstellbar, daß ein Zeltschläfer wie Mose in diesem hochgerüsteten pharaonischen Sperrgebiet Feldzüge hätte anzetteln können. Im Jahr 1207 vCh wird zwar ein Stamm Israel auf einer Stele von Pharao Merneptah genannt. Doch der Text bezieht sich auf eine Strafaktion des Nilkönigs und lautet barsch: „Dein Same, Israel, ist dahin.“

Tribute zwackte der Pyramidenboss den Bürgern ab. Wer der Fronarbeit entgehen wollte, floh in die Berge. Dort lebten bald Flüchtige und Ausgestoßene. Viele Experten leiten den Begriff Hebräer von „hapiru“ ab - was so viel wie „Vagabund“ heißen kann.

 

Ausgerechnet in dieser armseligen, karstigen Welt von Kanaan läßt die Bibel glanzvolle Monarchien erstehen. Wo in Wahrheit bärtige Hirten in Wollkutten lebten, erstreckte sich angeblich das Superreich von David. Mehr noch bei seinem Nachfolger Salomo greift die Bibel in die Vollen. 700 Angetraute leben im Harem dieses Regenten. 300 weitere Frauen liebkost er auf unehelicher Basis. Sein Palast ist riesig und gemütlich mit Teppichen ausgelegt. Und

ehe Schatulle quillt über: Laut Bibel übertraf Salomo „an Reichtum alle Könige der Erde“.

Auch kulturpolitisch klotzt der Monarch. Mose, als Wüstennomade, hatte noch im „Offenbarungszelt“ dem Herrn geopfert. Salomo errichtet Gott nun ein Haus aus Stein. Es ist „ganz mit Gold überzogen“ und innen mit libanesischer Zeder ausgeschlagen. Im Allerheiligsten steht die Bundeslade.

Alle Versuche, dieses Heiligtum archäologisch nachzuweisen, sind allerdings gescheitert. „Wir haben nicht mal den Grundriß des Tempels“, gibt der Forscher Bloedhorn zu. Kein Zweifel, das Alte Testament fabuliert. Hütten werden zu Palästen hochstilisiert. Die Landnahme in Kanaan ist Nonsens. Ob Mose je gelebt hat, bleibt zweifelhaft. Und die Geschichte von Salomo gilt dem Schweizer Alttestamentler Othmar Keel als eine „Idealzeit“ ohne historischen Kern.

Wer griff da ins Rad der Geschichte? Welchen Zweck verfolgte er? Und - besonders wichtig - wie lange war die biblische Propagandamaschine in Betrieb?

Die Lösung dieser Fragen bereitet einiges Kopfzerbrechen. Die Urheber der Heiligen Schrift gingen geschickt zu Werke. Je mehr die Forscher in der Tora blättern, desto mehr Fangschlingen tun sich auf.

Allein an den Büchern Mose arbeiteten mindestens vier Verfasser. Einer davon war der „Jahwist“, der den Namen Gottes stets mit dem Tetragramm JHWH („Ich bin, der ich bin“) schreibt und wohl aus Jerusalem kam. Ein anderer Erzähler („Elohist“) lebte wohl im Norden des Landes. Er nennt Gott „Elohim“ oder „El“.

Schwierig wird die Sache, weil das Buch Gottes nicht nur Dichtung und Phantasie enthält. Einige Teile der Bibel erinnern fast an ein Lexikon der Realgeschichte.

Harte Fakten liefern zum Beispiel die „Bücher der Könige“: Sie berichten über die Zeit von etwa 1000 bis 587 vCh, als das nebulöse Imperium des Salomo zerbrach und sich zwei Teilstaaten bildeten - Israel und Juda. Haarklein erzählen die Autoren über Kanalarbeiten, Steuerdekrete und Kriege in diesen Zwillingsstaaten. Insgesamt 42 Könige werden unter Angabe ihrer Regierungszeiten genannt.

Wurden hier etwa alte Chroniken und Herrscherlisten benutzt? Gezielt durchsuchten die Forscher die mesopotamischen Keilschriftarchive. Und tatsächlich: Insgesamt fünf der biblischen Ur-Könige tauchen auch dort namentlich auf.

Das wichtigste Beweisstück legten die Fahnder 1993 im „Tell Dan“ frei, einem Siedlungshügel in Nordisrael. Es ist eine Stele mit Nennung „Haus David“. Der Stammvater lebte also womöglich wirklich - wenn auch nur als „Duodezfürst eines Stadtstaates“ (Finkelstein).

Im Licht der neuen Funde aus der Negev-Wüste und Samaria läßt sich die dunkle „Königszeit“ nun endlich besser nachzeichnen. Um 950 vCh verlor Ägypten die Kontrolle über seine Vasallen. In diesem Machtvakuum konnten sich die hebräischen Stammeshäuptlinge breit machen:

-  Zuerst bildet sich im Norden der Ur-Staat „Israel“. 884 v. Chr. bestieg dort, wie Inschriften beweisen, ein König Omri den Thron. Das Land hatte kaum 100.000 Einwohner

-  Ärmlicher sah es in Juda aus, dem südlichen Nachbarstaat im Raum Jerusalem. Wegen des dürren Bodens lebten dort kaum 10.000 Menschen in festen Siedlungen.

Mit Spaten und Minibaggern haben Archäologen die ganze Bescheidenheit dieser staatlichen Urzellen der Hebräer freigelegt. In Samaria fanden sie ein paar Wein-Quittungen, in Arad verwitterte Briefe aus Ton. Ansonsten griffen die Hirten und Ölbauern fast nie zum Schreibblock.

Bald war es selbst damit vorbei. Im 9. und 8. Jahrhundert wuchs am Tigris ein Staatskoloss heran, der immer unverhohlener nach der Weltherrschaft gierte: Assyrien. Das Land dürstete danach, den Karawanenhandel unter Kontrolle zu kriegen. Weihrauch und Gewürze brachten die Kaufleute vom Jemen bis nach Gaza. Wer den Endpunkt kontrollierte, konnte den ganz großen Profit erzielen.

Im Jahre 732 vCh griff König Tiglatpileser III. zu. Rasch rückte sein Heer bis zum Mittelmeer vor und unterjochte riesige Landstriche. Auch der Zwergstaat Israel geriet unter die Räder. Als Provinz Samaria wurde er dem assyrischen Imperium einverleibt. Nur das Armenhaus Juda blieb vorerst verschont.

Zur Politik der Angreifer gehörten auch Deportationen. 13.500 Israeliten mußten zwangsweise die Heimat verlassen. Ein in Ninive entdecktes Relief zeigt, wie die Juden mit krummen Rücken und geschulterten Säcken in die Fremde marschieren. Daneben sind Gepfählte zu sehen.

Aber auch der kleinere Bruderstaat Juda blieb bedroht. Eine Flut von Kriegsflüchtlingen ergoß sich nach Jerusalem. Die Bevölkerung wuchs von 2000 auf vielleicht 15.000 Einwohner -  und war den Launen des waffenstrotzenden Nachbarn schutzlos ausgesetzt.

In dieser bedrohten Lage, glauben die gemäßigten Bibel- Kritiker um Finkelstein, vollzog sich ein Wunder: die Geburt des Glaubens an einen Gott („Monotheismus“).

Aus tiefster Not und eingequetscht von den Supermächten Ägypten und Assyrien, so das Szenario, habe sich das kleine Juda zur Offensive entschlossen und Rettung gesucht. Weil es kaum Militär hatte, wehrte es sich mit Metaphysik.

Den Anschub für das Projekt Jahwe soll dabei König Josia (639 bis 609 vCh) gegeben haben. Die Bibel feiert ihn als Mann, der gekommen war, um die Spuren fremder Verehrung auszumerzen und das Volk Israel durch das genaue Befolgen des Gesetzes zur Erlösung zu führen.

Flugs, so die Annahme, rief der König seine Priester auf, einen religiösen Beschützer zu erfinden und das „nationale Epos“ vom verheißenen Land zu schreiben.

Zuerst galt es, das Selbstwertgefühl der Nation zu stärken und die drohende Überfremdung abzuwehren. Also setzten die Tempelleute auf Abschottung. Sie wollten eine „ethnische Abgrenzung“ (Finkelstein).

Wer die Bibel genau liest, stößt auf eine Vielzahl an Lebensregeln und Tabus. Der Verzehr von Schwein, Hase oder Kamel zum Beispiel war den Jahwe-Anhängern verboten. Milchspeisen durften nie mit Fleisch in Berührung kommen. Am Passa aß die Gemeinde ungesäuertes Brot.

Am Samstag war das Feuermachen nicht erlaubt. Männlichen Säuglingen trennte der Mohel, der Beschneider, am achten Tag die Vorhaut ab. Zentrale Bedeutung hatte auch das Verbot der „Mischehe“.

Neben diesen Vorschriften, mit denen sich die Religionsgemeinschaft in Juda schrittweise absonderte, soll Josia aber auch mehr Metaphysik eingefordert haben. Bis dahin war Jahwe offenbar nur ein Donnergötze, verehrt als Stadtgott Jerusalems auf dem Berg Zion. Nun wurde er zu einer universalen Macht.

Fast alle Bibelkundler hegen den Verdacht, daß das 5. Buch Mose, das berühmte „Deuteronomium“, das Ergebnis von Josias Kultreform widerspiegelt. Dieses Buch ist geprägt durch eine ganz eigene Sprache, die sonst in keiner anderen Quelle anzutreffen ist:

-  Kompromißlos verurteilt das Werk die Anbetung anderer Götter und droht bei Zuwiderhandlung furchtbare Strafgerichte an.

-  Gott wird als völlig entrückt und transzendent dargestellt.

-  Zugleich enthält das Buch ein absolutes Verbot: Der Opferdienst für Jahwe darf nur im Tempel von Jerusalem durchgeführt werden  und nirgendwo sonst.

Mit diesen Dekreten strebten die Zion-Priester das Glaubensmonopol an. Vor allem wollten sie ihre Kollegen im assyrisch unterjochten Bruderstaat Israel aushebeln. Denn auch diese betrieben auf dem Berg Garizim, 50 Kilometer von Jerusalem entfernt, ein großes Jahwe-Heiligtum.

Dieser Streit zwischen Juda und Israel durchzieht unterschwellig das ganze Alte Testament. Wo sie konnten, schwärzten die Leute aus Jerusalem die Nachbarn aus dem Norden an. Besonders auffällig ist diese einseitige Darstellung in den  Königsbüchern. Die Bewohner Israels treten dort zumeist als kleinmütige Versager auf. Ihre Könige sind nahezu allesamt Frevler und Sünder. In Juda dagegen leben überwiegend fromme und gottesfürchtige Leute.

Sogar vor Betrug und Dokumentenfälschung scheuten die Zion-Priester nicht zurück. Um ihrem Alleinvertreter-Anspruch mehr Gewicht zu verleihen, ersannen sie einen raffinierten Plan.

Im 2. Buch der Könige wird erzählt, daß der Hohepriester Hilkia 622 vCh bei Aufräumarbeiten im Tempel von Jerusalem angeblich ein uraltes „Buch der Gesetze“ gefunden habe. In Wahrheit, so die Experten, war die Tinte dieser mysteriösen  „Tempelschwarte“ kaum getrocknet. Hinter ihr verbarg sich das frisch geschriebene „Deuteronomium“.

Aus der Sicht der gemäßigten Bibelkundler stellt sich die Sache also wie folgt dar: Um 630 vCh schrieben die „Deuteronomisten“ Kernstücke der Bibel. Sie erfanden die Figuren Abraham und Mose und verlegten deren Wirken durch einen Trick in die Vergangenheit.

Aber stimmt das? Hatte sich die Idee vom bildlosen Jahwe schon im 7. Jahrhundert durchgesetzt? Den „Minimalisten“ geht selbst die Bibelkritik der gemäßigten Forscher um Finkelstein nicht weit genug. Ihr Argwohn gegen die Bibel ist noch viel größer - und sie haben gute Gründe.

Historiografie, Ethik, Staatskunde - ungeheure Leistungen sind in dem Werk enthalten. Und all das soll lange vor Platon und Herodot entstanden sein? Tatsächlich nahm die Antike von den Genies aus Juda kaum Notiz. Herodot erwähnt zwar irgendwelche Leute aus Syro­paläs­tina, die sich beschneiden lassen. Von ihren großen Taten weiß er nichts. Erst im 4. und 3. Jahrhundert wurde das Echo stärker. Die geistigen Spitzenleistungen stehen zudem im auffälligen Kontrast zum technischen Standard, den das kleine Land damals aufwies.

Ungeschickt wirkt ein Projekt, das um 720 vCh der damalige König in Jerusalem anschob. Er wollte über einen unterirdischen Kanal Wasser in die Stadt leiten. Der Tunnel hat über 20 Blindstopfen, weil die Arbeiter immer wieder in die falsche Richtung hämmerten - dennoch feiert die Bibel genau dieses Werk als Glanzleistung der Wasserbaukunst.

Die Fraktion der Minimalisten hält die Kultreform von Josia denn auch für eine Übertreibung. Die Geschichte mit dem angeblich uralten, streng monotheistischen „Buch der Gesetze“ sei eine Erfindung aus noch späterer Zeit.

Die Spatenfunde. die jetzt zutage kommen. unterstützen diese Ansicht. Die Abschaffung der Vielgötterei zog sich viel länger hin als bisher bekannt. Noch um 600 vCh lebte die Bevölkerung von Juda polytheistisch wie ihre Nachbarn. „Es gab keine Unterschiede zwischen ihrer Religion und den umliegenden Kulturen“,  erklärt der Tübinger Alttestamentler Herbert Niehr [Auch heute gibt es noch Aberglauben bei uns].

Wichtige Erkenntnisse, was damals wirklich im abgelegenen Bergland um Jerusalem ablief, hat die Forschung dem Schweizer Alttestamentler Othmar Keel zu verdanken. In einer Fleißarbeit untersuchte er rund 8500 Stempelsiegel aus dem syro-palästinenischen Raum. Sein Fazit: In Kanaan wimmelte es von Götzen. Kaum eine Bergkuppe. auf der nicht die Opferfeuer brannten. Vor den Häusern der Bauern standen kleine Altäre aus Kalkstein. Hier verehrten die Farmer ihre Ahnen. Um 650 vCh, so Keel, erlebte das Land zudem einen „Boom der Astralkulte“. Die Götter der Siegermacht aus Assyrien kamen in Mode.

Und überall warf sich das Volk dem Blitze schleudernden Baal zu Füßen. „Wie alle vom Regenfeldbau abhängigen Völker standen in der Levante die Wettergötter im Pantheon ganz oben“, sagt Niehr, „,der Wettergott Baal wurde in vielen lokalen Varianten verehrt. Eine davon ist Jahwe.“ [Jahwe war kein kannanäischer Lokalgott, sondern kam vom Sinai].

Mit Blitz und Speer wurde der Hauptgott anfangs dargestellt. Und er hatte eine Frau: die Liebesgöttin Aschera. Die dänische Expertin Tilde Binger nennt die himmlische Dame „Gemahlin“ des Herrn. Völlig nackt und mit einer merkwürdigen Krone - so wurde diese Ikone der Fruchtbarkeit von den Menschen angebetet. Sogar im Tempel von Jerusalem muß damals ein Kultbaum der Aschera gestanden haben.

Als Beweis dient ein sensationeller Fund. Es ist ein kleiner Granatapfel aus Elfenbein mit der Aufschrift „heiliger Priesterbesitz aus dem Tempel Jahwes“. Die Kugel, gedeutet als Aufsatz eines Zepters, stammt aus dem 7. vorchristlichen Jahrhundert. Granatäpfel waren Symbole der Aschera-Göttin. Sie zierten auch den Rocksaum des Hohepriesters.

Von diesem Gewusel, wie es damals am Götterhimmel Kanaans herrschte, berichtet die Bibel kaum. Geschickt spitzten ihre Autoren die Heilsgeschichte auf Jahwe und dessen Siegeslauf zu. Mißliebige Nachrichten filterte die Tempelzensur heraus.

Und sie übertrieb. Dramatisch erzählt die Bibel, wie - angeblich um 750 vCh - der Prophet Hosea mit Feuereifer durchs Land eilte und unbarmherzig die Abgötterei verfolgte. Elija tötet am Ufer des Kischon gleich 450 Baals-Priester auf einen Streich.

All das sind - später geschönte - Deutungen der Geschichte. Zwar gehen viele Forscher davon aus, daß sich damals in Kanaan tatsächlich eine „Jahwe-Allein-Bewegung“ formierte. Doch deren Anhänger waren noch „randständige Außenseiter“ (Kinet), die erst langsam an Einfluß gewannen.

Die Elite von Jerusalem jedenfalls hatte mit den Visionären anfangs wenig am Hut. Um 590 vCh ließ sich ein reicher Bürger der Stadt begraben. Der Tote trug zwar auf der Brust eine Silberplatte mit einer alttestamentarischen Segensformel. Doch in der düsteren Gruft fand sich auch ein Amulett der ägyptischen Katzengöttin Bastet. Der Prophet Ezechiel nennt solche Anhänger „Mistzeug“.

Und selbst Jahwe war um 60o vCh wohl noch nicht so fern, entrückt und bildlos, wie er im 5. Buch Mose auftritt. Der Religionsforscher Niehr ist sicher: „Im Tempel von Jerusalem stand damals noch ein Kultbild des Gottes.“ Ganz mit Gold überzogen, stumm im Allerheiligsten stehend und bewacht von den Kerubim - so mag man sich die Figur vorstellen.

Angebetet wurde sie wohl als „Herr der Ehre“, wie es in der Bibel heißt [Das Besondere ist gerade, daß dort keine Figur stand, selbst in Bethel nicht].

Erst im Jahr 587 vCh vollzog sich jenes Ereignis, das dem Monotheismus dann wahrscheinlich zum Durchbruch verhalf. Nun wurden die Sprungfedern zur Transzendenz wirklich gespannt. In jenem Jahr ereignete sich eine Zäsur, die als großer Wendepunkt in die Geschichte des Volkes Israels einging. Über das Land brach eine „nationale Katastrophe“ herein. Es war ein Sommertag, als sich von Nordosten aus eine gigantische Armee der Festung Jerusalem näherte. Schon aus der Ferne war das Klirren der Speere und das Rumpeln der Kampfwagen zu hören. Der Babylonier Nebukadnezar war auf dem Durchzug nach Ägypten. Ganze 18 Monate lang belagerte der Feldherr die Stadt. Die Pfeile seiner Bogenschützen verdunkelten den Himmel, Holzrammen dröhnten gegen die Stadttore. Erst nach zähem Kampf gaben die Bürger vom Zionberg auf.

Wie damals üblich, ging es den Unterlegenen brutal an den Kragen. Jerusalems König Zedekia wurden die Augen ausgestochen. Nun hatte auch Juda, der kleine Bruderstaat, seine Unabhängigkeit verloren. Selbst vorm Allerheiligsten machte der lästerliche Feind nicht Halt: Der Tempel Jerusalems ging in Flammen auf.

Einen Teil der Oberschicht, angeblich 15.000 Menschen, ließen die Sieger ins Zweistromland verschleppen. In Babylon bildete sich bald eine jüdische Kolonie.

Frühestens hier, in der Diaspora, am Fuß des Riesenturms Etemenanki, auf dessen 91,5 Meter hoher Spitze eine Sternwarte stand ( so sehen es immer mehr Forscher) hätten die Gottes Hebräer das Sehnsuchtsmotiv vom ,,verheißenen Land“ entwickelt - gerade weil sie keines mehr besaßen.

Aber auch ihre Gottesvorstellung selbst erhielt in der Fremde neue Impulse - und zwar aus Persien. Denn der grause Nebukadnezar und sein Superturm (der später durch Wind und Wetter zerfiel) blieben nur eine Episode. Im Jahre 539 vCh eroberten die Perser weite Teile der antiken Welt. Ihr Glaubenslehrer Zarathustra verkündete eine Lehre, die ebenfalls Engel kennt und auf dem Gegensatz von Gut und Böse basiert.

Und auch Ahuramazda, der Hauptgott der Perser, war ein Wesen ohne Gestalt. Altäre baute dieses Volk nicht, schreibt der Historiker Herodot: „Wer das tue, sei töricht, sagen sie. Offensichtlich stellen sie sich die Götter nicht wie die Griechen als menschenähnliche Wesen vor.“

Tatsache ist, daß die fernen Morgenländer den aufblühenden Jahwe-Kult nach Kräften unterstützten. Im Jahre 538 vCh erlaubten sie den Juden die Rückkehr in ihre Heimat.

Rund 30.000 Menschen kehrten damals ins karstige Juda zurück - darunter viele Priester. Stracks bauten sie den verkohlten Tempel auf dem Berg Zion wieder auf. Neuer Bürgermeister von Jerusalem wurde 445 vCh Nehemia, vormals Mundschenk beim Perserkönig Arta­xerxes. Ihm zur Seite stand Esra, der das Amt des Hohepriesters übernahm. In der Bibel nennt er sich „Beauftragter für das Gesetz des Gottes des Himmels“.

 

Nun erst, als Verwalter der persischen Provinz Jehud (Radius: 30 Kilometer, so die Annahme der Minimalisten) seien die radikalen jüdischen Reformer zur Hochform aufgelaufen. Vergleichbar den klösterlichen Fälscherbanden des Mittelalters, die Urkunden umdatierten, hätten sie das hebräische Schrifttum durchgesucht, umgeschrieben und dabei ganze Königreiche erfunden.

Vor allem aber bekämpften die Rückkehrer den Kult um die Fruchtbarkeitsgöttin Aschera. Alttestamentler Keel spricht von einer „religiösen Kontrolle“. Die nackten Ton-Idole der Himmelsdame seien verboten und zerschlagen worden.

 

In der Bibel ist von den damals tobenden Glaubenskämpfen fast nichts zu lesen. Nur ganz selten übersah die Tempelzensur verräterische Stellen: In Psalm 68 wird Gott „Wolkenfahrer“ genannt. Diesen Namen trug auch der heidnische Wettergötze Baal [polemisch gegen Baal: Jahwe ist der Wolkenfahrer - oder ganz allgemeines Bild].

Erst die Archäologie gibt jetzt eine Ahnung von den wahren Vorgängen jener Epoche. Besonders spannend ist eine aktuelle Grabung im ägyptischen Assuan. Dort lebte auf einer Nil-Insel eine Gruppe jüdischer Söldner, die engen brieflichen Kontakt mit Jerusalem hielten. Aus der Zeit von 460 bis 407 vCh liegt Tempelpost vor. Die Schriften zeigen, daß die Auslandsjuden selbst zu dieser Zeit noch neben ihrem Hauptgott Jahu mindestens drei weitere Götter verehrten, darunter die Liebesgöttin Anat. Die radikalen Religionsforscher wundern solche Befunde nicht. Für sie ist die Bibel eine Glaubensschrift, die nur lockeren Umgang mit der Wahrheit pflegt.

Aber auch unter den konservativen Gelehrten machen sich Zweifel breit. Der Theologe Niehr hat in seiner Zunft eine allgemeine „Tendenz zur Spätdatierung“ der Bibeltexte ausgemacht. Er selbst schlägt vor, Mose und Co. „durch die Brille der persischen und hellenistischen Zeit“ zu lesen.

Besonders merkwürdig ist in dem Zusammenhang ein rätselhaftes und selbst unter Fachleuten kaum bekanntes Heiligtum. Es liegt an der Straße 443, die nördlich von Jerusalem Richtung Ramot führt. Offiziell heißt die Stätte „Nebi Samuel“ - der Prophet Samuel. Hinter verrosteten Metallzäunen verbirgt sich ein fast 1.000 Quadratmeter großer Kultplatz. In harter Knochenarbeit wurde fast die gesamte Bergkuppe abgefräst und wie eine Rollschuhbahn geglättet. Am Rand stehen Reste von Weinpressen sowie Stallungen fürs Opfervieh.

Im vorläufigen (und nur in hebräischer Sprache vorliegenden) Grabungsbericht heißt es, daß die Stämme Israels hier den Himmel um Regen anriefen und andere „bedeutende religiöse Rituale“ vollzogen.

Noch im „2. Jahrhundert vor Christus“ sei der Platz in Gebrauch gewesen.

Was für eine Entdeckung! Keine zehn Kilometer von Jerusalem entfernt, auf einem Berg und fast auf Sichtweite zum großen Jahwe-Heiligtum, wurden demnach selbst in hellenistischer Zeit noch heidnische Regentänze aufgeführt.

Angesichts solch bizarrer Befunde hat der Alttestamentler Diebner seine Kollegen zur „metakritischen Quellenschau“ aufgerufen. Sein Motto: Seid mißtrauisch beim Bibellesen.

 

Noch die Makkabäer, glaubt der Forscher, hätten Kerntexte der Bibel umgeschrieben. Der Name steht für eine Gruppe von Hohepriestern und Königen, die um 140 vCh von Jerusalem aus die Unabhängigkeit erkämpften. Für kurze Zeit blühte damals im Gelobten Land ein Gottesstaat, geführt von den Anhängern Jahwes.

Kurz danach gingen die Eiferer sogar militärisch in die Offensive. Es gelang ihnen, den verhaßten Norden zu überrennen. Der Sakralbau auf dem Garizim, „Rivale des Jerusalemer Tempels“ (Dubnow), wurde zerstört.

Erst in diesem geschichtlichen Augenblick, meint Diebner, sei der Traum vom panisraelitischen Großreich entstanden, der sich wie ein Leitmotiv durch die Heilige Schrift zieht. Der einst so viel größere Nachbarstaat wurde geschluckt und dessen alter Name „Israel“ zum neuen Schlachtruf der ganzen Nation.

Diebner drückt es so aus: „Es vollzog sich die Destruktion der Kultur Samariens, das heißt die imperialistische Integration der Kultur der samaritanischen Kulturgemeinde in ein judäisch beherrschtes und kontrolliertes Kultur-System.“

Nun erst, glauben die Minimalisten, entstand die - fiktive - Vorgeschichte vom Erzvater Abraham. Dessen mit realen Ortsnamen gespickte Wanderung durch Kanaan umfaßt etwa jenes Gebiet, auf das die Makkabäer Anspruch erhoben.

Und auch die berüchtigte Story von der Landnahme Kanaans, in der Gott dem auserwählten Volk befiehlt, die ansässige Urbevölkerung „auszutilgen“, paßt viel besser in die Zeit der Makkabäer, die in schwere Geländekämpfe verstrickt waren.

Ist das Buch Josua also eine „Programmschrift aus dem 2. vorchristlichen Jahrhundert“, wie der dänische Forscher John Strange spekuliert? Auch der Bibelkenner Krauss vermutet: „Es sieht so aus, als wollte der Verfasser des Buches Josua den Hohepriestern die richtige Politik gegenüber den heidnischen Nachbarn in dichterischem Gewand empfehlen.“

Kein Zweifel: An den theologischen Fakultäten werden derzeit unbequeme Gedanken ausgebrütet. Die jüdische Orthodoxie verschließt eher die Ohren. Ihr gilt schon der gemäßigte Forscher Finkelstein als Nestbeschmutzer.

Nüchterne Analysen sind in Israel zur Zeit nicht gefragt. es blüht der sentimentale Fanatismus. Jeden Freitagabend treten religiöse Juden unter Polizeischutz an der Klagemauer zum Gebet an. Wenige Meter über ihnen, auf dem Burgberg, in der Aksa-Moschee, knien Muslime.

An dieser Situation wird sich so schnell nichts ändern. Haß steht gegen Haß, Religion gegen Religion, Besitzanspruch gegen Besitzanspruch.

Die Tora ist zwar ein „herausragendes Ergebnis menschlicher Einbildungskraft“ (Finkelstein). Sie zeugt vom Triumph des Homo sapiens, der sich von den Fesseln des Naturmythos befreite und in die Sphäre des ethischen Gesetzes vorstieß. Zugleich aber tischt die Bibel auch fromme Lügen auf (Matthias Schulz).

 

 

 

Das Volk Israel in der Antike                                  (* in der Bibel genannte Ereignisse)

 

1207 vCh

Erstmalige Erwähnung eines Stammes „Israel“ auf einer Siegesstele von Pharao Merneptah

um 1200

Moses auf dem Sinai *

um 1200 bis 1175

„Seevölkerwirren“ führen zum Niedergang des archaischen Griechenland und des Hethiterreichs: wirtschaftlicher Kollaps und Bevölkerungsschwund

1186

Troja brennt

1004 bis 965

David erobert Jerusalem und schafft sein legendäres ,,Großreich“

965 bis 926

Bau des Jahwe-Tempels unter Salomo

950

Jerusalem hat kaum 1000 Einwohner

926

Zerfall des jüdischen Großreichs in zwei Teilstaaten *

800

Polytheismus in Kanaan. Geopfert wird auf Höhenheiligtümern

um 750

Homer schreibt die „Ilias“

722

Assyrische Heere zerschlagen den Teilstaat Israel

um 720

Bau eines 540 Meter langen Wassertunnels in Jerusalem

639

Josia, König von Juda, bekämpft die Vielgötterei und setzt den Monotheismus durch  *

664 bis 595

Letzte Blüte Ägyptens. Judäische Gastarbeiter arbeiten am Nil

um 600

Mutmaßliche Geburt Zarathustras

587

Der Babylonier Nebukadnezar zerstört den Tempel von Jerusalem. Beginn der Babylonischen Gefangenschaft   *

um 560

Sprachverwirrung beim Turmbau zu Babel  *

538

Der Perserkönig Kyros erlaubt die Rückkehr der Juden aus dem Exil

515

Wiederaufbau des Tempels von Jerusalem

5. Jahrhundert

Priester der Ziongemeinde verfassen vermutlich große Teile der Bibel

um 430

Herodots Geschichtswerk erwähnt weder die Israeliten noch den Gott Jahwe

4. Jahrhundert

Große jüdische Ghettos in den Metropolen Alexandria und Antiochia

334 bis 323

Feldzüge Alexanders des Großen

um 300

In Ägypten kursieren antisemitische Hetzschriften

3. Jahrhundert

Niederschrift der biblischen Bücher „Prediger“ und „Hoheslied“

ab 240

Älteste Papyrusrollen von Qumran

168

König Antiochos verbietet den Jahwe-Kult und die Beschneidung der Knaben

141

Wiederherstellung eines unabhängigen jüdischen Staates „Judäa“

94 bis 88

Bürgerkrieg zwischen weltlichen und religiösen Parteien in Judäa

63

Roms Feldherr Pompejus erobert die Hauptstadt

37 bis 4

Herodes I. - Statthalter von Roms Gnade

um 4 vCh

Mutmaßliche Geburt Jesu  *

66 n. Chr.

Jüdischer Aufstand gegen die römischen Besatzer

70 nCh

Zerstörung Jerusalems durch vier Legionen. Der Tempel wird angezündet und die Schätze werden nach Rom entführt

70 n. Chr.

Markus schreibt das erste Evangelium

 

 

 

 

Kreationisten: Und die Erde ist eine Scheibe!

 

Kreationisten wollen die Schöpfungsgeschichte als Wissenschaft verkaufen. Allein, ihnen fehlt der Beweis. Kansas/USA, November 1999: Die Evolutionsbiologie wird aus den Unterrichtsplänen entfernt. Für aufgeklärte Europäer wirkte die Entscheidung des Schulrats wie ein Stück zurückgekehrtes Mittelalter. Was anfangs nur eine Provinzposse zu sein schien, hat in den USA inzwischen immer weitere Kreise gezogen. Andere Schulräte haben ähnliche Beschlüsse gefaßt. Und auf Druck radikaler religiöser Gruppen stellt sogar das angesehene Smithsonian Naturkundemuseum in Washington die biblische Genesis als den Ursprung der Welt und des Lebens vor. Fundamentalistische Christen, die die Evolutionstheorie ablehnen, haben in den USA seit jeher viele Anhänger

Doch für eine Massenbewegung ist das Weltbild dieser Kreationisten zu schlicht: Sie nehmen die Bibel wörtlich - und daß die Welt in sechs Tagen entstanden sein soll, ist für die meisten Christen nicht glaubwürdiger als die Behauptung, daß die Erde eine Scheibe sei.

Daß die Schöpfungsgläubigen trotzdem so erfolgreich sind, liegt an ihrem gekonnten Auftritt: Sie haben von den Biologen Inhalte und Begriffe übernommen, sie verbreiten ihre Ideen übers Internet, in Ausstellungen und Filmen - und sie behaupten, daß sie eine Wissenschaft betreiben. Das ist in den USA besonders wichtig. In diesem Land mit seinen vielen Religionen sind Staat und Glaube streng getrennt. In staatlichen Schulen dürfen keine religiösen Inhalte vermittelt werden.

Wenn es aber einer Glaubensgruppe gelingt, ihre Überzeugung als Wissenschaft zu verkaufen, kann sie darauf pochen, daß ihre Botschaft in Schulen gelehrt wird. Intelligent Design (ID) nennen die modernen Kreationisten ihr Konzept. Im Gegensatz zu traditionellen Kreationisten leugnen sie nicht die Ergebnisse der letzten 150 Jahre aus Geologie, Paläontologie, Molekularbiologie und Evolutionsforschung, sondern picken sich heraus, was in ihr Weltbild paßt. Sogar die Evolution kommt darin vor.

Daß sich die Tier- und Pflanzenwelt ständig verändert, ist auch für sie nicht zu übersehen. Aber ID-Anhänger behaupten, daß die Welt von einem intelligenten Designer geschaffen wurde, der immer wieder in die Schöpfung eingreife und ihr die entscheidenden Impulse gebe. Ihr Credo: Es

gibt zwar eine Mikroevolution - also die Anpassung der Lebewesen an sich ändernde Umweltbedingungen -, aber keine Makroevolution, bei der neue Arten entstehen. Zudem behaupten sie, daß die Darwinsche Evolutionstheorie nur eine unbewiesene Hypothese sei. Für Naturwissenschaftler ist das eine lächerliche Unterstellung, da es sich bei der Evolutionstheorie um eine zentrale Säule

der modernen Biologie handelt – und kaum eine andere Theorie in der Lebenswissenschaft so gut belegt ist.

Die Argumentationsschiene der Anti-Evolutionisten ist immer dieselbe: Sie nehmen sich Phänomene aus der Natur vor - zum Beispiel das Auge oder die Flugfedern der Vögel - und sagen: Das ist so genial und kompliziert, das kann nicht durch Zufall entstanden sein, ein intelligentes Wesen muß nachgeholfen haben. Dabei behauptet natürlich kein seriöser Evolutionsforscher, daß diese natürlichen Errungenschaften plötzlich auf die Welt kamen. Sie entwickelten sich vielmehr Stück für Stück. So zeigen jüngste Fossilienfunde, daß es schon lange vor den Vögeln Saurier mit Federn gab – noch nicht zum Fliegen, aber als Schutz vor Kälte. Und die moderne Gen-Forschung

entdeckte in den letzten Jahren viele verschiedene Mutationen, durch die sich die Erbinformation positiv veränderte, zum Beispiel Gen-Verdoppelungen oder Veränderungen bei der Steuerung von Genen. So haben Mensch und Schimpanse viele identische Gene, aber diese unterscheiden sich in der Menge, in der sie in Aktion treten, und im Zeitpunkt, zu dem dies geschieht.

Wortführer des modernen Kreationismus ist in Deutschland die „Studiengemeinschaft Wort und Wissen“ im baden-württembergischen Baiersbronn. Ihr Geschäftsstellenleiter Reinhard Junker und ihr Vorsitzender Siegfried Scherer, Professor für Mikrobiologie an der Universität München, haben schon vor 20 Jahren die erste Auflage von „Evolution - ein kritisches Lehrbuch" herausgebraucht. Es ist eine Mischung aus anerkanntem biologischen Wissen und Glaubensinhalten, enthält dabei viele gut gemachte Grafiken und wirkt wie ein normales Schulbuch. Inzwischen ist es in der sechsten Auflage erschienen. Im Herbst letzten Jahres wurde es vom religiösen „Kuratorium Deutscher Schul-Buchpreis" ausgezeichnet.

Die Laudatio hielt pikanterweise der Ministerpräsident von Thüringen Dieter Althaus. Er empfahl das Buch sogar für den Biologieunterricht. Diese Ereignisse brachten die Kreationisten in die Nachrichtensendung „heute" und in die Tagespresse. Dem Magazin „Der Spiegel" waren sie sogar eine Titelgeschichte wert.

Einen weiteren Erfolg verzeichneten Scherer und seinen Anhänger schon 1998. Sie brachten die Wissenschaftsredaktion des Senders Freies Berlin (SFBJ dazu, einen journalistisch gemachten

Werbefilm für Intelligent Design mit dem Titel „Hat die Bibel doch recht? Der Evolutionsbiologie fehlen die Beweise" zu senden. Der Film lief allerdings nur einmal und verschwand nach Protesten von Wissenschaftlern im Archiv des SFB.

Allen modernen Kreationisten gemeinsam ist das intelligente und zeitgemäß präsentierte Informationsmaterial. Es wirkt seriös - und auf den ersten Blick fallen einem Laien die Ungereimtheiten kaum auf. Doch trotz dieser guten Öffentlichkeitsarbeit haben alle Kreationisten ein großes Problem: Es gibt keinerlei Beweise für ihre Theorie eines intelligenten Designers. Einige ID-Protagonisten arbeiten zwar - wie Scherer - an Forschungseinrichtungen, doch ihr Geld verdienen sie nicht mit Evolutionsforschung und sie haben es nicht geschafft, ID-Inhalte in angesehenen Forschungsfach blättern zu veröffentlichen, was in Wissenschaftskreisen der „Ritterschlag“ für eine Hypothese ist.

Aufgrund dieses Faktenmangels haben an den Universitäten in Deutschland genau wie in den USA weder Theologen noch Biologen Interesse, sich mit ID-Thesen auseinander zu setzen. „Ich lehre zwar an der größten baptistischen Universität der Welt und bin religiös. Aber trotzdem ist es meine Grundüberzeugung, daß Intelligent Design nichts in einem wissenschaftlichen Seminar zu suchen hat", meinte Derek Dawson, Leiter des Instituts für Kirche-Staat-Forschungen an der technischen Baylor University, in der New York Times.

Auch Organisationen, die den ID-lern anfangs offen gegenüber standen, sind vorsichtig geworden. Zum Beispiel die Templeton Foundation, eine US-Stiftung, die Religion und Wissenschaft zusammenbringen will und entsprechende Projekte finanziell unterstützt. Sie hatte Intelligent-Design-Kreationisten um Vorschläge für Forschungsvorhaben gebeten, „Es kamen keine", sagte Charles L. Harper, Vizepräsident der Foundation, in der New York Times. „Was strikte Wissenschaft und intellektuelle Ernsthaftigkeit angeht, passen die Intelligent-Design-Leute nicht in die Welt wissenschaftlicher Überprüfbarkeit.“

In den USA gelang besorgten Eltern kurz vor Weihnachten ein Gegenschlag. Im Städtchen Dover in Pennsylvania hatten sie gegen den Beschluß des örtlichen Schulrats geklagt, der vorsah. Intelligent Design als wissenschaftliche Alternative im Unterricht vorzustellen, Bundesrichter John Jones, Mitglied der republikanischen Partei und vor vier Jahren vom ID-Anhänger George W. Bush ernannt, fegte den Beschluß vom Tisch. Für ihn war dabei entscheidend, daß „Intelligent Design von der wissenschaftlichen Welt nicht akzeptiert wird, keine wissenschaftlich überprüften Ergebnisse veröffentlicht und nicht Gegenstand von Versuch und Forschung ist“.

Fazit: ID ist Glaubenssache und hat somit nichts im Biologie Unterricht zu suchen. In seiner Begründung fand Jones sehr klare Worte. Er nannte den Beschluß des Schulrats eine „atemberaubende Dummheit“.

 

 

 

Gott

 

Erzählung: „Gott ist hier gewesen“  

Verbissen ging Ralf die Straße entlang, die zum Dorf führte. Es regnete, und seine Sachen

wurden immer nasser. Er selber war wütend und traurig zugleich. Man hatte ihm sein Fahrrad gestohlen. Und es war nicht mal angeschlossen gewesen. Er hatte es an die Pappeln beim Fußballplatz gelehnt, wie die anderen auch. Aber ausgerechnet seins war wag. Nun mußte er den weiten Weg von zu Hause bis zur Schule zu Fuß gehen.

Die Aussichten, daß er ein neues bekam, waren gering. Der Vater war Maler und verdiente nicht viel mit seinen Bildern. Wahrscheinlich mußte er für den Rest der Schulzeit laufen. Und das Fußballspielen konnte er nun auch aufgeben, denn der Sportplatz lag unerreichbar fern jenseits des Dorfes.

Am Kaufladen stand Klaus. „Hast du dein Rad immer noch nicht gefunden?“ fragte er teilnahmsvoll. „Doch, natürlich“, knurrte Half. „Ich komme bloß zu Fuß, weil es für mich nichts Schöneres gibt, als eine Stunde durch den Reger zu laufen!“ - „Nun sei doch nicht gleich so“, sagte Klaus, „ich wollte ja nur fragen!“ Schweigend gingen sie nebeneinander.

„Übrigens“, sagte Klaus nach einer Weile und sah Ralf vorsichtig vor der Seite an, „meine Oma hat einmal ihre Geldtasche verloren, da war ihr ganzes Geld für den Monat drin. Sie betete inständig, daß sie das Geld wiederfinden möge. Immer wieder betete sie das. Sie ließ nicht locker. Und als sie nach ein paar Tagen in den Garten ging, fand sie ihre Geldtasche im Blumenbeet. Sie war naß und schmutzig, aber das ganze Geld war noch drin!“

Die Geschichte ging Ralf nicht aus dem Kopf. Nach der Schule fragte er Klaus: „Soll ich es auch einmal so machen wie deine Oma? ich meine beten und so?“- „Warum denn nicht?“ sagte Klaus. „Schaden kann es auf keinen Fall. Gott hilft den Armen, sagt meine Oma!“- „Na, dann könnte er sich wirklich mal ein bißchen um mich kümmern. Ich finde, ich hätte es nötig!“

Klaus sagte: „Du solltest es wenigstens probieren. Schließlich ist Gott noch am ehesten derjenige, der einem bei so etwas helfen kann!“ - „Dann werd ich gleich heute abend anfangen mit Beten“, rief Ralf eifrig. „Weißt du was“, schlug Klaus ihm vor. „Ich helfe dir, ich bete auch mit. Wenn zwei beten, geht es vielleicht schneller!“ - „Wirklich, willst du das für mich tun?“ Ralf war ganz gerührt. Er hatte gar nicht gewußt, daß Klaus so nett war.

An diesem Abend ging Ralf früher ins Bett als sonst. Den ganzen Tag hatte er darüber nach­gedacht, was er Gott sagen wollte. Jetzt konnte er es auswendig wie ein Gedicht für die Schule. Er flüsterte es so lange vor sich hin, bis er darüber einschlief.

Am anderen Morgen erwachte er früh und ging noch vor dem Frühstück hinunter in den Hof. Sein Fahrrad hatte immer in dem alten Schuppen hinter dem Haus gestanden. Und wenn Gott ihn erhört hatte, dann stand es jetzt vielleicht schon wieder dort, gerade so, als sei es niemals fort gewesen. Sein Herz klopfte vor Aufregung, als er den Riegel zur Seite schob und die Tür langsam öffnete.

Der Schuppen war leer bis auf Mutters Gartengeräte, die in einer Ecke zusammenstanden.  Keine Spur vor einem Fahrrad! Enttäuscht sah Ralf sich um. Nichts! Als er Klaus später am Konsum traf, sagte der: „Wir sind ja nicht die einzigen, die etwas von Gott wollen. Sicher ist er sehr beschäftigt. Bei meiner Oma hat es auch ein paar Tage gedauert. Man darf nicht aufgeben!“ Also beschlossen sie, weiter zu beten. Jeden Tag lief Ralf mehrmals heimlich zum Schuppen und schaue nach. Aber kein Fahrrad war da.

Am Samstag nach der Schule sagte Klaus plötzlich: „Weißt du, was wir machen sollten? Wir sollten morgen in die Kirche gehen. Ich glaube, das ist überhaupt das Beste, was wir tun können. Da muß Gott uns einfach hören!“ Ralf war nicht gerade begeistert von der Aussicht, daß er nun auch noch sonntags der weiter Weg ins Dorf machen sollte. Aber er sah ein, daß man nichts unversucht lassen durfte.

So verabredeter sie sich für den anderen Tag vor der Kirche. „Hoffentlich kommen nicht allzuviel Leute und beten Gott die Ohren voll“, seufzte Ralf, „sonst kommen wir vielleicht wieder nicht dran!“ In der Kirche setzten sich Ralf und Klaus ganz vornehm hin, damit Gott sie gut sehen konnte. Klaus berührte Ralf manchmal sanft am Ärmel und lächelte ihm zu; dann senkten beide die Köpfe und beteten jeder für sich.

Nach der Kirche rannte Ralf gleich zum Schuppen. Die Tür stand offen. Ob das wohl ein Zeichen war? Er spürte, wie sein Mund vor Aufregung ganz trocken wurde. Er mußte all seinen Mut zusammennehmen, ehe er es wagte hineinzusehen. Der Schuppen sah aus wie immer -leer. Ralf wollte es einfach nicht glauben. Vielleicht hatte Gott das Fahrrad anderswo hingestellt? Vielleicht wußte er gar nicht, wo das Fahrrad hingehörte.

Obwohl man eigentlich annehmen sollte, daß Gott das wußte. Jedenfalls sah Ralf sich überall um. Aber kein Wunder war geschehen.

Allmählich fing er an, sich Sorgen um Gott zu machen. Er war doch nicht etwa krank geworden? Schließlich war er ja schon sehr alt, da konnte das schor vorkommen. Oder vielleicht machte er auch nichts mehr, so wie Opa Karl, der auch nicht mehr arbeiten ging, seit er 65 geworden war. Da kam sein Vater aus dem Haus. Er sah Ralf am Zaun sitzen und in den Himmel starrer. „Nanu, suchst du etwas da oben?“fragte er. Ralf wurde ein bißchen rot:" „Ach nein - doch. Ich habe gebetet, daß ich mein Fahrrad wiederbekomme, und nun…!“ - „Nun wartest du darauf, daß es vom Himmel fäll“ - „Naja, so vielleicht nicht gerade. Aber irgendwie…“

Der Vater lächelte: „Ein Gebet ist kein Zauberspruch. Und Gott ist kein Zauberer, der oben im Himmel sitzt mit einem langen weißer Bart und auf uns herabsieht und unsere Gebete belauscht und ab und zu ein Wunder tut. So mußt du dir das nicht vorstellen!“ - „Nein?“ fragte Ralf erstaunt. „Aber in Opa Karls Religionsbuch ist ein Bild, da sitzt Gott über der Wolken mit seinem langer Bart und einem Mantel und…“ - „Ich kenne das Bild. Als Junge habe ich auch immer geglaubt, Gott müßte so aussehen. Bis mir einfiel, daß der Maler doch gar nicht wissen könne, wie Gott aussieht. Er hatte ihr ja nie gesehen. Niemand hat Gott je gesehen!“

- „Niemand?“ fragte Ralf erschrocken, „auch nicht die Menschen in der Bibel?“ - „Denen ist Gott in ihren Träumen erschienen. Aber gesehen haben sie ihn auch nicht. Man kann ihn nicht sehen!“

„Ja, aber wenn doch nie jemand Gott gesehen hat, woher weiß man dann überhaupt, daß es ihn gibt? Dann Könnte es ihn doch ebensogut überhaupt nicht geben. Dann ist das alles bloß wieder ausgedacht?“ -„Es ist wie mit dem Wind, weißt du: Man kann ihn nicht sehen, aber es gibt ihn doch. Niemand bezweifelt das. Du mußt nur die Bäume anschauen, daran erkennst du den Wind. Er verändert sie: Sie schwanken hin und her und biegen sich, nicht wahr?“ Ralf sagte: „Ja!“

„Genauso ist es mit Gott. Du mußt nur die Menschen anschauen. Wenn sie gut zueinander sind, anstatt sich zu hassen, wenn sie Mitleid miteinander haben und einander verzeihen können, dann ist da Gott. Er ist mitten in ihnen!“

„Ach“, sagte Ralf, „ist er in mir auch schon gewesen?“ - „Gewiß,  immer wenn du einen Streit hattest und du hast nachgegeben, oder wenn dir einer Unrecht getan hat und du hast es ihm nicht nachgetragen. Oder wenn jemand in Not war, und da hast ihm geholfen. Du mußtest es einfach tun, vielleicht wußtest du selbst nicht warum. Dann ist jedesmal Gott hier gewesen!“ - „Und wo ist er gerade jetzt?“ - „Ich glaube, gerade jetzt ist er uns ziemlich nah. Und an vielen Stellen auf der Welt ist er auch, wo ein paar Menschen gut miteinander ausgehen, anstatt sich wehzutun  und sich zu kränken.“

„Und warum war er nicht da, als mein Fahrrad geklaut wurde?“ - „Ich bin sicher, daß er Fahrräder nicht so wichtig nimmt Das hat irgendein Taugenichts genommen, oder vielleicht einer, der es nötiger brauchte als du!“- „Was?“ rief Ralf empört. „Nötiger als ich? Dann hätte er wenigstens Stefans Rad klauen können. Der hätte längst ein neues bekommen!“ - „Du wirst auch wieder eins bekommen. Sei doch nicht so ungeduldig. Warte nur, wenn ich wieder ein paar Bilder verkauft habe!“- „Bis dahin habe ich mir längst die Beine in der Bauch gelaufen!“ Ralf rannte wütend ins Haus.

Er hatte soviel Hoffnung auf Gott gesetzt. Aber nun gab es ihn wohl überhaupt  nicht, jedenfalls nicht so, wie er ihn sich immer vorgestellt hatte. Alles war ungewiß und rätselhaft und schwer zu verstehen. Es gab keine Sicherheit auf der Welt. Man konnte sich auf nichts verlassen.

Am nächsten Morgen sprach er mit Klaus darüber: „Gott kümmert sich nicht um Fahrräder!“ sagte er. Darauf sagte Klaus nach einer Weile: „Wenn das so ist, dann müssen wir die Sache selbst in die Hand nehmen. Vielleicht sollten wir eine Anzeige in die Zeitung setzen: „Suche gebrauchtes Fahrrad! Das Geld dafür müssen wir uns einfach verdienen!“

Aber die meisten Leute lachten nur über die Jungen, die nach Arbeit fragten. Einmal gruben sie einer alter Frau für zwei Mark der Garten um. Und mit Altstoffsammeln war auch nicht viel, denn da hatten sie schon von der Schule aus alles abgeklappert. Nach einer Woche hatten sie gerade 4,50 Mark zusammen. „Da werde ich hundert Jahre alt, bis ich genug Geld beisammen habe“, sagte Ralf trübsinnig. „Weißt du was“, rief Klaus plötzlich, „nimm doch meins! Nimm doch einfach meins. ich gebe es dir, bis du selber wieder eins hast. Ich brauche es eigentlich gar nicht. Ich kann ebensogut das Rad meiner Schwester nehmen. Sie ist die ganze Woche nicht zu Hause!“

„Mensch, Klaus!“sagte Ralf, „würdest du das wirklich für mich tun? Das kann ich doch gar nicht annehmen. Warum tust du das?“ - „ Weiß ich nicht“, murmelte Klaus. „Fahr schon ab!“ Ralf trat in die Pedale, was das Zeug hielt. Der lange Weg vom Dorf nach Hause war nur ein Katzensprung.

„Ich hab ein Rad“, rief er, als er in den Hof einbog. Vater kam aus seiner Werkstatt, und Mutter guckte am Fenster. Ralf fuhr im Kreis herum und sang, bis er ganz außer Atem war. Als er endlich anhielt, sagte der Vater zu ihm: „Siehst du, ich wußte, daß du wieder eins bekommen wirst!“ -„Das konntest du überhaupt nicht wissen“, rief Ralf trotzig. „Es ist von Klaus. Er hat es mir gegeben, weil er Mitleid hatte!“ - „Sieh mal n“, lächelte der Vater. „Der Klaus! Einfach so! Weil er Mitleid hatte!“ Er schwieg und betrachtete das Fahrrad. Als Ralf anfing, Vaters langes Schweigen merkwürdig zu finden, fiel ihm etwas ein: „Oder glaubst du, das hat etwas mit Gott zu tun, weil wir gebetet haben?“ Der Vater nickte. Es war wie ein Geheimnis zwischen ihnen (nach einer unveröffentlichten Erzählung von Renate Schupp).

 

Deutung der Erzählung:

Die Glaubensaussage klingt in der Antwort des Vaters an: „Gott ist  mitten unter uns. Wir erkennen ihn an den Wirkungen bei den Menschen!“ Es wird aber auch eine Reihe falscher Vorstellungen abgewehrt: Das Gebet wird wie ein Orakel gebraucht, um ein Rad zu bekommen. Es wird mechanisch aufgesagt wie ein Gedicht, genauso geleiert. Wenn man zu zweit betet, dann hat das eine größere Wirkung. In der Kirche (im „Gotteshaus“) muß Gott es auf alle Fälle hören.

Beten ist aber etwas anderes: Es ist die vertrauensvolle Auslieferung an Gott. Gott ist kein Zauberer und Erfüller aller unserer Wünsche. Er ist nicht weit weg über den Wolken. Er ist auch nicht ein Mensch, der alt und krank werden kann. Niemand hat ihn bisher sehen können. Er begegnet höchstens in Träumen. Er wirkt wie der Wind, so handelt er an den Menschen. Er verändert die Menschen. An den Menschen kann man Gott erkennen. Gott ist nicht weit weg, sondern er ist gern unter den Menschen. Er hat auch Klaus verändert. Als Ralf das erkennt, beginnt er zu verstehen. Aber es bleibt doch alles wie ein Geheimnis.

In den Erzählungen der frommer Juden (der „Chassidim“) wird ein Ausspruch des Rabbi Mosche Löb überliefert. Er sagte: Wenn einer zu dir kommt und von dir Hilfe fordert, dann kannst du ihm nicht mit frommem Munde empfehlen: „Habe Vertrauen und wirf deine Not auf Gott!“ sondern dann sollst du handeln, als wäre da kein Gott, sondern auf der ganzer Welt nur einer, der diesem Menschen helfen kann, nämlich du allein!

 

 

 

Falsche Vorstellungen von Gott:

1. Gott ist kein „körperloses Wesen“: So hatte es ein Junge von Erwachsenen gehört und daraus den Schluß gezogen, Gott müsse den Kopf gleich auf den Beinen haben (also ohne Körper)

2.  Gott ist kein Zauberer und Erfüller aller Wünsche. Aber man darf Gott dankbar sein, wenn einem die Verkäuferin oft etwas schenkt oder wenn die Erwachsenen lieb zu den Kindern sind.

3.  Gott ist nicht „im Himmel“, an einem bestimmten Ort innerhalb des Weltalls, auf einem Planeten etwa oder in einem anderen Sonnensystem, auf einem Thron sitzend und auf uns herabsehend.

4.   Gott ist weder im Kirchengebäude („Ich habe gestern deine Kirche besucht. Ich muß sagen, du wohnst ganz nett“) oder in der Natur („Mein Freund sagt, du machst alle Blumen. Stimmt das?“)

5. Gott ist nicht ein lieber guter älter Mann, riesengroß und mit einem Bart, der alles kann, so wie angeblich ein vergötterter Filmstar oder Sportheld, der sogar das Wetter macht.

6.  Gott ist nicht der Hüter der Moral, der alles sieht und hört und vor dem man deshalb Angst haben muß, der darüber wacht, daß man anständig bleibt und die Zehn Gebote beachtet.

7. Gott ist nicht ein Größe der Vergangenheit („Zur Zeit des Alten Testaments hast du aber allerhand Wunder vollbracht“), aber auch nicht in ein Jenseits zu verbannen, von wo er gelegentlich in die Geschicke der Welt und der Menschen eingreift.

 

Wie es mit Gott ist, läßt sich nicht so leicht verstehen, auch von den Erwachsenen nicht. Sie sind auch oft unsicher, viele glauben gar nicht an Gott. Viele werden durch diese Frage nicht so sehr betroffen wie durch anderes. Sie kümmern sich nur noch um Gott bei bestimmten Gelegenheiten, wenn sie einmal ausnahmsweise in die Kirche gehen oder von Krankheit betroffen werden. Gott ist für sie Teil einer „abgesonderten Provinz“, zu der es nicht mehr jeden so hinzieht wie in früheren Jahrhunderten.

Die beste Kenntnis über Gott vermittelt uns die Bibel. In ihr geht es um das Handeln Gottes mit den Menschen und um das Suchen des Menschen nach Gott. Sie ist ein Gleichnis für Gott. Die Frage: „Wo ist Gott?“ ist aber nur Ausdruck der viel tieferen Frage: „Was habe ich davon? Welchen Nutzen hat der Glaube an Gott? Was hat Gott mit meinem Leben zu tun?“ Antworten von gestern bringen uns dabei in Verlegenheit. Wir wollen wissen, ob Gott eine Hilfe für uns ist, ob er für uns da ist und ob wir für ihn etwas tun können. Jesus jedenfalls hat beim Abschied von seinen Jünger gesagt: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“"

Vielleicht können wir es uns so vorstellen, daß der „Himmel“, in den Jesus zurückgekehrt ist, die ganze Erde durchdringt. Die Erde schwimmt gleichsam im Himmel, sie ist ein Stück von ihm. Dieses Ineinander von Himmel und Erde  ist ein treffender Vergleich für das Verhältnis der sichtbaren Welt Gottes zur unsichtbaren. Die ewige Welt schwebt nicht unendlich weit über der sichtbaren Welt, sondern beide liegen ineinander (Apg 17,28).

 

Erfahrungen mit Gott:

Unsere Gottesvorstellungen sind in ganz starker Weise davon abhängig, wie man in der Familie zusammenlebt. Die von den Eltern erfahrene Liebe macht es möglich, auch Gottes Liebe zu erfahren. Eine Beziehung zu Gott wird aber sich schlecht entwickeln, wenn der Vater nur als der dauernd Abwesende oder als der Haustyrann oder als der belächelte „Alte“ erfahren wird.

Wenn aber dem Kind bedingungslos Liebe geschenkt wird, dann kann auch ein  Urvertrauen wachsen, durch das Gott als der Liebende und Schenkende erfahren wird. Nur das Kind, das sich bei den Eltern sicher fühlt, kann etwas von der Nähe Gottes zu den Menschen ahnen. So fließt die Gesamthaltung der Eltern prägend in das kindliche Unterbewußtsein ein. Besonders wichtig ist hier auch das  gemeinsame Singen und Beten, durch das sich die Eltern gemeinsam mit den Kindern unter eine höhere Autorität stellen.

Von Gott kann nicht allgemein geredet werden, sondern nur persönlich. Man kann Gott auch beschreiben als eine Kraft, die das Leben bestimmt, als ein Geschehen zwischen Menschen oder als ein Wort, das lebendig macht. Aber er wurde anschaulich besonders in dem konkreten Menschen Jesus Christus. Er hat in der Erzählung vom barmherzigen Samariter und vom Verlorenen Sohn deutlich gemacht, daß wir in unseren Lebenserfahrungen immer auch nach Gotteserfahrungen fragen sollten.

Ein kranker Mensch kann uns zu der Erkenntnis bringen: Aus eigener Kraft vermögen wir nur wenig. Aber wenn  wir bei dem Hilfsbedürftigen bleiben, so erleben wir doch eine tiefe Gemeinsamkeit, auch gerade in unsrer Hilflosigkeit. Und so geschieht Gott unter uns, eine Kraft, die uns hilft und die uns helfen läßt.

So können wir deutlich machen, daß Gott für uns eine Hilfe ist und unsere Lebenserfahrungen von ihm her deuten. Gott wird in unserem Handeln für andere erfahrbar. So können wir gemeinsam lernen, mit unsrer Angst zu leben, aber in dem Wissen, daß wir mitsamt unserer Angst dennoch geborgen sind.

Deshalb sollte man Kinder so annehmen, wie sie sind; ihnen vertrauen ohne Vorbehalt; ihnen entgegenkommen, auch wenn sie es nicht verdient haben; sie liebhaben, gerade auch wenn sie nicht lieb waren; sie begleiten und sie freigeben; ihnen Mut machen und sie selbständig werden lassen; sie bestätigen und ihrer Verantwortung übergeben; ihnen Angst nicht ausreden, sondern ihnen in Angst beistehen; sie nicht vor allem Schweren bewahren, aber sie in allem Schweren nicht allein lassen; ihnen Freiheit geben, ohne sie aus der Liebe zu entlassen. So können sie dann auch Erfahrungen mit Gott machen.

 

Der Allmächtige

Erzählung: Eine böse Idylle

Die Bütows sind beliebt. Karl Bütow war in sämtlichen Semesterferien Werkstudent. Als Pharmazeut handelte er klug, Else, die Apothekerstochter zu heiraten. Er hat die Schwiegereltern rasch von seinen Fähigkeiten überzeugt und leitet längst die Apotheke allein, eine Goldgrube. Du hast mir manchmal Elses Kochkunst vorgehalten. Sie sammelt Rezepte in Leitz- Ordnern. Eine besonders glückliche Hand hat sie mit süßsauren Salaten, sagt man. Die Kinder dürfen zur Zeit nicht von Elses Party-Speisen kosten, seit der Zweitälteste vor einem halben Jahr genascht hat.

Die Bütows sind keine Langeweiler. Beide Bütows treiben Sport. Das Familienmotto heißt: „Ertüchtigung!“ Alle Bütow-Kinder sind vorbildlich erzogen. Gäste kommen gern ins Haus. Die Bütows bestrafen ihre Kinder gern vor Zeugen. Scham verschärft der Schmerz der Schläge. Karl und Else schlagen aber immer nur mit der Hand. Die Bütows nennen ihre Erziehung „Vorbereitung fürs Leben“. In der Bütowscher Garderobe hängt holzgerahmt und hinter Glas ein Register von Benennungen, die in dieser Familie keiner verdienen will: Weichling, heulendes Elend, Tränentier, Jammergestalt, Schwachmatikus, Wrack, Bubi und Pole.

„Die Frau sei dem Manne untertan“: Es gibt nicht viele Bibelstellen, die Karl Bütows Auffassung vom Zusammenleben der Geschlechter so präzise wiedergeben. Auf die Frage des Pfarrers, ob sie Karl gehorchen wolle, habe doch Else mit „Ja“ geantwortet, sagt er Leuten, die sich über die Einmütigkeit des Paares wundern.

Die Bütows besitzen eine deutsche Dogge mit einer Widerristhöhe vor genau achtzig Zentimetern. Das ist der höchste Widerrist, der bei deutschen Doggen gemessen wird. Dies Tier namens Hasso kann überhaupt als Vorbild gelten. Karl Bütows Erziehungskunst hat sich auch bei Hasso bewährt. Hasso hört aufs Wort. Die Bütows lehnen Leute ab, die sich vor Hunden fürchten .Ihr Ältester hat vor kurzem die Pflege Hassos übernehmen dürfen, eine ehrenvolle Verantwortung.

Für die kleineren Kinder reichen Pflichten. Sogar die etwa zweihundertmal geschlagene Vierjährige darf jetzt schon helfen, die Pflanzen zu betreuen. Das Zweitälteste trat in den Bund Vogelschutz ein. Dieses Kind hat eine Zeitlang um einen eigenen Vogel gebettelt: ein ziemlich unwürdiges Verhalten für einer Bütow. Um dieses aufsässige Kind abzulenken, ließ man ihm Musikunterrieht erteilen. Zwar ist es so wenig musikalisch wie alle Bütows - umso besser, je härter die Schulung.

Karl ist ein guter Vater, Else eine gute Mutter. Alle Kinder sollen Gemeinschaftsgeist und Einsatzbereitschaft lernen. Die Bütows sind nicht religiös. Trotzdem werden alle Knrder konfirmiert, sind auch getauft; wozu anecken? Jedoch in neun Jahren, wenn der Jüngste konfirmiert ist, werden die Bütows Schluß mit der Kirche machen. Nur gut, sagt er im engsten Freundeskreis, daß ich nicht katholisch bin, da müßte ich mein gutes Geld für die Ithaker hinlegen. Er meint seine Feinde, die ausländischen Arbeiter.

In seinem Beruf opfert sich Karl so ziemlich auf. Nicht nur mit der langen Arbeitszeit, Kranke verachtet er. Karl wird nicht müde - während wir auf den netten Bütowschen Geselligkeiten Elses süß- saure Salate verspeisen - Anekdoten über die Torheiten seiner Kunden zu erzählen. Die Bütows nehmen auch am kulturellen Leben der Stadt teil. Im Theater sind sie auf Premiere abbonniert. Das bedeutet, daß sie ihre Nerven nicht schonen, denn sie kommen meist verärgert nach Haus. Der Spielplan ist immer schlecht, laut Karl.

Übermorgen, Karfreitag, sind wir zu Karls Geburtstag eingeladen. Freu dich auf Elses Spezialitäten. Getränke werden bei den Bütows in ziemlich kleinen Gläsern angeboten. Was tut's? Am anderen Morgen dankt man ihnen diese Umsieht. Man wird die Dogge Hasso streicheln müssen, die Bütows registrieren das.

Die Kinder haben ihre Eltern gern. Für den  Geburtstag des Vaters werden sie von ihren Taschengeldern jeweils vorgeschriebene Beiträge ausgeben. Zum Abschluß des Festes wird man vielleicht den Ältesten aus dem Kartoffelkeller befreien. Es traf sich gut, daß Schuld und Sühne dieses Deliquenten in die Osterferien fielen. Die Bütows wählten den Karfreitag, um ihn einzusperren. Aber seinen Makel wird der Älteste behalten.

Wer nicht gut war zu einem Tier, hat es nicht anders verdient. Auch Vergeßlichkeit ist eine Schuld, finden die Bütows. Die Erinnerung an neulich abends - Hasso hungrig über seinem Exkrement - sie bekümmert die Eltern noch immer! Karl ist so gutmütig, sagt Else von Karl. Else ist sehr weichherzig, sagt Karl vor Else. Trotzdem müssen sie die Strafen in die Alben der Kinder eintragen. Also alle Sprechverbote, Geldstrafen, Zimmerarreste und Wiedergutmachungsbußen (Gabriele Wohmann).

 

Was ist das für ein Gott, der solche harten Strafen erforderlich zu machen scheint? Was sind das für Menschen, die dies im Namen Gottes meinen tun zu müssen? Wie anders ist dagegen das, was in 1.Kor 13, 4-13 steht (freie Übertragung): „Wer liebt, hat Geduld. Er ist gütig und ereifert sich nicht und spielt sich nicht auf. Wer liebt, ist nicht taktlos, selbstsüchtig und reizbar. Er trägt keinem etwas nach. Er freut sich nicht, wenn der andere Fehler macht, sondern wenn er das Rechte tut. Wer liebt gibt niemals jemanden auf. In jeder Lage vertraut und hofft er für ihn. Alles nimmt er geduldig auf sich. Liebe behält ihren Wert. Die Eingebungen der Propheten werden einmal aufhören.

Das Reden in Sprachen des Geistes wird ein Ende haben. Das Wissen um die Geheimnisse Gottes hat seine Zeit. Denn unser Reden und Wissen erfaßt von der Wahrheit nur einen Teil. Damit ist es vorbei, wenn sich die ganze Wahrheit zeigt. Als ich ein Kind war, redete, fühlte und dachte ich wie ein Kind. Jetzt bin ich ein Mann und habe die kindlicher Vorstellungen abgelegt. Wir sehen jetzt nur ein Bild wie in einem Spiegel und können es nicht deutlich erkennen. Dann aber stehen wir Gott selbst gegenüber. Jetzt erkennen wir ihn noch nicht ganz. Dann aber werden wir in so kennen, wie er uns jetzt schon kennt. Alles wird aufhören. Nur Glaube, Hoffnung und Liebe nicht. Diese drei bleiben: aber die Liebe steht am höchsten.

 

Reden von Gott:

Wir sollten uns hüten, das Bild von dem außerirdischen und allgewältigen Gott zu zeichnen, der alles macht und alles kann, der die Welt bewegt und lenkt und daher verantwortlich zu machen ist für alles, was auf der Welt geschieht. Dieser Gott kann mehr als wir, mehr als Vater und Mutter, mehr als Lehrer und Regierung. Gott wird dann zum Superlativ der Mächtigen der Erde.

Gott greift nicht wie ein „Deus ex machina“ (Gott aus der Maschine) senkrecht von oben in die Welt ein, als der „Schöpfer“ und „Wundertäter“, als ein  „Allmächtiger“ und „König“. Denn wenn das so wäre, gäbe es gar keine Schuld der Menschen und die Frage vieler Menschen wäre berechtigt: „Wie kann Gott das zulassen? Wenn es einen Gott gäbe, warum hat er dann nicht geholfen?“

Wo Luther im Alten Testament übersetzt „der allmächtige Gott“ oder auch nur „der Allmächtige“, da findet sich im hebräischer Text keine Entsprechung. Er hat die griechische Übersetzung zum Vorbild genommen, wo auch schon „Pantokrator“ (Alleinherrscher) übersetzt wird. Man kann höchstens sagen, daß der Sache nach Gott  „Allmächtiger“ zurücktreten lassen, wenn man natürlich auch das Glaubensbekenntnis nicht ändern kann.

Solche Begriffe fördern nur das Gespräch ü b e r Gott (das war die Sünde Adams, daß er objektiv mit der Schlange über Gott reden wollte). Aber angemessen können wir nur v o r Gott reden, indem wir von ihm erzählen im Zusammenhang unseres Lebens und unsrer Welt, also engagiert und subjektiv.

Besser reden wir vor dem Gott, der uns in der Erzählungen aus dem Leben der Erzväter und des Gottesvolkes gegenübertritt. Im Neuen Testament eignen sich dazu die Gleichnisse Jesu (Lk 10 und 15). Von Gott ist die Rede, wo Liebe und Güte, Barmherzigkeit und Vergebung etwas in Bewegung bringen und die Situation verändern. Gott tritt in Erscheinung durch seine Merschenliebe, im Erbarmen und Vergeben.

Weil Menschen das in Jesus erlebten, haben sie ihm Hoheitstitel wie „Sohn Gottes“ gegeben, die diese Erfahrung auszudrücken vermochten. In seinem Verhalten brachte Jesus dann Gott aus der Ferne in die fühlbare Nähe der Menschen.

Jesus hat von Gott als dem „Vater“ gesprochen. Was ein Vater ist, kann auch der verstehen, der nur die Karikatur eines Vaters erlebt hat (siehe Geschichte von den Bütows). Für Jesus ist Gott aber auch der Richter, der aber dennoch immer der Vater bleibt. Sein Richten bleibt eine Funktion des Vaterseins, das uns unbedingtes Vertrauen zur Liebe des Vaters gibt. Deshalb gilt das zweite Gebot biblischer Zählung „Du sollst dir kein Bildnis von Gott machen“ nur bedingt. Es will uns davor bewahren, auf Verwandlungen Gottes nicht einzugehen und Gott nicht auch einmal als den Fremden auszuhalten.

 

Wo wohnt Gott?

Aber Gott ist kein gestaltloser Gott: Er erscheint dem Abraham als Engel und dem neutestamentlichen Menschen in der Gestalt des Menschen Jesus von Nazareth. Doch seine Gestalt ist verborgen im Leiden des Christus, in der Schwäche des Apostels, im Zusammenhalt einer Gemeinde sozialer Außenseiter.

Jesus sagt „Wer mich sieht, der sieht den Vater“(Joh 14,9). Aber er gibt uns damit nicht ein handhabbares Bild, sondern weist von sich weg und weiß sich in seiner Verkündigung und seinem Wirken durch die Zukunft des Reiches Gottes bevollmächtigt.

Doch nicht der Mensch hat Gott erfunden, sondern Gott hat den Menschen gefunden. Weil Gott als transzendete Wirklichkeit in das menschliche Leber hineinwirkt, haben ihn die Menschen erkannt bzw. hat er sich ihren zu erkennen gegeben. Nur muß man ihn dazu erst bei sich einlassen. So heißt es in den „Erzählungen der Chassidim“ (gesammelt von Martin Buber):

„Wo wohnt Gott?“ Mit dieser Frage überraschte der Kozker Rabbi einige gelehrte Männer, die bei ihm zu Gast waren. Sie lachten über ihn: „Wie redet Ihr? Ist doch die Welt seiner Herrlichkeit voll!“ Er aber beantwortete die eigenes Frage: „Gott wohnt, wo man ihn einläßt!“

 

Was passiert, wenn wir beten, meditieren oder sonstwie „religiös aktiv“ sind? Neurowissenschaftler bringen mit bildgebenden Verfahren ans Licht, was dabei im Gehirn geschieht. Wohnt Gott nur in unseren Köpfen?  „Gott ist tot!“ Dieser Satz machte den Philosophen Friedrich Nietzsche berühmt - bewahrheitet hat er sich jedoch nicht. Auch heute, mehr als ein Jahrhundert nach Nietzsches eigenem Abschied, erfreuen sich die verschiedenen Religionen, allen Unkenrufen der Materialisten und Atheisten zum Trotz, weltweit betrachtet ungebrochener Beliebtheit. Totgesagte leben eben länger, möchte man dem Philosophen da ins Jenseits zurufen.

Die Naturwissenschaften schenkten dem Glauben an ein höheres Wesen bis vor wenigen Jahren kaum Beachtung: Religion galt als ein rein soziokulturelles Phänomen, als Konstrukt des menschlichen Geistes. Jetzt scheint die Gemeinde der Wissenschaftler aber nicht länger willens, das Feld den Theologen und Soziologen kampflos zu überlassen. Eine stetig wachsende Schar von Hirnforschern´, Psychologen und Radiologen macht sich auf, die Wurzeln des Glaubens zu finden.

Ihr Suchgebiet ist das Gehirn. Bewaffnet mit modernsten bildgebenden Verfahren wollen die so genannten Neurotheologen das, was ein Gläubiger als transzendente Realität oder Wirken Gottes beschreiben würde, mit neuronalen Verschaltungen und biochemischen Prozessen erklären. Und siehe da: Die Quintessenz ihrer Bemühungen ist eine Provokation für all jene, die an die Existenz eines übergeordneten Geistes glauben. Religiöse Empfindungen entspringen demnach, wie alle anderen menschlichen Gefühlsregungen auch, dem Wirrwarr der einhundert Milliarden Nervenzellen unter unserer Schädeldecke. Ist. Gott also nichts weiter als ein Hirngespinst?

„Viele Eigenschaften machen uns menschlich, aber keine ist rätselhafter als die Religion“, meint Vilayanur Ramachandran. Der bekannte Neurologe von der University of California in San Diego hofft aber der Lösung des Rätsels auf der Spur zu sein. Bereits vor vier Jahren hat er gemeinsam mit seinen Kollegen eine Region im Gehirn identifiziert, die allem Anschein nach mit spirituellen Gedanken in enger Verbindung steht. Werbewirksam nannten die Forscher das hinter dem linken Ohr liegende Areal „Gottes- Modul“.

 

„Es gibt eine neuronale Basis für religiöse Erfahrungen.“ Diesen Schluß zieht Ramachandran aus Studien an Patienten mit einer Temporallappenepilepsie (TLE). Bei dieser Krankheit kommt es zu unkontrollierten, gewitterartigen Erregungen der Nervenzellen im Bereich des Schläfenlappens, der anatomisch und funktionell eng mit dem Hippocampus und der Amyg­dala zusammenhängt. Liegt der epileptische Fokus in einem Hirnareal hinter dem linken Ohr, berichten die Betroffenen oft von „spirituellen Visionen“.

Das Erlebte hinterläßt offensichtlich bleibenden Eindruck: Menschen mit TLE tendieren auch während der langen Perioden zwischen den Anfällen überdurchschnittlich häufig zu tiefer Religiosität. Viele fesselt die Idee einer übergeordneten Instanz so sehr, daß ihr Glaube fanatisch, das Göttliche zur Obsession wird. „Er sieht das Universum in einem Sandkorn und schwimmt in einem Meer religiöser Ekstase.“ So beschreibt Ramachandran seinen Patienten Paul, bei dem die Gewitter im Schläfenlappen seit Jahren in unregelmäßigen Abständen toben.

Ursächlich beteiligt an dieser extremen Leidenschaft ist das limbische System, im Speziellen die Amygdala. Diese Hirnregion hat die Aufgabe, Sinneseindrücke und Erfahrungen nach ihrer Wertigkeit zu beurteilen. Zentrale Ereignisse für das menschliche Überleben, wie beispielsweise Sex oder der  „süße“ Anblick eines Kindes. werden vom limbischen System mit Emotionen belegt - ein Stempel der Gefühle, der garantiert, daß besonders Bedeutendes sich unvergeßlich in unsere Hirnwindungen brennt.

Bei TLE-Patienten haben sich die Wertigkeiten verändert. Während gesunde Menschen auf Bilder von nahen Verwandten und Darstellungen von Sex und Gewalt die stärkste emotionale Reaktion zeigen, lassen diese „weltlichen Dinge“ diese Epileptiker kalt. Bei ihnen verursachen religiöse Szenen oder sogar schon die bloße Erwähnung des Wortes „Gott“ den Sturm der Gefühle. Interessanterweise steigt in diesem Moment die Hirnaktivität im „Gottes-Modul“ deutlich an. Ramachandran spekuliert, daß es durch die heftigen elektrischen Erregungen während der epileptischen Anfälle zu einer Intensivierung der neuronalen Verschaltung zwischen den sensorischen Arealen im Temporallappen und dem limbischen System kommt. Deshalb wird für seinen Patienten Paul das gesamte Erleben zum Werk einer göttlichen Macht.

 

Nirwana-Schnappschüsse

Hätte Paul in früheren Zeiten gelebt, wäre er wahrscheinlich nicht im Krankenhaus behandelt, sondern als Heiliger verehrt oder als Ketzer verbrannt worden - so die Schlußfolgerung der Neurotheologen William Calvin und George Ojemann, Neurowissenschaftler an der University of Washington, schließen aus zeitgenössischen Schilderungen, daß die wundersame Wandlung des wenig gottesfürchtigen Saulus zum tief religiösen Paulus weniger durch Offenbarung als durch TLE verursacht worden sein könnte. Auch Johanna von Orleans mag die Stimme Gottes, die sie zur Rettung Frankreichs aufforderte, während eines Schläfenlappenanfalls vernommen haben.

Regelmäßige Kirchgänger müssen jetzt aber nicht um ihre geistige Gesundheit fürchten. Ins Grübeln kommen sollten vielleicht eher überzeugte Atheisten, denn wie die Ergebnisse der Neurotheologen nahe legen, ist religiöses Denken in jedermanns grauen Zellen genetisch vorprogrammiert. Wir sind gewissermaßen „geschaffen“, an Gott zu glauben! Wie tief die religiösen Gefühle sind, hängt von der natürlichen elektrischen Aktivität im Temporallappen ab oder von der Bereitschaft, sich auf spirituelles Erleben einzulassen.

 

 

Alle Glaubensrichtungen machen sich den Gefühlsreichtum eines stimulierten limbischen Systems in ihren Ritualen zunutze, meint Andrew Newberg. Umgebung, Atmosphäre, die stilisierten Abläufe einer Zeremonie unterscheiden sich so sehr von Alltagssituationen, daß das Gehirn ihnen den Stempel „besonders bedeutend“ verpaßt. Newberg. Radiologe an der University of Pennsylvania in Philadelphia und einer der Pioniere der naturwissenschaftlichen Suche nach dem Göttlichen, interessiert sich besonders für einen Bewußtseinszustand, von dem die Gläubigen fast aller Religionen berichten: dem Gefühl, eins zu werden mit dem Universum.

„Ich fühlte ein Verschwinden der Grenzen um mich herum, eine Verbindung mit irgendeiner Energie, einen Zustand der Klarheit. Transparenz und Freude. Ich spürte eine tiefe Verbindung zu allem, ich erkannte, daß es in Wahrheit nie eine Trennung gegeben hatte!“ So beschreibt Michael Baime den Moment der Transzendenz. Baime ist einer der acht mit Meditationstechniken des tibetanischen Buddhismus vertrauten Probanden, die Newberg in seinem nuklearmedizinischen Labor auf einen Trip ins Nirwana schickte.

Im Moment der tiefsten Versenkung zogen die Studienteilnehmer an einer Schnur. Auf dieses Signal hin injizierte der im Nebenraum wartende Forscher den Meditierenden über eine lnfusionsleitung eine radioaktive Substanz in die Vene. Der so genannte „Tracer“ bindet innerhalb kürzester Zeit an die Hirnzellen, und zwar insbesondere dort, wo das Gehirn am stärksten durchblutet wird. Erhöhter Blutfluß in einer Hirnregion signalisiert, daß dieser Bereich gerade besonders aktiv ist.

Kurze Zeit später bestimmte Newberg mit einer Spezialkamera die Verteilung der Radioaktivität. Heraus kam sozusagen ein Schnappschuß vom Nirwana. Das bei diesem „single photon emission computed tomography“ oder kurz SPECT genannten Verfahren vom Computer errechnete Bild zeigt, was das Gehirn in dem Moment macht, in dem - wie Baime beschreibt - „die Grenzen zerfließen“.

Meditation verlangt intensive Konzentration. Daher erwarteten Newberg und seine Kollegen das Aufflackern einer für die Regulation der Aufmerksamkeit zuständigen Region im prä­frontalen Cortex. Sie entdeckten jedoch etwas anderes. Ein weiter hinten liegendes Gebiet zeigte während der spirituellen Reise eine überraschende Veränderung: Das in den Scheitellappen befindliche „Orientierungs-Assoziations-Areal“ (OAA) war besonders inaktiv. Aufgabe dieser Region ist es, uns jederzeit klar zu machen, wo der Körper endet und die äußere Welt beginnt. Der linke Teil des OAA vermittelt das Gefühl für die physischen Grenzen des Körpers, das Äquivalent in der rechten Hemisphäre verarbeitet Informationen über Zeit und Raum, also den Kontext, in dem der Körper agiert.

 

Verschmelzen mit Gott:

Für seine Berechnungen benötigt das OAA ständig Informationen von den Sinnesorganen. „Meditierende schalten ihre Sinne für die Außenwelt ab“, sagt Newberg.  „Möglicherweise bekommt der Schläfenlappen deshalb keinen Input mehr.“ Seines gewohnten Futters beraubt, kann das linke Orientierungsareal die Grenze zwischen dem Selbst und der Welt nicht mehr definieren. Und da hat das Gehirn gar keine andere Wahl, als seinen Besitzer eng verbunden mit allem und jedem wahrzunehmen.

Durch die fehlende Stimulation des rechten OAA verschwindet auch der Bezug zu Zeit und Raum; das resultierende Gefühl der Ewigkeit und Endlosigkeit wird von den Meditierenden als völlig real empfunden. Newberg vermutet, daß eine andere Hirnregion, der so genannte Hippocampus „ähnlich einem Schleusentor den neuronalen Informationsfluß zwischen den verschiedenen Arealen des Gehirns reguliert“.

Im Zustand der tiefen Konzentration auf Objekte, Worte oder Gedanken treibt die starke Beanspruchung anderer Bereiche, wie beispielsweise des Aufmerksamkeitszentrums, den Hippocampus dazu, den Input zum Scheitellappen abzuschalten. „Deafferentation“ nennen Neurotheologen dieses Phänomen. Das trotz seiner momentanen Blindheit weiter arbeitende Orientierungsareal vermittelt den Eindruck, man löse sich in etwas sehr viel Größerem auf.

„Die Gegenwart Gottes war spürbar. Ich fühlte, wie seine Existenz mich durchdrang.“ So beschreibt Schwester Celeste ihre Empfindungen am Höhepunkt eines 45-minütigen Gebets. Interessanterweise zeigen die SPECT-Bilder, die Newberg von ihr und sieben weiteren Franziskanerinnen anfertigte, verglichen mit den Aufnahmen der meditierenden Buddhisten, einen markanten Unterschied. Da die Nonnen durch das Wiederholen christlicher Verse den spirituellen Gipfel erklimmen, steigt die Hirnaktivität in erster Linie in ihren Sprachzentren. Im Moment des „Verschmelzens mit Gott“ ging jedoch auch in ihrem Orientierungsareal das Licht aus. Die Analogie legt die Vermutung nahe, daß die Augenblicke der intensivsten religiösen Wahrnehmung - neurobiologisch betrachtet - die Unterschiede der Glaubensrichtungen überschreiten.

Wer aus Mangel an persönlichen Erlebnissen daran zweifelt, daß der Drei-Pfund-Kosmos im Kopf fähig ist, auch ihm eine mystische Sensation zu bescheren, sollte Michael Persinger an der Laurentian University in Kanada einen Besuch abstatten. Der Neuropsychologe behauptet. daß fast jeder „Gott treffen“ kann - sofern er bereit ist, sich ein helmartiges Gerät aufzusetzen. Dieses generiert ein schwaches Magnetfeld, das sich ungefähr zwanzig Minuten in einem komplexen Muster über das Gehirn. und dabei speziell über den Scheitellappen, bewegt. Vier von fünf Probanden beschrieben die durch diese so genannte transcranielle Magnetstimulation ausgelösten Empfindungen als übernatürlich oder spirituell: die Gegenwart eines höheren Wesens, eine Berührung Gottes, der Eindruck, den Körper zu verlassen.

Nach Persingers Theorie induziert das Magnetfeld in den Nervenzellen des Temporallappens kleine Salven elektrischer Erregung, eine Art Miniaturversion des Neuronengewitters im Gehirn der von Ramachandran untersuchten Epileptiker. Diese winzigen Entladungsstürme, im Fachjargon „temporal lobe transients“ (TLT) genannt, vermitteln dann das für die Momente des spirituellen Erwachens charakteristische Gefühl der Existenz einer ganz übernatürlichen Macht.

Gott muß aber nicht aus dem Helm kommen. Sowohl physiologische Veränderungen - wie ein Abfall des Blutzuckers oder Sauerstoffmangel - als auch psychische Belastungen wie Angstzustände, Depressionen oder einfach nur zu wenig Schlaf können eine elektrische Instabilität im Temporallappen verursachen. Persinger glaubt, daß aus diesem Grund viele Menschen in besonders schwierigen Lebenssituationen zu Gott finden. Aber auch die Gene scheinen die individuelle Neigung zu TLT-Episoden zu beeinflussen.

War es also ein Flackern im Schläfenlappen, das Buddha unter dem Feigenbaum die Erleuchtung brachte? Wurden Mose die zehn Gebote nicht von Gott überreicht, sondern von einem Bündel feuernder Neuronen eingeflüstert? Für Persinger ist die Sache klar: „Religion geschieht in unserem Gehirn.“ Provokante Thesen wie diese haben ihm sogar schon Morddrohungen eingebracht. Auch der Heilige Stuhl ist von den Bemühungen der Neurotheologen, die biologische Basis des Glaubens zu finden, wenig begeistert.

Daß Gott nur im Gehirn von Gläubigen und sonst nirgends „wohnt“, sei eine „fehlerhafte, materialistische Sichtweise des menschlichen Daseins“, so Bischof Elio Sgreccia, Experte für bioethische Fragen im Vatikan, als Reaktion auf einen Bericht über Andrew Newbergs Arbeit.

Der bleibt angesichts der Vorwürfe gelassen: Wenn es einen Gott gibt. macht. es dann nicht absolut Sinn, daß er uns so geschaffen hat, daß wir ihn erfahren und mit ihm kommunizieren können?“

Auch durch die Einblicke in die Neurobiologie religiösen Erlebens bleibt der Glaube somit, was er bereits zu Nietzsches Zeiten war - eine Glaubensfrage. (Ulrich Kraft).

 

 

Die Scheinheilung

Wie die Verklärung des Gesundbetens das wissenschaftliche Denken krank macht

Es muß wohl der Schauder vor dem Unbegreiflichen gewesen sein, der bei den Redakteuren des angesehenen „British Medical Journal“ den Sinn für kritisches Denken blockierte. Anders läßt sich kaum erklären, wieso in der letzten Weihnachtsausgabe der „statistische Nachweis“ für den rückwirkenden Heileffekt des Gesundbetens erschien. Leonard Leibovici, ein israelischer Medizinprofessor, hatte die Akten von über 3393 Blutvergiftungsfällen aus den Jahren von 1990 bis 1996 nach dem Zufallsprinzip in zwei Hälften aufgeteilt. Eine außenstehende Person bekam - im Jahre 2001! - eine Liste mit den Vornamen der Patienten aus der „Interventionsgruppe“ vorgelegt, mit der Anweisung, ein kurzes Gebet für diese armen Seelen auszusprechen. Erst danach wurden die Patienten beider Gruppen nach statistisch relevanten Unterschieden in ihrem Krankheitsverlauf näher untersucht.

Wie der geneigte Liebhaber der TV-Serie „Akte X“ sicher längst ahnt, machte sich die rückwirkende Fürbitte bezahlt: Die nachträgliche Auswertung ergab, daß die mit Gebet Bedachten ihre Sepsis zwar nicht häufiger überlebt, aber weniger lange an Fieber gelitten hatten. Außerdem waren sie schneller wieder aus dem Krankenbett herausgekommen.

Selbst wenn man ihre methodischen Schwächen wohlwollend beiseite läßt und davon absieht, daß in der Wissenschaft jede außerordentliche Behauptung auch einen außerordentlichen Beweis verlangt, weist die Studie fatale logische Bruchstellen auf. Wenn ihre Implikation zutrifft, ist der liebe Gott im pawlowschen Sinne darauf konditioniert, sich für jede Gruppe ins Zeug zu legen, für die überdurchschnittlich viele Gebete gesprochen werden - egal, wen es trifft. Tragen jetzt alle Menschen, die zufällig den gleichen Vornamen wie die Patienten auf der Liste tragen, einen unerbetenen Gesundheitsschub davon?

Das Unerhörte an  der neuen Studie, die sich in eine Serie ähnlicher Enthüllungen einreiht, liegt darin, daß ein etabliertes Medizinjournal bei so geringem Anlaß das Handtuch vor dem magischen Denken wirft. Der statistische Unterschied zwischen Interventions- und Kontrollgruppe ist so marginal, daß er sich bei einer überschaubaren Zahl von Wiederholungen allein durch Zufall einstellt. An eine Veröffentlichung, die alle bisherigen Ansätze des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns sprengt, müßten doch höhere Anforderungen gestellt werden!

Aberglaube war früher einmal die Domäne der geistig Minderbemittelten. Aber im Zuge der New-Age-Bewegung und der Esoterik-Welle nimmt der Irrationalismus auch unter Gebildeten wieder zu. Das Beunruhigendste an dieser Entwicklung ist ihre „schizophrene“ Denkart: Prinzipien aus Logik und Wissenschaft sind in den Köpfen widerspruchslos mit Geisterglaube und Magie gepaart. Beten wir, daß diese Persönlichkeitsspaltung nicht weiter um sich greift! (Rolf Degen).

 

 

Die Kopflastigkeit der Religion:

Der Theologe Ulrich Eibach und der Neurophysiologe Detlef Linke im Streitgespräch über Gott, mystische Gefühle und neuronale Korrelate des Glaubens im menschlichen Gehirn

G&G: Herr Professor Eibach, welche Antwort liefert die Theologie auf die Frage, wo Gott wohnt?

Eibach: Ich denke, es ist unsinnig, Gott eine bestimmte „Wohnstätte“ zuweisen zu wollen, die wir irgendwie naturwissenschaftlich festmachen könnten. Die Frage müßte sinnvoller lauten, wie Gott sich uns zeigt.

G&G: Wie zeigt sich Gott denn? Eibach: „Gottes Geist gibt Zeugnis unserem Geist, daß wir Gottes Kinder sind.“ So beschreibt es der Apostel Paulus. Das bedeutet, daß sich Gott im „Inneren“ des Menschen offenbart. Wie und wo er das tut, da gibt es verschiedene Möglichkeiten: Die Begegnung mit Gott wird sich in sinnlich-leiblichen Dimensionen vollziehen und widerspiegeln, also auf der Ebene der Gefühle oder gar in ekstatischen Phänomenen, bei denen sich etwas ganz Besonderes ereignet. Sie kann aber auch nur auf der kognitiven Ebene ablaufen. Die entsprechenden neurophysiologischen Korrelate im Gehirn der betreffenden Menschen wären dabei jeweils ganz verschiedene.

G&G: Herr Professor Linke, kann ein Neurowissenschaftler mit dem Begriff „Geist“ - eventuell sogar mit dem Begriff „Gottes Geist“ - überhaupt etwas anfangen?

Linke: Ob die Naturwissenschaften es nun wollen oder nicht - sie stehen in einer Tradition, in der der Geist-Begriff eine starke Rolle gespielt hat. Gerade der Übergang zur Hirnforschung ist ja unter starkem Einfluß dieses Begriffs erfolgt. Denken Sie nur an Descartes!

G&G: Das ist lange her.

Linke: Sicher. Aber erst vor zwanzig Jahren hat der australische Neurophysiologe John Eccles damit Furore gemacht, daß er die Materie des Gehirns wieder dem „einen“ Geist entgegensetzte. Und wenn Sie an aktuelle Diskussionen etwa zum Verhältnis von harter Computertechnologie und Software-Programmen, die darauf laufen, denken - da ist der alte Dualismus wieder sehr präsent!

G&G: Heißt das, Sie sind ebenfalls ein Dualist?

Linke: Nein, natürlich nicht. Die heutige Hirnforschung geht davon aus, daß psychische und neurobiologische Phänomene einheitlich erklärbar sind. Allerdings muß ich deswegen noch lange kein materialistischer Monist sein, für den alles geistige Geschehen nur das Produkt physiologischer Vorgänge ist.

G&G: Sondern?

Linke: Wenn Geist und Materie eins sind, dann könnte das Gehirn ja auch reiner Geist sein. Ich wäre da durchaus zurückhaltend.

G&G: Die meisten Hirnforscher sind aber bekennende Materialisten. Manche Neurotheologen in den USA gehen sogar so weit zu behaupten. daß Religionsstifter und Heilige - oder ganz allgemein: Menschen mit einschneidenden religiösen Erlebnissen - größtenteils Epileptiker gewesen seien.

Eibach: Wenn ich dazu kurz etwas einwerfen darf: Die Behauptung, daß etwa Paulus bei seiner Begegnung mit dem auferstandenen Christus vor Damaskus nur einen epileptischen Anfall gehabt habe, ist ja keineswegs neu. Paulus schreibt ja selbst von einem „Pfahl im Fleisch“, an dem er leide - wobei wir allerdings nicht wissen, um welche Krankheit es sich da konkret handelte.

G&G: Sie sagen das so, als hätten Sie gar kein Problem damit zuzugestehen, daß der Apostel eventuell nur das Opfer einer epileptischen Attacke war, als er sich bekehrte.

 

Eibach: Meinetwegen hatte er auch so etwas wie eine epileptische Attacke. Das ist überhaupt nicht entscheidend. Die Frage, was mit Paulus - neurophysiologisch betrachtet - geschah, besagt doch gar nichts über die dahinter stehende Wirklichkeit und den Inhalt des Erlebten. Ich bin mir sicher, daß ein moderner Neurotheologe im Gehirn des Apostels irgendeinen signifikanten physiologischen Zustand beobachtet hätte. Aber was heißt das schon?

G&G: Ist das nicht ein Totschlagargument? Dann könnte man ja bei jeder „religiösen“ Erfahrung zugestehen, daß es eine entsprechende „besondere“ Hirnaktivität gab, die mit ihr einher­ging, die aber per se keinerlei Auskunft über die Frage gestattet. ob wir in einer dualistischen oder in einer streng naturwissenschaftlich erklärbaren Welt leben. Wie stehen Sie dazu, Herr Linke?

Linke: Ich fürchte, ich kann Herrn Eibach da gar nicht widersprechen. Der Schluß von naturwissenschaftlich faßbaren Gehirnprozessen auf die Nicht- Existenz einer höheren Wirklichkeit ist keinesfalls streng logisch oder gar zwingend.

Eibach: Lassen Sie mich zur Verdeutlichung ein weiteres Beispiel anführen, Nahtodeserfahrungen etwa! Im Angesicht des Todes gibt es ohne Zweifel bestimmte physiologische Veränderungen im Gehirn. Ob die von den „zurückgekommenen“ Personen beschriebenen „Wahrnehmungen“ aber auf eine reale Begegnung mit einer transzendenten Wirklichkeit zurückzuführen sind oder ob es sich lediglich um eine Ausschüttung von Endorphinen im Gehirn handelte, die solche Erlebnisse erzeugen, das vermag ebenfalls niemand zu beurteilen.

Linke: Wenn Sie möchten, können Sie das sogar noch weiter treiben: Die als außergewöhnlich beschriebenen Erlebnisse sind am Ende vielleicht nur ein Artefakt unserer Kulturnation.

G&G: Was heißt das?

Linke: Nun, bei den so genannten Out-of-Body-Erfahrungen sind die Patienten ja der Ansicht. sich selber auf dem OP- Tisch zu beobachten oder sogar „live“ zu erleben, wie sie nach dem Unfall „tot“ unter dem Autoreifen liegen.

G&G: Und was hat das mit unserer Kulturnation zu tun?

Linke: Machen wir ein kurzes Gedankenexperiment: Stellen Sie sich doch vor, wie Sie im Schwimm­bad zwei, drei Bahnen ziehen! ... Sind Sie soweit?

G&G: Ja. kein Problem. Es ist übrigens Sommer und sehr warm.

Linke: Das freut mich für Sie. Jetzt frage ich: Sehen Sie sich quasi vom Beckenrand aus, oder nehmen Sie das Geschehen aus der eigentlichen Schwimmer- Perspektive wahr, also vom Wasser aus?

G&G: Nein, ich sehe mich von außen.

Linke: Sehen Sie, das ist für etwa achtzig Prozent der Menschen hier typisch. Wir sehen uns quasi mit den Augen eines anderen. Und wenn Sie sich vorstellen sollten, wie Sie in einem Tal an einem Bach entlangwandern, dann tun Sie das wahrscheinlich ebenfalls „von außen“, typischerweise sogar aus der Vogelperspektive.

G&G: Worauf wollen Sie hinaus?

Linke: Das bedeutet, wir sind also grundsätzlich in der Lage, uns selber aus einem anderen Blickwinkel betrachten, gewissermaßen aus uns herauszutreten. Das ist unsere ganz normale Fähigkeit, die allerdings permanent unterdrückt wird - bedingt durch eine gewisse Tradition der Ich-Kultur und Selbstbezogenheit.

G&G: Wollen Sie damit sagen. daß Menschen bei Out-of-Body-Erfahrungen eine sozusagen künstlich antrainierte Selbstwahrnehmung in der Extremsituation „ablegen“, um kurzzeitig zu einer ursprünglicheren Wahrnehmungsform zurückzukehren?

 

Linke: Im Prinzip ja. Wenn ich ohne Chance auf Überleben unter einem Lastwagenreifen liege, gebe ich meine krampfhafte, weitgehend automatisierte Perspektive der Körper-Ich-Bezogenheit auf. Ich brauche die Endorphine, von denen Herr Eibach sprach, also gar nicht unbedingt, um von den beliebten transzendenten Ausdeutungen entsprechender Wahrnehmungen Abstand zu gewinnen.

G&G: Also tatsächlich das Totschlagargument: In extremen Lebenssituationen, ob in Todesnähe oder wie bei Paulus, gibt es gewisse psychisch-neurophysiologische Phänomene, deren Vorhandensein aber weder als Argument für noch gegen das Wirken einer höheren Wirklichkeit herhalten kann.

Eibach: Die neurophysiologischen Phänomene sind doch nicht das Entscheidende. Das Wichtige sind die Inhalte der Erfahrungen: Wie kommen sie zustande" Paulus hat mit Sicherheit nicht allein aus einem singulären religiösen Erlebnis heraus seine Lehre von der Rechtfertigung des Menschen durch die Gnade Gottes entfaltet. Dennoch hat der physische Mensch natürlich die Möglichkeit, als Gefühlswesen religiöse Erlebnisse zu haben.

G&G: Der kanadische Neuropsychologe Michael Persinger kann angeblich sogar beliebigen Menschen mit Hilfe von Magnetfeldern solche Erfahrungen vermitteln.

Eibach: Wobei ich wieder fragen würde, was daraus folgt. Durch neurophysiologische Betrachtung können wir die Echtheit eines religiösen Erlebnisses nicht prüfen. Das künstliche Erzeugen eines „mystischen Gefühls“ erzeugt noch keinen religiösen Inhalt! Damit aus Emotion Glaube oder gar Religion wird, muß das Erlebte erst noch geistig verarbeitet werden.

G&G: Aber hinterher, in der fertigen Theologie, spielen Gefühle kaum noch eine Rolle, oder?

Eibach: Leider, würde ich sagen. Die Schultheologie hat die Gefühlsdimension arg vernachlässigt. Dabei kann jeder an sich selbst nachvollziehen: Wenn ein Gottesdienst von der Atmosphäre her ansprechend ist und ich auch emotional ergriffen bin, gehe ich am Ende doch anders aus ihm heraus, als wenn er nur abstraktes begriffliches Denkfutter vermittelte.

G&G: Auf die Bedeutung unserer Gefühle weist auch der amerikanische Neurotheologe

Andrew Newberg hin. Er behauptet, daß sich unsere religiösen Zeremonien und Rituale so grundsätzlich von alltäglichen Situationen unterscheiden, daß das Gehirn sie zwangsläufig als besonders bedeutsam einstuft. Diese Gefühle können zwar in unterschiedliche-theologische Kontexte eingebettet werden, aber letztlich geschehe in den Köpfen eines meditierenden Zen-Buddhisten oder einer betenden Nonne dasselbe: Innen und Außen verschmelzen.

Linke: Wobei man hier sehr vorsichtig sein muß: Religion ist sicher mehr als nur ein bestimmter ausgelebter Gefühlszustand.

G&G: Also Kritik an Newbergs Interpretation?

Linke: Ja. Sehen Sie, das Gehirn ist heute so etwas wie die letzte weiße Landkarte im Streit um die Deutung der Welt, und jeder versucht, da etwas reinzupacken: das Ich, ein „Gefühlszentrum“ oder ähnliches. Ich bezweifle auch, daß Gefühle für das Vorhandensein religiöser Vorstellungen oder gar von ganzen Religionen eine entscheidende Rolle spielen. In einer Religion wie beispielsweise der jüdischen mit dem ganzen Gesetzeswerk der Thora geht es doch gerade um das Verneinen und Begrenzen von Emotionen und emotionalen Handlungen. Der Aspekt der Ehrfurcht oder auch Erhabenheit soll die Vernunft befördern. Wenn man behauptet, Religiosität sei auf irgendein Gefühl der Innerlichkeit zurückzubeziehen, dann ist man doch schon fast beim Opium fürs Volk!

Eibach: So habe ich das nicht gemeint.

Linke: Natürlich nicht. Ich wollte nur auf die Grenzen der Gefühlswelt aufmerksam machen. Da könnte man ja gleich Drogen nehmen. Die erzeugen „religiöse“ Gefühle mit Sicherheit noch besser. Ich erinnere mich noch an die Hippie-Zeit, wo Studienkollegen nach Indonesien gefahren sind, mit einer Tüte voll Pilze zurückkamen und meinten, sie würden damit mal „trainieren“, um dann per Meditation zur echten Gotteserfahrung zu kommen. Was dabei herauskommt, ist aber eher eine diabolische Fratze, die das Leben zerstört.

G&G: Was halten Sie von Meditation, Herr Eibach?

Eibach: Ich meditiere und faste selbst, einmal im Jahr eine ganze Woche lang, um einmal wirklich zur Ruhe zu kommen und mich auf Gott auszurichten, nicht weil ich mir davon „,die“ Erleuchtung verspreche. Von Zen-Meditationen mit dem Ziel, die ganze Lebenswirklichkeit auszuschalten, halte ich nichts.

G&G: Kommt man da nicht zur Ruhe?

Eibach: Das ist nicht der Punkt. Eine Religion, die uns nicht hilft, in dieser Welt das Gute zu tun und Gerechtigkeit zu schaffen, die sich von der Lebenswirklichkeit absondert, von der halte ich nichts. Christliche Meditation hatte ihr Ziel immer in einer Gotteserfahrung, die zugleich zur Nächstenliebe in der Welt befähigt. Es ist ein Auftanken, um geben zu können. Schon ein Gottesdienst bedeutet eine Unterbrechung des Alltags, möchte eine Erfahrung von Transzendenz, von Gott vermitteln, die in den Lebensalltag hineinwirkt.

G&G: Jetzt sprechen Sie von geistlichen Übungen eines Gläubigen. Aber gehen wir noch einmal ans Existentielle: Was geschieht, wenn ein Mensch zu Gott findet? Bekehrung, geistige Wiedergeburt - was vollzieht sich da im Kopf und auf der Gefühlsebene?

Eibach: Die geistige Wiedergeburt, von der Christus etwa in Kapitel drei des Johannesevangeliums spricht, ist der Eintritt in eine neue Beziehung mit Gott, der Anschluß an eine neue Lebensquelle. Nicht mehr ich stehe im Mittelpunkt meines Lebens, sondern Gott. Das ist eine tiefgehende Neuausrichtung des Lebens, die nicht nur auf Erziehung zurückzuführen ist.

G&G: Aber bedarf es zuvor nicht der Sündenerkenntnis? Das ist doch etwas Rationales.

Eibach: Zum Teil. Wir wissen aber, daß geistige Wiedergeburt selten durch kognitive Akte allein möglich ist. Das greift offenbar nicht tief genug. Neben dem verkündeten Wort, der Sprache, neben Gefühl und Atmosphäre kommt noch etwas Weiteres hinzu, das der Mensch nicht „machen“ kann und das nicht nur innenpsychisches Geschehen ist. Warum es diesen und nicht jenen Menschen trifft, können wir nicht sagen. Manche Menschen trifft es ganz unvorbereitet.

 G&G: Wie bei Paulus etwa. Noch eine Frage an den Hirnforscher: Geht geistige Wiedergeburt auch mit einer neurophysiologischen Veränderung im Kopf einher?

Linke: Das ist durchaus wahrscheinlich. Auch Begegnungen zwischen Mann und Frau können ja das ganze Gehirn prägen. wenn sie sehr intensiv sind. Da kommt es zu einer Neuorganisation ganzer Hirnfunktionen. Der physiologische Einschnitt kann dabei größer sein als bei einem epileptischen Anfall. Das ist die Macht unserer Sexualität.

G&G: Kommen wir noch einmal auf die neurotheologischen Forschungen in den USA zu sprechen. Herr Linke, Sie kennen viele der Wissenschaftler dort persönlich.

Linke: Ich habe mehrere Kongresse besucht und auch selbst am Center for Theology and Natural Sciences in Berkeley gearbeitet und dort Vorlesungen zum Thema gehalten.

G&G: Man gewinnt den Eindruck. als sei neurotheologische Forschung in den USA durchaus verbreitet.

Linke: Ja, und dahinter steckt enorm viel Geld, größtenteils von privaten Investoren.

G&G: Und was ist das Ziel der Neurotheologie?

 

Linke: Das Ganze läuft als Versuch, eine allgemeine Sprache für die Religion und - wichtiger noch - für den Dialog über Religion zu finden. Die Naturwissenschaft liefert hier quasi eine neutrale Dimension, und die Religionen müssen nicht in direkte Konfrontation gegeneinander gehen. Da können sich Christen, Moslems und Hindus entspannt über die letzten Dinge des Lebens austauschen. Und in einer Welt wie unserer, die stark durch Wissenschaft und Technik bestimmt wird, ist das sehr sinnvoll, denke ich.

G&G: Das hört sich aber schwer nach Gleichmacherei an. Steht da nicht von vornherein fest, daß am Ende herauszukommen hat, daß wir sozusagen ja doch nur alle an denselben Gott glauben?

Linke: Nicht unbedingt. Dafür ist die naturwissenschaftliche Sprache auch zu weit entfernt davon, ontologische Aussagen zu treffen. Es könnte auch einfach herauskommen, daß das technologische Weltbild Recht hat. Das wäre die andere Möglichkeit. Ich halte das jedenfalls für eine interessante Chance.

G&G: Warum gibt es in Deutschland keine neurotheologische Forschung in größerem Stil?

Linke: Das liegt an der anderen geistesgeschichtlichen Tradition.

Eibach: Im angelsächsischen Raum wurde immer schon einer „natürlichen Theologie“ größere Bedeutung beigemessen: Es gibt eine richtige Tradition der Gottesbeweise unter Betonung empirischer Fragestellungen. Das erzeugt in der Auseinandersetzung sofort ein anderes Klima: Religion muß sich in Amerika auch in der Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften behaupten können.

G&G: Und wir trennen das eine vom anderen?

Linke: Viele deutsche Wissenschaftler fürchten, ihr Gesicht zu verlieren, wenn sie sich auf religiöse Fragestellungen einlassen. In den USA ist das gar kein Problem. Da schreibt ein renommierter Physiker ein Buch zum Thema „Gott und die moderne Physik“.

G&G: Wünschen Sie sich solche Bücher auch aus deutscher Feder?

Linke: Ich würde mich freuen, wenn so etwas auch bei uns möglich würde.

 

Wie kann Gott das zulassen? (Die Frage der Theodizee)

Hörspiel vor Günter Eich: Die Mädchen  von Viterbo

Eine Klasse vor sechzehnjährigen Schülerinnen aus der italienischer Stadt Viterbo besucht unter Führung ihres Lehrers die Katakomben von Rom. In den unterirdischen Gängen, in denen einer hinter dem anderer gehen muß, verlieren sie den Anschluß an die vorangehende Gruppe. Eires der Mädchen, um ein Abenteuer zu provozieren, ist an der Spitze der Gruppe in einen Seitengang ausgewichen u^nd hat dadurch die ganze Klasse mit dem Lehrer in die Irre geführt. Nun finden sie den Rückweg zum Ausgang nicht mehr.

Zuerst warten sie und trösten sich, daß sie bald entdeckt und höchstens einen Zug später nach Hause kommen würden. Aber aus Stunden werden Tage, man findet sie in dem unübersehbaren Netz von Gängen nicht. Einige versuchen, auf eigene Faust herauszukommen, und verirren sich nur weiter. Die alte Frage bricht unter den Eingeschlossenen auf: „Warum muß uns das geschehen?“ Was haben wir verbrochen, daß wir hier unter der Erde verhungern müssen? Wie kann Gott so etwas Sinnloses zulassen?“

Der Lehrer überlegt: „Wie viele kennen mich in Viterbo! Was bin ich dort für eine geachtete Persönlichkeit! Urd jetzt? In Wirklichkeit bin ich ein Staubkorn für Gott und werde von Gott einfach fortgefegt!“ Ein junges Mädchen lehrt sich auf:  „Ich bin jung, will mein Leben erst noch genießen, nun läßt Gott mich hier sterben!“ Eine andere fällt über diejenige her, die an der Spitze gegangen ist: „Du bist allein schuld daran - ich fluche dir!“

 

Der Lehrer redet den letzten, die bei ihm bleiben, zu: „Man muß die Gleichgültigkeit lernen, sieh weder zu entrüsten noch sich in Wünsche zu verlieren!“ Das Mädchen Antonia antwortet darauf: „Das ist falsch! Man muß lernen, das anzunehmen, was einem geschieht, und zu Gott Ja zu sagen!"

 

Es gibt also vier verschiedene Antworten:

1. Gott wird ausgeklammert und irgendein Schuldiger gesucht. Hier war es die unüberlegte Abenteurersucht eines Mädchens. Menschliches Versagen ist auch die Ursache mancher Unglücke bis hin zu Kriegen. Gott läßt uns Spielraum zum eigenen Handeln Aber was wir dabei verderben, müssen wir auf unsere Rechnung setzen.

2. Gott wird dafür verantwortlich gemacht und angeklagt. Da suchen Katastrophen Familien ein, die nicht sündiger sind als andere. Ein unüberlegtes Abenteuer kann tödlich enden, während ein ähnlicher Vorfall glücklich ausläuft. Das Böse in der Welt macht sich gern selbständig und bringt unser Verhältnis zu Gott durcheinander (Diabolos = Durcheinander­bringer). Alles Böse in der Welt zielt darauf ab, uns an Gott irre werden zu lassen.

3. Man resigniert vor der unerforschlichen Allmacht Gottes. Das ist die letzte Position des Lehrers, gegen die sich Antonia wendet.

4. Man sagt „Ja“ zu Gottes Handeln, ohne es erklären zu können. Wer. in einem Vertrauensverhältnis zu Gott lebt, kann ein sinnloses Schicksal zugleich als Gottes Handeln annehmen. Gott fügt auch das Empörende in seine Wege mit den Menschen ein und macht sie seinen Zielen dienstbar.

 

Evangelien:

In der Evangelien wird des Ineinander vor menschlicher Schuld, satanischer Verwirrung und göttlichem Handeln, gezeigt bei der Kreuzigung Jesu. Sie ist für sich betrachtet ein sinnloses und ungerechtes Geschehen. Jesu Tod ist Folge menschlicher Schuld (Hoher Rat, Pilatus), Folge der Verblendung durch der Satan (Judas), aber auch Folge des göttlicher Handelns, das uns retten will. Gott kann Ereignisse, die böse und sinnlos aussehen, in den Dienst seiner Liebe und Gerechtigkeit stellen.

Wir fragen gern: „Wie kommt das Böse in die Welt?“ Aber eigentlich fragt keiner: „Wie kommt das Gute in die Welt?“ In der Bibel heißt es am Ende eines jeder Schöpfungstages: „Gott sah, daß es gut war!“ Das Böse ist durch den Menschen in die Welt gekommen. In der

Schlange war es noch schlafend vorhanden, aber der Mensch  hat es zum Leben erweckt. Dabei können wir die Schuld nicht auf die anderen abschieben, sondern jeder von uns ist daran beteiligt, höchstens sind einige hervorgehoben.

 

Hiob:

Sünde ist nicht nur eine subjektive Tat, sondern zugleich eine überpersönliche Macht. Leiden erwächst nicht nur aus Naturkatastrophen, sondern ist weithin Folge von Bösem, das Menschen tun. Leiden ist nicht nur Schicksal, sondern jeder ist selbst schuldhaft hineinverstrickt, indem er selber Böses tut und anderen Leiden zufügt. Leiden muß deshalb Anlaß werden zur Buße und zur Änderung der Verhaltensformen.

Das ist die Meinung der Freunde Hiobs. Es ist erstaunlich, wie lange es dauert, ehe Hiob in Klage und Fluch ausbricht: Er macht den Verlust von Hab und Gut mit, verliert die Kinder, wird aussätzig. Aber auch die Dauer des Leidens wirft ihn zunächst nicht um, auch wenn er (Kapitel 3) durch völlige Verzweiflung hindurchgeht.

 

Die Freunde verstummen zwar zunächst vor der Größe des Leides. Aber dann bestehen sie auf Hiobs Schuld und argumentieren mit einem abstrakten Gesetz von Gerechtigkeit, mit dem Vergeltungsdogma: „Dem Gehorsamen geht es gut, dem Ungehorsamer schlecht“ Hiob aber hält unentwegt fest an Gott als seinem „Fürsprecher“ und  „Zeugen im Himmel“(16,19). Er weiß, daß sein Erlöser lebt und er ihn einmal schauen wird (19,25-27). Er rechnet mit dem lebendigen und gerechten Gott (nicht mit einem starren Gesetz wie die Freunde).

Er bekommt auch keine theoretische Antwort, sondern eine praktische: Er erfährt den lebendigen Gott in der Majestät und Hoheit des Schöpfers, den der Mensch nicht zur Rechenschaft ziehen kann, sondern vor dem er verstummen muß und alles Leid annehmen muß. Leiden ist bei Hiob nicht eine Strafe, sondern es dient der Prüfung und Erziehung des Menschen.

 

Leiden ist nicht etwas Sinnloses:

Christen denken aber auch an das Kreuz Jesu Christi. Hier leidet Gott selber. Kein Leidender darf sich deshalb von Gott verlassen fühlen. Der Christ bleibt im Leiden und sogar in der Erfahrung der Gottverlassenheit bei seinem Herrn. Er hört nicht auf, Gott für die Leiden in Anspruch zu nehmen, so wie Jesus im Namen Gottes Kranke heilte. Leiden treibt erst recht in die Arme Gottes. Vom Kreuz Jesu her bekommt man Kraft und Mut, um mit dem Leid fertig zu werden.

Leiden ist also nicht einfach etwas Sinnloses. Wer selbst Leiden erfahren hat, ist denen näher, die im Leiden stehen und denen er dienen soll. Wenn der Mensch lernt, den Schmerz anzunehmen, wird er durch ihn stärker. Gott verheißt uns die Auferweckung und die neue Welt. Um dieser Zukunft willen gilt es, in der Anfechtung zu bleiben. Man darf im Leiden schreien „Wie kann Gott das zulassen?“ weil Gott auch in diesem Dunkel noch da ist und in solchem Leiden selbst leidet.

Solch eine Frage sollte man aber nicht als ein neutraler Beobachter stellen und dabei vielleicht eine schwache Stelle in der christlichen Verkündigung suchen. Die Frage kann nur praktisch- existentiell gestellt werden. So sollte nur fragen, der selber am eigenen Leib viel Leid und Ungerechtigkeit erfahren hat und darüber sein Zutrauen zu Gottes Führung verloren hat und nun Verständnis und einen Partner sucht, der mit leidet.

Als Menschen können wir nicht Gott auf die Anklagebank setzen. Er ist kein Kindermädchen, das in der Kinderstube (= der Welt) für Ordnung sorgt. Sonst kümmert man sich auch nicht um ihn. Aber wenn ein Unglück geschehen ist, fragt man die Christen: „Wie kann euer Gott das zulassen?“ Wir wären Narren, wenn wir Gott da verteidigen wollten. Gott hat uns nicht zu seinen Geheimräten gemacht. Seine Gedanken sind nicht unsere Gedanken. Wir können ihn nicht in die Hand bekommen. Ein Perserteppich ist von hinten gesehen ein Gewirr von Fäden. Aber von vorne sieht man ein herrliches Muster und eine schöne Ordnung.

Dietrich Bonhoeffer: Christen und Heiden.

1. Menschen gehen zu Gott in ihrer Not, flehen um Hilfe, bitten um Glück und Brot, um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod. So tun sie alle, alle, Christen und Heiden.

2. Menschen gehen zu Gott in seiner Not, finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot,

sehen ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod. Christen stehen bei Gott in seinem Leiden.

3. Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not, sättigt den Leib und die Seele mit seinem Brot, stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod, und vergibt ihnen beiden.

 

 

Der Wille Gottes:

Es ist Vorsicht geboten gegenüber den Aussagen darüber, was Gott will oder gewollt hat bzw. was er nicht will oder gewollt hat. Was uns als ein Übel erscheint, kann in einem größeren Zusammenhang ein Gut sein. Nur dürfen wir das jeweilige Geschehen nicht ohne weiteres mit dem Willen Gottes in eins setzen und so der verbreiteten Verwechslung von Gottes Willen und blinder Schicksalsmacht Vor­schub leisten.

Die fromme Ergebung in den verborgenen Willen Gottes kann zwar erhaben sein, kann aber auch hart an Fatalismus und Resignation grenzen. Schicksal ist eines, der Wille Gottes ein anderes, weil das Schicksal blind ist, der Wille Gottes aber sehend.

Es ist ein Unterschied, ob man rückwärts nach der Ursache fragt, oder ob man nach vorwärts schaut, um dem Geschehen einen Sinn abzulauschen. Dann fragt man besser: „Was soll daraus werden?“ Das an sich Sinnlose wird dann in den göttlichen Willen aufgenommen, nicht  als ein von Gott Gewolltes, sondern als ein von ihm Überwundenes oder in seiner Zukunft zu Überwindendes.

 

Wolfgang Borchert

Auch Gott steht draußen, und er soll zusehen, daß er „vor Anbruch der restlosen Finsternis irgendwo ein Loch oder einen neuen Anzug“ findet „oder einen dunklen Wald“, sonst würden „sie“ ihm nachher alles in die Schuhe schieben, wenn es schiefgegangen ist (Gespräch zwischen Beckmann und dem alten Mann, der der liebe Gott heißt).

Hier wird eine ganz bestimmte Vorstellung von Gott kritisiert. „Wir kennen dich nicht mehr so recht, du bist ein „Märchenbuchliebergott“, heißt es einmal. „Heute brauchen wir einen neuen. Weißt du, einen für unsere Angst und Not. Einen ganz neuen.“ Wer Borcherts Gesamtwerk kennt, weiß, daß er nicht zu den Nihilisten gerechnet werden darf. Borchert liebte das Leben bis zum Schluß. Das letzte, was er schrieb, war ein leidenschaftlicher Aufruf an alle, die das Leben vor Krieg, vor Zerstörung bewahren könnten, wenn sie nur den Mut hätten, es wirklich zu wollen.

In Beckmanns Gespräch mit dem „lieben Gott“ kann man den Protest gegen den  „Märchen­buch­liebergott“ erkennen, der unter dem Erleben von Krieg, Leid, Unrecht, Angst und Not nicht mehr standhält. Beckmann macht die Kirchen und ihre Theologen dafür verantwortlich: „Die Theologen haben dich alt werden lassen.... Hast du zuviel Tinte im Blut, Gott, zuviel dünne Theologentinte? Geh, alter Mann, sie haben dich in den Kirchen eingemauert, wir hören einander nicht mehr ...“

Borchert hat wohl kaum an Hebr. 13,12-13 gedacht, als er seinen Beckmann sagen ließ: „Wir stehen alle draußen. Auch Gott steht draußen, und keiner macht ihm mehr eine Tür auf.“ Aber es gibt eine Beziehung zwischen diesem Gott und Jesus Christus, der gelitten hat „draußen vor der Tür“. So laßt uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen, die Schmach dessen, der die Seinen liebte „bis ans Ende“ (Joh. 13,1).

 

In der Erzählung „Die Hundeblume“ sieht der Gefangene in der Einzelzelle voll Neid einer Spinne zu: „... nichts zu haben - als sich selbst. Das ist verdammt wenig in einem leeren Raum mit vier nackten Wänden. Das ist weniger als die Spinne hat, die sich ein Gerüst aus dem Hintern drängt und ihr Leben daran riskieren kann, zwischen Absturz und Auffangen wagen kann. Welcher Faden fängt uns auf, wenn wir abstürzen?

Unsere eigene Kraft? Fängt ein Gott uns auf? Gott - ist das die Kraft, die einen Baum wachsen und einen Vogel fliegen läßt - ist ‚Gott' das Leben? Dann fängt er uns wohl manchmal auf - wenn wir wollen.“"

Das vertrauensvolle Kinderlied aus seinen frühen Gedichten hat Borchert auch noch 1946 gelten lassen, sonst hätte er es wohl nicht zusammen mit anderen Gedichten in den Druck gegeben.

Wo wohnt der liebe Gott?

Im Graben, im Graben!

Was macht er da?

Er bringt den Fischlein 's Schwimmen bei,

damit sie auch was haben.

Wo wohnt der liebe Gott?

Im Stalle, im Stalle!

Was macht er da?

Er bringt dem Kalb das Springen bei,

damit es niemals falle.

Wo wohnt der liebe Gott?

Im Fliederbusch am Rasen!

Was macht er da?

Er bringt ihm wohl das Duften bei

für unsre Menschennasen.

 

Von sich selber hat der Dichter bekannt:

Ich möchte Leuchtturm sein in Nacht und Wind -

für Dorsch und Stint,

für jedes Boot -

und bin doch selbst

ein Schiff in Not!

 

 

Wie kann Gott das zulassen? Die Frage der Theodizee

 

Wie kann ein Gott, wenn es ihn gibt, nur zulassen all das Schreckliche, was geschieht, wie kann er zusehen dabei und verhindert es nicht? Warum lässt er einfach gewähren die Katastrophen und Untergänge, die Mörder und die Gewalttäter, die über Leichen gehen, und alle, die sich bereichern am Elend der Armen? Wenn er nur wollte, er, der allmächtig ist, könnte er doch wehren dem Übel, dem Bösen, der Brutalität, die schon aufwächst unter den Kindern. Aber will er? Liegt ihm daran? Vernimmt er das Weinen derer, die ihre Lieben beklagen, berührt ihn das himmelschreiende Unrecht? Dazu zunächst folgende Beispiele:

 

Die Mädchen von Viterbo (Hörspiel vor Günter Eich):

Eine Klasse vor sechzehnjährigen Schülerinnen aus der italienischer Stadt Viterbo besucht unter Führung ihres Lehrers die Katakomben von Rom. In den unterirdischen Gängen, in denen einer hinter dem anderer gehen muß, verlieren sie den Anschluß an die vorangehende Gruppe. Eires der Mädchen, um ein Abenteuer zu provozieren, ist an der Spitze der Gruppe in einen Seitengang ausgewichen und hat dadurch die ganze Klasse mit dem Lehrer in die Irre geführt. Nun finden sie den Rückweg zum Ausgang nicht mehr.

Zuerst warten sie und trösten sich, daß sie bald entdeckt und höchstens einen Zug später nach Hause kommen würden. Aber aus Stunden werden Tage, man findet sie in dem unübersehbaren Netz von Gängen nicht. Einige versuchen, auf eigene Faust herauszukommen, und verirren sich nur weiter. Die alte Frage bricht unter den Eingeschlossenen auf: „Warum muß uns das geschehen?“ Was haben wir verbrochen, daß wir hier unter der Erde verhungern müssen? Wie kann Gott so etwas Sinnloses zulassen?“

Der Lehrer überlegt: „Wie viele kennen mich in Viterbo! Was bin ich dort für eine geachtete Persönlichkeit! Urd jetzt? In Wirklichkeit bin ich ein Staubkorn für Gott und werde von Gott einfach fortgefegt!“ Ein junges Mädchen lehrt sich auf: „Ich bin jung, will mein Leben erst noch genießen, nun läßt Gott mich hier sterben!“ Eine andere fällt über diejenige her, die an der Spitze gegangen ist: „Du bist allein schuld daran - ich fluche dir!“

Der Lehrer redet den letzten, die bei ihm bleiben, zu: „Man muß die Gleichgültigkeit lernen, sieh weder zu entrüsten noch sich in Wünsche zu verlieren!“ Das Mädchen Antonia antwortet darauf: „Das ist falsch! Man muß lernen, das anzunehmen, was einem geschieht, und zu Gott Ja zu sagen!"

 

Es gibt also vier verschiedene Antworten:

1. Gott wird ausgeklammert und irgendein Schuldiger gesucht. Hier war es die unüberlegte Abenteurersucht eines Mädchens. Menschliches Versagen ist auch die Ursache mancher Unglücke bis hin zu Kriegen. Gott läßt uns Spielraum zum eigenen Handeln Aber was wir dabei verderben, müssen wir auf unsere Rechnung setzen.

2. Gott wird dafür verantwortlich gemacht und angeklagt. Da suchen Katastrophen Familien ein, die nicht sündiger sind als andere. Ein unüberlegtes Abenteuer kann tödlich enden, während ein ähnlicher Vorfall glücklich ausläuft. Das Böse in der Welt macht sich gern selbständig und bringt unser Verhältnis zu Gott durcheinander (Diabolos = Durcheinander­bringer). Alles Böse in der Welt zielt zunächst darauf ab, uns an Gott irre werden zu lassen.

3. Man resigniert vor der unerforschlichen Allmacht Gottes. Das ist die letzte Position des Lehrers, gegen die sich Antonia wendet.

4. Man sagt „Ja“ zu Gottes Handeln, ohne es erklären zu können. Wer. in einem Vertrauensverhältnis zu Gott lebt, kann ein sinnloses Schicksal zugleich als Gottes Handeln annehmen. Gott fügt auch das Empörende in seine Wege mit den Menschen ein und macht sie seinen Zielen dienstbar.

 

 

Der Sündenfall:

Wir fragen gern: „Wie kommt das Böse in die Welt?“ Aber eigentlich fragt keiner: „Wie kommt das Gute in die Welt?“ In der Bibel heißt es am Ende eines jeder Schöpfungstages: „Gott sah, daß es gut war!“ Die Erzählung vom Sündenfall will uns sagen: Das Böse ist durch den Menschen in die Welt gekommen! In der Schlange war es noch schlafend vorhanden, aber der Mensch hat es zum Leben erweckt. Daher können wir die Schuld nicht auf die anderen abschieben, sondern jeder von uns ist daran beteiligt, höchstens sind einige hervorgehoben.

Aber es gibt keine Erbsünde, die automatisch mit der Geburt auf die nächste Generation übertragen wird. Der Mensch ist frei in seinem Handeln. Der Sündenfall ist anschauliches Beispiel für die Wahlmöglichkeit zwischen Gut und Böse. Wer Böses tut, muß damit rechnen, daß ihm auch Böses widerfährt. Aber es ist nicht so, da alles von Gott vorherbestimmt ist. In der Theologie hat man dafür den Begriff „Prädestination“. Das ist die Auffassung, daß ein Gott von Anfang an das Schicksal der Menschen vorherbestimmt.  Aber die Erzählung vom Sündenfall will gerade zeigen, daß der Mensch selber entscheidet und nicht ein finsteres Schicksal oder sogar Gott.

 

Das Buch Hiob:

In der Bibel wird natürlich auch die Frage nach dem unverständlichen Handeln Gottes aufgeworfen. Dieser Frage ist das ganze Buch Hiob aus dem Alten Testament gewidmet. Der Mann Hiob erfährt unermeßliches Leid: Er verliert all seinen Besitz und seine zehn Kinder sterben plötzlich. Aber Hiob nimmt die Schicksalsschläge an, ohne Gott zu verfluchen. Als Gott daraufhin dem Satan gegenüber die Frömmigkeit Hiobs rühmt, verlangt der Versucher als letzte Probe, dass er Hiobs Gesundheit schädigen darf. Gott lässt auch das zu und Hiob erkrankt an einem bösartigen Geschwür. Obwohl ihn seine Frau nun auffordert, Gott zu verfluchen, bleibt Hiob bei seiner gottesfürchtigen Einstellung. Er sagt: „Nehmen wir das Gute an von Gott, sollen wir dann nicht auch das Böse annehmen?“ (Hi 2,10).

In der Rahmenhandlung wird das Leid Hiobs damit erklärt, daß Gott ihn auf die Probe stellen wollte. Da Hiob diese Probe besteht, geduldig und gottesfürchtig bleibt, wird das Leid wieder von ihm genommen. Hier wird Ergebenheit im Leid gefordert und der Tun-Ergehen-Zusammenhang wird nicht ganz aufgehoben, da Hiob letztlich für sein richtiges Verhalten belohnt wird. Trotzdem wird deutlich: Nicht immer ist Leid Strafe für eine Sünde. Der Umkehrschluß „Wer leidet, muß eine Schuld auf sich geladen haben“ ist nicht zulässig.

Den Hauptteil des Hiobbuches bildet ein poetisches Streitgespräch, mit dem Gott auf die Anklage Hiobs antwortet. Hiobs Freunde sehen das Leid als Folge einer bösen Tat Hiobs: Leiden ist nicht nur Schicksal, sondern jeder ist selbst in Schuld hineinverstrickt, indem er selber Böses tut und anderen Leiden zufügt. Leiden muß deshalb Anlaß werden zur Umkehr (Buße) und zur Änderung des eigenen Verhaltens. Die Freunde bestehen auf Hiobs Schuld und argumentieren mit dem Vergeltungsdogma: „Dem Gehorsamen geht es gut, dem Ungehorsamer schlecht“

Gott erklärt in diesem Hauptteil nämlich nichts, er redet nicht davon, daß er Hiob nur auf die Probe stellen wollte. Außerdem verspricht er nicht, daß er Hiob entschädigen wird und gibt dem Leid auch sonst keinen tieferen Sinn. Inhalt der Gottesrede ist ausschließlich eine ausführliche Beschreibung der Großartigkeit der von Gott geschaffenen Natur, vor der alles menschliche Verstehen verstummt.

Erstaunlicherweise gibt sich Hiob mit dieser Antwort zufrieden, obwohl sie seine Anklage Gottes eigentlich bestätigt: Er ist unschuldig und sein Leiden unerklärlich. Möglicherweise will das Hiobbuch eben das sagen, daß der Sinn von Gottes Handeln den Menschen nicht zugänglich und eine Antwort auf die Sinnfrage nicht möglich ist. Sicher ist jedenfalls, daß der -Zusammenhang von Tun und Ergehen aufgehoben wird: Leid ist nicht durch Schuld verursacht, die Freunde Hiobs, die den Leidenden zur Gewissenserforschung auffordern, haben Unrecht.

Hiob hält unentwegt fest an Gott als seinem „Fürsprecher“ und „Zeugen im Himmel“ (16,19). Er weiß, daß sein Erlöser lebt und er ihn einmal schauen wird (19,25-27). Er rechnet mit dem lebendigen und gerechten Gott und nicht mit einem starren Gesetz wie die Freunde. Er bekommt auch keine theoretische Antwort, sondern eine praktische: Er erfährt den lebendigen Gott in der Hoheit des Schöpfers, den der Mensch nicht zur Rechenschaft ziehen kann, sondern vor dem er verstummen muß und alles Leid annehmen muß. Leiden ist bei Hiob nicht eine Strafe, sondern es dient der Prüfung und Erziehung des Menschen.

Weil Hiob in all seinem Leid, seiner Armut und seiner Trauer seinem Gott dennoch die Treue hielt und ihn nicht verfluchte, wie seine Ehefrau es ihm nahegelegt hatte, und weil er später auf die Belehrungen Gottes mit großer Demut reagiert, erlöst Gott ihn schließlich von der Krankheit und segnet sein weiteres langes Leben damit, daß er ihm das Doppelte seines früheren Besitzes erwerben läßt. Auch bekommt Hiob sieben neue Söhne und drei Töchter - wie vor seinen Unglücksschlägen.

 

Die Evangelien:

Die Kreuzigung Jesu ist für sich betrachtet ein sinnloses und ungerechtes Geschehen.In den Evangelien wird bei der Kreuzigung Jesu das Ineinander vor menschlicher Schuld, satanischer Verwirrung und göttlichem Handeln gezeigt. Jesu Tod ist Folge menschlicher Schuld (Hoher Rat, Pilatus), Folge der Verblendung durch den Satan (Judas), aber auch Folge des göttlichen Handelns, das uns retten will, denn Gott kann Ereignisse, die böse und sinnlos aussehen, in den Dienst seiner Liebe und Gerechtigkeit stellen.

Christen denken aber auch an das Kreuz Jesu Christi. Hier leidet Gott selber. Kein Leidender darf sich deshalb von Gott verlassen fühlen. Der Christ bleibt im Leiden und sogar in der Erfahrung der Gottverlassenheit bei seinem Herrn. Er hört nicht auf, Gott für die Leiden in Anspruch zu nehmen, so wie Jesus im Namen Gottes Kranke heilte. Leiden treibt erst recht in die Arme Gottes. Vom Kreuz Jesu her bekommt man Kraft und Mut, um mit dem Leid fertig zu werden.

Im gekreuzigten Christus ist Gott selbst gegenwärtig - für uns. In ihm identifiziert sich Gott der Herr mit den Opfern, mit uns Sterbenden. Im Angesicht des Kreuzes spricht Paulus aus, was wohl als das allerstärkste Wort aller Worte in der Bibel verstanden werden kann. Im Römerbrief heißt es: „Ich bin davon zutiefst überzeugt: Nichts kann uns von der Liebe Gottes trennen - nicht der Tod und nicht das Leben, keine Engel und keine weltlichen Mächte, nichts Gegenwärtiges und nichts Zukünftiges und auch keine andere gottfeindliche Kraft. Nichts Über- oder Unterirdisches und auch nicht irgendetwas Anderes, das Gott geschaffen hat - nichts von alledem kann uns von der Liebe Gottes trennen. In Christus Jesus, unserem Herrn, hat Gott uns diese Liebe geschenkt“ (Römer 8, Verse 38+39).

 

Gott nicht auf die Anklagebank

Kann Gott angesichts des Zustands dieser Welt zur Rechenschaft gezogen werden, und wenn ja, von wem und wie? Der Prophet Jesaja fragt: „Ja, lieber Mensch, wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst? Spricht etwa ein Werk zu seinem Meister: Warum hast du mich so gemacht?“ (Jes 45,9).

Als Menschen können wir nicht Gott auf die Anklagebank setzen. Er ist kein Kindermädchen, das in der Kinderstube (= der Welt) für Ordnung sorgt. Sonst kümmert man sich auch nicht um ihn. Aber wenn ein Unglück geschehen ist, fragt man die Christen: „Wie kann euer Gott das zulassen?“ Wir wären Narren, wenn wir Gott da verteidigen wollten. Gott hat uns nicht zu seinen Geheimräten gemacht. Seine Gedanken sind nicht unsere Gedanken. Wir können ihn nicht in die Hand bekommen. Ein Perserteppich ist von hinten gesehen ein Gewirr von Fäden. Aber von vorne sieht man ein herrliches Muster und eine schöne Ordnung.

Theodizee

Weshalb kann trotz Gottes Allmacht und Güte auch ein gerechter Mensch leiden? Wie kann es sein, daß der gerechte Gott duldet, daß guten Menschen Böses widerfährt? In der theologischen Fachsprache hat sich dafür der Ausdruck „Theodizee eingebürgert“, also Frage nach der Gerechtigkeit Gottes angesichts des Leidens. Der Begriff ist ein griechisches Kunstwort (theos = Gott und dike= Gerechtigkeit), das vom Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) geprägt wurde. Aber die Theodizee ist nicht Gottes Problem, die Theodizee ist das Christenproblem.

 

Atheisten und Christen:

Für Atheisten ist das keine Frage von Schicksal oder Kismet, für sie stellt sich vielfach die Frage nach dem Sinn nicht. Säkulare Personen haben insgesamt nicht mehr Sinnkrisen. Sie zeigen offenbar ein niedrigeres Bedürfnis, einen Sinn im Leben zu finden. Sie sagen mit dem

französischen Schriftsteller Stendhal (1783-1843): „Die einzige Entschuldigung für Gott ist, dass es ihn nicht gibt“. In Georg Büchners „Dantons Tod“ heißt es: „Das Leid ist der Fels des Atheismus“, Gemeint ist das Leid, das Gott zulässt und nicht ändert. Allein diese Frage ist schon Grund für viele, mit Religion zu brechen, Allerdings kann der Atheismus auch keine Antworten geben, die Leiden der Welt zu bewältigen.

 

Religiöse Menschen haben an sich gute Chancen, Sinn zu fühlen, wenn sie nach Gott fragen und damit einen größeren, über sie selbst hinausführenden Zusammenhang suchen. Die Tatsache, daß in unserer Welt Böses geschieht, macht es aber auch Christen schwer, an Gott zu glauben. Im Unterschied zu anderen Religionen glauben Christen, Gott müsse absolut gut sein, der dürfe nicht zugleich böse sein. Er darf nur das Positive repräsentieren und nicht auch das Negative. Mit so einem Gottesbild kann man nur scheitern, denn Leben beinhaltet auch negative Seiten und auch Leid. Gott festgelegt zu haben auf denjenigen, der nur für das Gute steht, bringt die Theodizee erst hervor. Aber die Christen sind selber schuld, wenn sie an einen Gott glauben, der nicht die gesamte Fülle des Lebens beinhaltet nach ihrem Verständnis. Wenn Gott nur für das Gute stünde, müßte man sagen: Das ist keine Allmacht, das ist nur eine Halbmacht.

 

Das Böse muss es geben

Das Böse muss es geben, damit ich mich für das Gute entscheiden kann. Tugenden wie Solidarität, Treue, Tapferkeit oder Mitleid entstehen auf der Basis von Leiderfahrungen. „Leiden ist Glücksvorbereitung“, hat sogar einmal der Journalist Christoph Diekmann erklärt.

Kann man sich ein menschliches Leben ohne jedes Leiden vorstellen? Wäre das das Paradies auf Erden? „Eine solche Welt ohne Leid (und Böses) ist keine menschliche Welt, sondern eine Form der Dehumanisierung, ja geradezu die Hölle!“ (Wilfried Härle). Denn ohne Leiden gebe es keine Menschlichkeit und Reife. Allerdings sei es hochproblematisch, diese Teilwahrheit zu generalisieren und zu verabsolutieren. Wenn Menschen am Leiden zerbrechen und den Lebensmut verlieren, wäre diese Haltung geradezu zynisch.

Wir müssen akzeptieren, daß es Negatives gibt. Aber es ist eine sehr große Frage, mit welchem Negativen wir leben müssen. Wenn ein Mensch Parkinson bekommt, da kann man nicht nur sagen: „Damit mußt du leben!“ Besser sagt man: „Laßt uns Forschungen machen, um herauszufinden, ob es dafür genetische Ursachen gibt. Aber wir können nicht erwarten, daß diese Forschungen - wenn sie erfolgreich sein sollten -  daß nicht trotzdem Nebenwirkungen auftreten!“ Die ganze bisherige moderne Geschichte zeigt: Mit allem, was wir an Negativem abschaffen, schaffen wir uns irgendetwas herbei, das doch wieder negativ ist. Wir dürfen nicht daran glauben, daß dieser Prozeß jemals aufhören wird.

So haben wir immer etwas zu tun. Denn wie stellen Menschen sich das vor, wenn es nichts mehr zu kämpfen gäbe: gegen Negatives, gegen Verletzungen, gegen Traumatisierung, gegen Krieg, gegen Krankheit, gegen Hunger, gegen Not? Wenn wir nichts mehr zu kämpfen haben, glauben wir im Ernst, daß wir dann noch zu Höchstleistungen imstande sein werden? Es ist wichtig, Auszeiten dazwischenschalten, die sich ja im Leben ganz von allein einstellen. Die sogenannten tristen grauen Zeiten, die sind dafür da, daß das Glück sich wieder erholen kann. Wenn Menschen aus ihrem Unglücklichsein nicht mehr herauskommen, müssen sie sich darin einrichten.

Am besten mit einem Garten. Wenn kein Garten zur Verfügung steht, dann wenigstens mit einem Balkon. Wenn kein Balkon zur Verfügung steht, dann wenigstens mit einem kleinen Garten im Zimmer, also Pflanzen. Da erlebt man die Kreisläufe der Natur. Eine Pflanze gedeiht, fällt in sich zusammen und kommt von Neuem hervor. Wenn der Mensch das sieht, fühlt er sich wieder geborgen. Denn wir können Sinn erfahren in den Zusammenhängen, die zwischen uns und allem Leben existieren. Ich bin nur ein Teil, ein Sandkorn, inmitten dieser belebten und unbelebten Natur. Ich kann mich eingegliedert fühlen in diese äußerste Vielfalt von Zusammenhängen.

Nikolaus Graf von Zinzendorf verarbeitet in dem Choral „Jesu, geh voran“ die Funktion des Leides: „... denn durch Trübsal hier geht der Weg zu Dir!“

 

Keine Antworten

Warum läßt Gott Leid zu, obwohl er es doch verhindern könnte. Befriedigende Antworten gibt es darauf nicht. Wir Christen haben keine schlüssigen Antworten, wir wissen es nicht. Aber müssen wir das denn überhaupt „wissen“ und „vereinbaren“ können? Würde hier „vereinbaren“ und „wissen“ nicht auch bedeuten: theologisch und intellektuell rechtfertigen wollen, was nicht gerechtfertigt werden kann und darf? Können wir im Angesicht des Leidens und des Todes von Kindern etwas anderes tun als schreien: zu Gott schreien, ihm diese Not klagen und uns nicht vertrösten lassen?

 

Leiden ist nicht etwas Sinnloses:

Leiden ist also nicht einfach etwas Sinnloses. Wer selbst Leiden erfahren hat, ist denen näher, die im Leiden stehen und denen er dienen soll. Wenn der Mensch lernt, den Schmerz anzunehmen, wird er durch ihn stärker. Gott verheißt uns die Auferweckung und die neue Welt. Um dieser Zukunft willen gilt es, in der Anfechtung zu bleiben. Man darf im Leiden schreien „Wie kann Gott das zulassen?“, weil Gott auch in diesem Dunkel noch da ist und in solchem Leiden selbst leidet. Solch eine Frage sollte man aber nicht als ein neutraler Beobachter stellen und dabei vielleicht eine schwache Stelle in der christlichen Verkündigung suchen. Die Frage kann nur praktisch- existentiell gestellt werden. So sollte nur fragen, der selber am eigenen Leib viel Leid und Ungerechtigkeit erfahren hat und darüber sein Zutrauen zu Gottes Führung verloren hat und nun Verständnis und einen Partner sucht, der mitleidet.

 

Gott fügt nicht Leid zu

Dass der Unschuldige leidet, bedeutet nicht, dass Gott dieses Leiden zufügt. Aber er lässt es zu, ohne einzuschreiten. Das wirkt herz- und gefühllos. Und gerade in diesem Leiden soll sich das Wesen des Gottes der Bibel offenbaren, seine Liebe? Dietrich Bonhoeffer trennt das Leiden nicht von Gott, sondern spricht ausdrücklich vom Mitleiden Gottes. Das Leid ist kein Beweis gegen die Existenz Gottes, sondern eine Herausforderung, die das Verständnis von Gott und unsere Beziehung zu ihm vertiefen kann.  

 

Der Wille Gottes:

Es ist Vorsicht geboten gegenüber den Aussagen darüber, was Gott will oder gewollt hat bzw. was er nicht will oder gewollt hat. Was uns als ein Übel erscheint, kann in einem größeren Zusammenhang ein Gut sein. Nur dürfen wir das jeweilige Geschehen nicht ohne weiteres mit dem Willen Gottes in eins setzen und so der verbreiteten Verwechslung von Gottes Willen und blinder Schicksalsmacht Vor­schub leisten.

Die fromme Ergebung in den verborgenen Willen Gottes kann zwar erhaben sein, kann aber auch hart an Fatalismus und Resignation grenzen. Schicksal ist eines, der Wille Gottes ein anderes, weil das Schicksal blind ist, der Wille Gottes aber sehend.

Es ist ein Unterschied, ob man rückwärts nach der Ursache fragt, oder ob man nach vorwärts

schaut, um dem Geschehen einen Sinn abzulauschen. Dann fragt man besser: „Was soll daraus werden?“ Das an sich Sinnlose wird dann in den göttlichen Willen aufgenommen, nicht als ein von Gott Gewolltes, sondern als ein von ihm Überwundenes oder in seiner Zukunft zu Überwindendes.

 

Gott hört

Das allerdings dürfen und sollen wir glauben: dass Gott die Klage der Menschen und ihr Schreien zu ihm hört und daß das alles bei ihm nicht verhallt, sondern daß er dafür ein Gedächtnis hat. Das Leiden und Klagen aber, das noch ein Gedächtnis hat, ist nicht verloren, so widersinnig und sinnlos es auch bleiben mag. Und wenn es das Ohr Gottes ist, in das all das menschliche Weinen und Klagen über so viel Leid dringt, dann bleibt das Leiden wenigstens im Gedächtnis des Ewigen gehalten und aufgehoben. Unser Glaube lebt von der Hoffnung, dass Gott sich erinnert. Was in Gottes Gedächtnis bleibt, wird er wieder gut machen. Die Schöpferkraft Gottes kann und wird auch noch das Vergangene ändern.

 

Aufgabe für Christen:

Wir brauchen den Glauben an einen Gott, um dem Leben einen Sinn abzugewinnen. Das macht uns Mut, die uns auferlegte Zumutung anzunehmen. Wir sollen Verantwortung in dieser vom Tod gezeichneten Welt übernehmen. Unsere Hoffnung ist, dass die in Christus offenbarte Liebe Gottes sich einmal als die alles bestimmende und durchdringende Macht an dieser Schöpfung erweisen wird, und dass Gott in der Auferstehung der Toten eine radikale Hilfe und Errettung aus Leid und Tod für uns herbeiführen wird. Zeugen dieser unüberbietbaren Hoffnung können und sollen wir sein. Sie hat ihren Grund in der Auferstehung des Gekreuzigten. Und in dieser Hoffnung warten wir sehnsüchtig darauf, dass Gott erfüllt, was er versprochen hat. Unvereinbar mit dieser Ermutigung ist Apathie, offene oder stillschweigende Sympathie oder Kumpanei gegenüber den Boten und Helfershelfern des Todes.

 

Dietrich Bonhoeffer: Christen und Heiden.

1. Menschen gehen zu Gott in ihrer Not, flehen um Hilfe, bitten um Glück und Brot, um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod. So tun sie alle, alle, Christen und Heiden.

2. Menschen gehen zu Gott in seiner Not, finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot,

sehen ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod. Christen stehen bei Gott in seinem Leiden.

3. Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not, sättigt den Leib und die Seele mit seinem Brot, stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod, und vergibt ihnen beiden.

 

 

 

 

Der Herrgott von Lengede

Die Rettung der elf Bergleute von Lengede am 24. Oktober 1963 aus einem 70 Meter tiefen Stollen wurde oft beschrieben durch das bis zum Überdruß mißbrauchte Wort „Wunder“. Ohne Mißvergnügen wird man es den Geretteten selbst und ihren Familien zubilligen, sie dürfen sich des Gedankens erfreuen, durch ein „Wunder“ aus der Totengruft sozusagen „auferstanden“ zu sein. Aber: „Wunder hat mit Gott zu tun“, schreibt Hannovers Landesbischof Lilie

richtig und scheut sich dennoch nicht, auch in Lengede „aufs neue das Wunder“ zu konstatieren: „Daß nicht- wie man mit befürchten mußte - im letzten Augenblick das lose Gestein niederstürzte, das war - trotz aller menschlichen Fertigkeit -  das Unerwartete, dem Kalkül Entzogene - das war aufs neue das Wunder.“ „Bild“ zog in einer Schlagzeile den Schluß „Gott lebt doch!“.Der Chefredakteur konnte nur mit Mühe abgehalten werden, die smarte Schlagzeile „Gott hat mitgebohrt“ fünf Zentimeter hoch übers Blatt zu setzen.

Sollte es nicht an der Zeit sein, daß auch die hohen kirchlichen Amtsträger sich auf die Suche nach einer neuen Gottesvorstellung machten, damit nicht in ihrem Windschatten der klebrigste Geschäftsgeist nach vorn schießen kann? Auch die Kirchen müssen, wenn sie entweder Glauben oder Loyalität erwarten, auf die ganz billigen Effekte verzichten.

„Gott hat mitgewirkt, wenn er die Rettungsmannschaften die richtige Stelle finden ließ“, sagte der katholische Bischof Heinrich Maria Janssen von Hildesheim sehr viel vorsichtiger als Bischof Lilie und unter den Eindrücken unmittelbar an der Bohrstelle. „Gott hat die Männer finden lassen; er wird ihre Rettung vollenden.“

Niemand macht Bischof Lilie die Behauptung streitig, Lengede habe - zumal die Betroffenen und ihre Familien -  „wieder beten gelehrt“. Aber dem auch sonst grassierenden Wundern-Gefasele („Wunder muß  mit Gott zu tun haben“) darf sich jeder Wohlmeinende und müßte sich jeder Gläubige widersetzen.

In der säkularisierten Sprachwelt ist Wunder auch gar nicht einmal das dem Kalkül Entzogene, sondern das, was man nicht erwartet, nicht vorhergesehen hat, und zwar immer nur das Gute und Günstige. Wunder zum Schlechten hin scheint es nicht zu geben. Ist es Absicht, wenn Kirchenmänner diesen entleerten Wunder-Begriff übernehmen und mit Gott verquicken? Dann wollen wir doch konsequenterweise festhalten, daß auch der Bruch des Staudamms bei Frejus (421 Tote) nur mit „Gottes Wundermacht“ (Lilje zu Lengede) möglich war. Erwartet und vorhergesehen hat ihn niemand, sowenig die Grubenleitung von Lengede und die Öffentlichkeit erwartet haben, daß zehn Tage nach dem Wassereinbruch noch elf Kumpel 60 Meter unter Tage am Leben waren.

Wie hat man sich diesen Gott vorzustellen, der einerseits darum besorgt ist, daß in Lengede kein loses Gestein niederstürzt, der aber gleichzeitig in Japan 1400 Bergleute dem todbringenden Schlagwetter aussetzt? 452 kamen elend um.

„Gott ist doch tot!“ könnte die gleicherweise blödsinnige „Bild“ Schlagzeile heißen, wenn in Oberitalien eine ganze Stadt ausgelöscht wird, weil ein halber Berg in einen Stausee stürzt. Aber auch das Erdbeben von Lissabon, das die Zeitgenossen Voltaires so sehr beunruhigte, lieferte keinen Beweis wider die Existenz Gottes (und keinen dafür). Freilich brachte es dem menschlichen Bewußtsein erste Fingerzeige, sich Gott ein wenig anders vorzustellen als bis dahin.

Daß der Klärteich in Lengede durchbrach, ist soviel und sowenig ein „Wunder“ wie die gelungene Bohrung, und wer gegen den geprüften Bergwerksdirektor bösartig sein will, kann es ein Wunder nennen, daß der Stollen nicht eher angebohrt und daß bei den Davongekommenen nicht sofort sondiert worden ist, wo sich etwa noch Kameraden am Leben befinden könnten. Daß der Rettungsbohrer von Lengede die Höhle nicht zum Einsturz brachte, war sowenig auf einen Wink von oben zurückzuführen wie etwa der Untergang der „Titanic“.

Seit Wunder gegen die Naturgesetze rar geworden sind, gehen die Kirchen mehr und mehr dazu über, die Naturgesetze selbst als Wunder hinzustellen, wo es dann freilich mehr Erstaunen auslöst, daß der Apfel zu Boden fällt, als wenn er in der Luft schweben bliebe. Die Retter von Lengede wußten, daß sie auf das angewiesen waren, was man landläufig „Glück“ nennt, angewiesen darauf, daß sich die ihnen unbekannten Beschaffenheiten des Gerölls „günstig fügten“. Aber es hatte die anteilnehmende Bevölkerung überrascht, daß die schon totgesagten Kumpel sich noch am Leben befanden. Darum psychologisierte sich das ungemein gefährdete Rettungswerk wie von selbst in eine Wundertat um,

Der Gott von Lengede ist, wenn man genauer hinsieht, ein Zwillingsbruder jenes Schlachtenlenker-Gottes von Sedan (Wilhelm: „Welch eine Wendung durch Gottes Führung“), des Gottes der Emser Depesche (Roon: „Der alte Gott lebt noch“), des Gottes von Tannenberg und Masuren. Die Landsturmmänner, die 1914 während der Dankgottesdienste in dem vom Feind geräumten Ostpreußen vor Rührung schluchzten, haben auch wie die Familien von Lengede empfunden, daß Not beten lehrt, und niemand sollte sie wegen ihrer Auffassung von Frömmigkeit schelten. Aber Gott war nicht mit uns, nicht vor Verdun, nicht am Skagerrak, nicht an der Doggerbank und auch nicht bei Tannenberg.

Der „Schlachtenlenker“, der mit den Menschen Katz und Maus spielt, der Sieg und Niederlage nach Ratschluß und Laune gibt und nimmt (Fürst Leopold von Anhalt-Dessau: „Hilf wenigstens den Schurken, den Feinden nicht!“), ihn haben sich in der Frühzeit menschlicher Gottesvorstellungen Griechen und Germanen logischer gedacht, aufgespalten nämlich in mehrere Götter. die jeweils ihren menschlichen Schützlingen beistanden.

Wenn Gott als  „Herr der Geschichte“ “begriffen wird, so müssen wir uns doch gleichzeitig ein­gestehen, daß wir seinen Willen nicht kennen und nicht ahnen, wie und wo er sich öffentlich zeigen wird. Wird er als Herr der Naturgesetze und Katastrophen begriffen, so doch nicht deshalb, weil er in die naturgesetzlich abrollenden Vorgänge willkürlich oder überhaupt „eingriffe“.

Welch eine kleingeistige, obschon durch fast zwei Jahrtausende sanktionierte Vorstellung von Gott, der in Frankreich den Atheisten Clemenceau siegen und in Deutschland den gottgläubigen Ludendorff überschnappen ließ, der in Lengede das lose Gestein zusammenhält und in Japan Trennwände brechen läßt! Wenn Gottes Wege nicht unsere Wege sind, so ist es reichlich vermessen, die dem Menschen angenehmen Überraschungen als Wunder, die den Menschen vernichtenden aber als Naturkatastrophen zu deuten.

Es kann nicht Sache der Kirchen allein sein, wenn in den Massenmedien einer allzu bewußten Spekulation auf allzu naive Seelen Raum gegeben wird. Das Widervernünftige, das Wunderdenken beherrscht ohnehin unsere deutsche Politik. Die Kirchen haben uns schon zu viele „gottgesandte Männer“ präsentiert, ihr Einfluß hat die Mächte des Irrationalen zu oft unheilvoll gestärkt.

Jedes falsche Wunder wird von den Geschäftemachern zu einem Stück Obskurantentum um­gewerkelt, jedes dient dazu, Einsicht und Vernunft in der Politik zu diskriminieren und die sittliche Verantwortung des einzelnen gegenüber der modernen, unglaublich gefährdeten Welt zu schmälern. Darum wehren wir uns (nach Jens Daniel).

 

Gott und die Welt in den drei Epochen der Heilsgeschichte:

I.  Paradies: Der Mensch lebt in einem Reich völliger Freiheit, weil seine Gesetze sich mit den Gesetzen Gottes decken. Er lebt gewissermaßen in einem in sich geschlossenen Kreis, dem nur durch Gottes Tangenten eine Grenze gesetzt ist. Aber innerhalb des Kreises ist er frei.

II. Sündenfall: Der Mensch lebt nicht mehr in der Liebe, er muß sich deshalb eigene Gesetze geben, um noch existieren zu können; diese Gesetze engen ihn aber nun ein, weil sie schließlich in einer Gesetzlichkeit enden. Der Kreis wird mit vielen Zäunen ausgefüllt.

III. Christus: Christus kommt in die Welt und wird Mensch. Er aber hebt die Zäune, die sich der Mensch selbst gesetzt hat, wieder auf, er gibt wieder wahre Freiheit vom Gesetz. Jedoch werden damit die Zäune nicht räumlich beseitigt, sondern nur, wenn Christus als Ereignis von Fall zu Fall in diese Welt einbricht, sind die Zäune beseitigt.

Allerdings hat in dieser Welt auch der Teufel noch Stützpunkte, die ihm der Mensch freiwillig eingeräumt hat, indem er sagt: „Hier möchte ich Christus nicht haben!“ Das Erstaunliche: Christus hält sich auch daran, obwohl er es nicht nötig hätte.

Für den Menschen kommt es nun darauf an, diese Stützpunkte wieder an Gott zu übergeben, um sich von Gott beschützen zu lassen. Es gibt dann zwar immer noch Sünden, aber die Stützpunkte halten den Menschen bei Gott, denn Gott haßt zwar die Sünde, aber den Sünder liebt er (deshalb Gebot der Feindesliebe!), wie ja auch Jesus den Pharisäismus bekämpfte, aber den Pharisäer liebte.

 

 

 

Das Christusbild im Wandel der Zeiten

 

Obwohl uns kein Porträt Jesu überliefert ist, hat doch kein Bildnis größere Verbreitung und tiefere Verehrung gefunden als das des Gottessohnes. Große Künstler, bekannte Bildhauer, aber vor allem auch viele anonyme Maler und einfache Handwerker sich ihr eigenes Bild von Christus und seinem Wirken gemacht. Aber sie haben doch. eines gemeinsam: eine starke Ursprünglichkeit des Ausdrucks und echte Tiefe des Gefühls.

Jede Zeit  hat dabei  i h r Christusbild. Der Frömmigkeitsstil einer Zeit (Gottesvorstellung, Menschenbild) prägt auch die Christusdarstellungen Mit dem jeweiligen Gottesverständnis veränderte sich auch die Christusdarstellung. Ein Gang durch die Geschichte des Christusbildes gibt gleichzeitig ein Stück Theologiegeschichte wieder.

Zwischen „wahrhaftiger Gott, vom Vater in Ewigkeit geboren“ und der Aussage  „wahrhaftiger Mensch, von der Jungfrau Maria geboren“ liegt die  Spannung in der Darstellung. Die Christus-Ikonen der Ostkirche stellen sehr den göttlichen Jesus dar, während etwa Michelangelo zu sehr den Menschen darstellt. Aber letztlich kann kein Bild die ganze Weite unseres Bekenntnisses ausdrücken.

Ein Christusbild kann verheerend wirken; besonders auf die Vorstellungen von Kindern. Ein kitschig-süßlicher Jesus, der niemanden wehe tut, aber auch nicht hilft, ist aber reine Irrlehre. Aber umgedreht geht große helfende Wirkung etwa von dem Christus des Matthias Grünewald aus. Wie viele Menschen wurden wohl so getröstet beim Anblick des für uns getragenen Leides?

 

Beispiele für das Christusbild im Wandel der Zeiten finden Sie >>>> hier >>>>>

 

 

Theologie des Neuen Testaments von Rudolf Bultmann

 

Die Verkündigung Jesu

Diese Zusammenfassung ist eine Ergänzung von Bultmanns Jesusbuch durch das erste Kapitel seiner „Theologie des Neuen Testaments“. Die wichtigsten Veränderungen zwischen dem Buch und der Theologie sind folgende:

Jesus weist das Rechnen mit Verdienst und irdischem Lohn           (S. 70   ® S. 14)

Jesus war Prophet u n d  Rabbi (doch vgl. Jesus, Seite 52ff)            (S. 107 ® S. 20)

Jesu Predigt richtet sich primär an den Einzelnen                           (S. 43   ® S. 25).

Neu hinzukommen ist der Abschnitt über ein missionarisches Selbstbewußtsein Jesu.

 

Bultmanns Meinung ist, daß wir vom Leben und der Persönlichkeit Jesu so gut wie nichts mehr wissen können, da die christlichen Quellen sich dafür nicht interessiert haben. Die Verkündigung Jesu gehört nur zu den Voraussetzungen  der Theologie des Neuen Testaments und ist nicht ein Teil dieser selbst. Erst mit dem Kerygma (Verkündigung) der Urgemeinde beginnt das theologische Denken. Zu seinen geschichtlichen Voraussetzungen gehört freilich das Auftreten und die Verkündigung Jesu. Aber die Befragung der Geschichte soll nicht zur Bereicherung eines zeitlosen Wissens führen, sondern zu einer Begegnung mit der Geschichte  [nicht auch mit Gott und mit Jesus?]

I.   Die eschatologische Verkündigung: Das Kommen der Gottesherrschaft

Das Neue und Eigene bei Jesus ist die feste Gewißheit, daß die Gottesherrschaft j e t z t kommt und daß diese Weltzeit abgelaufen ist. Er erwartet das Kommen des Menschensohnes als des Richters und Heilsbringers, die Auferstehung und das Gericht und das Leben für die Gerechten.

Die Gottesherrschaft ist das Regiment Gottes, das dem bisherigen Weltlauf ein Ende setzt. Sie ist eine wunderbare, übernatürliche, unweltliche Größe, die in einer kosmischen Katastrophe kommt. Doch jede apokalyptische Spekulation wird abgelehnt, der Endzustand wird nicht ausgemalt, es gibt keine Vorzeichen: Zeichen der Zeit sind allein Jesu Auftreten und seine Verkündigung, seine Person bedeutet die Forderung der radikalen Entscheidung.

Es geht weder um die nationale Hoffnung auf den Messiaskönig noch um einen humanistischen Individualismus. Doch die Predigt richtet sich primär an den Einzelnen (Gericht u n d Heil), der in die Entscheidung gerufen wird, und d.h. zur Buße. Jetzt ist die Zeit der Entscheidung, zu der Jesus ruft.

Pessimistisch-dualistische Anschauung von der satanischen Verderbtheit des ganzen Weltgefüges (zwei Äonen). Aber nicht die Welt ist schlecht, sondern die Menschen. Die Gottesherrschaft jedoch bestimmt die Gegenwart, obwohl sie ganz Zukunft ist. In den Wundertaten ist die Gottesherrschaft im Anbruch, die Erfüllung hebt schon an, aber sie ist nicht schon Gegenwart. Jesus hat keinen Orden und keine Sekte gegründet, und er hat nicht allen zugemutet, Haus und Familie zu verlassen. Aber die Welt des Menschen ist dadurch bestimmt, wie er sich im Hier und Jetzt seiner Existenz entscheidet.

 

II. Der Wille Gottes

Jesu Verkündigung ist eine Einheit von eschatologischer und sittlicher Forderung. Jesus selbst steht zwischen einem Propheten (Verkündigung des Hereinbrechens  der Gottesherrschaft) und einem Rabbi (Auslegung des Gesetzes Gottes). Aber Jesus war kein Sittenlehrer, dem die Gemeinde erst die eschatologische Botschaft hinzugefügt hätte. Die Gemeinde entstand ja erst in der Gewißheit des hereinbrechenden Endes. Erst als sie Jesus als Rabbi herausstellte, kam sie in Konflikt mit den Juden; aber gerade das zeigt, daß auch die sittliche Predigt zu Jesus gehörte.

Jesus kämpft nicht gegen den Tempelkult und religiöse Bräuche. Er hat das Gesetz nicht bekämpft, sondern erklärt. Aber er scheidet kritisch zwischen den alttestamentlichen Forderungen  und protestiert dagegen, daß die frommen Bräuche der persönlichen Eitelkeit dienen. Er kämpft gegen den gesetzlichen Ritualismus, der äußerliche Korrektheit erzieht, aber mit einem unreinen Willen verbunden ist.

Die jüdische Gehorsamsethik leitete alle Fälle von der Schrift ab und legte noch  manchmal einen „Zaun“ darum. Doch durch den Vergeltungsgedanken wurde das Motiv zur sittlichen Tat verdorben und der Gehorsam rein formal verstanden als Erfüllung der Forderung des Buchstabens. Die Gebote wurden befolgt, weil sie geboten waren.

Jesu Verkündigung ist als Auslegung der Forderung Gottes ein großer prophetischer Protest gegen die jüdische Gesetzlichkeit und gegen die Auffassung des Verhältnisses zu Gott als eines Rechtsverhältnisses. Die kultischen Bestimmungen werden aufgehoben, um das religiöse Verhältnis frei werden zu lassen (Mensch als Bittender und Hoffender).

Der Mensch hat Gott gegenüber keine Freiheit und kann keine Ansprüche erheben. Er muß werden wie ein Kind. Das Rechnen mit Verdienst und Lohn lehnt Jesus ab. Unglück ist nicht Strafe für besondere Sünden. Doch hinter der Forderung steht die Verheißung, die gerade denen Lohn verheißt, die nicht um des Lohnes willen gehorsam sind: Lohn ist nämlich die Gewinnung des eigentlichen Seins.

Jesus hat den Gedanken des Gehorsams radikal gedacht. Radikaler Gehorsam ist aber nur möglich, wo der Mensch die Forderung versteht und von sich aus bejaht. Im Moment der Entscheidung ist das Zuschauersein aufgehoben. Maßstäbe aus dem Früher und dem Allgemeinen, eine Autorität und eine Theorie, gibt es nicht. Gott beansprucht nicht nur so weit, als das Handeln durch formulierte Gebote bestimmt, sondern es kommt schon auf das Wollen des Menschen an (siehe die „Antithesen“). Gott fordert den ganzen Willen und kennt keine Ermäßigung.

Es gibt keine neutralen Situationen, für die in der Schrift kein Gebot da ist, so daß überschüssige Werke möglich sind. Jesus sagt: Ein Nichtstun, wo ein Tun der Liebe gefordert ist, wäre ein Bösestun. Jesus befreit damit von der zwecklosen Sorge, sich nach Geboten und Verboten umsehen zu müssen, die man wissen müßte, um korrekt zu handeln. Das bedeutet eine Befreiung von der Abhängigkeit von einer formalen Autorität und vom Urteil ihrer Ausleger. Gehorsam ist nun leicht, weil er auf der eigenen Verantwortung ruht.

Die menschliche Existenz ist in einer absoluten Unsicherheit gegenüber dem, was ihr begegnet. Im Augenblick der Entscheidung kann sie sich nicht auf Grundsätze und eine allgemeine ethische Theorie zurückziehen. Es wird dem Menschen zugemutet, selbst zu sehen, was von ihm gefordert ist. Aber unmittelbar in der Begegnung mit dem Nächsten erfährt der Mensch, was Gott von ihm will. J e t z t gilt es zu wissen, was zu tun  und zu lassen ist. Liebt der Mensch wirklich, dann weiß er schon, was er zu tun hat. Für das Verhalten anderen gegenüber braucht der Mensch keine besonderen Vorschriften, sein Verhalten ist bestimmt durch den Verzicht auf den eigenen Anspruch.

Der positive Wille Gottes ist die Forderung der Liebe. Das Verhalten den anderen gegenüberläßt sich zusammenfassen in dem Gebot der Liebe. Doch das oberste Gebot der Gottesliebe bestimmt den Sinn des Gebots der Menschenliebe: Die Haltung, die ich zum Nächsten einnehme, ist bestimmt durch die Haltung, die ich zu Gott einnehme.

Der Gehorsam gegen Gott bewährt sich in der konkreten Situation der Begegnung mit dem Nächsten. Nur der ist bereit für das Heil, der sich im konkreten Augenblick für Gottes Forderung entscheidet, die ihm im Nächsten begegnet. Wer die Gottesherrschaft will, der will auch das Liebesgebot erfüllen.

Jesus fordert nicht Armut und Askese (Fasten), sondern Opfer. Besitz und Ehe werden nicht verworfen. Die Entweltlichung ist nicht Askese, sondern schlichte Bereitschaft für Gottes Forderung. Und dazu bedarf es keiner besonderen Qualitäten. Es wird kein Programm für die Weltgestaltung abgeleitet, auf jede Konkretisierung des Liebesgebotes wird verzichtet. Es gibt keine Ethik der Weltgestaltung, sondern eine eschatologische Ethik, die den Einzelnen unmittelbar vor Gott verantwortlich macht.

Die Botschaft vom Willen Gottes und die Botschaft vom Kommen der Gottesherrschaft fordern einander gegenseitig, indem sie beide hinweisen auf das Jetzt als Stunde der Entscheidung. Aber die Imperative sind in radikalem Sinne als absolute Forderung gemeint (keine Interimsethik), denn sie werden nicht durch den Hinweis auf das drohende Weltende motiviert. Die Erfüllung des Willens Gottes ist die Bedingung für die Teilnahme am Heil der Gottesherrschaft. Aber „Bedingung“ meint: echte Bereitschaft und ernster Wille.

 

Exkurs: Der Glaubensbegriff

Glaube ist die Kraft, in bestimmten Augenblicken des Lebens Ernst zu machen mit der Überzeugung von der Allmacht Gottes, die Gewißheit, daß man in solchen Augenblicken wirklich Gottes Handeln erfahren wird (wichtig für die Beurteilung des Bittgebets).

 

III. Der Gottesgedanke Jesu: Der ferne und der nahe Gott

Im Judentum ist Gott der Herr der Geschichte und der zukünftige Richter. Bei Jesus ist der ferne und der nahe Gott der e i n e: Er ist keine höhere Natur, der man sich nähern könnte durch sakramentale Mittel oder ein mystisches Gottesverhältnis. Gott und Mensch sind bei Jesus entgeschichtlicht, allerdings nicht im Sinne des Judentums, das Gott in die Ferne rückte und den Menschen durch den Ritus aus der Welt ausgrenzte.

Für Jesus wird der Mensch entweltlicht durch den ihn direkt treffenden Ausspruch Gottes, und Gott ist entweltlicht, indem sein Handeln als eschatologisch verstanden wird. Aber: Gerade der jenseits der Weltgeschichte stehende Gott begegnet dem Menschen im Alltag, in dessen Gabe und Forderung. Der entgeschichtlichte (d.h. entsicherte) Mensch ist auf die konkrete Begegnung mit dem Nächsten gewiesen, in der er echt geschichtlich wird.

Das Wunder ist nicht Beweis für die Existenz und das Walten Gottes, sondern setzt den Gottesglauben voraus. Es geht nicht um übernatürliche Kräfte, aber bestimmte Geschehnisse werden direkt auf Gottes Handeln zurückgeführt. Doch der Mensch kann diese Allmacht nicht als allgemeingültige Tatsache wahrnehmen und mit ihr rechnen, sondern nur, wenn es Gott gefällt.

Auf Gottes Güte kann nur vertrauen, wer sie in seine eigene Wirklichkeit aufnehmen will. Um die Vergebung der Schuld kann nur bitten, wer selbst die Schuld vergibt. Das ist eine Haltung des Menschen, die auf einen eigenen Anspruch verzichtet. Das Gebet ist nicht Ergebung in Gottes Willen, sondern es soll Gott bewegen, etwas zu tun, was er sonst nicht tun würde. Gehorsam kann sich nur darin vollziehen, daß ich meine Wünsche vor Gott offenbare. Als der Schöpfer ist Gott ein Gott der Nähe geworden, aber als der nahe ist er auch der Fordernde und der Vergebende. Als der nahe Gott heißt Gott „der Vater“ (Gebetsanrede).

Sünde ist der Seinscharakter des Menschen, Jesus redet nicht über die Menschen, daß sie Sünder seien, sondern zu Menschen, die Sünder sind. Nur Gottes Vergebung kann ihnen helfen: Jesus verkündigt Gottes Vergebung!

Aber nur wo der Gedanke des Gehorsams radikal verstanden wird, kann auch der Gedanke der Gnade und Vergebung radikal verstanden werden. Sünde kann nur vergeben werden. Indem der Mensch die Vergebung annimmt, verurteilt er sich selbst am tiefsten und beugt sich unter Gottes Gericht. Die Gnade hält die Forderung des Gehorsams aufrecht, da sie den Ungehorsam durch echte Vergebung richtet. Wer durch die Vergebung neu wird, wir  neu zum Gehorsam. Das Ereignis der Vergebung ist Jesu Wort, das den Hörer trifft. Jesus als Träger des Worts sieht den Menschen unter dem Anspruch Gottes und sichert ihm die Vergebung Gottes zu. Ob sein Wort Wahrheit ist -  das ist die Entscheidung, in die der Hörer gestellt ist.

 

Urgemeinde

Jesu Verkündigung ist für die ersten ChristenErfüllung prophetischer Predigt, seine Gesetzesauslegung hält sich im Rahmen schriftgelehrter Diskussion, die Eschatologie im Rahmen der Apokaplyptik.  Über seine einzigartige Stellung wird nicht nachgedacht: Nur das eschatologische Geschehen des Kreuzes ist wichtig, damit aus dem Verkündiger der Verkündigte wird, der kommende (!) Messias (= Menschensohn).

 

1. Eschatologisches Selbstbewußtsein:

Die Gemeinde weiß sich als Gemeinde der Endzeit, repräsentiert in den „Zwölf“. Der Sitz ist in Jerusalem. Es gibt den Aufnahmeritus der Taufe, Mahlzeiten in der Stimmung eschatologischer Freude werden eingenommen. Der Weissagungsbeweis geführt, der Geist ist Endzeitgabe, die Mission ist eilig.

2. Bedeutung Jesu:

Jesu Gekommensein war das entscheidende Ereignis und wurde vom Osterglauben an die Auferstehung her gesehen. Aber es wurde in Erwartung der kommenden Parusie noch nicht als eschatologisches Geschehen erkannt. Jesu Entscheidungsruf schloß aber eine Christologie ein. Das Kreuz stellte die Entscheidungsfrage noch einmal. Im Osterglauben hat die Gemeinde das Ärgernis des Kreuzes überwunden: Gott hat ihn durch die Auferweckung zum Messias gemacht. Jesu Tod wurde als Sühnopfer aufgefaßt. Doch dann gewinnt seine Gestalt auch eine die Gegenwart bestimmende Macht (neue Herrenworte). Es werden ihm Titel beigelegt: Messias, Menschensohn, Davidssohn, Gottessohn, Knecht Gottes.

 

3. Ansätze zu kirchlichen Formen:

Die Gemeinde grenzt sich nicht gegen das Judentum ab, sondern kehrte zur Beachtung des Gesetzes zurück (Jakobus), weil dieses Charakteristikum des auserwählten Volkes war (keine Heidenmission). Ansatzpunkte für eigene kultische Formen waren Taufe und Abendmahl  (keine kultische Bedeutung). Die Gemeindeleitung erfolgte durch die „Zwölf“ und Älteste (Wortverkündiger und Hüter der Tradition). Jerusalem ist Zentrum der Gesamtgemeinde. Die Kirche ist keine Heilsanstalt, hat aber Disziplinargewalt.

 

Hellenistische Gemeinde

1. Die Predigt von Gott:

Monotheismus, Schöpfer, Richter. Heidentum ist Sünde. Natürliche Theologie. Gott ist Auferwecker Christi (Eigenname!). Durch die Erhöhung ist Jesus der Weltenrichter und Retter. Technischer Gebrauch von „Evangelium“: Osterkerygma, Täufer, christliche Mysterien, Wunder, Logien, Gemeindeordnung. Glaube ist Annahme der Botschaft Jesu und Vertrauen, aber es gibt kein persönliches Verhältnis zu Christus.

2. Kirchenbewußtsein:

Erlösung nicht individuell, sondern für die Gesamtgemeinde (die Einzelgemeinde ist Leib Christi). Die Solidarität mit Israel  (Altes Testament als heiliges Buch, neuer Bund), aber Bruch mit dem historischen Israel. Schema „einst - jetzt“. Das Heil ist verborgen. Die Heiden sind in der Finsternis. Ausgegrenztheit aus der Welt, die sittliche Unreinheit und Sünde ist. Askese, Dualismus. Doch es kommt zur Parusieverzögerung (Endzeiterwartung), die wiederum zur Paränese (Ermahnung) führt.

3. Das Problem des AltenTestaments:

Die kultisch-rituelle Forderung ist erledigt durch das Opfer Christi, aber die sittlichen Gebote gelten unbestritten weiter. Das Alte Testament wird übernommen als Buch der Weissagungen. Die Offenbarung in de r Geschichte  ist Gegengewicht gegen die natürliche Theologie und Moral (theonome Ethik).

4. Kyrios und Gottessohn:

Ursprünglich gab es keine kultischen Versammlungen, nur Predigt und Liturgie. Dann aber wurde „Christus“ zum Herrn gemacht, der kultisch verehrt wird. Es gibt kein Gebet zu Jesus, aber seine Anrufung durch Bekenntnis und Lobpreis. „Gottessohn“ bezeichnet nun das göttliche Wesen (Unterscheidung von Gott, aber auch Betonung der Göttlichkeit). Entwicklung: Evangelien: Offenbarung der Vollmacht in Wundern, Taufe, Jungfrauengeburt.

Vor Paulus: Kosmische Rolle des Schöpfungsmittlers (2.Kor 4,4 und Kol 1,15-23).

Paulus und Johannes: Mensch gewordener Präexistenter und Betonung der Menschlichkeit.

 

5. Sakramente:

Die Taufe wird durch Mysterieninterpretation zum christlichen Initiationssakrament: Reinigung von Sünden durch Tauchbad, Nennung des Namens des Herrn. Geistverleihung durch Handauflegung. Anteil an Tod und Auferstehung Christi (gegen Magie) und Wiedergeburt („Erleuchtung“).

6. Herrenmahl;

Sakramentale Gemeinschaft  mit dem Herrn. Dadurch kommt es zur Verbindung mit dem Leib Christi (soma Christou). Später wurde es als Opfer verstanden und als sakramentales Mahl von der Mahlzeit gelöst.

6. Der Geist:

Er ist eine wunderbare göttliche Kraft (im Gegensatz zum Fleisch) in der Sphäre des menschliche Tuns oder Erleidens, eine eschatologische Gabe.

Antinomistisches Element: Persönliche Kraft für außerordentliche Leistungen.

Dynamisches Element: Fluidum, das bei der Taufe übermittelt wird.

Es gibt besondere Geistträger, deren verschiedene Gaben wirksam werden in einzelnen Augenblicken, vor allem in Gemeinde und Gottesdienst.

7. Gnostische Motive:

Gegengesätze: Welt ist die Schöpfung Gottes, Anthropologie, Christologie, Eschatologie

Beeinflussung: Eschatologischer Dualismus (kosmologisches Denken), Fall der Schöpfung, Terminologie der Paränese, Abstieg und Aufstieg des Erlösers, Befreiung von dämonischen Weltherrschern, Einheit der Pneumatiker.

 

 

 

 

Theologie des Paulus

Durch die Verkündigung der hellenistischen Gemeinde wurde Paulus für den christlichen Glauben gewonnen, die Bekehrung ist die Preisgabe seines bisherigen Selbstverständnisses (es gibt kaum Spuren des Einflusses der palästinensischen Tradition). Die paulinische Theologie erhebt die im Glauben enthaltene Erkenntnis zur Klarheit bewußten Wissens. Sie ist zugleich Anthropologie wie auch die Christologie zugleich Soteriologie ist.

 

1. Die anthropologischen Begriffe:

Soma = die ganze Person. Der Mensch ist nicht ein soma, sondern er  i s t  soma. Er wird „soma" genannt, sofern er ein Verhältnis zu sich selbst hat, das ein sachgemäßes oder verfehltes sein kann und auch über den Tod hinausreicht (Auferstehung).

Psyche = Kraft des natürlichen Lebens bzw. dieses selbst, aber nach gnostischem Sprachgebrauch im abwertenden Sinne.

Pneuma = „Ich“, nicht ein besonderes geistliches oder geistiges Organ, mehr nach der Bedeutung „nous“ als nach „psyche“.

Zoe  = die Lebendigkeit des geschichtlichen Menschen, die Intentionalität menschlichen Seins, das die Entscheidung für oder gegen Gott hat.

Nous = das Wissen um etwas, das Verstehen und Urteilen, das dem Menschen zu eigen ist und seine Haltung bestimmt.

Syneidis = das Wissen des Menschen um sein eigenes Verhalten angesichts einer für dieses Verhalten bestehenden Forderung, ein allgemein menschliches Phänomen, das um das „Daß“ weiß, aber in Bezug auf das „Was“ der Forderung irren kann (Freiheit).

Kardia = Bezeichnung des Ich als eines wollenden, planenden, trachtenden, das sich zum Guten wie zum Bösen wenden kann und sowohl Subjekt des Zweifelns wie des Glaubens ist, d.h. das eigentliche Innere im Gegensatz  zur äußeren Erscheinung des Menschen.

 

2. Fleisch, Sünde, Welt:

Der Mensch hat immer schon sein eigentliches Sein verfehlt (Böses). Der Mensch ist stets vor Gott gestellt und von Gott beansprucht. Die Welt ist die Schöpfung gegenüber dem Schöpfer (kreatürlich-vergänglich).

 

Anthropos = der Mensch in der kreatürlichen Menschlichkeit und in seiner Beziehung zu Gott, vor dem Differenzierungen verschwinden.

 

Sarx = das Böse ist ein verkehrtes Trachten und zugleich Sünde (= Empörung gegen Gott, der als der Schöpfer der Ursprung des Lebens ist). Die eigentliche Sünde ist, aus sich selbst statt aus Gott leben zu wollen. „Sarx“ ist das belebte Fleisch des Menschen, aber auch als „Fleischlichkeit“ in aller Schwäche und Vergänglichkeit, die ganze Sphäre des Irdisch-Natürlichen  (Umwelt des Menschen), oft synonym mit „kosmos“

En sarki  = die Sphäre, die die Möglichkeiten des Tuns und Erleidens des Menschen absteckt.

Kata sarka = ein menschliches Verhältnis im Blick auf den innerhalb des natürlichen Lebens vorfindlichen Tatbestand, 2. als Bestimmung von Verben aber Qualifizierung eines Seins oder Verhaltens als ein sündiges, das in der sarx seinen Ursprung hat.

 

Hamartia = die Laster der Sinnlichkeit und der Selbstsucht, die eifrige Erfüllung des Gesetzes, um dadurch Gerechtigkeit zu erringen, das Weisheitsstreben und der Stolz auf die Erkenntnis und pneumatische Begabung, das „Rühmen nach dem Fleisch“, das zur Angst des um sich selbst besorgten Menschen führt. „Sarx“ und „amartia“ können wie persönliche Wesen angesehen werden, sie sind Mächte, denen der Mensch verfallen ist, so daß er nicht mehr bei sich selbst, sondern zwiespältig ist.

 

Thanatos = Die Sünde führt mit Notwendigkeit in den Tod, obwohl die Sünde dem Menschen vortäuscht, er werde das Leben gewinnen, wenn er seiner Begierde folgt. Die Sünde zwingt alle Menschen in die Knechtschaft. Sie kam durch das Sündigen in die Welt. Erst durch Christus ist wieder  die Möglichkeit des Lebens gegeben.

 

Kosmos = der Inbegriff der irdischen Lebensbedingungen und Möglichkeiten, kein kosmo­logischer, sondern ein geschichtlicher Begriff (Menschenwelt), der ein theologisches Urteil enthält (kosmos outos), ein Zeitbegriff, die dem Ende zueilende Menschenwelt und die Sphäre gegengöttlicher Macht. Sie wird durch die Einzelnen konstituiert, beherrscht aber den Einzelnen. Sie ist aber auch Herrschaftsgebiet dämonischer Mächte, für die man sich entscheiden kann.

 

Nomos = Gottes Forderung, die den Menschen zum Leben führen soll, die Gesamtheit der historisch gegebenen Gesetzesforderungen (Sittengesetz), die von Gott gegeben sind, damit sie erfüllt werden. Aber ohne Glauben - nur durch Gesetzeswerke - kann der Mensch kein Heil erlangen. Dieses Bemühen ist selber schon die Sünde, so daß der Mensch durchs Gesetz ins Sündigen geführt wird. Aber der Tod führt zu Gott, der die Toten lebendig macht.

 

3. Der Mensch unter der Pistis (Glaube):

1. Die Gerechtigkeit Gottes: Das Leben erwächst daraus, daß der Mensch sich selbst an Gott preisgebend sein Selbst gewinnt. Schon die Gerechtigkeit als Bedingung für den Empfang des Heils ist von Gott geschenkt, der den Schuldigen als unschuldig anerkennt (forensischer Begriff, der zum eschatologischen wird). Die Gerechtigkeit wird dem Menschen schon in der Gegenwart zugesprochen, behält aber ihren eschatologisch-foren­sischen Sinn (jedoch neuer Äon). Sie wird gegeben ohne Werke des Gesetzes aus Glauben aufgrund der Gaben Gottes, die gerade für den Sünder gilt. Die Gerechtigkeit hat ihren Ursprung in der in Christus gewirkten Gnadentat Gottes, sie macht aus dem Zorn einen Friedenszustand mit Gott.

 

2.Die Gnade: Nicht gnädige Stimmung Gottes, sondern jetzt sich ereignender Gnadenerweis. Aber der Zorn bleibt am Werk, Gott ist nur der gnädiger Richter. Die Gnade ist Gottes einmalige Tat in Jesus Christus, durch die die Gläubigen  durch den Geist in eine neue Situation versetzt werden. Gott hat Christus in den Tod am Kreuz gegeben, aber zum Heils­geschehen gehört auch die Auferstehung. Das wird umschrieben durch Begriffe jüdischer Kultanschauung (Sühneopfer, stellvertretendes Opfer) und in den Kategorien des gnostischen Mythos interpretiert. Doch nur im anredenden, fordernden und verheißenden Wort ist das Heilsgeschehen präsent. Tod und Auferstehung Christi werden im Wort zur Möglichkeit der Existenz, der gegenüber die Entscheidung fallen muß: Die Menschwerdung hat geschichtliche Dimensionen, weil sie in der christlichen Verkündigung begegnet.

 

 

Johannesevangelium

A. Dualismus

1. Welt und Mensch:

Welt       = Finsternis = Lüge = Knechtschaft unter die Sünde = Tod.

Licht        = Erfülltheit des Daseins als Möglichkeit des Selbstverständnisses.

Wahrheit = Wirklichkeit Gottes, die sich in Jesus offenbart.

Leben      = Entschlossensein für Gott und Jesus, der ihn offenbart.

Freiheit   = Öffnung für die Wirklichkeit, aus der sie allein leben kann.

Gott         = Licht = Wahrheit = Freiheit = Leben.

Der kosmologische Dualismus wird zum Entscheidungsdualismus.

 

2. Determinismus:

Gnostische Zweiteilung des Menschen: Das Wesen des Menschen ist Sünde, deren Allgemeinheit Tatsache ist. Die Begegnung mit dem Offenbarer führt zur Entscheidung über das Sein und gibt die Möglichkeit, anders zu sein (vorher in der Schwebe).

 

3. Verkehrung der Schöpfung zur „Welt“:

Im Wahn, der aus dem Selbst-sein-wollen wächst, stoßen die Menschen bei der Frage nach dem Leben nicht auf ihre eigene Geschöpflichkeit, sondern geben sich selbst Antwort in ihrer Religion. Die Sünde der Juden liegt in der Dogmatik, sie spielen Gesetz und Geschichte gegen den Offenbarer aus. Sünde ist Unglaube. Die Gerechtigkeit ist Überwindung der Welt. Das Gericht ist die Entscheidung gegenüber Jesus als dem Offenbarer.

 

B. Krisis der Welt:

1. Sendung des Sohnes: Kommen - Fortgehen. Tat der Liebe Gottes, eschatologisches Ereignis. Titel: Heiland, Messias, Gottessohn, König Israels, Herr und Gott.

 

2. Der Anstoß: Der Gottessohn kommt nicht im kosmischen Vorgang, sondern als historischer Mensch. Er vermittelt nichts, sondern ruft zu sich, die ihm Begegnenden durchschauend. Unangreifbarkeit, Wundertäter. Es gibt Wiederspruch gegen Jesu Anspruch, weil er ihn offen ausspricht- und doch wieder ist alles ein Geheimnis.

3, Offenbarung der Herrlichkeit (doxa): Einheit mit Gott in der Paradoxie des Offenbarungsgedankens. Das entscheidende Heilsereignis sind Menschwerdung (Schwerpunkt) und Tod als Vollendung des Werks: Kreuzigung ist Erhöhung. Jesus ist im Tod der handelnde Sieger, die Auferstehung ist die Wiederkunft. Das gesamte Wirken ist Opfer. Keine Sühneopfervorstellung, keine Sakramente. Das Heilsgeschehen ist verlegt in die Offenbarung Gottes im irdischen  Wirken des Menschen Jesus und in die Überwindung des Anstoßes im Glauben.

 

4. Offenbarung als Wort:

Die Werke Jesu sind seine Worte. Sie bezeugen, was Jesus beim Vater gesehen hat (Präexistenzvorstellung der Offenbarungsvorstellung dienstbar gemacht, das Daß offenbart, keine metaphysische Belehrung, nur Selbstaussagen). In den Ich-bin-Worten ist das „Ich“ das Prädikat („in mir ist gegenwärtig“). Es gibt eine ständige Einheit mit Gott.

 

C. Glaube:

1. Glaube als Hören des Wortes:

Man soll Jesus glauben, daß man an ihn glauben kann. Glaube kommt aus dem Hören und Sehen, für die Glaubenden aller Zeiten. Das Erkennen ist dabei Strukturmoment des Glaubens; Jesus erkennt den Vater, die Christen „glauben“. (= erste Zuwendung zu Jesus, „erkennen“ erst eschatologisch).

2. Glaube als eschatologische Existenz:

Glaube ist der Weg zum Heil (aber nicht wie bei Paulus Frage nach dem Heilsweg, sondern nach dem Heil selbst). Durch die Entscheidung für Gott gegen die Welt ist der Akt der Entweltlichung, der den Anstoß überwindet und den Übergang darstellt in die eschatologische Existenz. Die Doxa der Glaubenden: Erkenntnis und Freiheit von der Sünde. Dialektisches Verhältnis von Indikativ und Imperativ;

Wandel im Licht und Verpflichtung zum Lieben. Eschatologische Existenz: Friede und Freude (aber kein direktes menschliches Verhältnis, Jesus ist allein der Gebende, Gebet ist Ausdruck der Verbundenheit und Distanz, aber Gebetshaltung der Zuversicht). Geistbesitz (Kraft der Erkenntnis und Wortverkündigung, um Jesu Wort stets neu zu verstehen, das in der Verkündigung lebendig bleibt). Kein Kirchenbegriff, nur Gemeinde der eschatologisch Existierenden. Einheit der Einzelnen mit dem Hirten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Böse

 

Das Böse in der Bibel:

Die Bibel erklärt das Böse nicht. Sie beschreibt nur, nimmt das Böse als gegeben hin und teilt ihre Erfahrungen mit. Aber erfahren kann man nur das Neutrum, dahinter steht jedoch etwas Persönliches.

Die Bibel beschreibt im Hiobbuch die Wirkungen des Teufels als Verklagen und Verführen. Er verklagt den Menschen nicht auf Grund eines schon geschehenen Abfalles von Gott, sondern auf Grund eines noch zu provozierenden Abfalls, der aber infolge der Anfälligkeit des Menschenherzens sicher eintreten wird (Der Teufel kann so auftreten, denn er kennt den Menschen. Es handelt sich darum auch nicht um eine Wette wie bei einer Pferdewette, sondern um eine Machtprobe, denn es besteht kein Risiko für den Teufel). Der Teufel bekommt ein Recht auf den Menschen, weil dieser die Sünde im Herzen trägt; nicht durch äußeren Zwang erlangt er also dieses Recht, sondern durch eine auf die Sünde fußende innere wesensbedingte Notwendigkeit.

Erasmus von Rotterdam meinte in seiner Schrift „Vom freien Willen“, der Mensch muß ja einen freien Willen haben, denn sonst könnte ihn keiner für seine Taten verantwortlich machen. Luther jedoch sagt in seiner Schrift „Vom geknechteten Willen“, der Mensch ist verantwortlich für seine frei entschiedenen Taten er kann nicht tun, was er will.

Erasmus hat es sich viel zu leicht gemacht, und Luther sieht hier bestimmt mehr die Wirklichkeit: Es gibt eben im Menschen selbst diesen Drang zum Bösen. Die Macht des Satans besteht nicht darin, daß er den Menschen zwingt, sondern darin, daß er lockt. Der Wunsch des Menschen kommt ihm dabei entgegen. Und schließlich ist es ja auch der Mensch, der die Sünde(n) tut.

Die Bibel weiß, daß der Teufel als gefallener Engel große Sachkenntnis und Leidenschaft hat in Wundern und religiösem Getue. Seine jetzige negative Größe zeugt von seiner ursprünglichen Bestimmungsgröße, nach dem Gesetz des Reiches Gottes: Je höher der Rang, desto tiefer der Fall. Auch mit dieser Vorstellung wendet sich die Bibel wieder gegen das dualistische Mißverständnis, indem die Macht des Bösen wieder in Beziehung zu Gott gesetzt wird (vgl. die göttlichen Menschheitsideale verkehren sich ohne Bindung an Gott ins Gegenteil (französische Revolution).

 

Jesus und die dämonische Macht:

Jesus unterscheidet die dämonische Macht und den von ihr gebundenen Menschen und kämpft somit gegen sie für den Menschen (vgl. das idealistisch-dialektische Verhältnis von Gut und Böse).

Sein wirksamer Einbruch ins Dämonenreich bewirkt daselbst Erkenntnis und Abwehr (Der Widerstand der Dämonie ist dann dort am stärksten, ein Frommer spürt die dämonische Macht mehr als ein anderer).

Jesus stellt wieder die rechte Rangordnung her zwischen Gott und Geschöpf und vertreibt die dämonische Macht, indem er ihre Angriffspunkte im Menschen vertreibt:

Securitas (Sicherheit): Moralische Abspaltung von Gott

Superbia (Hochmut): Autonomie in Ungehorsam

Desperatio (Verzweiflung): Weil man Gott nicht gewachsen ist.

Die Sünde ist de facto noch da, aber der Verstoß gegen die zweite Gebotstafel läßt uns nicht mehr aus der Gotteskindschaft fallen. Wir geben nicht mehr dem Satan, sondern Jesus ein Recht über uns. So ist auch Luthers Wort „sündige tapfer“  zu verstehen:  Wer einmal in Sünde gefallen ist, braucht deshalb nicht zu verzweifeln.

 

Ursprung des Bösen:

Die Grundaussage klautet: Die Bibel macht keine Aussage darüber, woher das Böse kommt. In der Geschichte vom Sündenfall tritt urplötzlich die Schlange auf, und im Gleichnis vom Unkraut im Weizen steht nur: „sein Feind kam!“ Wenn man sich überhaupt eine Vorstellung machen will vom Bösen, das heißt: von seinem Ursprung, dann kann man nie sagen: „Es kommt von Gott!“ oder „Das kommt vom Teufel!“ Wenn jemand „das Böse“ verursacht, dann ist es einzig und allein der Mensch.

Denkt man sich das Böse personifiziert im „Teufel“ oder in den Naturgewalten oder in ge­heim­nisvollen Kräften oder in Dämonen, so schafft man dadurch einen Gegengott - den es in Wirklichkeit nicht gibt - der als eine wirkliche Macht über die Menschen zu herrschen scheint. Zum anderen „dämonisiert“ man dadurch aber auch den ganzen Kosmos, denn nun vermutet man überall in seiner Umwelt diese bösen Dämonen, die dem Menschen das Leben schwer machen und ihn von Gott abbringen.

Die Natur und der Kosmos sind aber nicht „böse“ an sich (auch die Naturgewalten richten nur selten Unheil an), sie werden höchstens böse durch die Tat des Menschen. Wenn der Mensch sich von Gott abwendet, dann nimmt er nicht mehr seinen Auftrag wahrt, er ist nicht mehr Krone der Schöpfung und kann sich nicht mehr die Welt untertan machen. Der Mensch, der sich von Gott abwandte, hat so ein Vakuum geschaffen, das „Nichts“, in dem weder Gott ist noch irgendein böser Teufel; und diese Leere allein können wir als das „Böse“ bezeichnen; wenn nun Menschen oder Dinge in diesem nicht mehr von Gott erfüllten Raum stehen, dann werden sie erst „böse“.

In der Praxis sieht das dann so aus: Unsere Technik könnte durchaus zum Segen der gesamten Menschheit werden. Findet jedoch der Mensch nicht mehr den rechten Bezug zu ihr (eben weil er sich von Gott abgewandt hat und deshalb nicht mehr „Herrscher“ der Welt ist, der sich die Erde untertan macht, dann erst wird die Technik „teuflisch“ und herrscht nun wie eine dämonische Macht über den Menschen. Das Böse ist also die nicht mehr bewältigte Beziehung zu Gott, zu den Mitmenschen und zu den Dingen.

Die dämonische Macht des Bösen läßt sich nicht ableiten und erklären, nur aus der Betroffenheit läßt sich die erfahrene Wirkung beschreiben. Wenn man nicht betroffen ist, existiert das Böse auch nicht. Die Macht des Bösen ist wie die Sünde nur ein Relationsbegriff zu Gott, das heißt, nur als Beziehung zu Gott und in seinem Lichte läßt sie sich in ihrer Existenz und Art erkennen (kein Dualismus, vgl. Luthers „Gottes Teufel“).

Kenne ich Gott nicht, dann kenne ich auch den Teufel nicht, dann weiß ich nichts über den Ursprung des Bösen und vermute auch gar keinen Dualismus. Sünde erkennen kann jedoch auf der anderen Seite auch nur der, der Gott kennt. Wenn Gott den Menschen trifft, nur dann sieht dieser seine Unvollkommenheit und erkennt seine Sünde (im Gegensatz zu dem, der sich schuldlos fühlt), besonders in der Rückschau.

Sünde ist nicht moralisch zu verstehen, es ist ein religiöser Begriff und bezeichnet den Zustand (!) des „vom Bösen erfüllt“ sein. Sünde ist Absonderung von Gott. Folge davon sind die Sünden, also die Taten, die in diesem Zustand geschehen.

Die dämonische Macht ist eine persönliche Macht, die verschiedene Funktionen hat:

(1.) Sie ist anonym, weil es die verschiedenen neutestamentlichen Ausdrücke andeuten („Geister der Luft etwa, das heißt, sie sind wie die Atmosphäre unmerkbar und doch lebensbestimmend).

(2.) Sie verwirrt und verwechselt die geltenden Maßstäbe (Gott im Jenseits).

(3.) Sie bringt den Menschen durch seine freiwillige Hingabe in einen Abhängigkeitszustand (nicht die vollzogene Tat diktiert das Gesetz des weiteren Handelns; solange der Zustand andauert, wird der Mensch immer wieder zurückfallen).

 

Bekämpfung des Bösen:

Von hier aus wird vielleicht schon deutlich, wie man das Böse bekämpfen kann: Man stellt sich auf die Seite Gottes. Es hat aber auch noch eine andere Folge: Man wird sich für die Liebe entscheiden müssen! Primitive Völker stellen sich das Böse auch meist personifiziert vor: Ein böser Geist ist dann über einen Menschen gekommen und dieser „Besessene“ muß nun aus der Gemeinschaft verstoßen werden. Das ist aber für uns kein Weg: Wir können nicht die Menschen verstoßen (bzw. in ein KZ sperren), um so das Böse auszurotten. Wir haben vielmehr die Aufgabe, böse Menschen als Gemeinschaft mitzutragen, ihnen die Möglichkeit zur Sühne zu geben und ihnen eine Rückkehr aus dem Gefängnis in unsere Gemeinschaft zu ermöglichen.

Wir scheiden nicht den bösen Menschen aus unserer Gemeinschaft aus, sondern das Böse im Menschen, denn Gott hat uns die Liebe zu allen Menschen befohlen. Wir können das Böse nicht ausrotten, wir können es nur in eine Rangordnung einordnen und es dienend machen, indem wir den ehemaligen Verbrecher wieder in unsere Gemeinschaft aufnehmen und ihm die Verpflichtung auferlegen, seine Verbrechen nun zu unterlassen. Und in der Rangordnung höher stehend soll der sein, der es sich zur Aufgabe macht, den anderen bei ihrer Besserung zu helfen. Das bedeutet dann sogar, daß man die fremde Schande wie eine eigene übernimmt und dann dem anderen den Weg der Sühne zeigt und ihm ein besseres Leben vorlebt.

Die Macht des Teufels kann nur durch einen anderen Herrn, nämlich Gott, gebrochen werden und nicht durch den Menschen kraft eigener Werke, weil diese auch im guten Sinne der Gebotserfüllung - infolge der auch hier auftretenden Selbstliebe den Menschen weiter in den teuflischen Bann treiben. So ist das menschliche Leben nur eine Gefolgschaftsfrage.

Der Mensch gehört dem Satan, weil er sich selbst gehört. Er ist nie nur Objekt, sondern auch Subjekt. Er ist Opfer und Opferer in einem. Er ist der Macht verfallen und hilft mit zu ihrer Verwirklichung.

Der Teufel ist der Renegat, der gefallene Engel. Er war auf der Seite Gottes sehr aktiv, er war mit Gottes „Methoden“ vollkommen vertraut. Dann jedoch ging er auf die andere Seite und wurde genauso aktiv, zumal er nun die „Schliche“ der Gegenseite kennt. Somit benutzt der Teufel die Parolen Gottes („Sein wie Gott“ oder „Kinder Gottes sein“), er arbeitet immer mit religiösen Vorstellungen und gerade das ist ja die große Versuchung. Gerade die teuflischsten und radikalsten Dinge haben einen religiösen Anstrich.

Es kommt nicht darauf an, die Bedürfnisse religiöser Menschen zu befriedigen, sondern Gott hat die Fragen zu stellen. Gewiß, auch die Menschen fragen und zwingen damit dem Christen ihre Mittel auf. Aber man fragt heute im Ganzen viel weniger. Auf allen Gebieten ist man weiter gekommen, nur nicht in der Metaphysik. Deshalb gibt man es auf, in dies Gebiet tätig zu sein. Man macht die Metaphysik zur Nebensache, während doch die Wahrheit die Hauptsache ist.

Doch die ist schwer zu erkennen. Eine Lücke bleibt vielleicht, als Hypothese sozusagen, aber vielleicht kann man auch hier einmal mehr Klarheit finden. Doch Wahrheit ist nicht Erkennen, sondern Erleben. Erst danach kann man erforschen und etwa dann eine Theologie untersuchen. Auf diese Art hat der Christ einen Halt; der Nichtchrist jedoch hat immer nur eine Haltung.

 

 

 

 

Ist der menschliche Verstand absolut objektiv? Die Logik des Verstandes kann man nur auf dem Gebiet der Begriffe anwenden, nicht aber in Fragen der Existenz. Es gehört nämlich gar nicht zum Wesen Gottes, daß er eine Existenzwirklichkeit hat, mit logischen Begriffen kann man hier nicht arbeiten. Um ein System zu erkennen, brauchen wir wohl unseren Verstand, aber beweisen kann man damit nichts, denn dann hätte man eine Offenbarung nicht mehr nötig.

Die Existentialphilosophie nimmt auch den Verstand nicht absolut, sie sagt, er ist abhängig vom Willen des Menschen: Seine nachher gefundenen Gründe sind von der Willenshaltung abhängig (offiziell ist es umgekehrt). Und einen Grund findet man immer! Erst muß man den Willen haben, zu Gott zu kommen, eher kann man ihn nicht „erkennen“.

 

Wiederherstellung der ursprünglichen Anlage zum Guten in ihre Kraft:

Der Mensch ist zum Guten erschaffen, und die ursprüngliche Anlage im Menschen ist gut. Der Mensch ist es selber dadurch noch nicht, sondern nachdem er die Triebfedern, die diese Anlage enthält, in seine Maxime aufnimmt oder nicht, macht er, daß er gut oder böse wird. Eine übernatürliche Mitwirkung mag nur in der Verminderung der Hindernisse oder in einem positiven Beistand bestehen, aber der Mensch muß sich doch vorher würdig machen, sie zu empfangen und diese Beihilfe annehmen.

Die Möglichkeit des Wiederaufstehens aus dem Bösen zum Guten kann nicht bestritten werden, denn ungeachtet jenes Abfalls erschallt doch das Gebot: „Wir sollen bessere Menschen werden“  unvermindert in unserer Seele. Freilich muß hierbei voraus gesetzt werden, daß ein Keim des Guten in seiner ganzen Reinigkeit übriggeblieben ist, denn die Achtung fürs moralische Gesetz haben wir nie verlieren können.

Die Wiederherstellung der ursprünglichen Anlage zum Guten ist nur die Herstellung der Reinigkeit desselben. Das ursprüngliche Gute ist die Heiligkeit der Maximen in Befolgung seiner Pflicht allein, durch die der Mensch noch nicht selbst heilig wird, aber dennoch auf dem Wege dazu ist. Der zur Fertigkeit gewordene feste Vorsatz in Befolgung seiner Pflicht heißt auch Tugend. Daher wird die Tugend in diesem Sinne nach und nach erworben und heißt einigen eine lange Gewohnheit, durch die der Mensch allmählich zum Guten kommt (Verhaltensreform und Maximenfestigung).

Dazu ist nur eine Änderung der Sitten des Einzelnen nötig, der Mensch findet sich tugendhaft, wenn er sich in den Maximen befestigt fühlt, wenn es auch nicht aus Pflicht geschieht, sondern aus Eudämonie und Selbsterhaltungstrieb. Daß aber jemand nicht bloß ein gesetzlich, sondern ein moralisch guter (= Gott wohlgefälliger) Mensch werde, kann nicht durch allmähliche Reform, sondern muß durch eine Revolution der Gesinnung im Menschen bewirkt werden;  und dieser Mensch kann ein neuer Mensch nur durch eine Art von Wiedergeburt gleich als durch eine neue Schöpfung und Änderung des Herzens werden (Joh.3,5 und 1.Mose.

 

Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts.

„Ich sitze im Café und warte auf Peter“: Da ich auf Peter warte,  ist das Café für mich unwichtig, nur Hintergrund, also „Nichtung“. Peter aber ist „Sein“, das in diese Nichtung hineintreten soll, damit das Sein eintreten kann, muß das andere Nichtung sein. Deshalb fällt jeder einzelne Gegenstand in dem Café, der das Bestreben haben könnte, sich zu vereinzeln, wieder in diesen Hintergrund zurück, denn die Bedingung dafür, daß eine Person erscheinen kann, ist, daß alles andere zu Hintergrund wird.

 

Der noch abwesende Peter ist die Bedingung dafür, daß alles andere zum Hintergrund „zernichtet“ wird, alles muß Nichts werden, damit Peter erscheinen kann, damit ich ihn dann, wenn er erscheint, auch sofort erkenne, das andere darf nur flimmernder Hintergrund sein. Es geht mir auch gar nicht darum, die Gegenstände zu erkennen, sondern ich suche ja die Leere, damit Peter in diese Leere erscheinen kann. Durch den Menschen      kommt also das Nichts in die Welt, durch den Menschen entsteht das „Loch im Sein“.

„Ich sitze auf einer Parkbank“: Ich sitze auf einer Parkbank und ruhe mich aus. Dabei baue ich mir ganz unbewußt meine eigene kleine Welt um mich, meinen Mikrokosmos, indem ich mich zu meiner Umwelt in Beziehung setze: Ich nehme wahr, wie weit jener Baum von mir entfernt ist und wie groß der Teich ist und wie schön die Blumen sind. Alles ist an seinem Platz und paßt in diese eine Welt, weil es gut in sie eingeordnet ist.

Nun kommt aber ein anderer und bricht in diese Welt ein. Er entzieht mir damit eine Seite meines Mikrokosmos, denn er sieht ihn mit anderen Augen an als ich, er hat eine andere Beziehung zu ihm, die ich nicht nachvollziehen kann; damit aber hat er mir ein Verhältnis zu diesem Mikrokosmos entzogen, denn ich kann das Grün der Gräser nicht so erfassen wie er. Damit aber ist diese kleine Welt eigentlich gar nicht mehr mein Mikrokosmos, denn dieser ist zu etwas anderem geworden, es ist ein ganz gewöhnlicher Mikrokosmos geworden, nicht mehr meiner, der andere hat mir meinen Mikrokosmos gestohlen.

Nun aber gehört er selbst auch zu meinem Mikrokosmos, ich kann ihn nicht übersehen. Im Gegenteil: Er zieht nun meine ganze Aufmerksamkeit auf sich, so daß alles andere in den schönen Park mir unwichtig wird, flimmernder Hintergrund: der Baum, der See, die schönen Blumen, alles das bedeutet mir nichts mehr. Der andere hat sie mir alle aus meinem Mikrokosmos herausgezogen, er ist wie ein Abfluß.

Zwar sind die Gegenstände alle noch so da wie früher, aber mein Mikrokosmos ist aufgelöst.

Das wird nun noch schlimmer, als der andere ein Buch herausnimmt und zu lesen beginnt. Ich kann nun erst recht nicht wissen, was zwischen ihm und dem Buch geschieht - er zernichtet mir alles. Das zeigt: Der Mensch ist das Nichtsein, der Ichpol setzt das Nichtsein.

 

 

 

 

Feministische Theologie

 

Einstieg:

Betrachtung der Karikatur „Mein Vater hat einen Sohn“: Ein Junge und ein Mädchen streiten sich: „Mein Vati hat mehr Geld als dein Vati!“ - „Mein Vati hat ein großes Auto!“ - „Mein Vati hat einen Sohn!“

Meinungsaustausch über ein Gebet aus dem Gottesdienstbuch der 6. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen: 1983: „Der Segen des Gottes von Sara und Abraham, der Segen des Sohnes, von Maria geboren, der Segen des Heiligen Geistes, der über uns wacht wie eine Mutter über ihre Kinder, sei mit euch allen. Amen!“

 

Das Problem:

Die Frauen in der Kirche sind ein Problem, das alle Kirchen betrifft, vor allem das der Frau im Pfarramt und in kirchenleitenden Aufgaben. In den entscheidenden Positionen sind die

Männer mit weniger Ausnahmen unter sich.  Andererseits erscheint es  Frauen zunehmend schwieriger, sich auf die kirchlichen Strukturen einzulassen. Bei der Stellensuche haben Theologinnen mehr Schwierigkeiten als ihre männlichen Kollegen.

Die Frauen werden ohne Begründung abgelehnt und man ist nicht beweglich bei Teilanstellungen. Aber die Frage ist natürlich auch, ob Frauen sich bereitfinden, in Leitungsämtern der Kirche mitzuarbeiten (und dabei den Kontakt mit der Basis nicht zu verlieren).

Aber anscheinend haben die Frauen die alte Behauptung vor den langen Haaren und dem kurzen Verstand so verinnerlicht, daß sie erfahrungsgemäß immer einsilbiger werden, je mehr Männer dazukommen. Frauen müssen sich erst einmal untereinander klar werden über ihren Weg, sich gegenseitig Mut zusprechen und selbstbewußter werden.

 

Das Patriarchat:

Es gab früher viele Kulturen und es gibt sie bis heute, in denen die Frauen das Sagen hatten. Im christlichen Abendland dagegen kam es zur Vorherrschaft des Mannes. Diese nennt man „Patriarchat“ (der Mann herrscht wie ein Patriarch). Gott  ist dabei aber auch auf die Seite des Patriarchats geraten. Dadurch ist er vielen Frauen (vor allem in der westlichen Welt) fremd geworden. Doch das Patriarchat ist keine Schuld des Mannes. Aber es hat eine unheilvolle Verbindung eingegangen mit Kolonialismus und Rassismus, Kapitalismus und Sexismus, die ein patriarchalisches Christentum gerechtfertigt und religiös verklärt hat.

Das Patriarchat ist nicht durch das Christentum in die Welt gekommen. Es ist eine weitverbreitete männliche Herrschaftsordnung, gegen die sich das Christentum nicht durchsetzen konnte, so daß die befreiende Kraft des Christentums lahmgelegt wurde. Die Befreiung der Frau und auch des Mannes vom Patriarchat geht zusammen mit der Entdeckung der Freiheit Jesu und einer neuen Erfahrung der Energien des Geistes.

Jeder Mann braucht sich ja nur zu fragen, wie er vom Kinde  „zum Mann“ erzogen wurde: Er mußte Gefühle unterdrücken, Triebe beherrschen, sich Rollen aneignen. Er wurde erzogen zum Arbeiter, Soldaten, Geldverdiener, Familienvater, Eroberer und Herrscher Zuerst lernte er Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung, wurde aber ständig in Angst versetzt, etwas aus sich machen zu müssen.

Das Patriarchat hat den Mann halbiert in ein Subjekt von Vernunft und Wille (mit dem er sich zu identifizieren hat) und ein Objekt vor Gefühl und Bedürfnis (von dem er sieh zu distanzieren hat).

In der männlichen Unterwerfung der angeblich schwachen und gefühlvollen Frau spiegelt sich diese Spaltung des Mannes wider und wird zur Aggression gegen die Frau. Die Frau wird in Mutter und Weib aufgespalten. Bemuttern und Beherrschen müssen aber zugleich aufhören, sonst werden die Männer weder frei noch reif.

Der Gott des Patriarchats spiegelt in seiner Größe das Elend des halbierten und isolierten Mannes wider: Er ist der Allmächtige, der Herr, der Absolute. Er bestimmt alles, nichts beein­flußt ihn. Er ist leidensunfähig. Bekommt er menschliche Züge, so sind es männliche: der Familienvater wird zum Landesvater und Kirchenvater und schließlich zum Allvater im Himmel. Und um die irdischen Autoritäten zu rechtfertigen, steigt man dann wieder vom Allvater hinab.

Das Elend des männlichen Herrgotts liegt darin, daß er keinen Namen  hat und einsam ist. Er ist nur Herrscher und Eigentümer der Welt, aber wer er selber ist, bleibt unbekannt. So wird auch Gott durch das Patriarchat halbiert und isoliert. Aber „der Allmächtige“ ist kein Gott mehr, sondern ein Ungeheuer.

 

 

 

Bibelstellen

Schöpfung:

Die Geschichte vom Sündenfall wird an der Erzählung von Adam und Eva dargestellt, die vom Jahwisten stammt. Sie enthält auch die erste Entschuldigung des Mannes: „Die  Frau, die du mir gegeben hast, ist schuld (1. Mose 3,12). Kein Wunder, wenn der Kirchenvater Tertullian (155-223 nCh) die Frau als „Tor zur Hölle, Einfallspforte des Teufels, ein höchst gefährlich Ding“ bezeichnet. Die Prau, die Sünderin, wurde als Ursache für das Kommen der Sünde in die Welt gesehen. Dafür haben die Frauen bis heute zu bezahlen, weil es nun einmal in der Bibel drinsteht. Andererseits wurde sie aber auch wieder nach 1. Mose 2,18 als Dienerin verstanden, nicht als Partner und Gegenüber

Die andere Schöpfungserzählung der Priesterschrift dagegen spricht von der Ausbreitung der Gewalttat (1.Mose 6,11-13), durch die die Sünde in die Welt kam und durch die Sintflut vernichtet werden mußte.

 

1. Mose 2,18:

Das Wort „Gehilfin“ in der Lutherübersetzung ist irreführend. Das hebräische Wort „ezer“, das an dieser Stelle im Urtext steht, bedeutet „Hilfe, Helfer“. Es kommt in der Bibel als männlicher Eigenname vor, wird im Schöpfungsbericht für Tiere und Frau verwendet und an anderer Stelle im Zusammenhang mit Gott gebraucht („Helfer Israels“). Es bezeichnet also eine Beziehung, keine unter geordnete Stellung. Auch konservative Kom­mentatoren sehen in 1. Mose 2, 18 keine Rangordnung begründet. In den Lutherbibeln finden wir zu diesem Vers eine Anmerkung: „Wörtlich: ich will ihm eine Hilfe schaffen als sein Gegenüber (d. h. die zu ihm paßt).“ Das Wort „Gegenüber“ macht deutlich, daß aus diesem Vers keine Rollenverteilung herauszulesen ist, vielmehr daß Frau und Mann von Gott als Partner gemeint sind.

Eva die Frau, die Sünderin, ja die Ursache für das Kommen der Sünde in die Welt überhaupt - dafür haben die Frauen damals und die Frauen bis heute zu bezahlen, weil dies nun einmal in der Bibel drinsteht. Und das zu kritisieren war und ist unverzeihlich für viele.

 

1. Mose 3,18:

Die Aussage IST eine Situationsbeschreibung. Der Verfasser des Bibelabschnittes erkennt, daß das Verhältnis zwischen Frau und Mann gestört ist,  weil sie sich  von Gott entfernt haben. Das Herr-Sein ist, wie auch alle anderen in Kapitel 3 aufgezählten Folgen des Sündenfalls, keine Aufwertung der Vorherrschaft des Mannes oder gar eine Korrektur der Schöpfung.  Allein durch den  Abfall von durch den Ungehorsam,  haben sich die menschlichen Beziehungen verschoben.  Die Frau wird (und hier beschreibt die Bibel die historische Gegebenheit)  zur Sklavin, zu einer, die ihrer Freiheit beraubt ist. Der Mann herrscht über sie, aber er ist damit auch von ihr entfernt, das heißt, sie fehlt ihm als wirklicher Partner. Die Schöpfung ist gestört.

 

 

 

Die Mütter Israels:

Neben den Vätern Israels stehen immer auch die Mütter: Abraham und Sara, Isaak und Rebekka, Jakob und Rahel. Frauen sind sogar mit Liedern vertreten: Deborah und Judith, Maria und Hanna. Eines der ältesten Stücke der Bibel ist das Miriamlied, das vom Vertrauen auf Gott erzählt, der Roß und Reiter (das heißt die Herrschaft und Sexus) ins Meer geworfen hat (2. Mose 15).

 

Weitere Bibelstellen.

Psalm 139: Gott, mein Vater, -  Gott, meine Mutter), !. Mose 16 bis 21 (Sara und Hagar - Konkurrenz und Solidarität) und Matthäus 15, 21-28 (die kanaanäische Frau  - „Jesus, der Mann“).

 

Jesus:

Jesus ist den Frauen seiner Zeit vorurteilsfrei und mit großer Offenheit begegnet. „Wir wollen nicht mehr, als die Emanzipation, die Jesus gewollt hat. Erst Jesus bricht in diese durch  die Sünde des Menschen errichtete Struktur ein. Er  geht mit Frauen partnerschaftlich um, er redet mit ihnen und erkennt sie an. Er allein kann Mann und Frau zu einem neuen Miteinander erlösen, das Gott einschließt in diese Beziehung. Von dieser Tatsache her sind wir befreit, die Bibel neu zu lesen und zu entdecken. Jesus hat Jünger und Jüngerinnen  um sich gesammelt. Unter den ersten Zeugen seiner Auferstehung sind Frauen, unter den Aposteln jedoch nicht.

 

Paulus:

Ein Kind seiner Zeit war auch Paulus, denn von den Frauen hielt er nicht viel und meinte, es sei besser, unverheiratet zu bleiben. Aber in Gal 3,28 schreibt er: „Hier ist nicht Mann noch

Frau, denn ihr seid alle eins in Jesus Christus!“ Damit sagt er das aus, was an sich in den Schöpfungserzählungen schon angelegt ist, wenn man sie nur richtig liest: Erst Mann und Frau zusammen machen den Menschen aus, der Mann ist ohne Frau noch unvollständig. Er braucht sie als Gesprächs- und Lebenspartnerin.

 

1. Kor 11,2-16 (feministische Auslegung von Doris Lübke):

Paulus befindet sich in Einklang mit den Männern. Er lobt sie, weil sie seine Anweisungen getreu befolgen und so weitermachen, wie er angefangen hat.

(3) Die Herrschaftsstruktur geht von oben nach unten: Gott-Christus-Mann-Frau. Die Würde des Mannes besteht einerseits in der unmittelbaren Unterordnung unter Christus, andererseits in der Überordnung über die Frau. Diese Ordnung entspricht alttestamentlich-jüdischem Denken.

(4) Jüdische Denkweise geht davon aus, daß der Mann aus sich heraus mit dem Heiligen Geist begabt ist und daher auch über Gottes Geheimnisse reden darf. Er durfte sich auch in der Öffentlichkeit unverhüllt zeigen, die Frau dagegen mußte verhüllt gehen.

(5) Besonderes Streitobjekt ist die Kopfbedeckung der Frau im Gottesdienst. Man könnte formulieren: „Wer hat in der Kirche den Hut auf?“ Zur Tracht der jüdischen Frauen hat wohl immer das Kopftuch gehört, das manchmal über den Rücken bis zu den Hüften und noch weiter herabhing. Rebekka zum Beispiel konnte sich als Braut in dieses Tuch einhüllen (1. Mose 24,65).

Eine Verschleierung wie im Islam gab es nicht, jedenfalls nicht für die arbeitende Frau. Das Schultertuch könnte den Zweck haben, begehrliche Blicke abzuwenden und die Unberührtheit der Frau für ihren Mann andeuten. Bei den Juden war die Frau ja Eigentum des Mannes, das er durch Kauf erwirbt. Nur die Frau war zur Traue verpflichtet, nur der Mann hatte das Recht zur Scheidung (so noch Luther im Großen Katechismus). Das Kahlscheren war bei den Juden eine Demütigung sowohl für Männer wie für Frauen. Geschorene Frauen durften keine Kopfbedeckung tragen, denn sie sollten ja öffentlich gebrandmarkt werden. Sie konnten als „Ehebrecherin“ oder „Hure“ beschimpft werden, nachdem ein anderer Mann sie begehrt und ihre Ehe gebrochen hatte, aber dafür straffrei ausging.

Darstellungen betender  Christinnen in der Katakombenmalerei zeigen einen Schleier, der das Gesicht frei läßt, aber zu beiden Seiten herabhängt. „Huren“ durften den christlichen Gottesdienst besuchen, doch ihr Platz war hinten; dort durften sie natürlich nicht laut vor allen beten und die Heilstaten Gottes verkündigen. Als Sünderinnen am Patriarchat hatten sie sich disqualifiziert [Patriarch = Oberhaupt; Patriarchat = Gesellschaftsordnung mit männlichem Sippenoberhaupt; Patriarchalismus = Gesellschaftsordnung, in der auch außerfamiliäre Bereiche als Patriarchate strukturiert sind (also auch ein ganzer Staat)]

Aber immerhin beten und weissagen die Frauen in Korinth während des Gottesdienstes. Sie haben sogar Leitungsfunktionen inne und dürfen durchschauende, prophetische Reden von Gottes Heilshandeln in Jesus Christus halten. Sie haben das wohl nicht nur mit Worten getan, sondern überschäumend von der frohmachenden Botschaft Zeugnis abgelegt. Das haben die Männer vermutlich schwer ertragen: Sie wurden verunsichert und fürchteten um Ihre Position. Das brachte Ängste mit sich. Paulus konnte sie verstehen. Daher bremst er den Übermut der Frauen.

Zwar gilt für Paulus grundsätzlich: „Hier ist nicht Mann noch Frau, ihr seid allzumal einer in Christus!“ (Gal 3,28). Aber die durch Natur und Sitte bedingten Unterschiede und die Unter­ordnung der Frau in der Ehe (Eph 5,22-24; 1.Petr 3,1) sollen bestehenbleiben.

(6) In Korinth haben sich die Frauen „emanzipiert“ (= sich aus der Hand des Mannes herausgezogen). Paulus aber stellt sie vor die Alternative: Entweder unterwerft ihr euch und bedeckt euren Kopf als Zeichen der Unterwerfung, oder ihr nehmt die Strafen für die Nichtunterwerfung in Kauf. Er hofft, die Frauen würden das kleinere Übel wählen. Doch in Wirklichkeit ist das ja gar keine Wahlmöglichkeit, denn es bleibt so oder so eine Unterordnung. Mit seiner Apostelautorität hat Paulus die Frauen unter Druck gesetzt.

(7) Nach jüdischer Sitte trägt der Mann das Haar unbedeckt. So wie er ist, spiegelt er die Ehre Gottes, ist er Abglanz Gottes. Dabei ist die traditionelle Auslegung der Schöpfungserzählung vorausgesetzt. Danach bezieht sich die Gottebenbildlichkeit (1. Mose 1 ,27) nur auf den Mann, der auch ungeachtet des Sündenfalls Gottes Ebenbild bleibt. Die Frau dagegen ist nur Abglanz des Mannes (1. Mose 2,22-23). Alles, was die Frau ist und tut, gereicht dem Mann zur Ehre. Die Frau ist nur vom Mann her zu verstehen, nie aus sich selbst.

(8) Der Mann dagegen ist nicht von der Frau her zu denken, weil Eva aus der Rippe Adams genommen ist, nicht umgekehrt.

(9) Die Bestimmung der Frau ist: zum Nutzen des Mannes und zu seiner Verfügung dazusein.

(10) Die Frau ist „Gehilfin“ des Mannes (bessere Übersetzung: „Partnerin“). Sie hat keine eigene Macht oder Vollmacht; nur der Mann kann sie ihr geben. Noch heute sagen wir: „eine Frau soll unter die Haube kommen“, also die Kopfbedeckung einer Ehefrau erholten. Luther übersetzt: „Macht auf dem Haupt“.  Das könnte „Vollmacht“ bedeuten, die aber nur der Mann der Frau übertragen kann. Am einfachsten ist aber wohl die Auslegung, daß Paulus einen Schleier meint, der die begehrlichem Blicke der Engel abwehrt, die im Gottesdienst als anwesend vorgestellt wurden.

(11) Dieser Satz sticht völlig von dem bisher Gesagten ab, weil er die neue christliche Struktur zeigt. Jetzt sind Mann und Frau gleicherweise aufeinander angewiesen. Es gibt keine Herrschaft des einen über den anderen, keine Zweckbestimmung des einen für den anderen. „In dem Herrn“ sind beide aneinander gewiesen. Möglich ist nur ein gleichrangiges Nebeneinander und Miteinander.

Durch das „doch“ am Anfang bekommt der Satz großes Gewicht. Er ist die eigentliche Richtschnur für das Verhalten in der christlichen Gemeinde. Alles vorher Gesagte ward dadurch untergraben und alles Folgende entkräftet. Doch die christliche Aussage ist zu sehr eingeklemmt zwischen jüdischer Tradition, römischer Sitte, hellenistischem Denken, persönliche Widerstände. So wird aus der Botschaft von der Befreiung durch Jesus eine Kann-Bestim­mung der Gemeinde. Paulus untergräbt hier nicht nur sein eigenes Werk, sondern das Evangelium.

„Der Mann nicht ohne die Frau, die Frau nicht ohne den Mann“ könnte als „Gleichheit der Geschlechter“ falsch ausgelegt werden. Man kann nicht vom Menschen reden und dabei von seinem Geschlecht absehen. Jesus befreit konkrete Frauen und redet zu konkreten Männern. „Keiner ohne den anderen“ könnte auch als Ergänzungstheorie falsch ausgelegt werden. Wenn einer in dem anderen seine Ergänzung findet, dann ist das Sexismus und Aufspaltung der Geschlechterrollen. Schon die Kinder werden dann auf ihre spätere Rolle festgelegt,

in der Ehe erhält dann jeder seine Ergänzung. Das setzt Alleinstehende und Junggesellen herab zu halben Menschen.

(12) Paulus kommt nicht umhin, der biologischen Gegebenheit Raum zu geben, daß jeder Mann von einer Frau geboren wird, auch er selbst. Das anzunehmen ist schwer, wenn man (Mann!) der jüdischen Tradition entstammt

(13) Jetzt appelliert er an den gesunden Menschenverstand der Männer.  Sie können Normen geben und die Frauen beurteilen. Deshalb haben sie ja die Sitte aufgestellt, wonach die Frau im Gottesdienst nur mit Kopftuch vor Gott stehen und beten darf.

(14) Sogar die Natur  soll einen Beweis hergeben. Aber dabei ist nicht deutlich zu machen, wieso lauge Haare gegen die Natur des Mannes sind und eine strafbare Schande.

(15) Angeblich dient langes Haar dazu, etwas zu verbergen. Einerseits ist langes Haar die Pracht der Frau und spiegelt den Abglanz des Mannes wider. Andererseits ist mit dem langen Haar auch Körper und Sexualität angesprochen. Diese wird aber als Einfallstor der Sünde angesehen. Diese aber muß vor Gott bedeckt und damit im Gottesdienst verdrängt werden.

(16) Den Frauen in Korinth ging es nicht ums Streiten, wohl aber um ihre Ganzheit als Frauen. Sie wollten gleichberechtigt und gleichwertig neben den Männern und ohne deren Vermittlung in der Gemeinde vor Gott stehen und im Gottesdienst vollmächtig beten und weissagen können.

Paulus aber möchte, daß Gott die Ehre gegeben wird und alles ordentlich zugeht (10,31-32; 14,33-34). Deshalb rät er den Frauen: Paßt euch an und fallt nicht aus dem Rahmen der Gemeinde. Deshalb ordnet er zum Schluß autoritär an: „Ohne Kopfbedeckung geht es nicht.“ Er stellt das Angepaßtsein und Gehorchen als verbindliches Verhalten in der christlichen Gemeinde heraus. Wer sich den patriarchalischen Gruppennormen nicht fügt, wird gebrandmarkt und später sogar aus der Gemeinde ausgeschlossen. Das hat eine lange Wirkungsgeschichte gehabt.

Was haben die Frauen wohl gemacht? Wahrscheinlich sind viele von ihnen in gnostische Gemeinden abgewandert, die den Frauen die Möglichkeit gaben, ihrem Glauben als sie selber im Gottesdienst Ausdruck zu geben. Und die sich anpaßten, haben sie nun wirklich nicht mehr im Gottesdienst gebetet oder nur mit Kopfbedeckung?

 

 

 

 

 

 

Die Rolle des Heiligen Geistes:

Die christliche Gotteslehre spricht vorwiegend von männlichen Personen: Vater - Sohn - Heiliger Geist. Es gibt aber eine verdrängte Tradition von dem Mutteramt des Heiligen Geistes: die christlichen Gemeinden, die von der Groß- und Männerkirche als „Gnostiker“ ausgeschieden wurden, sprachen vom Geist als der „Mutter Jesu“ und „Mutter der Wiedergeborenen“. Äthiopische Bilder der Trinität zeigen den Geist als Mutter. Und die griechischen Kirchenväter haben in Adam, Eva und Seth oft das Ebenbild des dreieinigen Gottes gesehen.

Ist der Geist unsere Mutter, dann sind wir nicht mehr nu „unter Gott“, sondern auch „in Gott“. Wir werden befreit von einseitigen (mono-theistischen) Vaterbildern und können den ganzen Gott mit unserem ganzen Dasein erleben, den gemeinschaftlichen Gott in unserer Gemeinschaft finden.

Aus Angst vor dem Chaos der Geister hat die Kirche schon früh den Geist an die Weihe des Bischofsamtes gebunden. In der westlichen Kirche wurde er außerdem noch an die Kette der Christologie gelegt („filioque“ = der vom Vater und vom Sohn ausgeht“), wurde zur subjektiven Wirkung Christi sowie der Worte und der Sakramente der Kirche. Für das schöpferische Neue und die Überraschungen des Heiligen Geistes blieb kein Raum, nicht einmal ein Raum der Erwartung.

Die Quelle des Geistes ist Gott. Was aus dieser Quelle kommt, ist so bunt und vielfältig wie die Schöpfung selbst. Darum sprechen die Christen im Neuen Testament immer in überschwenglichen Worten, wenn sie von der Fülle, dem Reichtum und der Unerschöpflichkeit des Geistes reden. So heben sie den Geist erfahren und jeder hatte mehr als genug Geistesgaben. Eine Unterscheidung der verschiedenen Geister ist natürlich nötig. Sie geschieht durch die Vergegenwärtigung des gekreuzigten Christus: Was vor ihm bestehen konnte, das war göttlicher Geist, was ihm widersprach, wurde verworfen (weil es der Geist der Macht oder der Eitelkeit war).

 

Feminismus

Die Schriftstellerin Renate Feyl schreibt in ihrem Buch „Der lautlose Aufbruch“ über die typischer Klischeevorstellungen, die das Frauen- und Männerbild von Generationen geprägt haben: „Der Mann handelt. Die Frau liebt. Der Mann ist der Kopf. Die Frau ist das Herz. Er tönt in Dur, sie summt in Moll. Der Mann soll herrschen, die Frau lerne dienen beizeiten. Das männliche Prinzip ist die Ordnung und das Licht; das weibliche Prinzip ist das Chaos und die Finsternis (Pythagoras).

Wirr, unstet, extrem, unüberlegt und leichten Sinnes ist sie. Entschlossen, stark, kühn und wissend den Dingen auf den Grund gehend ist er. Tatenfroh zieht es ihn hinaus ins feindliche Leben, wo er strebt und schafft, rafft und jagt. Abends kehrt er heim zur züchtigen Hausfrau.

Was unter dem Zwang der Arbeitsteilung zur Gewohnheit wird, erklärt man schließlich zur Natur: Nicht denken, erkunden oder wissen ist die Natur der Frau, sondern fühlen, erdulden, erfahren. Sie, das sanfte Sinnenwesen, die geborene Verführerin, das Objekt der Zerstreuung, dieser reizende rohe Schöpfungsentwurf hat eine einzige irdische Mission zu erfüllen: Sie muß gefallen, nichts als gefallen, um rechtzeitig die ehrenwerteste Laufbahn einzuschlagen, die ihr bestimmt ist - die Ehe.

Gewähr ihrer Versorgung und ein schützender Hafen, in dem sie sich als existentielle Ergänzung zum Mann bescheiden entfalten darf. Vor allem hat sie hier ihrem Naturberuf zu folgen: muß Kinder gebären, Kinder erziehen, das Haus hüten, die Tugend bewachen und sich dem Willen des Mannes zu fügen. Denn er ist des Weibes Ernährer, und wer Brot gibt, der gibt Rat.

Geprägt von traditionellen Lebensmustern, eingeschüchtert von der Herrschaft eines Vorurteils, verängstigt durch wirtschaftliches Abhängigsein, ertragen Frauen über viele Jahrhunderte hinweg geduldig die eigene selbstempfundene Unmündigkeit. Bildung heißt für sie immer Herzensbildung, Größe immer Seelengröße!“

 

Dagegen wendet sich die feministische Auslegung der Bibel (nicht feministischer Theologie):

Eine Frau schreibt über ihre Begegnung mit feministischer Auslegung der Bibel: Ich fühlte mich belebt, natürlich, im Einklang mit Gott und der Natur. Jesu Worte hörte ich völlig neu, und ich verstand sie in einer mich verblüffenden Einfachheit und Tiefe. Ich fühlte mich wie aus mutwilliger Abkapselung in den freien Raum des Lebens vorgedrungen. Ich, die ich mir immer klein und schwach vorkam, entdeckte meine Frauenkraft, strömend aus der tief in mir verborgenen Lebensquelle, die mich mit dem vielfältigen Leben verbindet. Ich fühlte mich wie eine Verdurstende in der Wüste, die Wasser findet, so daß sie gestärkt wird und andere stärken kann.

Aber zugleich setzten meine Schmerzen ein: Die anderen verstanden mich nicht. Dennoch ging ich weiter und wurde - wenn Sie so wollen -Feministin. Ein neues Frau-bewußt-Sein habe ich gewonnen, das mich das Leben anders sehen lehrt. Eine Schau nach vorn hat sich mir eröffnet, die jedwedem Leben Zukunft einräumt. Meine Phantasie und meine Kräfte wollen sich mit anderen dafür engagieren. Ein Prozeß des Durchschauens hat begonnen, der zugleich schmerzlich ist. Diejenige, die sich auf die Reise begibt, muß bereit sein, sich zu verändern - oder sie bleibt selbst auf der Straße noch im alten Haus. Das geht nicht ohne Abschiede. Dann wiederum findet sie Ermutigungen in sich selbst, in einem Wort. Sie begegnet Gefährtinnen, die wie sie unterwegs sind, randvoll leben und dem Leben dienen.

 

Es ist nicht verwunderlich, daß die feministische Theologie als Provokation verstanden und eingeschätzt wird. „Die feministische Theologie hat die sexistischen Elemente in der Sprache, Theologie und Struktur der Kirche aufgedeckt. Sie fordert die Kirche auf, dies als eine Entstellung der christlichen Botschaft durch ihre patriarchalische Sozialisation anzuerkennen und eine Sozialgestalt, Sprache und Theologie wiederherzustellen, die die volle Menschlichkeit von beiden, Frauen und Männern. bestätigt.“

Heute kommen die Frauen mit einer entscheidenden hermeneutischen Neuentdeckung: Die biblischen Schriften sind alle von Männern geschrieben, soweit wir es wissen. Die Botschaft ist also immer durch das Prisma männlicher Lebenserfahrung gefallen und entsprechend eingefärbt. Mehr noch: Die Schreiber der biblischen Schriften lebten in einer patriarchalischen Gesellschaft, in der die Männer zählten, die Frauen und Kinder nicht. „Die aber gegessen hatten, waren etwa fünftausend, ohne die Frauen und Kinder.“

Aber die eigentliche Provokation liegt darin, daß die von Männern gestaltete Tradition nicht nur die Frauen ausschloß, sondern sich gegen die Frauen und alle Reste matriarchalischer Religion richtete. Die Spuren der Frauengeschichte in der frühen Kirche wurden immer dünner. Schon Paulus erwähnt die Frauen als Ostermorgenzeugen gar nicht. Und so gerieten die Frauen als Trägerinnen göttlicher Offenbarung immer mehr ins Abseits, wurden nicht aufgenommen in die Lektionare, die ja für die Gläubigen bis zur Reformation der einzige direkte Zugang zur Bibel waren. Selektive Wahrnehmung setzte ein, die Kirchenmütter verschwanden im Dunkel der Geschichte.

 

Feministische Theologie hat nicht zum Ziel, etwas „ins Gegenteil“ zu verkehren. Ihr Anliegen ist es neue Erfahrungen einzubringen, Erfahrungen, die Frauen beim Lesen biblischer Texte gewinnen.  Es kommt wohl nicht in erster Linie darauf an,  was Männer oder Frauen „in der Kirche zu sagen haben“ sondern was sie tun und wie  sie ihre Gaben einsetzen.

Extreme Standpunkte sollte dabei allerdings vermeiden: Frau Dr. Elga Sorge, Dozentin an der Gesamthochschule Kassel, hat den Standpunkt vertreten:  Alle klassischen Religionen hätten ihre Wurzeln in der Kultur des Matriarchats. Die Ver­nichtung Jesu sei vorprogrammiert gewesen, weil mit Jesus das matriarchalische Urden­ken zurückkehrte und auf den römischen Kaiserkult prallte.

Solche extremen Positionen feministischer Theologie haben nur wenige Anhängerinnen gefunden. Wenn es um Theasophie (mit „a“), Muttergottheit und Mysterienkult geht, muß man doch vorsichtig sein. Es ist auch nicht zu erwarten, daß Frauen reihenweise aus der Kirche austreten, weil Gott in ihren Augen auf der Seite des Patriarchats steht.

 

Zwölf Thesen über feministische Theologie

1. Schwestern sind nicht „Brüder in Christus“.

2. Das Patriarchat ist ein multinationales Unternehmen der Kirche.

3. Frauen sind nicht Männer ehrenhalber.

4. Gott ist mehr als Gott der Vater.  bestimmt, nicht für die Männer.

6. Sexismus als Sünde anzuerkennen, ist der Beginn für Veränderung.

7. Frauen müssen sich e nicht selbst rechtfertigen, sondern die Kirche Ordnung bringen.

8. Gott spricht durch Gefühle und Tränen.

9. Der Körper der Frau ist ihr Erbgut. 1

10. Einander zuzuhören ist ein Weg, um Gott zu hören.

11. Wenn Frauen schweigen, heißt das nicht, daß Männer für sie sprechen können.

12. Feministische Theologie ist ein Durchbruch vom Tod zum Leben.

(Frauen auf einer Tagung zu Befreiungstheologie, Strasbourg, Juli 1986).

 

 

 

 

Geschichte der Stellung der Frau

Frauen, die sich eine unabhängige Stellung erwarben, waren jahrhundertelang die bestaunte und auch beargwöhnte oder diskriminierte Ausnahme. Sie wirkten herausfordernd auf eine von Männern bestimmte Welt. Für Frauen und Männer galt zweierlei Recht: Frauen durften nur für sie bestimmte Bildungseinrichtungen besuchen, die akademische Laufbahn war ihnen bis ins 19. Jahrhundert versperrt. Öffentliche Ämter konnten sie nicht einnahmen. Sie durften keine Verträge abschließen und als Verheiratete ohne Einwilligung des Mannes keine Arbeit annehmen. Der Mann konnte als Vater sogar darüber entscheiden, wie lange seine Frau den Kindern die Brust gab. Er galt als Oberhaupt der Familie und war befugt, sämtliche Entscheidungen zu fällen. Wenn er starb, mußte für die Kinder ein Vormund gefunden werden, der die väterlichen Rechte wahrzunehmen hatte.

Die gesellschaftliche Stellung der Frau bestimmte sich von der ihres Mannes her. Eine Mutter mit unehelichem Kind war gesellschaftlich geächtet, das Kind auch. Besonders diskriminiert mußten sich unverheiratete Frauen fühlen. Wenn sie mittellos waren, mußten sie sich meist in ein Dienstbotenverhältnis begeben oder spielten eine ähnliche Rolle in der Elternfamilie oder bei Verwandten. Schlimm und demütigend war es, keinen Mann zu haben und die bemitleidenswerte Perspektive der „alten Jungfer“ vor sich zu sehen.

Doch 1908 öffneten sich in Deutschland für die Frauen  die Universitäten. Bis die erste Frau ordentliche Professorin werden konnte, gingen allerdings noch einmal zwanzig Jahre ins Land. Nach der Novemberrevolution 1918  kam es zu wichtigen Neuordnungen: Frauen waren nun vor dem Gesetz gleichberechtigt. Sie erhielten das aktive und passive Wahlrecht. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit und der Achtstundentag wurden festgelegt. Nun folgte für viele Frauen eine Zeit des Aufbruchs zu neuem Selbstbewußtsein und des Erprobens eigener Möglichkeiten.

Doch die Morgenluft wehte nicht lange. Mit Beginn der nazistischen Herrschaft 1933 kamen finstere, bereits ausgelöscht geglaubte Traditionen erneut „zu Ehren“. Die Emanzipation der Frau von der Frauenemanzipation wird zur Forderung erhoben. Ein wissenschaftliches Studium und eine akademische Ausbildung für Frauen wurde für unnütz erklärt und dem Gelächter preisgegeben, denn nur der Mann besitzt „Formwillen“ und „ideenbildende Kraft“. Er muß Richter Soldat und Staatslenker sein und bleiben. Er hält die geistigen Fäden in der Hand, geht architektonisch und synthetisch die Dinge an. Die Frau dagegen ist „lyrisch-leidenschaft­licher Natur“ und hat nur eine einzige heiligste und größte Aufgabe zu übernehmen: für die Rein-Erhaltung der Rasse zu sorgen. Mutterkult und Muttermythos feierten Triumphe.

 

Weibliche Ausdrucksweisen in der Bibel

Inhaltliche Überlegungen: Eine Fülle biblischer Texte redet von mütterlichen Verhaltensweisen. Aber oft kann erst das Hebräische und Griechische nähere Auskunft über die Bedeutung mancher Worte geben:

Für das hebräische Wort „rächäm“ findet sich die Übersetzung „Mutterschoß, Mutterleib“. Die Grundbedeutung ist „weich sein“. Der Mutterschoß ist der Ausgangsort allen menschlichen wie tierischen Lebens. Und nun die Entdeckung: Dasselbe Wort kann übersetzt werden mit „Erbarmen, Barmherzigkeit“. Das Weiche, der Mutterschoß, gilt als Sitz zarten Gefühls. Vier Fünftel aller Texte, die mit unserem Wort reden bzw. sich von ihm herleiten, sprechen von Gott.

Der Name, mit dem Gott sich Mose vorstellt, lautet: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich“ (2. Mose 33,19b). Gott, der Erbarmer (Jes 49,10; 54,10), wird mit dem Bild des Mutterleibes ausgesagt, der das Geheimnis der Mütterlichkeit in sich trägt. Wäre es darum nicht geboten, in dem sich erbarmenden Gott auch einen Gott mit mütterlichen Verhaltensweisen zu sehen?

Im Jakobssegen hört Josef die Worte: „Von dem Allmächtigen seist du gesegnet ... mit Segen der Brüste und des Mutterleibes“ (1. Mose 49,25).         Liegt hier das Zeugnis von einem mütterlichen Gott vor? Beim Propheten Jesaja finden wir: „Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, daß sie sich nicht erbarme über den Sohn (= sich nicht als Mutter erweise an dem Sohn) ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen“ (Jes 49,15). Sagt Gott damit nicht, daß er noch weit mütterlicher ist, als Mütter überhaupt sein können?

Gottes Werben um Jerusalem ist begleitet von mütterlichen Sorgen in Hes 16,9-14: In unendlicher mütterlicher Fürsorge, Güte und Geduld hat Gott sein Volk auf dessen Wüstenweg geleitet (Neh 9,17ff.). Er hat es sorgsam geführt, genährt und gekleidet, geschützt und bewahrt gegen alle und alles, was gegen sie war. „Sie aßen und wurden satt und fett und lebten in Wonne durch deine große Güte“ (Neh 9,25ff).

 

 

Sehen wir ins Neue Testament, dann nimmt sich dieser barmherzige, mütterliche Gott durch Jesus der Hilfsbedürftigen und Ausgestoßenen an. Jesus sagt: „Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken“ (Lk 5,31). Den verachteten, als Betrüger geltenden Hirten läßt Gott in seiner Barmherzigkeit (Mütterlichkeit) als ersten die Freudennachricht zukommen: „Euch ist heute der Heiland geboren“ (Lk 2,11).

Jesus erweist sich als ein Freund der Frauen. Zu seiner Zeit galten sie als Menschen zweiter Klasse. Sie hatten, Kindern und Sklaven gleich, nicht einmal das Recht, vor Gericht gehört zu werden. Man vermied es sogar, sie in der Öffentlichkeit anzusprechen.

Jesus geht über diese Normen hinweg und wendet sich ganz bewußt den Frauen zu: der Samariterin am Jakobsbrunnen (Joh 4), Maria bzw. der unbekannten Frau bei der Salbung in Bethanien (Joh 12,1 ff.; Mt 26,6ff. und Parallelen), der Mutter des Jünglings zu Nain (Lk 7,13), Maria und Martha (Joh 1,20ff.). Es sind die diskriminierten Frauen, die zu den ersten Zeugen der Auferstehung werden (Mt 28,1ff. und Parallelen; Mk 16,9; besonders Joh 20,11 ff.) und ausdrücklich zum Zeugnis beauftragt werden (Mt 28,7; Mk 16,7).

 

Die männlichen Gottesbilder haben dazu beigetragen, die Frauen durch Jahrhunderte in die Rolle der Abhängigen und Unterdrückten zu bringen. Könnte es an diesen Gottesbildern liegen, daß männliche Verhaltensweisen höher bewertet wurden als weibliche. Selbst heute gehört es noch zu den Erfahrungen von Frauen, daß ihnen bestimmte Verhaltensweisen als „typisch weiblich“ verächtlich gemacht werden. Frauen lassen sich diesen Stempel aufdrücken und bemühen sich um sogenannte männliche Verhaltensweisen, um nicht „typisch weiblich“ zu erscheinen!

Frauenfragen vor allem, ob die Erfahrungen ihrer Geschichte als Frauen und die Wiederentdeckung der mütterlichen Verhaltensweisen Gottes nicht zu Konsequenzen führen müßten.

Zum Beispiel:

-  Wenn Gott als Mutter und Vater erlebt werden kann, sollten sich dann nicht das (typisch) Weibliche und das (typisch) Männliche ergänzen, anstatt sich abzugrenzen oder gar auszuschließen?

-  Wenn sich Gott in weiblichen und männlichen Verhaltensweisen erfahren läßt, sollten sich dann nicht Frauen und Männer aus ihren einseitigen, für sie angeblich „typischen“ Rollen befreien und ihr Verhalten erweitern?

-  Wenn Gott sich mit dem Verhalten von Müttern identifiziert, haben es dann Frauen nötig, männliche Verhaltensweisen zu übernehmen, um anerkannt zu werden? Haben sie vielleicht weibliche Alternativen zu den männlich bestimmten Formen unseres Zusammenlebens anzubieten?

-   Könnten Frauen mit ihrem Erleben zu einer anderen Sicht der Sache führen und mit der ihnen gemäßen Sachlichkeit die Sachlichkeit der Männer aus der Einseitigkeit befreien?

-  Müßten die Gefühle und Empfindungen, auch die männlichen, und die zwischenmenschlichen Beziehungen nicht in die Beurteilung eines Sachverhaltes miteinbezogen werden?

-  Könnte die Äußerung ihrer Gefühle Männer nicht zu einem tieferen Erleben führen?

 

Weibliches Gottesbild:

Der Gott Israels wird in Worten beschrieben wird, die im hebräischen Lebensgefühl weiblich waren. Die „schechina“, die Anwesenheit Gottes (zum Beispiel die göttliche Anwesenheit im Tempel Salomo); die „Thora“, die wichtigen ersten fünf Bücher der Bibel; die „chochma“, die Weisheit, so wie sie im Buch der Sprüche beschrieben wird - es sind weibliche Worte ...

... Das hebräische Wort „Jahwe“ ist eine offene, noch nicht abgeschlossene, in Gang befindliche Tätigkeit, nichts Statisches, Ruhendes, Abstraktes. Keine Wesensbestimmung Gottes, sondern: „Ich werde für euch da sein. Ich werde erfahrbar bleiben, handeln, begegnen!“ Das ist die Grundlage des Gotvertrauens. Mehr wird nicht gesagt, nichts über das Wie und Wann und Wo. Aber wieviel mehr ist dies wenige! Gott werden da keine Definitions-Fesseln, keine Grenzen auferlegt, er gerinnt nicht zu handhabbarer Substanz. Kein Götzenbild wird geknetet. Keine zu beschwörenden und zu beherrschenden Namen werden mitgeteilt. Nur die bleibende Erfahrbarkeit wird zugesichert, mehr nicht. Alles andere bleibt offen. Das Bilderverbot „Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen“ ist ein Schutzwall gegen jede Vereinnahmung Gottes durch die Dogmatiker, Priester und Philosophen, die seiner habhaft werden, ihn bedienen wollen.

Freilich haben die Menschen ihre Gotteserfahrung immer in den Bildern menschlicher Sprache ausgedrückt. Was sonst hätte ihnen zur Verfügung gestanden, das Un-Sagbare zu sagen? Und wo in einer patriarchalischen Gesellschaft nur Männer das Recht hatten zu sprechen, schlichen sich eben die Männerwörter in die Bilderwelt ein.

Jedes Bild schränkt ein: Die ausschließlich männlichen Bilder Gottes verschließen den Frauen viele mögliche Gotteserfahrungen und sperren Gott in einen ontologischen Männlichkeitsschrein, von dem die Männer ihre Identität und Vorherrschaft ableiten können.

Ob Gott durch andere, neue, alte Symbole zu uns spricht, wer wollte es ihm verbieten? Der Geist weht, wo er will. Wo Leben ermöglicht wird, kann Gott nicht fern sein. Der Geist Jesu war weiter als der seiner Nachlaßverwalter. Die Erfahrungsweise der weiblichen Seite Gottes. die wie eine Frau im Gleichnis ein Licht anzündet, um uns verlorene Groschen zu suchen, Gott, die unsere Tränen abwischt, uns unter ihre Flügel nimmt, die vor uns einen Tisch ausbreitet und uns voll einschenkt - all diese Bilder von der Weiblichkeit Gottes sind ja in der Bibel enthalten, aber sie sind nicht eingegangen in die Sprache der Tradition, in keinem Fall in die Seinsaussagen der Theologen und Philosophen und nur wenige in das Erfahrenswissen der Gebete ...

Es gibt viele Arten der Entdeckung unserer Gottebenbildlichkeit gibt. Besonders die Frauen haben da einen großen Nachholbedarf. Eine der Frauensünden ist es nämlich, daß sie nicht wirklich glauben, Gottes Ebenbild zu sein, sondern nur ein „Nachgedanke“ des Schöpfers. Heute sind sie dabei, diese Vielfalt, Gott und sich selbst in diesem Spiegel zu begegnen, zu entdecken, die vielfältigen Sprachen und Gesten Gottes wiederzuerkennen, nachzuahmen, selbst Gottes Spiegelbild sein zu wollen.

Obwohl die Mehrheit der Gottesbilder in der Bibel männlich ist, stoßen wir doch auch auf eine Anzahl weiblicher Bilder: Der Herr ist der Vater seines Volkes, aber seine Zärtlichkeit ist die einer Mutter für ihr Kind (Jes 49,14-16). Wenn der Herr auszieht, um sein Volk zu erlösen, klingt sein Kriegsgeschrei  wie das eines Kriegers, aber er wimmert auch wie eine Frau, die am Gebären ist (Jes 42.13-14). Gott ist sowohl unser Fels und unsere Festung wie die Quelle lebendigen Wassers.

 

 

 

In den Evangelien trifft uns aufs neue, wie Christus für sein Werk ohne Zögern auch weibliche und mütterliche Bilder braucht: das Gleichnis von der Frau, die ihr Haus auf der Suche nach dem verlorenen Groschen sauber fegt (Lk 15,8-10); das Bild von der Henne, die „ihre Küken unter ihre Flügel sammelt“, das er auf sich selbst anwendet (Mt 23,37). Sogar der maskuline Paulus vergleicht sich in seinem ersten Brief an die Thessalonicher mit einer „Mutter, die ihre Kinder pflegt“ (1. Thess 2,7).

Jesus wird im ganzen Neuen Testament nur dreimal „Mann (aner), aber fast immer „Mensch“ (antbropos) genannt. Auch Paulus nennt, wo er den gehorsamen Christus dem ungehorsamen Adam gegenüberstellt, beide „Mensch“ und nicht „Mann“. Wenn wir über die Inkarnation Gottes sprechen, dann drücken wir das auf zwei Arten aus: „Das Wort ist Fleisch geworden!“ oder: „Gott ist Mensch geworden!“ aber nie: „Gott ist Mann geworden!“ Die Kirche ist ganz bezogen auf Jesus als den Christus, in dem die rechte und vollständige Beziehung der Menschheit zu Gott sichtbar geworden ist. Jesus ist als Christus der Träger von Gottes Rettung und Heilung, von Gott-mit-uns.

 

Überraschende Trinitätsdarstellung mit Heiliger Geistin:

Urschalling ist ein winziges Dorf  im bayerischen Chiemgau. Im Chorgewölbe der St. Jakobuskirche in der unteren Spitze eines Gewölbezwickels befindet sich etwas ganz Besonderes: eine Trinität mit einer „Heiligen Geistin“. Dargestellt ist die heilige Dreifaltigkeit - nach christlicher Lehre der eine Gott in drei Personen. Die Dreiheit zeigt sich in drei Gesichtern und drei Oberkörpern mit (dort) zwei Ober- und drei Untergewändern. Nach unten zu, wo sich die Gewölberippen treffen, verschmelzen jedoch die drei Körper zu einem einzigen; die beiden Obergewänder und die drei Untergewänder der Gestalten vereinen sich zu einem Ober- und einem Untergewand bzw. dem alles umhüllenden Mantel. Die Gesamtgruppe hat nur zwei Arme, die fast beschützend auf den Schultern der Heiligen Geistin liegen. Die drei Heiligenscheine, die die Köpfe umgeben, sind nicht gegeneinander abgegrenzt und werden durch die drei Balken eines einzigen Kreuznimbus verklammert. Dabei weicht das Urschallinger Bild von den Haupttypen der westlichen und östlichen Dreifaltigkeits-Ikonografie auf originelle Weise ab.

Betritt man die Kirche, wegen ihrer Ausmaße (Länge 17 Meter, Breite Meter, Höhe 6 Meter) eher als Kirchlein zu bezeichnen, wird man überrascht: Alle Wand- und Gewölbeflächen sind mit Fresken versehen. In warmen, immer noch kräftigen Erdfarben, wie Rostrot, ein mattes Graublau, Ockergelb, Rosa, Weinrot und etwas Grün, erblickt man einen reichhaltigen Zyklus. Eine „Biblia pauperum“, eine Armenbibel für die Leseunkundigen. Als festgefügtes religiöses Programm wird die Heilsgeschichte vorgeführt und in Etappen erzählt.

Zweimal wurde die Kirche ausgemalt. Zunächst zur Erbauungszeit im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts. Von diesen romanischen Fresken hat man den Sündenfall und einige kleinere Fragmente freigelegt. Die Malereien zeigen eine äußerst knappe, symbolhafte Formensprache, die sich auf schlichte Linienzeichnung und Flächenkolorierung beschränkt. Sie erinnern dadurch an einfache Buchmalerei.

Zur Zeit der Gotik empfand man diese romanischen Fresken vermutlich als zu primitiv und ließ die Kirche ein zweites Mal vollständig ausmalen. Thematisch und kompositionell schließt sich diese Malerei an den älteren Zyklus weitgehend an. Diese Fresken, die jetzt zu sehen sind, stammen aus der Zeit um 1380. Beim Betrachten dieser Bilderbibel fällt auf, daß überraschend viele Szenen aus dem Leben von Maria und anderen Frauen erzählen. Das ganze Kreuzgewölbe ist nur mit weiblichen Heiligen ausgeschmückt. Der unbekannte Maler hatte entweder einen entsprechenden Auftrag oder persönlich eine enge Beziehung zu weiblichen Figuren, die in der Biblia pauperum dargestellt werden.

Höhepunkt ist in diesem Freskenzyklus aus gotischer Zeit die einzigartige Trinitätsdarstellung im Ostjoch. Zwischen dem weißbärtigen Greis zur Rechten (unstrittig Gott der Vater) und dem braunbärtigen Mann zur Linken (Gott der Sohn), die sich halb zur Mitte wenden, ist als Verkörperung des Heiligen Geistes ein rundes und bartloses Gesicht mit langem hellbraunem Haar zu sehen, das den Betrachter direkt anschaut. Das weiße Obergewand bedeckt diese Gestalt nicht, sondern nur das dunklere Untergewand, das unterhalb der Brust in Falten gerafft ist.

Die drei Personen in der einen Gottheit: rechts Gottvater, links Christus und in der Mitte eine Frau. Da gerät fast jeder ins Stocken, unterschiedliche Assoziationen tauchen auf. Bis dann erkannt wird, daß es sich in diesem Zusammenhang im Trinitätsverständnis nur um den Heiligen Geist handeln kann. Der Heilige Geist als Frau gemalt, eine Heilige Geistin. Die Wortschöpfung „Heilige Geistin“, bekannt durch den Schweizer Theologen Kurt Marti und die feministische Theologie, hat eine Bilddarstellung aus dem 14. Jahrhundert!

Umstritten ist die Deutung der mittleren Gestalt.

Nach der einen Ansicht gibt es keinen Zweifel an der Weiblichkeit der Heiligen Geistin: Ihr madonnenhaftes, offenes Gesicht ist von langem Haar umgeben, während die beiden Männer Bärte tragen. Nach den Vorstellungen des Malers ist Gottvater weißhaarig, Christus dagegen hat ebenso braunes Haar wie die Heilige Geistin. Nach anderer Ansicht handelt es sich innerhalb des klassischen Greis-Mann-Jüngling-Schemas um einen sehr jungen Mann. Die neuere kunstgeschichtliche Forschung neigt zur letzteren Deutung.

Sprachliche Ausdrücke rechtfertigen die ungewöhnliche Darstellung des Heiligen Geistes als Frau. So ist, um nur eines von zahlreichen Beispielen zu nennen, das hebräische Wort für Geist „ruach“ ebenso Femininum wie das lateinische „anima“. Letzteres wurde später, mit zunehmender Patriarchalisierung der Kirche und der Theologie, in das männliche „spiritus“ umgewandelt. Das hatte auch Folgen für die Kunst.

Damit soll nicht gesagt werden, daß in den ersten Jahrhunderten der Heilige Geist als Frau verstanden und bildlich gesehen wurde. Nur war es im Vergleich zum 14. Jahrhundert eher möglich. Man muß lediglich an die ausgesprochen weiblichen Beschreibungen Gottes mancher Kirchenväter denken, zum Beispiel bei Clemens von Alexandria. Clemens versah Gott mit sämtlichen femininen und biologisch weiblichen Attributen, so daß er eigentlich nur eine Frau sein konnte.

Gerade vor dem Hintergrund, wie üblicherweise Trinität dargestellt wurde (als drei einander ähnliche Männer, in Sinnbildern, wie Hand, Lamm und Taube, oder als „Gnadenstuhl“, mit Gottvater, dem Sohn am Kreuz und der Taube), bleibt Urschalling einmalig. Das Wagnis des Malers, den Heiligen Geist als Frau, als Heilige Geistin zu beschreiben, scheint in Urschalling angenommen worden zu sein. Es sind keinerlei Spuren von einer Vernichtung oder Veränderung dieser Trinitätsdarstellung zu finden. Zwar wurde zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Kirche vollständig ausgeweißt, aber das betraf den gesamten Freskenzyklus, nicht nur bestimmte Darstellungen.

Theologische Deuter sind jedoch fasziniert von den weiblichen Zügen dieser Gestalt und sehen darin einen Hinweis auf die im Hauptstrom der Christentumsgeschichte verdrängte weibliche Seite Gottes und auf die alttestamentliche Rede vom Gottesgeist. Auch an Maria wird gedacht, der im Neuen Testament der Heilige Geist auf einzigartige Weise nahe kommt und deren Gestalt dann hier mit dem göttlichen Geist geradezu verschmölze. Nach Leonardo Boff kann man im unteren Teil des Bildes sogar deutlich (weibliche wie männliche) sexuelle Symbole entdecken. Andere Deuter sind zumindest überzeugt, daß eine uralte, auch christliche, Glaubens-Einsicht in dem Bild enthalten ist: die göttliche Liebe in Person.

 

Eine neue Sicht der Bibel

Die Kirchengeschichte beginnt offiziell mit der Aussendung der männlichen Apostel. Doch beginnt sie nicht schon in Wirklichkeit mit den paar Frauen, die sich auf den Weg machen, um ihrem toten Freund Jesus einen letzten Liebesdienst zu erweisen? Frauen bekennen sich gegen alle Vernunft und Hoffnung zu einem Staatsverräter. Sie tun das, was s i e für richtig halten. Jesus kommt ihnen entgegen, grüßt sie, läßt sich von ihnen anfassen; so wie er sie in ihrem Leben aufgerichtet hat, so tut er es auch jetzt. Diese Erfahrung sollen die Frauen den Männern mitteilen. Die Kirche ist nicht nur männlich.

Die Frauenbewegung (der Feminismus) hat vielen Frauen Mut gemacht, sich selbst zu entdecken und ihre eigenen Gotteserfahrungen wieder auszudrücken. Die Bibel wird mit neuen Augen gelesen und die ursprüngliche Rolle der Frau im Evangelium wieder neu entdeckt. Der Feminismus ist keine westliche Mittelstandsbewegung, sondern zutiefst im Evangelium begründet. Geschichten mit Frauen in Bibel und Kirchengeschichte wurden neu entdeckt und von ihren patriarchalischen Korrekturen befreit.

Nach der christlichen Tradition ist unser Glaube der Glaube der „Väter“. Unsere Glaubenszeugnisse stammen aus der patriarchalisch überarbeiteten Bibel (wobei offenbar keine Frau bei dieser Überarbeitung dabei war). [Diese „Überarbeitung“ geschah natürlich nicht bewußt in einem besonderen Akt, sondern sie ist bei der Entstehung der Bibel unbewußt mit eingeflossen]. Unsere Lieder besingen im Hausvaterstil christliches Leben.

In der Theologie wird es so dargestellt, daß der Mann führt und die Frau geführt wird. Die Frau hat Leben nur aus zweiter Hand, als Ergänzung zum Mann. Es ist nicht ein Leben aus der Einheit von Leib, Seele und Geist. Gerade der Leib galt lange Zeit als peinlich, unrein und anstößig. So konnte es auch nur ein „halbiertes“ Leben geben.

Man kann diese Traditionen aber auch „von unten“ lesen. Dann wird man in den Geschichten der Herrscher auch die verdrängten Geschichten der Rebellionen gegen ihre Herrschaft finden. In diesem Sinne gibt es in und unter der männlichen Kirchengeschichte auch eine christliche Frauengeschichte.

 

Eine neue Gemeinschaft

Frauen erfahren heute wieder, daß Jesus ein Freund ist, der ihr Leben teilt, Wärme und Nähe, Zärtlichkeit in aller Verlassenheit und Ohnmacht schenkt. Freuen wollen eine neue Gemeinschaft, in der die Mächtigen auf die Machtlosen zu hören beginnen. Dort verzichten Menschen auf Macht um der Gerechtigkeit willen. Dort orientiert man sich nicht ausschließlich am Profitdenken und Wirtschaftswachstum, sondern an den Lebensbedürfnissen aller Menschen.

Es geht um ein ganzheitliches Leben, das Leib, Seele und  Geist umfaßt und sich nicht mehr in private und öffentliche Bereiche aufspaltet (wobei der häusliche Kreis dann der Frau zufällt). So kann man den Herren- und Naturgott hinter sich lassen und den beziehungsreichen, leidensfähigen, vereinigenden und gemeinschaftlichen Gott entdecken.

Männer, die das Leben für sich selbst und dann in der Gemeinschaft mit Frauen entdecken wollen, müssen den Zwang des Patriarchats abschütteln, um ganze Menschen zu werden. Es könnte ihnen dann so gehen wie den Männern, die die Osterbotschaft der Frauen hören und sich aufmachen, den Lebendigen zu finden. In der gemeinsamen Auferstehungsbewegung könnten die Männer die „neue Gemeinschaft von Frauen und Männern“ entdecken, die von patriarchalischen Fehlentwicklungen erlöst und sie für das ganze menschliche Leben uns öffnet.

 

Auf dem Weg zu dieser neuen Gemeinschaft sollten Frauen vorangehen. Das soll nicht die erlittene Benachteiligung gutmachen oder die Männer demütigen. Vielmehr sollte den Frauen Raum gegeben werden, die Hindernisse auf dem Weg zu der neuen Gemeinschaft bewußt zu machen und auszusprechen, denn nur so kann eine neue tragfähige Gemeinschaft wachsen.

Dann wird auch Gott zu einem beziehungsreichen, vereinigenden und gemeinschaftlichen Gott, dem dreieinigen Gott. Er herrscht nicht durch Spaltung und Vereinzelung, sondern ist in der Vereinigung des Getrennten gegenwärtig. Ebenbild  des dreieinigen Gottes kann nur eine menschliche Gemeinschaft sein, in der Menschen alles gemeinsam haben und teilen, abgesehen von ihren persönlichen Eigenarten. Gott ist dann nicht mehr nur „oben“, sondern auch „zwischen uns“ in unsrer Gemeinschaft.

Eine neue Gemeinschaft kann nur reifen, wenn Frauen eigene Menschen bleiben. Wir sind es gewöhnt, die Kirche als große Liebesgemeinschaft zu sehen, wo einer um des anderen willen zurücksteckt und wo man sich selbst vergißt um einer großen Sache willen. Aber zurückstecken soll immer zuerst die Frau. Sie ist es gewohnt, sich selbst aufzugeben und sich schnell zurückzunehmen. Viele haben das als ihren christlichen Lebensstil verinnerlicht.

Die Männer sind es gewöhnt, mit immer liebesbereiten Frauen zusammenzuarbeiten. Dank ihrer Ämter und der damit verbundenen Macht haben sie aus der Sache Jesu ein Liebespatriarchat gemacht. Wir müssen aber die Liebe neu lernen, die den anderen nicht erdrückt, sondern mündig macht und einen herrschaftsfreien Raum schafft. Der  Herr  im Mann  muß sterben, damit der Bruder geboren werden kann, der zu offener Freundschaft bereit ist. Wer auf männliche Vorrechte verzichtet, der wird auch die männliche Verantwortung für das „schwache Geschlecht“ zurücknehmen.

Ein Christ muß nicht „immer im Dienst“ sein. Das kann auch eine versteckte Form der Herrsch­sucht sein. Der Christ ist erst einmal „mit anderen da“. Wenn er gern mit anderen lebt, dann tritt er auch für andere ein, wenn es nötig ist. Seine Liebe findet aber ihre Grenze an der Selbständigkeit des anderen. Auch Jesus hat nicht Menschen durch sein Dienen an sich gefesselt. Er sagt: „ein Glaube hat dir geholfen“, dein eigener Glaube.

 

Männlich - weiblich - menschlich:

Der Mensch schlechthin war der Mann. Die Frau war das andere Geschlechts, die Rätselhafte und Unheimliche, noch Unvollständige und Zweitrangige. Aber das Wesen des Mannes setzt das Wesen der Frau voraus: Am Anfang der menschlichen Gesellschaft war die Frau die Herrin und hatte eine hochgeachtete Stellung. Sie war produktiv, indem sie Kinder gebar. Die Produktivität des Mannes ist etwas Erlerntes und Erworbenes. Natur und Kultur gehören aber zusammen. Es kann nicht bei der Kultur auf Kosten der Natur bleiben. Ein „Zurück zur Natur“ ist nicht möglich. Doch aus dem Gegeneinander kann ein Miteinander werden.

Viele Mythen künden von Urzeiten, wo Männliches und Weibliches noch nicht voneinander getrennt waren (androgyne Gottheiten, Adam und Eva als Ebenbild Gottes). Erst mit dem „Sündenfall“, dem Erwachen des Ich-Bewußtseins, kam es zur Trennung: Mann und Frau verhüllten sich voreinander, entwickelten Bereiche des Verborgenen, wiesen sich gegenseitig Schuld zu.

Heute haben Frauen ihrer Verstand entdeckt und Männer ihre „Natürlichkeit“. Die strenge Teilung der Bereiche wird nicht mehr als zutreffend empfunden. Frauen wollen ihre Weiblichkeit neu entdecken und dabei trotzdem ihre männliche Seite akzeptieren und integrieren. Und Männer wollen dem eigenen Weiblichen Raum geben, ohne deshalb einen Rollentausch zu vollführen.

Beide Geschlechter müssen dabei alte Klischeevorstellungen ablegen. Beide müssen sich gemeinsam ändern, um ihrem wahren Wesen gerechter zu werden. Das wird noch ein langer Lernprozeß sein, schmerzhaft, nicht ohne Angst, jedoch unumgänglich, wenn es zu tieferer Gemeinsamkeit kommen soll.

 

 

Ist die Frauenfrage aktuell?

Jahrtausendealtes Patriarchat läßt sich nicht in einigen Jahrzehnten durch eine neue Gesetzgebung überwinden. Wir haben eine Gleichberechtigungstheorie, doch in der Praxis sieht es hier und da immer noch anders aus. Viele Frauen fühlen sich auch heute noch den Männern gegenüber als die Unterlegenen. Im Durchschnitt üben sie weniger qualifizierte und geringer bezahlte Berufe aus. In leitenden Positionen sind sie eine Minderheit. Auch in den Kirchenleitungen sind die Frauen eine seltene Ausnahme, meist nur „Alibifrau“ oder „Vorzeigefrau“, erst in letzter Zeit hat sich das gebessert.

Eine verbreitete Redewendung lautet: „Frauen stehen ihren Man“. In vieler Hinsicht haben es Frauen in den letzten Jahrzehnten den Männern gleichgetan und sind fast geworden wie sie. Aber manchmal fühlen sie sich überfordert und sind unzufrieden. Sie sehen, daß „männliche Werte“ (Vernunft, Zweckdenken, Leistungsfähigkeit, Durchsetzungsvermögen) einen viel höheren Stellenwert haben als „weibliche Werte“ (Gefühl, Wärme, Zärtlichkeit, Hingabefähigkeit, Sehnsucht nach Geborgenheit).

Der durch die Ideologie des Supermannes sowieso schon überforderte  Mann wird durch die mißverstandene Emanzipation der Frau in eine Art „Zwei-Fronten-Krieg“ gezwungen. Auch zu Hause gerät er in einen Macht- und Rivalitätenkampf, weil er sich gegen Angriffe und Klagen von Frau und Kindern verteidigen muß, was er als eine zusätzliche Überforderung und Überlastung erlebt. Eine „Niederlage“ zu Hause trägt viel zur Resignation des Mannes bei, weil er sich zu Hause wehrloser fühlt und die aufkommenden aggressiven Gefühle unterdrückt oder gegen sich selbst wendet.

Das Gefühl des Versagens und Nicht-mehr-Könnens bei Männern in mittleren Jahren findet seinen Ausdruck in nervösen Erscheinungen wie Schlaflosigkeit, Leistungsabfall, Reizbarkeit, seelisch bedingter Impotenz, psychosomatische Erkrankungen. Männer haben häufiger Herzinfarkte, Magengeschwüre und Kreislaufstörungen als Frauen, und ihre Lebenserwartung ist geringer. Es kann nicht darum gehen, daß Frauen den „Vorsprung“ der Männer aufholen. Auch Männer  müssen sich ändern  und stehen vor der Frage, woran es ihnen wohl fehlt.

 

Sind die meisten Probleme nicht schon gelöst?

Die erste Konsultation christlicher Frauen aus Europa war 1978 in Brüssel. Viele haben von der UNO-Dekade  und der Ökumenischen Dekade „Solidarität der Kirchen mit den Frauen“ 1988-1998 eine radikale Verbesserung der Lebensbedingungen von Frauen erhofft. Und doch stehen die meisten Frauen heute vor mehr Schwierigkeiten als noch vor fünfzehn oder zwanzig Jahren. Erhöhte Militärausgaben und zunehmende Ungerechtigkeiten im Wirtschaftssystem (erkennbar zum Beispiel an der sogenannten Schuldenkrise und den Aktivitäten der multinationalen Konzerne) haben die Lage verschlimmert. Die patriarchale Gesamtkultur wird immer noch von den meisten Menschen, sowohl Männern wie Frauen, als „natürlich“ angesehen.

  • In Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten verlieren die Frauen als erste ihren Arbeitsplatz.
  • Industriearbeiterinnen sind oft ohne Schutz und erhalten von der lokalen wie multinationalen Industrie, die ihre Schutzlosigkeit ausnützen, die niedrigsten Löhne.
  • In Entwicklungsplänen stehen Frauen in ländlichen Gebieten an letzter Stelle und werden nicht nach ihren Grundbedürfnissen gefragt.
  • Unter den Opfern von Atomversuchen sind es die Frauen, die unter immer mehr Fehlgeburten zu leiden haben.
  • Apartheid und andere Formen von Rassismus unterdrücken Frauen besonders, indem sie oft zwei- oder dreifach unterdrückt werden: als Frau, als Angehörige einer diskriminierten Rasse und als Arme.
  • Hunger und Krieg treffen die Frauen besonders hart, da sie die Hauptverantwortung für ihre Familien tragen.
  • Sobald sich wirtschaftliche und soziale Bedingungen verschlechtern und die Frustration der Männer wächst, nehmen sexueller Mißbrauch und Gewalt gegenüber Frauen zu.

                                                                                                                                                                                                       

Maria und die Rolle der Frau in der Kirche                                                                     

Unter den biblischen Frauengestalten eine, die ein besonderes Gewicht erlangt hat, Maria. die Mutter Jesu. Eine Frau, die das verkörpert, was wir mit mündiger Gemeinde umschreiben, in freier Entscheidung „Ja“ zu sagen zum Willen Gottes, um danach zu handeln. „Mir geschehe, wie du gesagt hast.“ Als Gott die Maria als Mutter seines Sohnes auswählte, hat er der Frau ihre eigene Wertschätzung gegeben. Sie ist wie der Mann das Ebenbild Gottes und ebenso berufen, in Kirche und Welt ihren Einsatz zu leisten.

Maria verkörpert das, was wir mit „mündiger  Gemeinde“ umschreiben. Sie sagt in freier Entscheidung ja zum Willen Gottes und handelt danach. Als Gott die Maria als Mutter seines Sohnes auserwählt hat, da hat er der Frau ihre eigene Wertschätzung gegeben. Nun ist sie wie der Mann Ebenbild Gottes und ebenso berufen, in Kirche und Welt ihren Einsatz zu leisten.  Auffällig ist allerdings, daß Kirchen mit einer ausgeprägten Marienlehre der Ordination von Frauen so zurückhaltend gegenüberstehen. Andere dagegen ohne Marientradition lassen Frauen zur Wortverkündigung und zur Verwaltung der Sakramente zu.

 

 

Maria oder: Die Geschichte von der Entstehung der „Heiligen Jungfrau“:

Das Lukas-Evangelium berichtet, wie Maria zu dem Engel, der ihr die Geburt verkündet, sagt: „Ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast!“ Eine solche Aussage läßt Maria als Urbild für eine christliche Haltung der Demut und des Gehorsams gegenüber Gott geeignet erscheinen. Für die ersten Christen jedoch spielte Maria darüber hinaus keine bedeutende Rolle.

 

Kirchenväter: Gegenbild zur „sündigen Eva“

Die Mariologie (die theologische Lehre von Maria)nahm ihre Anfänge erst im zweiten Jahrhundert, als Maria von den Kirchenvätern Tertullian und Irenäus zum Gegenbild der „sündigen“ Eva erhoben wurde: Wie die „Urmutter“ die Sünde in die Welt gebracht habe, so habe Maria in Christus die Erlösung gebracht. Maria wurde als die Gestalt gesehen, die die böse Tat der ersten Eva wiedergutgemacht hat. Damit war Maria plötzlich eine theologische Größe, die es vorher so nicht gab.

 

Mönche: Jungfräulichkeit als Tugend

Die ersten Mönche, die ein Leben in klösterlicher Abgeschiedenheit als wahre christliche Existenz verstanden, lebten nach asketischen Idealen. Sie priesen die Jungfräulichkeit Marias, weil sie ihnen Symbol für ihr eigenes eheloses Leben war. Zudem war es ihnen ein Bedürfnis, die Geburt Jesu von jeder Verbindung mit sexuellem Verkehr zu lösen. Hieronymus geht im vierten Jahrhundert sogar soweit zu glauben, Maria sei auch nach der Geburt Jungfrau geblieben, das heißt Jesus sei geboren worden, ohne Marias Jungfernhäutchen zu zerstören. Die Lehre von der immerwährenden Jungfräulichkeit der Maria setzte sich innerkirchlich durch. Jungfräulichkeit bekam so einen Eigenwert als höchste christliche Tugend.

 

Volksfrömmigkeit: Erdenmutter und Fruchtbarkeitsgöttin

Nachdem die christliche Kirche durch Kaiser Theodosius zur einzig erlaubten Religion des Römischen Reiches erklärt worden war, entwickelte sich die Lehre über Maria im späten vierten Jahrhundert außerordentlich rasch. Die Mönche verehrten die Jungfrau als anti-sexuelle Gestalt. Daneben gab es aber auch die Maria des Volkes, die in der Tradition heidnischer Kulte als Erdenmutter und Fruchtbarkeitsgöttin in verschiedenen Regionen ein besonderes Ansehen genoß. Offizielle Theologie einerseits und Volksfrömmigkeit andererseits bezogen sich also auf zwei völlig gegensätzliche Marienbilder.

 

Theologen: Gottesmutter oder Mutter Christi?

Beim Konzil im Jahr 431 in Ephesus kam es unter den Theologen zum handfesten Streit über Maria: Ist „Gottesmutter“ oder „Mutter Christi“ der richtige Titel für Maria? Wenn Jesus Gott und Mensch zugleich war, dann hatte auch seine menschliche Mutter Anteil an der göttlichen Natur, argumentierte man - und entschied sich für den Begriff „Gottesmutter“. Diese Definition öffnete der Verehrung Marias als Ersatz-Muttergöttin innerhalb der Volksfrömmigkeit Tor und Tür. In Ephesus, wo schon zu Paulus' Zeiten der Artemis-Kult blühte, verstand die Be­völ­kerung den Gottesmutter-Titel als Bezug auf die beliebte griechische Göttin und war begeistert.

 

Päpste: Modell der Kirche

Die Lehre von der körperlichen Himmelfahrt Marias stammt aus dem alten Ägypten, wurde aber erst 1950 durch ein päpstliches Dekret für verbindlich erklärt. Die Vorstellung von Marias Himmelfahrt hatte beträchtliche religiöse Auswirkungen. Sie wird zur Königin von Engeln und Heiligen. Durch ihre Himmelfahrt wird sie eingesetzt zur Rechten Christi, um von ihrem Thron aus die himmlische Gemeinde zu regieren. Maria ist ein Modell der Kirche, das die allgemeine Auferstehung am Ende der Zeiten vorwegnimmt. Neben Christus wird Maria so zu einer Gestalt, die die Erlösung der Menschen verdeutlicht.

 

Mittelalter: Feste theologische Größe

Im Mittelalter ist Maria eine feste theologische Größe, deren Stellenwert mehr und mehr wächst. Allgemeingültige kirchliche Lehre ist, daß Maria bereits vor ihrer Geburt von Gott erwählt und daher ohne Sünde ist. Maria vereinigt in sich Jungfräulichkeit und Mütterlichkeit. Sie wurde ohne männliche Mitwirkung schwanger und blieb trotz ihrer Mutterschaft Jungfrau. Als Mutter mußte Maria großen Schmerz erleiden: Viele Künstler haben sie bei der Beweinung Christi nach der Kreuzabnahme dargestellt. Daneben erscheint Maria als Himmelskönigin und Fürsprecherin der Sünder. Sie ebnet den Weg zu Christus und damit zur Erlösung der Menschheit.

Nach den Mustern der mittelalterlichen Feudalgesellschaft erscheint Maria als Vermittlerin der göttlichen Gnade so wie eine irdische Herrin des Hofstaates, der man menschliches Vertrauen entgegenbringen kann, weil sie die Sache der Untertanen gegen den Zorn des Schloßherren vortragen kann. Auf diese Weise wird Maria ein Element der Menschlichkeit in einem sonst unerträglichen Gegensatz zwischen Himmel und Hölle, zwischen Gesetz und Gnade, zwischen göttlicher Majestät und menschlicher Sünde. Die Lehre von der unbefleckten Empfängnis wird im Mittelalter zu einer eigenständigen Größe. Maria, so das Anliegen der Theologen, mußte herausgenommen sein aus der „ansteckenden“ Folge der Erbsünde, um sündlos gebären und trotzdem Mensch bleiben zu können. Deshalb formulierte man spitzfindig, die Reinigung der Maria von der Sünde sei im Augenblick der Empfängnis vollzogen worden. Eine differenzierte Variante dieser These erließ Papst Pius IX. im Jahr 1854 als „Dog­ma von der unbefleckten Empfängnis“.

 

Reformatoren: Unbiblische Auswüchse

Bis zur Reformation im 16. Jahrhundert war die Marienverehrung in der katholischen Kirche noch nicht durch Dogmen abgesichert. Erst in späteren Jahrhunderten erhoben die Päpste die unbefleckte Empfängnis und die Himmelfahrt Marias in den Rang einer unverrückbaren kirchlichen Wahrheit. Die Protestanten verwarfen die Marienverehrung zwar nicht in Bausch und Bogen, lehnten aber alle unbiblischen Auswüchse ab. Sowohl Calvin als auch Luther hielten an dem Titel „Gottesmutter“ fest, sahen aber gleichzeitig die Mißverständlichkeit dieses theologischen Begriffs als Gefahr. Weil Ehe und Familie den Reformatoren als Grundlage der christlichen Gesellschaft galten, verlor das Ideal der Jungfräulichkeit bei den Evangelischen an Bedeutung. Geschlechtsverkehr in der Ehe galt nach Abschaffung des Mönchtums nicht länger als Sünde, sondern als schöpfungsmäßiger Normalzustand. Die Frage, ob Maria immerwährende Jungfrau war oder nicht, spielte demzufolge keine zentrale Rolle im Glaubensverständnis der Protestanten. Eine Abwertung der Rolle Marias kann man auch darin erkennen, daß die Stellung der Frau von den Reformatoren eher erniedrigt als erhöht wurde. Überspitzt gesagt besiegelt die Unterordnung der Frau in Kirche, Familie und Gesellschaft auch den Untergang der Marienverehrung im Protestantismus.

 

Feministinnen: Wirklichkeitsfremd und frauenfeindlich

Im Laufe der Jahrhunderte wurde Maria zum Muster an Vollkommenheit, zu einem Ideal, das mit dem realen Leben der Frauen nichts mehr zu tun hatte und hat. Aus heutiger Sicht erscheint das Bild einer Frau ohne Sexualität und ohne Eigenwillen wirklichkeitsfremd und sogar frauenfeindlich. Moderne feministische Theologinnen haben Maria wiederentdeckt. Sie wollen sie allerdings von dem traditionellen Bild befreien und entschlüsseln die wenigen, zum Teil widersprüchlichen biblischen Zeugnisse über Maria neu: Liest man nur die Geschichte von der Geburt Jesu, so läßt sich nicht erkennen, daß Jesus der Sohn einer Jungfrau ist. Johannes und Markus sowie der Apostel Paulus sagen nichts zu diesem Thema. Die jungfräuliche Geburt wird nur im ersten Kapitel des Matthäus- und Lukas-Evangeliums erwähnt, als der Engel Jesu Geburt ankündigt. Bei Matthäus jedoch spricht der Engel zu Joseph, bei Lukas zu Maria.

 

Bibelwissenschaftler: Junge Frau mit Fehlern und Schwächen

Heutige Bibelausleger meinen, daß mit der Jungfrauengeburt eine Aussage über Jesus beabsichtigt sei, nicht über Maria. Bei außergewöhnlichen Personen sei - wie auch in anderen Religionen - bereits die Geburt ein Wunder. Die Jungfrauengeburt sei eine Bestätigung der göttlichen Erwähltheit Jesu vom Augenblick seiner Empfängnis an. Keineswegs sei damit gemeint, daß Maria als Jungfrau eine höhere Stellung einnehme und daß sexuelle Beziehungen von Übel seien. Es gibt im Neuen Testament auch keine Andeutung, daß Maria Jungfrau geblieben ist. Im Gegenteil, Matthäus und Markus berichten, daß Maria die Mutter weiterer Söhne und Töchter war (Mk 6,3 und Mt 13,5556). Im Neuen Testament gibt es auch keinen Anhaltspunkt für die anderen Lehren, die sich im Laufe der katholischen Tradition herausgebildet haben. So zum Beispiel für den Glauben an Marias Himmelfahrt und für die Lehre von Marias Sündlosigkeit. Sie wird in den Evangelien zwar nicht als Sünderin beschrieben, aber sie erscheint auch nicht als Beispiel der Tugend. Wir wissen einfach zu wenig über sie, um mehr annehmen zu können, als daß sie eine junge Frau war, die an allen Fehlern und Schwächen unserer menschlichen Existenz teilhatte.

 

Dritte Welt: Kraftspendende Trösterin

Trotz aller Kritik am traditionellen Marienbild hat die Mutter Jesu für Christen in aller Welt auch eine befreiende Bedeutung. Der Name „Maria“ steht für Barmherzigkeit. Sie versteht die Alltagsnöte des Volkes. In der Fülle ihres weitgeöffneten Mantels bietet sie den Hilfesuchenden Schutz. Besonders für die unterdrückten Frauen in der Dritten Welt hat sie die Rolle einer kraftspendenden Trösterin. Eine zentrale Rolle spielt dabei Marias Gebet aus dem ersten Kapitel des Lukas-Evangeliums, das „Magnifikat“. Darin heißt es unter anderem: „Mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes, denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen ... Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und läßt die Reichen leer ausgehen ...“.

 

Madonna von Stalingrad:

Die Madonna von Stalingrad, gezeichnet von Kurt Reuber, entstand Weihnachten 1942 im Kessel von Stalingrad. Unter schwierigsten Umständen und mit den dürftigsten Hilfsmitteln zeichnete der Arzt und Pfarrer in einem Lehmbunker mit Kohle auf die Rückseite einer russischen Landkarte.

Kurt Reuber schrieb darüber in einem Brief: „... wenn ich sagen könnte, wie mich diese Arbeit an der Madonna ergriffen hat und wie ich ganz dabei war, wie mir alles als Entwurf für spätere Arbeiten vorschwebte! Die Zeichnung ist angelegt in großen Flächen, Formen und Linien, alles vereinfachend, in der Fläche bleibend, wie ein Fresko, zugleich aber Entwurf für eine Plastik.“

Mit dieser Darstellung wollte er seinen Kameraden am Heiligen Abend in verzweifelter Lage Freude und Hoffnung schenken. Zur Weihnachtsfeier schrieb er: „Als ich nach altem Brauch die Weihnachtstür, die Lattentür unseres Bunkers, öffnete und die Kameraden eintraten, standen sie wie gebannt, andächtig und ergriffen, schweigend vor dem Bild an der Lehmwand, unter dem auf einem in die Lehmwand eingerammten Holzscheit ein Licht brannte ... und gedankenvoll lasen sie die Worte: „Licht - Leben - Liebe.“

Im Januar 1943 brachte ein schwerkranker Kommandeur die Madonna mit anderen Zeichnungen und einem Selbstbildnis Reubers aus dem Kessel heraus. Er wurde mit der letzten Maschine ausgeflogen.

 

Kurt Reuber, am 26. Mai 1906 in Kassel geboren, wuchs in einem streng gläubigen Elternhaus auf. Kritisch setzte er sich mit den überkommenen, ihn einbindenden Traditionen auseinander. Seine große Begabung zum Malen erschwerte ihm die Entscheidung seiner Berufswahl. Er entschloß sich für das Studium der Evangelischen Theologie. Seine Lehrer waren u. a. Otto, Schlaffer, Bultmann und Heiler. Im Jahre 1933 promovierte er in Marburg zum Licentiaten der Theologie. Neben diesem Studium belegte er medizinische Vorlesungen und befaßte sich immer wieder mit der Malerei. Aus einer Begegnung mit Albert Schweitzer entstand eine Freundschaft, und er gewann Klarheit im Zwiespalt über Beruf und Berufung, Theologie oder Medizin.

Kurt Reuber wurde Pfarrer und Arzt, weil er davon überzeugt war, auf diese Weise am wirksamsten dienen und helfen zu können. Neben dem Dienst als Pfarrer in dem nordhessischen Dorf Wichmannshausen führte er das Medizinstudium in Göttingen fort und schloß es 1938 mit dem Staatsexamen und der Promotion ab.

Kurz nach Kriegsausbruch wurde er als Arzt eingezogen. Der Einsatz in Rußland als Seuchenarzt brachte ihn in enge Berührung mit der russischen Zivilbevölkerung. Bei diesen Begegnungen malte er. Es entstanden etwa 150 Zeichnungen. In einem Brief schrieb er: „Immer wieder schaue ich mir die Gesichter der Menschen an und komme von ihnen nicht los ...“.

Kurt Reuber starb im Januar 1944 in            russischer Gefangenschaft.

Zu der Madonna von Stalingrad schrieb er: „Das Bild ist so: Kind und Mutterkopf zueinander geneigt, von einem großen Tuch umschlossen, Geborgenheit und Umschließung von Mutter und Kind. Mir kamen die johanneischen Worte: „Licht - Leben - Liebe“. Was soll ich dazu

Noch sagen Wenn man unsere Lage bedenkt, in der Dunkelheit, Tod und Haß umgehen - und unsere Sehnsucht nach Licht, Leben, Liebe, die so unendlich groß ist, in jedem von uns!“

Immer wieder bedrängten ihn die Fragen, welche Wege zum Frieden führen. In seinem letzten Brief zu Weihnachten 1943 teilt er seine Gedanken dazu mit. „Die erste Voraussetzung einer wahren Befriedung der Welt liegt im Abstellen des Friedenswidrigen im allerpersönlichsten Leben.“

Die Madonna von Stalingrad hat ihren Platz in Berlin gefunden: In der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis- Kirche, einem Symbol, das mahnt, den Frieden der Menschen und der Völker zu suchen und zu erhalten. Dort können Besucher die Madonna von Stalingrad zu sich sprechen lassen (Ute Tolkmitt, geborene Reuber).

 

 

Martha

„Bin ich Martha oder Maria?“  (Lk 10,33-42). Zu dieser Frage äußerten sich Frauen bei einer Tagung: Zum größten Teil empfanden sich die Frauen als Martha, die Gruppe, die sich mit Maria zu identifizieren versuchte, hatte ihre Schwierigkeiten. Aber Jesus hat gesagt: „Maria hat das bessere Teil erwählt!“ Woher kommt es, daß Haus- und Büroarbeit weniger geachtet wird als andere Berufe? Das verunsicherte. Ebenso verunsicherte die „Marthas“, daß sie festgelegt werden auf eine bestimmte Rolle und immer „rackern“ müssen, auch wenn für sie einmal „zuhören“ nötig und dran ist.

Im Konfrontationsgespräch wurde den Marthas vorgehalten, sie verständen nicht zu delegieren, wollten immer alles selbst tun, weil ein anderer es ihrer Meinung nach nicht gut genug macht. Das gab zu denken. Ist solch Verhalten nun Veranlagung oder Folge des Rollenzwangs?

 

Wir hatten für die Gruppenarbeit auch eine Männergruppe erfunden, weil wir meinten, Lk 10,38 (... da sie weiterzogen) und auch die Geschäftigkeit der Martha lassen die Annahme zu, daß die Jünger mit Jesus zusammen im Hause Marthas einkehrten. Die „Männer“ haben die geschäftige Martha gelobt. Frauen denken also, Männern gefällt es, bedient zu werden. Daß Frauen oft bestrebt sind, sich so zu verhalten, wie es ihrer Meinung nach Männern gefällt, wurde in der Aneignungsphase noch einmal deutlich.

Eine Frau sagte:  „Wer Martha hieß, tat mir als Kind immer leid. Der Name verpflichtete, besonders rührig, aktiv, irdisch, fleißig, fröhlich und tüchtig zu sein!“ „Maria“ hatte etwas Edles an sich, „Martha“ etwas Banales. Maria trug eine Art Heiligenschein um sich. Martha atmete Küchendunst und Geschäftigkeit aus. Noch heute hört man ältere Menschen manchmal sagen: Die hat eine „Martha-Seele“, und das heißt: die ist besonders praktisch, tüchtig, nüchtern. Oder: Die hat eine „Marien-Seele“, und das heißt dann: die ist still, zurückhaltend, kann gut zuhören und ist immer offen für andere. Wenn wir ehrlich sind: Martha ist uns als nützlich und notwendig vorgestellt. Aber vorbildlich, tröstlich und ideal sollte eigentlich immer Maria sein.

 

Aus dieser Geschichte stammen unsere zwei unterschiedlichen Gefühle für die beiden Schwestern aus Bethanien, und diese unterschiedlichen Gefühle sind auch in der christlichen Tradition immer wieder zu finden. Maria, weil sie zu Jesu Füßen saß und ihm zuhörte, wurde zum Typ des kontemplativen, d. h. des nachdenkenden Christentums. Das hatte höheren Wert als alle christlichen Aktivitäten. Anders Martha. Weil sie praktisch war, wurde ihr auch noch die Krankenpflege zugeordnet, und auf diese Weise wurde sie Ordensheilige für die Krankenpflegerinnen.

In der Kunst ist Martha meist als mütterliche und hausfrauliche Heilige dargestellt: Sie dient bei Tisch, sie betet und strahlt mütterliche Ruhe aus. Martha erfüllt als Heilige alle Wünsche, die man an eine Frau und Mutter hat. Verkörpert Maria das nachdenkende, kontemplative Christentum, so verkörpert Martha das tätige, aktive Christentum.

 

Schlimm wurde es erst, als sich protestantische Theologen Marthas bemächtigten. Für die Reformatoren und sogar für viele heutige Ausleger steht sie da als Sinnbild der Werkgerechtigkeit. Sie möchte für Jesus etwas tun - und das ist verkehrt. Denn Gott macht ja aus Gnaden gerecht und beurteilt nicht unsere guten Werke. So füllte sich das Marthabild mit Komplexen: nützlich fürs Praktische, aber weniger wert als die nachdenkende Maria und also „minder“-wertig. Und viele Frauen in der Kirche, die sich bis heute in Martha wiederfinden, fühlen sich in dieser Weise „minderwertig“, weniger wert und entwickeln Minderwertigkeitsgefühle.

Als man im 19. Jahrhundert den Wert eines tätigen Christentums und die Diakonie wiederentdeckte, entdeckte man aber auch Martha neu. Für die in der Diakonie tätigen Sozialarbeiter und Diakonissen brauchte man ein aktives Frauenbild. Da reichte die nur hörende Maria nicht mehr aus.

So erfand man die Doppelrolle: Maria und Martha. Das war eine praktische Notlösung. Tatsächlich waren die Marthahäuser der Diakonissenanstalten die Dienstbotenhäuser, und wie der Diakonie, so gelang es auch Martha nie ganz, in der Kirche aufgewertet zu werden. Martha in ihrer Hausbackenheit steht immer noch am Rande unseres feiernden, denkenden und meditierenden Christentums, wie die Marthahäuser am Rande der großen Diakonissenanstalten.

 

Nun ist Martha mit dieser Marthatradition ein großes Unrecht geschehen, und es wird Zeit, daß wir es wiedergutmachen. Sehen wir uns die Bibel und die Stellen an, wo Martha vorkommt, dann sind es im Grunde zwei ganz verschiedene Marthageschichten: Lukas berichtet die bekanntere Geschichte von der dienenden Martha und der hörenden Maria, zu denen Jesus zu Besuch kommt, und Johannes die Geschichte von der Auferweckung des Lazarus, des Bruders Marias und Marthas. Beide berichten übereinstimmend von zwei unterschiedlichen Schwesterntypen: die eine, Maria, still, zurückhaltend, vielleicht etwas gehemmt; die andere, Martha, aktiv, befehlsgewohnt, schnell, redegewandt und mit der Neigung, ihre schüchterne Schwester zu gängeln. Bei beiden Männern ist in den Gemeinden, in denen sie leben, noch die Erinnerung an zwei Frauen lebendig, die in naher Beziehung zu Jesus standen, unterschiedlich in ihrer Veranlagung waren und ganz verschiedene Charaktere und unterschiedliche Funktionen hatten. In der frühen Gemeinde war dann besonders die eine aktiv in der Gemeinde tätig, vielleicht zu aktiv und selbstbewußt.

Lukas und Johannes sind zwei frauenfreundliche Schriftsteller der frühen Kirche gewesen ... Aber beide sehen die Frauen und die Arbeit der Frau aus einem bestimmten Blickwinkel. Lukas hatte eine Schwäche für reiche, vornehme Damen, und da paßten Maria und Martha gut hinein. Martha heißt Herrin. Nach allem, was wir den Texten entnehmen können, war sie eine wohlhabende Grundbesitzerin, die das Familienerbe verwaltete.

Johannes erzählt eine andere Fassung der uns so in Fleisch und Blut übergegangenen Maria-Martha-Geschichte: Lazarus ist krank, und Maria und Martha lassen Jesus wissen, daß sein Freund krank ist - wohl in der Hoffnung, daß er kommt und ihn gesund macht. Als Jesus nach fünf Tagen sich endlich auf den Weg macht, ist Lazarus bereits seit vier Tagen tot. Im überfüllten Trauerhaus hört Martha von seinem Kommen, ergreift die Initiative, verläßt das Haus, um Jesus allein zu treffen.

Und sie überfällt Jesus mit dem Satz, der allen Schmerz, allen Zorn und alle Enttäuschung der letzten Tage enthält: „Herr, wenn du bei uns gewesen wärst, hätte mein Bruder nicht sterben müssen.“ Den gleichen Satz sagt Maria später, indem sie sich Jesu zu Füßen wirft - um gleich darauf in Tränen auszubrechen. Für Martha ist dieser Satz aber Sprungbrett, Einleitung zu einem leidenschaftlichen Glaubensgespräch. Martha ist nicht „ein Weib“, das in der Gemeinde „schweigt“.

Sie überläßt nicht die Theologie den Theologen. Sie debattiert heftig. Sie weint nicht, sie wirft sich Jesus nicht zu Füßen, sie ergibt sich nicht ... Sie weiß zwar verstandesmäßig gut Bescheid in der Theologie, daß die Auferstehung erst am Jüngsten Tage kommt, und sie hat doch die Hoffnung, daß Jesus jetzt helfen kann. Vorlaut, zäh, leidenschaftlich - weiß sie alles besser. Unweiblich würden viele es nennen. Zumindest verkörpert sie keine traditionellen weiblich-christlichen Tugenden: Gehorsam, Stille, Ergebenheit. Das tut eher Maria. Sie bleibt zuerst zu Hause, weint mit den Bekannten um ihren Bruder und wird von der Schwester erst zu allem  gerufen.

Man hat gesagt: „Maria empfindet tiefer als Martha!“ Ist dies nicht ein Vorverständnis, Vorurteil, wie eine Frau und der Glaube einer Frau sein sollte: gehorsam, die Grenzen anerkennend, nichts hinterfragend, nichts bezweifelnd, sich einordnend! Johannes hat aber die ganz andere Frau darstellen wollen: die rebellische, die sich nicht einordnet, die sich nicht zufriedengibt mit dem, was ein Mann ihr sagt.

 

 

 

 

 

Martha - eine führende Christin

Marthas zähem, leidenschaftlichem Glauben an die Außerordentlichkeit Jesu begegnet Jesus mit der Selbstoffenbarung: „Ich bin die Auferstehung und das Leben ...“, und Martha antwortet mit einem Christusbekenntnis, das auf einsamer Höhe im Neuen Testament steht: „Du bist Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist!“ Dies kann höchstens noch mit dem Christusbekenntnis des Petrus Mt 16,16 verglichen werden.

Johannes wirft unser traditionelles christliches Frauenbild von Martha damit über den Haufen: Er macht die aggressive, unbequeme, kluge, handelnde, alle Konventionen durchbrechende Martha wieder lebendig: Herrin, Hausfrau, Apostel, die gleichberechtigt neben Petrus steht.

Wir entdecken heute, daß Frauen aus der Wirklichkeit ihrer Lebenserfahrung anders von Gott, vom Glauben, von der Gemeinschaft christlichen Lebens denken und reden können, als es die Theologie und die Theologen vieler Jahrhunderte getan haben. Frauen haben einen eigenen Lebensbereich und eigene Erfahrung, aus der heraus sie Gott erleben und seine Freiheit spüren. Gott ist nicht nur der Starke, Allmächtige, Erfolgreiche, sondern auch der Schwache, Ohnmächtige, wie sie selbst. Vielleicht sind sie der Wirklichkeit des neuen Lebens, der Auferstehungswirklichkeit oft ein Stück näher als Männer. Frauen waren die ersten Zeugen der Auferstehung; Martha erfährt als erste, daß Jesus selbst die Auferstehung ist.

Die Frauen waren zu lange Marthas, nützlich und notwendig, aber ohne Selbstgefühl ... Sie sollten die Martha des Lukas deshalb ins zweite Glied schieben und die Martha des Johannes ins rechte Licht rücken: die Selbstbewußte, Aktive, Nüchterne, die nicht nachgibt, die keine Begrenzung anerkennt, die über sich und ihre traditionelle Frauenrolle hinauswächst und dabei Auferstehung erfährt.

 

 

Über die Unterdrückung des Mannes

Es macht mir gewisse Schwierigkeiten, vom „unterdrückten Mann“ zu sprechen. Die wichtigste Stelle, an der Menschen in unserer Gesellschaft ihre Unfreiheit erfahren, scheint mir die Welt der Arbeit. Was, für wen, mit welchen Materialien und zu welchem Zweck produziert wird, wie Organisation, Verwaltung und Verteilung geregelt werden, ist außerhalb der Kontrolle der meisten. Unter  „Unterdrückten“ verstehe ich, daß unsere wichtigsten Lebensaktivitäten fremdgesteuert und nicht selbstbestimmt sind.

Innerhalb dieser umfassenden Behinderung des Lebens, die im Berufsleben auftritt, kann ich Männer nicht als extra beschädigt oder benachteiligt sehen; es sind die Frauen, die gegen weniger Lohn mehr und schlechtere Arbeit machen. Die politisch-ökonomische Unterdrückung trifft die große Mehrzahl der Menschen innerhalb unserer Ordnung am Arbeitsplatz. Die spezifische Unterdrückung des Mannes dagegen ist eine kulturelle Angelegenheit, die in Freizeit und Familie stattfindet, sozusagen feinverteilt. Auch innerhalb dieses Bereiches werden Männer und Frauen an der Erfüllung ihrer Bedürfnisse gehindert, aber auf  sehr verschiedene Weise.

Ist das Wort „Unterdrückung“ innerhalb dieses Bereiches auf Männer anwendbar? Eine Schwierigkeit liegt darin, daß ich für die unterdrückten Männer den zugehörigen Unterdrückten nicht sehe. Sind es die Frauen, die die Männer an der Entfaltung ihrer Möglichkeiten hindern, sie benachteiligen und von der Erfüllung ihrer Bedürfnisse abhalten? Sind es die Männer selber?  Oder gibt es da eine Verschwörung, die verhindern soll, daß Männer Menschen werden? Braucht die Gesellschaft verkümmerte, teilentwickelte Männer, um zu funktionieren?

All diese Fragen im Hinterkopf behaltend, will ich von einem Fall ausgehen. Vor kurzen besuchte mich ein junges Mädchen, um über ihre Schwierigkeiten zu sprechen. Sie lebt seit einem halben Jahr mit ihrem Freund zusammen, im Allgemeinen ganz harmonisch, wie sie sagt, aber nicht im Sexuellen. Sie kommt in der Beziehung nicht zum Orgasmus, obwohl sie selbst durch Masturbation weiß, daß sie dazu fähig ist. Ich stellte zwei Fragen: „Sprecht ihr darüber?“ und: „Weiß er das überhaupt?“ Die Antwort war beide Male verneinen.

Beide jungen Leute, mir flüchtig bekannt, wirken normal, gesellschaftlich angepaßt und unauffällig. Normal scheint mir auch, daß sie über wesentliche Dinge miteinander sprechen. Normal ist wohl auch, daß der junge Mann nichts weiß, oder nichts wissen will und niemanden fragt.

Ich verlasse das Beispiel und versuche, diesen normalen jungen Menschen zu beschreiben, wobei ich weniger seine psychische Geschichte als die sozialen Beziehungen des Typs im Auge habe. Ich würde ihn nennen: teilentwickelt, behindert, eingeengt und in diesem Sinne unterdrückt. Was ihm fehlt: Die Fähigkeiten wahrzunehmen und zu kommunizieren. Er funktioniert in seinem Betrieb gut, aber das ist auch alles.

Er gehört zu den vielen Männern, die kein Verhältnis zum eigenen Körper entwickelt haben, auch wenn sie sportlich und sexuell aktiv sind. Er kennt seinen Körper nicht. Die Sprache des Körpers ist bei ihm unterentwickelt, er teilt sich nicht mit durch Bewegung, Gesten, Veränderung der Haut. Er tanzt nicht. Er hat kein körperliches Verhältnis zu Kindern, läßt sie nicht reiten, klettern und fliegen. Er spielt nicht spontan mit seinem Körper. Es kommt ihm nicht in den Sinn, ein Hund oder eine Lokomotive zu sein. Um eine anthropologische Unterscheidung aufzugreifen: Er ist nicht Leib, er hat nur Körper, den er benutzt.

Daher wirkt er auch immer kleiderlos, obwohl bekleidet. Man weiß nie, was er an hatte Man kann die Kleider als eine manifest gewordene Sprache des Körpers auffassen; in der bloß instrumentellen Beziehung zur Kleidung findet daher die Verleugnung des Körpers noch einmal statt. Der normal unterdrückte Mann hat auch keinen Spaß am Verkleiden, Er hat keinen Spaß am Neu-Sein, am Sich-Verändern und Versteckspielen.

Es dürfte klar sein, daß diese Körperlosigkeit der meisten Männer in unserer Kultur nicht freiwillig gewählt wurde. Sie wird mit den gesellschaftlichen Rollen anerzogen. So wie das ausstaffierte Weib der Kosmetik-  und Textilindustrie nur Körper zu sein hat, so ist entsprechend der Mann nur Besitzer von Körpern, den eigenen eingeschlossen. Er lebt nicht in und mit seinem Leib.

Es ist anzunehmen, daß diese erzwungene Körperfeindlichkeit mit einer anderen Form der Unterdrückung zusammenhängt, nämlich der homosexuellen Beziehung. Wenn die Gesellschaft den Menschen nicht erlaubt, ihr eigenes Geschlecht zu bejahen, wenn Homosexualität mit massiven oder subtilen Methoden unterdrückt wird, so arbeitet sich gleichzeitig die Ma­schinisierung der Leiblichkeit heraus, die Beobachter der Drittwelt so typisch für die weiße männliche Kultur halten. In diesem Sinn ist der normale Heterosexuelle ein Opfer der Unterdrückung, die den Abweichenden angetan wird; er darf  keinen Leib haben, weil er anderen nicht gestattet, leiblich anders zu sein; weil er das andere nicht zuläßt außerhalb seiner selbst, verbietet er auch sich selber, andere und neue Möglichkeiten zu entdecken.

Zum Idealbild des Mannes in einer Unterdrückungsgesellschaft gehören Heterosexualität  und Körperfeindlichkeit. Homosexuelle Männer haben einen ganz anderen Umgang mit ihrem eigenen Körper. Sie gehen anders, sie bewegen sich nicht unter der Diktatur der Zwecke. Ihr Leib ist nicht nur eine Maschine, die gefüttert und geölt werden muß. Er ist ein Element des Lebens. Viele Frauen, ich auch, fühlen sich von homosexuellen Männern besonders angezogen. Das mag eine Reihe von Gründen haben, aber einer ist wohl die Abwesenheit einer spezifisch männlichen Verleugnung des Körpers

Wenn man nicht in seinem Leibe wohnt, sondern die Körpermaschine nur benutzt, so ist man nicht in Kontakt mit  seinen eigenen Gefühlen. Da ist ein zweites Charakteristikum des ver­armten, unterentwickelten Mannes. Ich meine damit nicht, daß Männer emotional zu kurz gekommene Wesen sind, obwohl man sich dieses Eindruckes manchmal nicht  erwehren kann. Das Schrecklichste und Weitverbreiteste ist, daß sie oft keine Beziehung zu ihren eigenen Gefühlen haben. Angst, Spannung, Scham, Stolz, Freude - es ist alles da, aber wie hinter Schleiern,

Man spricht nicht darüber. Man läßt es nicht an sich heran und auch nicht aus sich heraus. Die verbleibenden Ausdrucksformen der Gefühle wirken darum meist sehr unvermittelt, jäh und explosiv, oft komisch. Der plötzlich lostobende Familienvater drückt nicht nur aus, wie ausgelaugt und gedemütigt er vom Arbeitsalltag her ist. Er hat auch nie gelernt, seine Gefühle mitzuteilen. Gefühle werden nicht kommuniziert. Darum sind Männer oft hilflos, wenn sie von ihnen überflutet werden.

Wie ein Junge - ein deutscher zumal - nicht weint, so lernt auch der Mann nicht mit seinen Gefühlen umzugehen, sich über sie klar zu werden und sie zu artikulieren. Ich kenne viele Männer, Intellektuelle vor allem, die fast keine Sprache ihrer Gefühle haben. Emotionale Analphabeten.

Mag sein, daß der junge Mann, von dem wir ausgingen, sogar spürt, daß da etwas nicht stimmt in seiner Beziehung. Aber er hat nie gelernt, mit seinen Gefühlen zu leben. Er hat keine Sprache entwickelt, die über die technische seines Alltags hinausginge. Die Sprache ist für ihn genau so eine Maschine, die er benutzt, wie er den Körper bedient. Sie ist nichts Lebendiges, nichts, an dem und mit dem man arbeitet und weiterkommt. Die Redensart: „Ich weiß nicht, wie  Ich das ausdrücken soll ... ich meine, ich denke ... mir fehlen die Worte“, ist eher Frauen zur Hand als Männern.

Der normal unterdrückte Mann kommt gar nicht auf den Gedanken, daß ihm etwas fehlen könnte, das wichtig wäre, jetzt gesagt zu werden. Studentinnen benutzen solche Redensarten oft im Übermaß, während sie meist unter der Würde von Studenten sind. Das wird natürlich in der sexistischen Gesellschaftenden Frauen zum Nachteil ausgelegt, als Unklarheit, Unschärfe, leeres Gerede abgetan. In Wirklichkeit ist Suchen ein lebendiger Umgang mit Sprache und nicht Wiederholung von schon Gewußtem. Man könnte sich eine befreite Gesellschaft denken, in der Männer und Frauen an diesem Abenteuer, mehr Sprache zu gewinnen, beteiligt sind und in der alle versuchen, die gegebene Sprache zu transzendieren.

Damit bin ich beim dritten Merkmal meiner Beschreibung des verarmten Mannes. Er hat auf eine schreckliche Weise seine Wünsche verraten und verkauft. Seine bewußten Wünsche sind zu der maschinenhaften Banalität zusammengeschrumpft, die seine Bewegungen und sein Sprechen charakterisiert. Die Gesellschaft hat ihn dazu erzogen, nicht nur keine Gefühle zu haben, sondern auch sich selber abzuschneiden von jeder Art Transzendenz dessen, was ist. Er tanzt nicht, er weint nicht. Kann man sich etwa vorstellen, daß er betet? Es wäre zum Lachen.

Die romantische Kritik am Rollendruck und den bürgerlichen Schablonen für männisches Verhalten ist heute im Zuge der Frauenbewegung wieder aktuell. Die Romantiker haben sehr gut verstanden, daß der Kampf um die Emanzipation der Frauen auch der Kampf für die ver­armten und verkrüppelten Männer  sein muß. Auch heute wollen Frauen nicht nur den gleichen Anteil vom ganzen Kuchen, sie bilden sich vielmehr ein, daß noch andere Kuchen gebacken werden können als die derzeitigen. Insofern arbeitet die Bewegung selbst in ihren verrücktesten Spielarten an der Transzendierung gegebener Vorschriften, was alles wünschbar sei.

Und gerade diese Entfesselung der Wünsche ist es, die für den normal unterdrückten Mann bedrohlich wirkt. Der Rollendruck, der die Frau auf ganz andere Weise beschädigt, nimmt auch dem Mann die Möglichkeit der eigenen Weiterentwicklung, so daß er Sprache, Aufmerk­samkeit, Zärtlichkeit und Fähigkeit sich in seinen Wünschen zu transzendieren verlernt hat. In seinem Verhalten verbietet er auch dem Mädchen alles das, was ihm fehlt. Er will sie in  der Rolle sehen, die seiner komplementär ist: Sie soll den Körper, den er verleugnet, als Instrument benutzen; die Ratio, die er als Instrument benutzt, soll sie verleugnen. Die rational verarmte  Frau gehört zum emotionalen Analphabeten.

Man könnte unsere Kultur als technokratische Maschine beschreiben. „Machismo“ ist ein unübersetzbares spanisches Wort für die Kultur des „macho“, des männischen Mannes, dessen Beziehungen zu Frauen auf Überlegenheitsgefühlen, Herrschaft und Unterwerfung aufgebaut sind. Das machistische Ideal ist in katholischen Ländern ausgebildet worden, sichert die absolute Vorrangigkeit des Sohnes vor der Tochter, die sexuellen Freiheiten und Erlaubnisse des Mannes gegenüber der Frau, die männische Verantwortungslosigkeit den Kindern gegengenüber.

 Der beste, der männlichste Mann ist der orthodox heterosexuelle, der zum Herrschen und Nehmen erzogen wird. Er singt nicht, er stammelt nicht. Sein Bedürfnis nach Ordnung und Herrschaft hat das  nach Vereinigung und Kreativität längst aufgezehrt. Er ist arbeitsfähig und Freud würde ihn wohl auch liebesfähig nennen, sofern er nicht an Impotenz leidet. In Wirklichkeit kann man das, was er tut und erlebt, keineswegs mehr mit den altmodischen Wörtern „arbeite“ und „liebe“ bezeichnen.

Er versteht gar nicht, warum die Frau an seiner Seite unglücklich ist.  Sein Machismo läßt die Vermutung, daß es an ihm liegen könnte, nicht zu. Seine Unterdrückung ist seine Verarmung, der Verlust seiner reichen menschlichen Möglichkeiten.  Vielleicht gibt es keinen Bereich, in dem die Verarmung des Mannes so selbstverständlich funktioniert wie in dem der Religion. Er ist mit unbezweifelter Selbstverständlichkeit irreligiös und von wesentlichen Erfahrungen der Menschheit abgeschnitten. Kirche ist Weibersache.

Der unterdrückte Mann dieser Kultur betet nicht, er hat die expressive Sprache auch hier verloren. Er hat den Traum und die Hoffnung auf das Land, wo der Löwe neben dem Lamm ruht, verraten. Solche Träume gehören nicht zu seiner Welt. Der protestantisch Erzogene empfindet die katholische Priesterkleidung als weibisch. Die vorgeschriebene Religionslosigkeit erlaubt ihm nicht, ein Verhältnis zu Christus zu finden, weil in Christus zu viel von dem lebt, was er verleugnet. Die meisten bildenden Künstler haben Jesus weibliche Züge mitgegeben. Diese Künstler wollten den Menschen, dessen Gestalt das Bild Gottes so klar spiegelt, nicht zum Mann verkürzen. So näherten sie sich dem androgynen Mythos der Einheit der beiden Geschlechter.

Ich weiß nicht, ob Jesus ein Feminist war, aber daß er heute einer wäre, der im Widerspruch zum Kult des Männischen steht, ist außer Frage. Gibt es eine Verschwörung gegen die Versuche der Männer, Menschen zu werde? Ich vermute, es ist die Verschwörung, die uns alle auf „mehr, schneller, größer“ trimmt. Die kulturelle Verarmung des Mannes, wobei ich Arbeiter, Angestellte, Intellektuelle nicht in einen Topf werfen möchte, ist eine Voraussetzung, die unser System braucht, um zu funktionieren. Insofern ist die Vertreibung von Philosophie und Poesie, Musik  und bildender Kunst aus unseren Schulen konsequent.

Gibt es Ansätze zur Befreiung des Mannes aus dieser selbstverschuldeten Unmündigkeit und Verarmung? Ich  bin skeptisch den Hoffnungen gegenüber, die eine kulturelle Befreiung unabhängig vom Politisch-Ökonomischen gehen. Das bedeutet aber nicht, daß nicht schon heute an der kulturellen Front gekämpft werden müßte.

Die Befreiung der Männer kann nur eine Sache der Männer selber sein. Sie müssen selber sehend werden und die Rollenzwänge, die ihnen ihr Verhalten als natürlich oder männlich vorschreiben, zu durchschauen lernen. Daß es in den USA Männergruppen gibt, die nach dem Vorbild der Frauenbewegung Bewußtsein bilden und sich politisieren im Medium persönlicher Erfahrung, daß es neue Lebensstile gibt, die die alte Rollenverteilung radikal verändern, ist ein hoffnungsvolles Zeichen.

Wie kann man einem Kind das unbeirrbare Gefühl der menschlichen Würde übermitteln? Wie kann man den Stolz, ein Mensch zu sein, wahren? Wie kann man machen, daß die Kinder lernen, das Leben zu lieben, so daß sie es lieben, schaffen und schützen werden?

Angesichts dieser Fragen finde ich es ein klein bißchen leichter, Töchter zu erziehen als Söhne. Meine Töchter  werden wahrscheinlich noch ähnliche Erfahrungen machen müssen wie ich. Sie werden -  um ein Beispiel zu geben - als Journalistinnen weiter für die Familienseite schreiben dürfen. Aber diese unmittelbar erfahrene männliche Unterdrückung ist uns produktive Kraft, die uns mit denen verbindet, die weit schlimmere Unterdrückung erfahren und die wie wir auf Befreiung hoffen und an ihr arbeiten.

Die Gefahren, denen mein Sohn ausgesetzt ist, sind schwerer zu. Bekämpfen, weil sie mit gesellschaftlicher Anerkennung, Erfolgserlebnisse und Bestechung einhergehen. Insofern ist es für ihn noch schwerer, ein Mensch zu werden (Dorothee Sölle).

 

Heute werden  die Männer diskriminiert

Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau? Von wegen: Denn nicht die Frauen, sondern die Männer werden bei uns unterdrückt! Diese Behauptung, bei der Feministinnen die Haare zu Berge stehen dürften, stammt nicht von einem Pantoffelhelden, sondern einem Professor:

 Eberhard Hamer. Der Jurist: „Die angebliche Diskriminierung von Frauen besteht rechtlich in

Deutschland überhaupt nicht mehr - nur noch in den Köpfen bestimmter Leute.“

Er  glaubt, folgende Ungerechtigkeiten gegenüber dem „starken Geschlecht“ erkannt zu haben:

  • Frauen werden nach Möglichkeit vor schwerer und gefährlicher Arbeit wie Schichtarbeit geschützt. Auf die Gesundheit der Männer nimmt der Gesetzgeber dagegen weniger Rücksicht.
  • Heute erledigen Männer 40 Prozent der Hausarbeit.
  • Wenn berufstätige Frauen Kinder bekommen, geht das auf Betriebskosten: Schwangerschaftszeit und Stillzeit werden finanziert.
  • Frauen erhalten den gleichen Lohn, obwohl die Männer im Schnitt mehr Arbeit leisten.
  • Frauen sind doppelt so häufig krank wie Männer und verursachen damit doppelte Krankheitskosten. Aber sie zahlen bei den meisten Krankenversicherungen keine höheren Beiträge: Die Männer zahlen also für sie mit.
  • obwohl Frauen durchschnittlich sieben Jahre länger leben als Männer, können sie schon früher in Rente gehen. Das heißt Sie beziehen länger Rente als die Männer, zahlen aber gleiche Rentenbeiträge.

 

 

Orientierungs- und Nachdenksätze für Frauen in Verantwortung und Macht:

1. Gib dir Rechenschaft über die Rechtmäßigkeit der Macht, die du besitzt. Ist es gerechte Macht? Setze sie für das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, also für die „Schwachen“ ein.

2. Sei jederzeit bereit, öffentlich Rechenschaft abzulegen über deine Entscheidungen.

3. „Dienen2 bedeutet nicht Verzicht auf eine eigene Meinung, sondern erfordert profilierte Stellungnahme im Interesse der Schwachen.

4. Prüfe selbstkritisch den Gebrauch äußerer Zeichen der Macht. Vermeide alle Maßnahmen, die Distanz schaffen zwischen den Brüdern und Schwestern und dir (zum Beispiel Benutzung von Titeln, Verwehrung von direktem Zugang, Amtsprivilegien, unangemessene Aufwendungen von Kleidung, Wohnung, Dienstwagen, Unangemessenheit des Gehaltes, Festhalten an hierarchischen Prozeduren).

5. Bemühe dich um „Demut“ in deinem Leben und um Zeichen, an denen andere sie erkennen können.

6. Laß dich nicht bedienen.

7. Suche dir eine Gruppe von Menschen, die dir zur Seite stehen und dir offen sagen, wenn dein Dienen in Herrschen übergeht.

8. Beziehe andere soviel wie möglich in Entscheidungen ein. Sei bereit, Macht zu teilen.

9. Benutze deine Macht, um anderen Frauen auf den Weg zu helfen. Deine Mitarbeiterinnen sollten die Möglichkeit haben, offen ihre Kritik an dir zu äußern (Umkehrbarkeit).

10. Arbeite darauf hin, deine Machtbefugnis zeitlich zu begrenzen. Bereite dich und andere darauf vor, die Macht weiterzugeben.

12. Prüfe dich selbstkritisch, bete und arbeite.

 

Die Bibel von unten: biblische Geschichten aus weiblicher Perspektive

„Die Mädchenbibel“ heißt ein neues Buch, das Erzählungen aus dem Alten und dem Neuen Testament aus der Sicht von Mädchen schildert. Frau Steinkühler hat die Erfahrung gemacht, dass Kinder und Jugendliche sich zwar die eine oder andere biblische Geschichte merken, aber eine große Distanz bleibt, solange es sich um reinen Lernstoff handelt. Ihr geht es darum, die Bibel zugänglicher zu machen. Sie will die Sache nicht platt machen, aber sie entheiligen und besprechbar machen.

Das gelingt am besten über offene Geschichten. Sie hat die Reihenfolge der biblischen Bücher nicht verändert, auch die Haupthandlung bleibt dieselbe. Aber sie hat die Geschichten behutsam geöffnet: Dadurch konnte sie die Figuren reicher ausstatten und ihrer Fantasie freien Lauf lassen.

Sie erzählt aus der Perspektive der namenlosen Mägde, Schwestern oder Töchter. Sie will von außen auf die biblischen Hauptfiguren schauen: Wie gucken Mädchen auf diese Anführer und Ikonen, wie erleben sie den Glauben von Abraham oder Moses oder Jesus? Sie sind am Rande, bekommen die Geschehnisse anders mit, mehr gebrochen.

Klar wird: Die Mädchen müssen sich an den Gott von Abraham und Moses erst gewöhnen. Das darf auch sein. Auch wenn die Erzählungen räumlich und zeitlich entfernt sind von der heutigen Lebenswelt, bekommen Kinder so ein Angebot: So, wie die Mädchen sich wundern und zögern und nachdenken, so könnten sie es vielleicht auch. Da geht es weniger um Kulturgut als um Fragen des Lebens und Glaubens.

Es sind vor allem die unbedeutenden Frauen, die bei zu Wort kommen. Die Autorin will die Sache einmal von unten anschauen, damit man über keine Schwelle mehr gehen muss - was mit dem Neuen Testament und der Botschaft Jesu ja wunderbar übereinstimmt. Das Christentum ist ja eine gebildete Hochreligion, also auch ein Stück weit weg. Dabei hat es ganz anders angefangen.

Das Buch wird von Mädchen in erster Linie für Mädchen erzählt, aber Jungen können sie natürlich genauso lesen, am besten so ab dem Konfirmations- oder Firmungsalter, also etwa ab 14 Jahren.

In der Bibel stehen meistens die Männer im Zentrum. Nur wenige Mädchen und Frauen kommen in der Bibel namentlich vor wie etwa Hagar und Rebekka, Lea und Rahel, Dina und Tamar, Maria und Maria Magdalena. Aber sonst: Ein männlicher Gott, viele männliche Hauptpersonen Aber als die feministische Theologie begann, die biblischen Frauengestalten stärker in den Mittelpunkt zu rücken, da fiel es der Autorin auf: Es müssen doch auch noch andere dagewesen sein, Ungenannte, Mädchen, in all diesen Lebensgeschichten, von denen die Bibel erzählt.

Es werden auch jenseits der historischen Dimension Lebensfragen besprochen: Wie gehe ich um mit Schuld oder Versagen? Wie finde ich Freunde? Wo komme ich her, wo gehe ich hin? Was passiert nach dem Tod? Die Bibel thematisiert die großen Fragen der Menschheit. Das geschieht auf so elementare Weise, dass es unmittelbar berührt und bewegt. Das Ganze schnurrt zusammen auf ein Maß, das ich überschauen kann.

Steinkühler, Martina: Die Mädchenbibel, Gütersloher Verlagshaus, 320 S., ISBN 978-3579-06215-0; 24,00 Euro.

 

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