Orte mit jüdischen Gemeinden

 

Berlin

Wo kann, wo muß eine Geschichte über jüdisches Leben in Berlin beginnen? Heute, da die Gemeinde 12.000 Mitglieder zählt? Mir der ersten urkundlichen Erwähnung vor 700 Jahren? Im Jahr 1933, als 170.000 Juden in der Stadt lebten oder 1945, als es 6.000 waren, die anderen ermordet und vertrieben? Sollte man einen Anfang suchen. der das Vergangene mit der Distanz eines halben Jahrhunderts betrachten will, oder einen, der Mord und Zerstörung vor alles andere stellt?   '

Vielleicht sollte man sich zuallerst auf die Suche nach dem Alltäglichen machen. In der Großen Hamburger Straße in Mitte steht die mehr als 300 Jahre alte „Jüdische Freischule“, die 1993 als Grundschule wieder eröffnet wurde, inzwischen ihre - jüdischen und nichtjüdischen - Schüler bis zum Abitur führt und neben Hebräisch auch jüdische Geschichte und Kultur unterrichtet.

Die drei Teenager, die gerade aus dem Tor kommen, lachen über die Frage, ob es ihnen dort gefalle. „Für eine Schule ist es ziemlich okay. Kleine Klassen, ziemlich nette Lehrer und so“. Ob die Sicherheitsvorkehrungen, die Wachpolizei vor dem Gebäude sie störten? „Das ist ja nichts Neues für uns, wir sind’s gewöhnt“, sagt einer achselzuckend. Hier in Mitte lag vor der Sboah der jüdische Bevölkerungsanteil bei zehn Prozent; inzwischen hat sich wieder ein - wenn auch unauffälligeres - Zentrum jüdischen Lebens entwickelt.

Das „Tabularium“ direkt neben der Schule bietet Literatur vom koscheren Kochbuch bis zur Jiddischen Witzsammlung, CDs mit Klezmer und israelischem Pop und Ritualien für die Feiertage in der Tucholsky-Straße lädt das „Beth Cafe“ der orthodoxen Gemeinde Adass Jisroel zum Besuch; das „KolBo“ in der Auguststraße verkauft koschere Lebensmittel und Weine.

Vor dem Geschäft stehen unschlüssig fünf israelische Touristen. Sie kommen vorn Gelände des ältesten jüdischen Friedhofs in der Großen Hamburger Straße, der 1827 geschlossen und 1943 von der Gestapo zerstört wurde. Sie haben den Gedenkstein für den Philosophen und Aufklärer Moses Mendelssohn besichtigt, die eingeritzten Hakenkreuze auf der hebräischen Seite des Steins bemerkt. Sie suchen jetzt nach dem Weg in die Auguststraße 11-17, wo sich bis 1941 Sozialeinrichtungen von der Jüdischen Jugendhilfe über Frauenbund und Mädchenwohnheim bis zur Arbeiterfürsorge fanden und wo 1941 die Gestapo in den Räumen des ehemaligen Jüdischen Krankenhauses ein Sammellager für alte und kranke Juden einrichtete. Inzwischen sind die sanierungsbedürftigen Gebäude der Jüdischen Gemeinde zurückgegeben und sollen wieder für soziale und kulturelle Zwecke genutzt werden.

Wenn gestern und heute so untrennbar verwoben sind - sollte man dann nicht zuallererst nach den Jungen suchen, die die Vergangenheit nicht ruhen lassen und dennoch etwas ganz Neues schaffen?

Gabriel Heimler ist einer von ihnen. Der 37jährige Künstler ist vor 13 Jahren von Paris nach Berlin gezogen, in das Land, aus dem seine Familie Anfang des 20. Jahrhunderts nach einem Judenpogrom in Lübeck geflohen ist. Er ist der Gründer der Künstler- und Intellektuellengruppe Meshulash, deren provokante, durchdachte Ausstellungen und Projekte einen besonderen Blick verraten.

„Wir wollen jüdische Kultur in Berlin präsent machen und zeigen, daß diese Kultur kein Fremdkörper ist, sondern seit Jahrhunderten ein integraler Bestandteil“, sagt Gabriel Heimler.

Bei einer Ausstellung thematisierten die Künstlerin Roswitha Baumeister und die Journalistin Elisa Klapheck mit einer Installation aus Wohnungstüren und Bildelementen ihre Visionen von Nachbarschaft in Berlin. Der Titel: „Spion und Judasauge“. An anderer Stelle richtete Meshulash einen „Interview-Raum“ ein. Auf bodenlangen Fahnen waren, kunstvoll verwoben, Zitate von jungen und alten Berliner Juden gedruckt.

Eine Stimme sehnt sich dort nach einem jüdischen Leben in Berlin, das „normal ist, einfach da“, und fürchtet doch, da« das „noch ein paar hundert Jahre brauchen wird“. An anderer Stelle heißt es: „Außer meinen Eltern und zwei Tanten habe ich keine Familie mehr (...) Ich habe Tränen der Verzweiflung und der Wut vergossen, aber (...) der Schrecken hinterließ keine Spuren. Trotz aller meiner Anstrengungen trug ich nicht eigentlich Trauer um meine vernichtete Familie, sondern schmückte mich mit ihr“.

Weiter unten folgt der Wunsch, daß die jüdische Identität „mich nicht mehr zum Nutznießer des Leidens oder zum verbrieften Inhaber der absoluten Gerechtigkeit macht. Ich möchte anderes im Judentum sehen als eine pathetische, demonstrative und leere Affirmation“.

„Wir jungen Wahlberliner“, sagt Gabriel Heimler, „wollen eine europäische Renaissance kosmopolitischen, jüdischen Lebens. Wir wollen nicht zu Opfern gestempelt werden, die man beschämt und mitleidig betrachtet. Und wir finden, daß man der Shoah auch gedenken kann, ohne dabei in Lähmung zu verfallen“.

Auch für die Journalistin und Stadtführerin Iris Weiss ist Erinnern nicht gleich Erstarren. Auf ihren Rundgängen erklärt sie Berlinern und Touristen Rituale Strömungen, Tendenzen und läßt jüdisch Geschichte lebendig werden. „Herkömmliche Gedenkfeiern haben mir immer Unbehagen bereitet“, sagt sie.

Sie führt ihre Gäste lieber zu den unprätentiösen Erinnerungsorten. Im Schöneberger Bayerischen Viertel zeigt sie ihnen die Schilder, die von Laternen hängen und die systematische Zerstörung jüdischen Lebens verdeutlichen. 1938: „Jüdische Ärzte dürfen nicht mehr praktizieren“ 1940: „Brot und Lebensmittel dürfen Juden nur nachmittags von 4-5 Uhr einkaufen“. Vor der Deportation 1941: „Nun ist es soweit, morgen muß ich fort, das trifft mich natürlich. Ich werde dir schreiben“.

Sie zeigt ihnen die Straßenecke, wo lange der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki wohnte und auch, wo die Fotografin Gisle Freund zu Hause war. Sie bringt sie zum Jüdischen Gemeindezentrum in der Fasanenstraße nahe des Kurfürstendamms und erzählt von Heinz Galinski. Sie erklärt anhand der Speisekarte des ältesten koscheren Restaurants Berlins „Arche Noah“ im ersten Stock des Gemeindehauses die Speisegesetze Kaschrut. Und den Begriff „koscher-style“, den Lokale vorn alteingesessenen „Oren“ an der Oranienburger Straße bis zum „Liebermanns“ im neueröffneten Jüdischen Museum für ihre jüdisch und israelisch orientierte Küche benutzen.

Sie führt sie auf den Koppenplatz in Mitte, wo zwischen ordentlichen Blumenrabatten und rosa Bänken ein Tisch aus Metall und zwei Eßzimmerstühle aufgebaut sind; einer der Stühle ist umgefallen, als sei jemand hastig aufgestanden. Ein Gedicht von Nelly Sachs umläuft die Installation; es beginnt mit den Worten: „O die Wohnungen des Todes“. Iris Weiss zeigt ihren Gästen auch Orte, die wenige Menschen kennen, wie den Hinterhof des Hauses Koppenplatz 6. Auf einer Wand zeichnet ein meterhohes Diagramm das Schicksal der früheren jüdischen Hauseigentümer nach: Gabriele Goldschmidt, geboren 1922 in Berlin, gestorben 1942 in Auschwitz, heißt der letzte Eintrag.

Auch Iris Weiss wehrt sich wie Gabriel Heimler gegen eine Instrumentalisierung des Judentums – egal von welcher Seite. „Es gibt Touristen, die sich für jüdisches Leben in Berlin interessieren und doch nur damit umgehen können, wenn es exotisch oder lange vergangen ist. Was uns heute bewegt, interessiert sie nicht sehr“.

 Muß man also ganz anders beginnen? Und nach dem fahnden, was Menschen sehen wollen, was Nicht-Juden in den Präsentationen jüdischer Kultur suchen? „Die Resonanz ist immer dann am größten, wenn Klischees bedient werden“, sagt Iris Weiss. Der Mythos Scheunenviertel zeigt das: In der Gegend rund um den Rosa-Luxemburg Platz. siedelten sich um 1900 viele ostjüdische Einwanderer an. „Sie bildeten gemeinsam mit der hauptstädtischen Halbwelt jene scheinbar unheimliche urbane Melange, die dem gemeinen Restberliner je nach politischer Ausrichtung oder Gemütslage die nächsten fünfzig Jahre als Beißring oder romantische Projektionsfläche diente“, hat es der Kunsthistoriker André Meier in seiner „Schmähschrift gegen den Mythos Scheunenviertel“ treffend beschrieben.

Romantische Projektionsfläche st die Gegend noch heute: Touristen hören mit verzücktem Schaudern phantasievollen Stadtfühlern zu, die eine vernichte, fremdartige Welt voller Ostjuden mit Schläfenlocken und Kippa aufleben lassen. „Oft wird das Scheunen-viertel auch kurzerhand auf die Straßen um die Oranienburger Straße ausgedehnt, weil sich hier jüdisches Leben so einfach illustrieren läßt“, sagt Iris Weiß. Für diese Form der sinnentleerten Show hat sie einen plastischen Be griff gefunden: „Jewish Disneyland“.

Trittbrettfahrer gibt es viele: Zwar bieten nur drei Restaurants der Gegend tatsächlich jüdische Speisen, doch mit Namen wie „Mendelssohn werben auch solche, die Schweinefleisch mit Rahmgemüse servieren.

Der Übergang zwischen Jewish Disneyland und seriösem Angebot ist fließend. So lädt zum Beispiel das beliebte „Hackesche Hoftheater“ einerseits zu gelungenen Abenden mit Werken der deutsch-jüdischen Lyrikerin Mascha Kaleko, jiddischem Liedtheater oder Stücken über Exilerfahrungen. Anderseits wirbt es mit dem Slogan „Berlins Adresse für jiddische Kultur am Historischen Ort“ und vermittelt beim Programm „Tanz in den Garten Eden“ den Eindruck, daß das Publikum an einer jüdischen Hochzeit teilhabe - obwohl die Theaterleitung und die Akteure Nicht-Juden sind. Das entwertet zwar nicht die künstlerische Leistung. Aber es führt zu der Frage, ob die Inszenierung jüdischen Lebens durch Nicht-Juden für Nicht-Juden mehr sein kann als eben das – eine Inszenierung.

Der stellvertretende Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Moshe Waks, ist sich des Problems Jewish Disneyland bewußt. „Als Gemeinde können wir aber nicht beeinflussen, wer sich zum Beispiel als privater Stadtführer durch das Jüdische Berlin“ anbietet oder Klezmer spielt. Wir wollen das auch gar nicht. Sollen wir etwa Koscher-Stempel für touristische Angebote verteilen? Was wir beitragen können, ist Offenheit, der direkte Zugang, zur jüdischen Gemeinde. Wer sich bei uns kompetent informieren will, kann das immer tun“.

Mit Veranstaltungen wie den jährlich im November stattfindenden Jüdischen Kulturtagen will die Gemeinde außerdem die ansässige Kreativszene stärken. „Das hat nachhaltigen Wert“, so Moste Waks. Wer sucht, findet heute eine Reihe interessanter Events, die von der jüdischen Gemeinde teils veranstaltet, teils gefördert werden. Die Bandbreite reicht vom Filmfestival im Juni über Lesungen, Konzerte und Vorträge bis zum sommerlichen Straßenfest in Mitte.

Im jüdischen Theater „Barnah“ am Hohenzollerndamm bietet der Intendant Dan Lahav unter dem Titel „Shabbat Shalom - Freitagabend in einer jüdischen Familie“` ein Happening, das jüdische Rituale und Gebräuche näherbringen und mit Klezmermusik, Erzählungen und jüdischer Küche unterhalten will. Daß außer ihm alle Ensemblemitglieder Nicht-Juden sind, hält er für unproblematisch: „Um einen Betrunkenen zu spielen, muß man auch nicht betrunken sein. Wichtig ist allerdings, daß da einer ist, der dem Erlebnis Seele gibt, der in den Ritualen und Gebräuchen zu Hause ist. Das kann ich als Intendant gut leisten!“

Vor einem haben Jahr hat Dan Lahav seine kleine Bühne eröffnet, das erste jüdische Theater in Berlin seit 60 Jahren. Der Etat ist klein, manche Aufführung entsprechend schlicht. Auf dem Programm stehen neben jungen israelischen Stücken auch traditionelle ostrussische Werke und szenische Lesungen zum Leben jüdischer Künstler und Schriftsteller. „Ich will eine offene und neugierige Auseinandersetzung mit dem Judentum ermöglichen und anknüpfen an die starken Wurzeln jüdischer Kultur und jüdischen Alltags, die es in Berlin gegeben hat“, sagt Dan Lahav.

Sollte man sich vielleicht, um das Heute zu verstehen, zuallererst auf die Suche nach den Orten machen, die von diesen Wurzeln erzählen. Von der Zeit, als in Berlin 170.000 Juden ihren Alltag und ihren Glauben lebten?

Dafür eignet sich, auf stille Art, der 174 Jahre alte Friedhof an der Schönhauser Allee. Über 20.000 Tote liegen hier im Schatten großer Bäume, unter einem Teppich aus prachtvollen, teils verwitterten und umgestürzten Grabsteinen, wuchernden Büschen und Farnen. Eine von ihnen ist Jenny Hirsch, 1829-1902. Sie brachte die Zeitschriften „Der Frauenanwalt“ heraus und die „Deutsche Hausfrauenzeitung“ und gilt als Vorreiter in der Frauenemanzipation. Auf dem Gräberfeld verteilt liegen auch knapp 30 Mitglieder der Berliner Familie Liebermann, deren berühmtester Sohn der Maler Max Liebermann ist. Sein Elternhaus stand am Pariser Plan direkt neben dem Brandenburger Tor (oder, wie die Berliner sagten: „Wenn man reinkommt, gleich links“), dort, wo heute ein modernisierter Nachbau namens Liebermann-Haus Besucher anzieht.

An der Friedhofsmauer lehnt die pompöse Grabkolonnade der Familie Gerson. Der Modemacher Hermann Gerson, 1813-1861, starb kurz nachdem er den Krönungsmantel Wilhelms II. fertiggestellt hatte. Es die Legende, daß der Alte Fritz vom Himmel aus zuschaute und sich beschwerte, daß ihm selbst zu Lebzeiten kein solcher Prachtmantel angefertigt worden war, und daß Gerson deshalb schnellstmöglich in den Himmel mußte.

Auch an der Synagoge in der Oranienburger Straße kann man sich für einen Moment lang zurückversetzen lassen in eine intaktere Zeit. Kann die goldverzierte Kuppel und die schöne Ziegelfassade des Gotteshauses bestaunen, das 1866 eingeweiht und ein Menschenleben lang angstfrei von Gläubigen besucht wurde, im November 1938 von den Nazis geschändet, im Krieg schwer beschädigt und erst 1995 restauriert wiedereröffnet Man muß allerdings die Polizeiwagen vor dem Einging ignorieren, um das Gefühl der Selbstverständlichkeit beizubehalten, das die Gründer der Synagoge gehabt haben müssen, die sie - erstmals in Berlin – sich nicht im Hinterhof versteckten, sondern direkt an die Straße bauten. Und man darf nicht zur Rückseite des Gebäudes laufen, einer Glasfassade, die die Spuren der Zerstörung nicht verstecken will. Auf dem Boden ist mit Steinen die frühere Außenwand markiert: Die Synagoge war ursprünglich dreimal so groß. Heute finden im Gebetsraum im 1. Stock 80 Menschen Platz, früher versammelten sich im Hauptraum des Gotteshauses bis zu 3.200 Gläubige. Müßte man vor allem anderen nach denen suchen, die sich an diese Zeiten noch erinnern können?

Im Erdgeschoß des Jüdischen Altenheims in Wilmersdorf liegt das Büro der Heileiter, einem herzlichen, energiegeladenen Ehepaar. Beide wollen nicht namentlich genannt werden, das sei „unnötige Publicity“. Das Telefon klingelt ununterbrochen, die Sekretärin bringt immer neue Papiere zum Unterzeichnen, alte Damen stehen ratsuchend auf der Türschwelle. Zwischendurch erzählen die Heimleiter von den Gästen, 150 etwa sind es, manche Paare alles Juden, aus der ganzen Welt, viele zurückgekehrt in ihre Heimatstadt.

Und sie erzählen, daß sie selbst früher einen Laden in Berlin-Kreuzberg führten, bis ihnen das zu-viel wurde mit den Kunden, die sich über andere jüdische Läden im Viertel beschwerten. „Wenn einer akzentfrei spricht wie ich“, sagt der Heimleiter, „dann denke doch keiner, daß er Jude ist. Viele glauben, wir haben alle eine Hakennase im Gesicht und reden gebrochen“. „Ja“, sagt seine Frau, die anderen jüdischen Ladenbesitzer hatten es schwerer gehabt, die, die aus dem Osten eingewandert waren und denen man es anhöre.

Und trotzdem, irgendwann Anfang der 90er hätten auch sie es mit der Angst bekommen. Ihr Mann meint leise: „Einmal sagt ein Kunde zu mir: Ick koof nich beim Juden, wissen Se“. Ich frage: „Woher wollen Sie denn wissen, daß Ich keiner hin?“ Und er antwortete: „Aber Sie doch nich. Sie doch nich“. Der Heimleiter sagt noch, daß seine Generation, die der Kinder der Überlebenden, von Wurzellosigkeit geplagt sei. „Unsere Väter haben gesagt: Ich bin Berliner, oder: Ich bin Berliner Jude. Glauben Sie, so ein Gefühl kennen wir noch? Nee. Wir sitzen immer auf gepackten Koffern, im Kopf“.

Zwei Stockwerke höher wohnt eine Frau, die ihren Namen ebenfalls nicht veröffentlicht sehen möchte. Vor 17 Jahren hat sie ihre Koffer in Brasilien gepackt und zurückgeschleppt. Nach Berlin, wo sie als Jugendliche Anfang 1930 Operetten besuchte, Theaterstücke, Lesungen – „dieses Kulturleben, das war wunderbar“. Wo sie durch den Westen der Stadt spazierte, der immer „so schön grün gewesen ist“. Sao Paulo, die Stadt, in die sie dank einer vorausblickende Mutter schon 1936 flüchtete, in der sie sich in einen anderen Exilanten verliebte, heiratete, Kinder großzog, war weniger grün. „Eine Steinwüste“, sage die 82Jährige. Dennoch hat sie Sao Paulo geliebt, die Lebendigkeit seiner Bewohner und Straßen, das Essen, die Sprache, ist zögernd zurückgekehrt nach Deutschland. „Hier ist die medizinische Versorgung besser. Und günstiger“, sagt sie. „Das war eigentlich der Hauptgrund“. Ob sie das Gefühl habe, nach Hause gekommen zu sein? „Eigentlich nicht“, sagt die alte Dame nachdenklich. Und dann, als müsse sie jede Silbe einzeln prüfen: „Heimat - das Wort war bei uns nicht... wichtig. Nicht... beliebt“.

Eine andere Heimbewohnerin kann ihr Geburtshaus im Prenzlauer Berg beschreiben, als hätte sie es gestern verlassen. Geflüchtet nach Israel, ist sie in den 70er Jahren zurückgekehrt, „aus beruflichen Gründen“. Es sei ihr nicht leicht gefallen, wieder in Deutschland zu leben, sagt sie, aber „letztlich hatte ich mit den Deutschen nur sehr wenig zu tun in all den Jahren“.

Zurück im Büro im Erdgeschoß. Der Heimleiter schaut von seinem Papierstapel auf und sagt: „Das Schlimmste heute sind nicht mal die Neonazis. Aber die Intellektuellen, auch die linken Intellektuellen in Deutschland, die den Antisemitismus weitertragen, die sind gefährlich. Und davon gibt es viel zu viele!“ Sollte man jetzt von dem Spaziergänger erzählen, der sich neulich mit Blick auf die großräumigen Straßensperren vor der Neuen Synagoge darüber beschwerte, daß „die Juden sich jetzt ja wieder abschotten, wie immer, die wollen einfach gar keinen Kontakt“? Und von der Passantin, die eifrig nickte und sagt: „Denen gehört ja so wieso längst wieder halb Berlin“? Beim Abschied sagt der Heimleiter noch: „Schreiben Sie besser nicht, was wir gerade besprochen haben. Damit kratzen Sie zu sehr an der zarten deutschen Volksseele. Das bringt Ihnen Ärger und mir auch. Mir macht das nichts, aber Sie verdienen sich damit keine Lorbeeren. Nicht in Deutschland“.

Vielleicht ist ja ganz egal, wo diese Geschichte beginnt. Wichtig ist nur, daß sie kein Ende hat.

 

Synagoge an der Berliner Rykestraße

Wem der Davidstern am Tor nicht auffällt, bemerkt sie gar nicht. Deutschlands größte Synagoge legt versteckt in einem Hinterhof an der Rykestraße im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg. Von den Café-Besuchern auf den breiten Bürgersteigen des sanierten Altbauviertels wissen nur wenige von dem jüdischen Gotteshaus, dem einzigen in der Hauptstadt, das in der Pogromnacht vom 9. November 1938 nicht niederbrannte.

Morgen feiert die Gemeinde den 100. Jahrestag der Einweihung 1904. Für Streit sorgte dabei eine Einladung an den Kunstsammler Friedrich Christian Flick, dessen Großvater Rüstungslieferant Hitlers war.

Hinter dem gußeisernen Tor führt eine enge Durchfahrt in den Hof - und zu einem beeindruckenden Anblick: Hoch reckt sich das spitze Portal des Gotteshauses empor, es erstreckt sich in seiner vollen Breite über 60 Meter. Rund 2.000 Menschen haben darin Platz. Der neo-romanische Backsteinbau mit seinen runden Fensterbögen, der an brandenburgische Kirchen erinnert, strahlt große Ruhe aus. Das war nicht immer so.

„Die Synagoge Rykestraße hat die Stürme der Zeit überdauert“, sagt Albert Meyer, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde von Berlin. Am 9. November 1938 wurde das Gotteshaus zwar angesteckt, aber nicht niedergebrannt, wie sich Gemeindemitglied Dov Laor erinnert: „Das Polizeirevier war im Nachbarhaus und der Kommandant hat dafür gesorgt, daß die Feuerwehr schnellstens kommt, da Gefahr bestand, daß die Häuser rundherum auch angesteckt wurden“.

Zu DDR-Zeiten als „Friedenstempel“ restauriert, ist das Bauwerk heute ebenso sehenswert wie die Neue Synagoge an der Oranienburger Straße, deren goldene Kuppel zu den Wahrzeichen der Hauptstadt gehört. Die Synagoge Rykestraße ist schlichter. Durch die Fenster im hohen Mittelschiff fällt viel Licht, bauchige Säulen vermitteln Sicherheit. Warme Farben herrschen vor. In der Kuppel über der Thorawand funkeln goldene Sterne auf einem tiefblauen Nachthimmel.

„Wir gehen da nicht hinein“, sagt Alexander, der im Hof mit zwei Freunden aus Moldawien und der Ukraine Frisbee spielt. Auf dem Kopf tragen die jungen Männer in Jeans die Kippa. Sie gehören zu den vielen Zuwanderern in der Berliner Gemeinde. Im Vorderhaus studieren sie Theologie. „Ich bin orthodox, aus unserer Sicht ist diese Synagoge nicht ganz koscher“, erklärt Alexander seine Ablehnung. Der Ritus in der Rykestraße ist nicht einzuordnen, war nie ganz orthodox und nie völlig liberal. „Typisch Rykestraße“ nennt ihn Hermann Simon, der Direktor der Berliner Stiftung „Centrum Judaicum“.

Jahrzehntelang reichte für Gottesdienste der Vorraum der gewaltigen Synagoge. Zu DDR-Zeiten hatte die Ost-Berliner Gemeinde gerade einmal 200 Mitglieder, im Westen der Stadt lebten rund 6.000 Juden. Seit dem Mauerfall erlebt das jüdische Leben an der Spree aber eine Renaissance. Die Zuwanderer aus Osteuropa haben die Zahl der Gläubigen auf 12.000 verdoppelt - vor 1933 waren es 170.000.

Wallende Bärte und lange schwarze Kaftane sind im Bezirk Prenzlauer Berg keine Seltenheit mehr. In den Straßen nördlich des Alexanderplatzes gibt es Cafés, die koschere Weine ausschenken, jüdische Lebensmittel- und Buchläden haben eröffnet. Am jüdischen Gymnasium haben schon vier Jahrgänge das Abitur abgelegt.

Noch immer liegt über dem Zusammenleben mit Nichtjuden aber der Schatten der NS-Zeit. Als Albert Meyer den Kunstsammler Friedrich Christian Flick zur Jubiläumsfeier am Sonntag privat einlud, gab es laute Proteste gegen den Besuch. Als erste Gäste ankündigten, wegen Flick nicht zu kommen, sagte dieser wieder ab.

 

 

Eisenach

Auszüge aus dem Nachrichtenblatt der Jüdischen Gemeinde Groß-Berlin 1970/71, zusammengestellt von Fred Heilbrunn, New York, früher Eisenach, und von Gerhard Theis, Eisenach. Bestandteil des Stadtarchivs Eisenach:

Wenn man unter der „Judengasse“ oder „Judengasse“ im Allgemeinen doch ein Ghetto versteht, so lag sie hier in Eisenach mitten im Zentrum der 1180 gebildeten Stadt. Zum ersten Mal werden um 1235 herum Juden in Eisenach erwähnt, und zwar E. Jechiel ben Jaakow, der Verfasser synagogaler Poesie.

Ein großer Brand im Jahr 1343 zerstörte auch die „Judengasse“. Sofort wurden den Juden Quartiere und eine Synagoge in der Löbergasse zur Verfügung gestellt. Dann kam das Jahr 1349, das Jahr des „Schwarzen Todes“, der Pest. Auch die in Eisenach lebenden Juden wurden dafür verantwortlich gemacht und vertrieben; kamen nach einigen Jahren aber zurück und wurden dann endgültig 1458 vertrieben.

In der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts wohnten in Eisenach zwei jüdische Familien: Löser Herz, der als „Schutzjude“ erstmals im Jahre 1753 und dann jährlich 50 Taler Schutzgeld an die „Fürstliche Rentkammer“ zu zahlen hatte ... Michael Rothschild, Faktor beim damaligen Herzog Karl-August in Weimar ... Er kam aus Stadtlengsfeld und war ein Nachkomme des Landesrabbiners Mendel Rothschild.

Im Jahre 1858 kam dann die Freizügigkeit. Im Jahr 1862 beschließen sechzehn Familien und zwei Witwen, eine Religionsgemeinschaft zu gründen, in deren Vordergrund Herr Samuel Bachhaus steht. Es sind 72 Seelen, die am 11. Dezember 1867 die „Israelitische Gemeinde Eisenach“ gründen.

Auf dem Friedhof werden 0,335 Acker als „Guter Ort“ für 132 Taler und 25 Silbergroschen gekauft. - Im Hinterhaus Jakobsplan 12 wird ein Betsaal eingerichtet, der aber mit der Zeit zu klein wird. So wurden bis zu einer Lösung an den Hohen Jomim Tauwim die Gottesdienste im „Hotel zum Löwen“ abgehalten, wo auch die „Chasenes“, die Hochzeiten, stattfanden. Am 24. August 1883 wurde in einer Gemeindeversammlung beschlossen, eine Synagoge zu bauen.

Den Auftrag, die Synagoge zu bauen, erhielt der Eisenacher Architekt Hahn Am 5. Januar 1885 fand dann die feierliche Einweihung statt. Staatliche und Städtische Behörden waren vertreten. Rabbiner Dr. Salzer hielt die Festpredigt. Die Feier wurde geschlossen, indem der neugegründete Synagogenchor „Die Ehre Gottes“ von Ludwig van Beethoven („Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre“) sang.

Die Gemeinde entwickelte sich kontinuierlich. So war die Eisenacher Gemeinde 1914 eine blühende, vorwärtsstrebende Gemeinschaft, wobei auch das sehr gute Verhältnis zu den christlichen Mitmenschen nicht unerwähnt bleiben darf.

Als dann der erste Weltkrieg ausbrach, bestand die Eisenacher Kehilla aus 400 Seelen. 80 Männer wurden zu den Fahnen gerufen, von denen 23 nicht wieder zurückkehrten...

Die letzte Phase der Eisenacher Juden (während des Nationalsozialismus) war ein heroisches Aushalten, ein Hoffen, noch „davon“ zu kommen, ein Hoffen, daß dieser gräßliche Spuk bald vorüber sein möchte. Nun, wie überall, wo die Nazis waren, so war es auch in unserem lieben Eisenach. Unsere Schwestern und Brüder wurden auch hier zusammengetrieben und in die Todeslager der braunen Bestien verschleppt, um vergast, erschossen, verbrannt, gefoltert und zu Tode gequält zu werden. Sie wurden meist hier im großen Garten der Villa Klebe (Goethestraße - Ecke Schillerstraße) zusammengefaßt und von da aus zum Eisenacher Bahnhof transportiert, um mit „unbekanntem Ziel“ (heute kennen wir ja diese „unbekannten Ziele“) „ausgesiedelt“ zu werden.

Wie viele von ihnen „es“ überstanden haben, läßt sich ganz schnell aufzählen. Manche konnten auch noch rechtzeitig genug emigrieren. Eine Aufstellung derjenigen „alten Eisenächer“, die noch am Leben geblieben sind, ist in unserem Besitz, Keiner von ihnen ist mehr in seiner Heimatstadt Eisenach. In alle Winde sind sie zerstreut.

 

Erinnerungen an den 9. November 1938 in Eisenach:

Schwester Anni erlebte 1938 die „Reichskristallnacht“ in Eisenach. Sie erzählte mir nicht nur davon, sondern berichtete aus ihrem Erleben in der Zeit des Dritten Reiches überhaupt. Dies habe ich im Folgenden versucht festzuhalten.

„Als Kind erlebte ich den Zusammenbruch der Weimarer Republik: Kaum eines der Kinder aus meiner Schulklasse hatte einen Vater, der nicht arbeitslos war, viele hatten nicht einmal ein Schulbrot - ich hatte eines, denn mein Vater war nicht arbeitslos. Nein, es waren keine guten Zeiten. Die Eisenacher Sozialdemokraten und die Kommunisten demonstrierten, auch die ‚Braunen’ sah man damals schon. Bei einer der Demonstrationen hörte ich die Frauen vorn Eisenacher Stieg-Viertel rufen: ‚Wir wolln Brut!` Ich fragte meine Mutter, was das sei: Brot! erfuhr ich. Mir kamen diese demonstrierenden Frauen damals merkwürdig vor, irgendwie empfand ich das als brutal - sie waren so anders, doch das mußte wohl so sein bei den Umständen, unter denen sie lebten.

Meine Mutter entstammt einem Ort nahe Herleshausen, in dem es viele Juden gab. Diese warnten schon sehr bald vor Hitler: Dieser Mann ist gefährlich, wenn er an die Macht kommt, werden für uns schlimme Zeiten anbrechen. - Wie kommt ihr darauf, wollte meine Mutter wissen. - Nun, wir haben ‚Mein Kampf’ gelesen. Mir war eigentlich nie so ganz klar, woher meine Mutter, die politisch im Großen und Ganzen nicht besonders interessiert oder engagiert war, ihre kritische Einstellung zur NSDAP hatte. Nach dem 30. Januar 1933 sagte sie zu mir: Es werden keine guten Zeiten kommen, mein Kind. Ich durfte nicht in den BDM, meine Schwestern auch nicht, nur bei meinem Bruder gelang es Mutter nicht, den Eintritt in die HJ zu verhindern.

Wir hatten einen jüdischen Hausarzt, und in Eisenach gab es viele jüdische Geschäfte. Einmal war ich mit meiner Mutter unterwegs. Sie wollte in einem jüdischen Geschäft irgendetwas kaufen. Ein SA-Mann versperrte uns des Weg: Sie werden doch wohl nicht bei einem Judenschwein einkaufen wollen! Meine Mutter erwiderte: Machen Sie bitte den Weg frei - es ist meine Sache, bei wem ich einkaufe! - So gingen wir in das Geschäft - es war wohl ein ‚kleiner’ Nazi ...

Hitler tauchte im entscheidenden Moment auf - in der Flaute nach der Inflation und bei der immensen Arbeitslosigkeit versprach .er Brot und Arbeit. Und wirklich, die Arbeitslosen kamen weg von der Straße. Das war wichtig für diese Menschen, sie verehrten Hitler demzufolge. Wer konnte ahnen, inwieweit all das nur Mittel zum Zweck sein sollte?

Ich selbst habe bis 1941 in Eisenach gelebt. Eine Zeit lang sah ich Abend für Abend einen alten Juden mit einem kleinen Mädchen spazierengehen, im Dunkeln. Ich wußte nicht, wo sie wohnten, sah nur den gelben Stern, sah nur ihre Gesichter - gezeichnet von Leiden und Angst, Solche Gesichter sah man viel in dieser Zeit. Die ‚Kristallnacht' habe ich miterlebt und erinnere mich noch gut daran. Am 9.11.38 sahen wir den ganzen Tag viele SA-Leute und fragten uns, was sie denn diesmal vorhätten. Wir sollten es noch sehen. Noch heute klingt mir das Klirren der Schaufensterscheiben in den Ohren.

Ich bin in der Karlstraße gewesen, durch die damals noch die Straßenbahn fuhr und in der sich viele jüdische Geschäfte befanden. Mit brutaler Gewalt wurden Schaufensterscheiben zerschlagen, die Waren aus den Auslagen gezerrt und auf die Straße geworfen; Juden zog man aus den Häusern und verprügelte sie. Ich bin dann gegangen, weil ich Angst hatte und weil ich’s auch nicht mehr mitansehen konnte - all diese Gewalt. - Plötzlich brannte es. Die Synagoge brannte. Eine als Antifaschistin bekannte Ärztin, die in der Nähe wohnte, rief bei der Feuerwehr an: Die Synagoge brennt! Kommen Sie schnell! - Sie bekam eine Antwort in der Art: So, die Synagoge brennt? Dann lassen Sie sie doch brennen!

Bevor die Synagoge in Brand gesteckt worden war, schändete man sie unter HJ-Beteiligung: Kunst­gegenstände, Gerätschaften usw. wurden in die Hörsel geworfen. Ich war erschüttert darüber, wer sich alles an dieser Schändung beteiligte. Die Häuser um die Synagoge erhielten Feuerschutz, während die Synagoge abbrannte - sie stand noch tagelang als schwelende Ruine. Immer wieder, wenn ich in späteren Zeiten durch die Karlstraße gegangen bin, war mir die Nacht vom 9./10. November 1938 gegenwärtig. Ich sehe die Straße noch heute vor mir, seidene Kissen auf den Straßenbahnschienen und unzählige Glassplitter.

Es gab in Eisenach sehr viele Juden. Was nach 1941 aus ihnen geworden ist, als es ganz schlimm wurde, weiß ich nicht ... Übrigens gibt es in Eisenach zwei jüdische Friedhöfe.

Wissen Sie, es war damals nicht so, daß keiner etwas gemerkt hätte und alle blindlings mitgemacht haben. Von den Emporkömmlingen, die es zu allen Zeiten gab und gibt, abgesehen - es gab viele, die sahen, was geschah. Nicht so viele, die zum Martyrium bereit waren, aber Gott sei Dank, es gab auch die. Angst regierte, man mußte aufpassen auf jedes Wort, was man sagte. Ich habe das selbst erlebt im Pößnecker Lazarett, wo ich ab 1941 gearbeitet habe. Es war 1945. Im Radio hatten wir gehört, daß die Amerikaner nicht mehr weit seien. Ich sagte: Dann werden sie ja vielleicht bis Ostern hier sein. Daraufhin wurde ein Soldat zornig, es gelang anderen mit Mühe, ihn zur Ruhe zu bringen und ihn davon abzuhalten, mich anzuzeigen.

Vieles, was damals geschah, wußten wir - wußte ich - wirklich nicht. Vor allem, was in den Konzentrationslagern vor sich ging. Einmal, als eine Gruppe Menschen abtransportiert werden sollte, habe ich gefragt. Es gehörte einiger Mut dazu, denn oft bekam man zur Antwort: Halt die Schnauze - oder so. In dem Fall bekam ich aber eine Antwort: Ins Konzentrationslager - zur Umerziehung. - Ich ging weiter, ohne mir unter Umerziehung auch nur im Entferntesten etwas vorstellen zu können. Was wirklich dort passierte, erfuhr ich erst 1945. Wer hätte das ahnen, sich all diese furchtbaren Grausamkeiten vorstellen können? Vielleicht war ich damals zu jung, um manches zu durchschauen. Ich bin ja auch kaum aus dem Lazarett herausgekommen.

Als nach Kriegsende in unserem Lazarett ehemalige Fremdarbeiter aus besetzten Ländern untergebracht wurden, redete ein amerikanischer Offizier sehr forsch mit mir und forderte mich auf, alle Insassen des Lazaretts - gleich welcher Nation sie angehörten, gut zu versorgen. Ich sagte: Das haben wir schon immer getan, so gut es möglich war und ist. Daraufhin wurde er sehr ungehalten, was ich zunächst gar nicht verstanden habe. Ich hatte nicht gelogen, so gut es ging, haben wir unsere Patienten versorgt. Nachdem ich erfahren hatte, was in Buchenwald und in anderen Konzentrationslagern geschehen war, verstand ich, was in dem amerikanischen Offizier vorgegangen sein mußte bei meiner Antwort. Ich hätte mich am liebsten nachträglich bei ihm entschuldigt.

 

Auch die Kirche spielte eine unrühmliche Rolle, besonders Thüringen war ja eine Hochburg der Deutschen Christen. Im Konfirmandenunterricht hörte man von Bibel und Bekenntnis, kein Mensch kritisierte die Behandlung der Juden, schließlich war ja selbst das Alte Testament verpönt. Ich hatte bei einem Pfarrer der Bekennenden Kirche einen sehr guten Konfirmandenunterricht, aber von dem Unrecht, das um uns her geschah, hörte man nichts. Auch Herr Pfarrer Mitzenheim war ein Pfarrer der Bekennenden Kirche: Bei einer Mai-Demonstration am Sonntag war nichts abgesprochen worden. Gerade, als der Herr Kreisleiter seine Rede beginnen wollte, läuteten die Glocken. Daraufhin wurde jemand zur Kirche geschickt, daß das Geläut verstummen möge. Dieser Mensch landete schließlich bei Herrn Mitzenheim. Der sagte: Die Glocken läuten weiter, hier ist ein anderer als der Herr Kreisleiter Herr im Haus. Außer, daß der Küster nicht in die NS-Partei eintreten durfte, hatte die Sache meines Wissens nach keine weiteren Folgen.

Später, als ich in Pößneck war, konnte man nicht einmal mehr in den Gottesdienst gehen, auch da hing die NS-Fahne über dem Altar. Zur Konfirmation gab es keine Bibelsprüche, sondern Sprüche wahrhaft deutscher Dichter, Sprüche von Arndt u.v.a. Nach einem Konfirmationsgottesdienst habe ich versucht, den Pfarrer anzusprechen. Nun, ich war jung und wußte nicht recht wie. So habe ich ihn nach einer Bibel gefragt: Ich brauche mal eine Bibel, bitte! - Wozu brauchen Sie eine Bibel? - Zum Nachlesen, ich denke, so etwas ist bei Christen nicht unüblich? - Wir, wir brauchen keine Bibel. Wir haben Worte deutscher Frömmigkeit! bekam ich zur Antwort.

Noch eine andere Sache fällt mir ein, wo Sie das Stichwort ‚Nürnberger Gesetze’ sagen. Natürlich mußten wir all diese Dinge lernen. Ich erinnere mich noch an eine Prüfungsfrage, die mir gestellt wurde. - Eine schöne, musikalische Deutsche verliebt sich in einen Juden - sie liebt ihn wie sonst nichts auf der Welt. Darf sie ihn heiraten und lieben? - Ich antwortete: Nach den heute geltenden Gesetzen darf sie es nicht. - Daraufhin reagierte der Fragesteller erbost: Wie kommen Sie dazu, von ‚heute’ zu reden? Diese Gesetze sind e w i g !

Ja, ewig, das ewige deutsche Reich ... Solche Dinge vergißt man nicht. Ich kenne einige Leute, die wie ich die Nazizeit miterlebt haben - viele schalten den Fernseher ab, wenn Filme oder Berichte aus dieser Zeit kommen. Sie wollen nichts mehr davon hören und wissen“.

Mich hat das damals Erlebte nie losgelassen, ich las und lese darüber, was ich lesen kann. Ich meine, daß vieles aufgearbeitet werden muß. Aber wissen Sie, fertig - fertig wird man damit nie."

Das kann ich nicht verstehen. Übrigens verstehe ich noch etwas nicht - die neonazistischen Bewegungen, von denen man dann und wann hört, wie gerade jetzt wieder im Zusammenhang mit dem Tod von Rudolf Heß. Warum schließen sich gerade Jugendliche solchen Bewegungen an?

 

Augenzeugenbericht:

Im Jahr 1938 wohnte ich in der Goethestraße 9 und war Zeuge der Zerstörung der Synagoge. Die Synagoge lag in der Nähe und war nur durch den Garten und Mühlgraben getrennt. Als ich früh zur Schule ging, sah ich an etlichen Schaufenstern, deren Geschäftsinhaber Juden waren, mit Farbe geschrieben: „Rache für Rath“. Am Nachmittag waren Jungen des Jungvolkes in der Synagoge und warfen Gebetbücher und Kissen heraus, teils in den Mühlgraben. Danach kamen HJ und SA, und das Dröhnen der Axthiebe versicherte uns, daß Möbel zerstört wurden. Abends wurde die Synagoge angezündet. Feuerwehr war gekommen, löschte aber nicht. Nach Tagen wurden die Mauerreste gesprengt.

 

Gespräch mit Herrn Superintendenten Herbst vom 25.11.1987:

Über das Leben der jüdischen Bürger in Eisenach während der Nazizeit ist schwierig zu berichten.

Nach meiner Erinnerung war die ganze Stadt, ja das ganze Volk, bis auf wenige Ausnahmen antisemitisch ausgerichtet. Deshalb sind alle Menschen, die damit zu tun haben, relativ zurückhaltend in Äußerungen. Nach meiner Sicht sind auch unendlich viele schriftliche Dokumente 1945, in den Tagen des Umbruchs, vernichtet worden.

Ich selbst bin heute einundsechzig und habe die Ereignisse als Kind noch miterlebt. Man kann sich ja ausrechnen, daß ich 1939 dreizehn Jahre alt war, also als Schüler dunkle Erinnerungen habe. Jüngere als ich können eigentlich gar nichts mehr aus eigenen Anschauungen erzählen, und auch meine Erinnerungen sind lange her und durch die Kindheit geprägt.

Für uns Eisenacher Kinder war es zunächst selbstverständlich, daß es Juden gab und daß Judenkinder in fast jeder Schulklasse gewesen sind. In der Erinnerung sieht es so aus, daß man es nicht so tragisch nahm, sie waren im Grunde genauso Einzelgänger in einer Schulklasse wie etwa katholische Kinder. Ich erinnere mich, daß in meiner Schulklasse drei jüdische Kinder und ein katholisches Kind waren. Diese hatten immer schulfrei, wenn wir Religionsunterricht hatten, sie haben die Zeit für sich genutzt, und wir haben sie darum beneidet.

Das Verhältnis der Lehrer zu den jüdischen Kindern war verschieden. Für mich sind einige Ereignisse in Erinnerung geblieben, die deutlich machen, die durch ihren Erinnerungswert zeigen, daß sie mir wichtig gewesen sind. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Schulstunde im Gymnasium, in der der Lehrer, Prof. Koch, uns zu Beginn eröffnete, daß er die jüdischen Kinder heute nicht in die Geschichtsstunde eingeladen hat. Sie sollten eine Stunde später kommen. Uns hat er dann gesagt: „Ich muß heute nämlich die Judenfrage laut Unterrichtsplan besprechen, aber die Eltern unserer jüdischen Mitschüler sind sehr anständige Leute und die Schüler auch, und ich möchte sie nicht durch diese Stunde belasten“. Es ist interessant, daß mir diese Geschichte in Erinnerung geblieben ist.

Ich erinnere mich, daß dann einer nach dem anderen verschwand, ohne viel Reden. Nach meiner Erinnerung sind zwei dieser jüdischen Kinder mit ihren Eltern vor Beginn des Krieges ausgewandert. Den dritten habe ich noch einmal, ebenfalls nach meiner Erinnerung, später auf der Straße gesehen, mit einem Stern auf den Mantel genäht.

Ich erinnere mich, daß meine Mutter, als wir in die Schule gingen, sagte, wir dürften nicht durch die Karlstraße gehen und müßten sofort nach Hause kommen. Das war natürlich für meinen Bruder und für mich das Signal, durch die Karlstraße zu gehen. Da sahen wir die Schrecken, die durch diese Straße gezogen sind. Ich hatte gar nicht gewußt, wie viele jüdische Geschäfte in der Karlstraße gewesen sind. Alle diese Geschäfte waren zerstört. Für mich war es besonders er-schreckend, als wohlbehütetes Bürgerkind zu sehen, wie andere in den Geschäften rumliefen und ihre Kinder einkleideten.

Das war meine erste Begegnung mit Plünderei und Anarchie. Zu Hause wurde wenig darüber gesprochen, die Antwort der Eltern war eigentlich betretenes Schweigen. Woraus ich entnehme, daß man als gutbürgerliche Leute mit Juden nicht viel im Sinn hatte, aber so etwas gehört sich einfach nicht.        

 

 

Erlebnis aus dem Religionsunterricht

Wir hatten, nachdem unsere eigentliche Religionslehrerin strafversetzt war, unseren Direktor als Vertretung. Er wollte uns eines Tages weismachen, daß Jesus ein Arier sei.

Jesus war Galiläer,

Galiläer kommt von Gallier,

die Gallier sind Kelten,

die Kelten sind Germanen,

folglich ist Jesus Arier.

Meine Freundin Ursel Otto (von dem Bekenntnispfarrer die älteste Tochter) und ich, wir setzten uns hin und schrieben aus dem Neuen Testament den Stammbaum Jesu ab. Mit unserer Unterschrift legten wir es am anderen Morgen auf das Pult. Unsere Klassenkameradinnen waren sehr aufgeregt. Sie dachten, der Direktor würde uns irgendwie bestrafen. Es passierte nichts. Im Zeugnis bekamen wir eine Eins mit der Begründung, daß wir außer-ordentlich gut mitgearbeitet hätten (von Christa Regensburger).

 

Druckereibesitzer Kühner:

Ein Eisenacher Bürger, der sich nicht gescheut hat, in der Nazizeit jüdischen Menschen zu helfen, selbst auf die Gefahr hin, im Zuchthaus oder Konzentrationslager zu landen, war der Druckereibesitzer Dr. Felix Kühner, der Besitzer der Eisenacher Tagespost. Er veröffentlichte im Jahr 1933, ungeachtet aller Folgen, die Geburtsanzeige des jüngsten Sohnes der Familie Heilbrunn, Siegfried Heilbrunn (nach Fred Heilbrunn).

 

 

Geschäfte, Banken und Büros jüdischer Bürger

Straße und Hausnummer       ehemalige Besitzer                            heutige Nutzung

Goldschmiedenstraße Nr. 1   Paul-Neuhaus-Textilgeschäft             Drogerie Buddensieg

Johannesplatz                         Helft-Geschäftsräume                       Kaufhaus Magnet

Johannesstraße Nr. 2 - 4        Eckmann-Konfektionsgeschäft         

Nr. 15 und 17                         Helft-Kaufhaus                                   Kaufhaus Magnet

Karlsplatz Nr. 8                      Bankhaus Stiebel                               Sparkasse

Jakobsplan 7                           Tuchgeschäft

Jakobsplan                              Fleischerei                                         (abgerissen)

Georgenstraße                       Drogerie Troplewitz                          Konsumdrogerie

Georgenstraße (zwischen Textilhaus Albrecht und Maschinenbauhandel):

Viehhändler                                       (abgerissen)

Roeseplatz                              Pfifferling – Pferdehändler

Schloßberg Nervenheilanstalt, geleitet von einem jüdischen Arzt, nur für Juden,

heute eventuell Internat IfL   bzw. Ferienobjekt

Georgenstraße                       Konfektionsgeschäft   Frank und Seeliger

                                                                                                          Blumenhaus Chrysantheme

Karlstraße (Judengasse genannt)

Nr. 1                                       Wolf-Seelenfreund                            Selbstbedienungs‑Gaststätte

Nr. 3                                       Einheitspreisgeschäft (E-P-G)

Nr. 33/35                                Schneiderei Dreifuß                           Stadtcafe

Nr. 43                                     Wolf und Glückauf Konfektionsgeschäft

Endepols

Nr. 51                                     Löwenstein Konfektionsgeschäft       Konsumklubhaus

Nr. 16                                     Blüth (Rechtsanwalt), Anwaltsbüro

Nr. 44                                     Heilbrunn - Fleischermeister

Schmelzerstraße Nr. 4           Sanitätsrat J. Fackenheim                  Abriß

 

Vorfall während des Abtransports Eisenacher Juden

(nachträgliche Niederschrift aus einem Gespräch mit Oberkirchenrat Mitzenheim)

Einen eigentlichen Abtransport sämtlicher Eisenacher Juden auf einmal (wie in anderen Städten) gab es hier nicht. Zunächst wurden alle Bürger, die den Gesetzen nach „jüdischer Rasse“ waren, nach den Vorgängen der Pogromnacht 1938 in Haft genommen, später aber wieder freigelassen.

Es kam noch einige Male zu vermehrten Verschleppungen jüdischer Bürger, die meisten von ihnen kehrten jedoch nach kurzer Zeit aus der „Untersuchungshaft“ oder anders benannten Zwangsaufenthalten zurück.

Nach und nach jedoch wurden auch in Eisenach die Juden auf einige wenige Wohnhäuser konzentriert und kontinuierlich, meist in der Nacht, abtransportiert. Eines Tages jedenfalls, als die SA in Eisenach zu einer Razzia aufkreuzte, geschah folgendes: Ein ehemaliger Reichswehroffizier, Eisenacher Jude, erfuhr, wahrscheinlich durch Anrufe anderer Bürger und Warnungen von Freunden, daß in Bälde bei ihm die SA auftauchen würde und ihn abholen wolle. Dieser Jude war ein kaisertreuer, konservativer Soldat und als Offizier natürlich deutsch-national. Er konnte überhaupt nicht verstehen, warum gerade ihm, dem begeisterten Deutschen und Kriegsfreiwilligen mit dem EK I. Klasse, so eine Schmach zustoßen sollte.

Offenbar wußten diese Flegel nicht, mit wem sie es zu tun hatten! Einem Offizier seiner Majestät wird man doch noch Respekt zollen! Er zog sich also seinen Offiziersrock an und steckte sich seine sämtlichen Orden und Ehrenzeichen, in der Hoffnung, daß sie auf die SA-Flegel Eindruck machen würden, daß sie ihn als wahren Deutschen und Kämpfer für das Vaterland ausweisen würden, an.

So empfing er die SA-Leute in der festen Erwartung, als Offizier könne ihm nichts passieren. Diese jedoch gerieten beim Anblick des Mannes vollends in Wut und rissen ihm unter ständigen Beschimpfungen und Drohungen den Uniformrock vom Leibe und schlugen ihn für seine Unverschämtheit: daß eine „Judensau“ sich anmaße, eine deutsche Uniform zu beschmutzen und zu entweihen.

 

Schilderung des Todes von Kinderarzt Dr. Siegfried Wolff:

Im Jahre 1946 bekam meine Tante und Adoptivmutter von einem englischen Rechtsanwalt einen Brief mit der Schilderung des Todes von Kinderarzt Dr. Siegfried Wolff. Dr. Wolff war bis 1938 leitender Arzt der privaten Kinderklinik, die in der jetzigen Erich-Honstein-Straße im Hause Nr. 16 untergebracht war. Die Inhaberin und Oberin ist diese Tante gewesen.

In dem Brief hieß es, daß Dr. Wolff nach Holland gegangen sei, in die Nähe von Arnheim. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen wurde er interniert, kam in Holland in ein Lager und wurde dort zur Betreuung von Kindern aus verschiedenen Ländern, vor allem aber Juden- und Zigeuner-Kin­dern eingesetzt. Mit diesen Kindern wurde er 1944 nach Auschwitz verfrachtet, mit einem Zwischenaufenthalt im Konzentrationslager Theresienstadt.

Der englische Anwalt muß selbst Insasse des Konzentrationslagers Auschwitz gewesen sein, denn er schilderte, daß sie durch eine Glasscheibe zusehen mußten, wie der Arzt und die Kinder in der Gaskammer zu Tode kamen. Als die Kinder merkten, daß sie keine Luft mehr bekamen, drängten sie sich dicht an ihren Betreuer und so starben sie.

In dem Lager Theresienstadt hatte es vor dem Abtransport nach Auschwitz noch ein anderes Erlebnis gegeben, welches ich noch erwähnen möchte. Dr. Wolff war eingesetzt, auf dem Hof Papier aufzulesen, als ihn plötzlich ein Eisenacher Kollege ansprach. Es war Dr. Wiesen, der eine Arztpraxis am jetzigen Platz der DSF hatte. Er war der Sohn des damaligen Rabbiners, der am Schloßberg wohnte und dort geistig behinderte Kinder aufgenommen hatte.

Dr. Wiesen machte Dr. Wolff klar, daß der Krieg nicht mehr lange dauern könne, sie würden ihn verstecken. Der Transport käme sowieso gleich in die Gaskammer und er könne doch nach dem Krieg als Kinderarzt noch vielen Kindern viel mehr helfen. Er lehnte ab. Er sei bis jetzt mit den Kindern zusammen gewesen und er würde auch den letzten, schweren Weg mit ihnen gehen! (Aufgeschrieben von Christa Regensburger).

 

Aus: Thüringer Volk, Thüringer Landeszeitung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands

Nr. 162 (2.. Jahrgang.) Eisenach, Freitag, 3. Oktober 1947, Seite 2:

Ein lokales Ereignis von besonderer Bedeutung bildete die feierliche Einweihung des Mahnmals der Synagogen-Gemeinde Eisenach in der Karl-Marx-Straße am Sonntag, 21. September. Wo einst die von den Nazis im Jahr 1938 zerstörte Synagoge stand, hatten sich im Beisein der Vertreter der Landesregierung, der Vertreter aller Parteien und neben zahlreichen Eisenachern die wenigen jüdischen Gemeindeglieder versammelt, die den Lagern von Auschwitz und Maidanek entrinnen konnten und mit dem Leben davonkamen. Das Eisenacher Mahnmal stellt die erste Gedenkstelle dieser Art in Deutschland dar.

Aus allen Ländern der Besatzungszone waren von Organisationen und Privatpersonen Kränze mit Inschriften zum Gedenken an die jüdischen Blutopfer der Hitlerzeit geschickt worden. Die Feier wurde eingeleitet mit dem Trauermarsch aus dem Oratorium „Samson“ von Georg Friedrich Händel. Durch Herrn Walter CappeI, den Vorstand der Synagogen-Gemeinde Eisenach, wurden sodann die Versammelten begrüßt und an die Leidenszeit erinnert, die vom Tage des Beginns der Naziherrschaft bis zum Zusammenbruch Deutschlands der jüdische Bevölkerungsteil durchmachen mußte.

Besonders eindringliche und zu besserem Tun ermahnende Worte fand anschließend der Präsident des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden, Herr Julius Meyer, bevor er das Mahnmal enthüllte und der Obhut der Eisenacher Bevölkerung empfahl. Das Mahnmal soll die heutigen und künftigen Geschlechter an die dunkelste Zeit der deutschen Geschichte erinnern.

Den ersten Gottesdienst am Mahnmai leitete darauf Rabbiner Joachim Freiberg aus Magdeburg mit dem hebräischen Gesang aus der „Totenfeier“ von Louis Lewandowski ein. Mit einer Minute stillen Gedenkens ehrten die Anwesenden die zu Tausenden ermordeten Juden. Mit der Hymne für Chor und Orchester „Ehre den Opfern“ von Viktor Nebenfels fand die bewegende Feier ihren Abschluß.

Die künstlerische Umrahmung der Gedenkstunde wurde ausgeführt vom Philharmonischen Orchester Eisenach unter der Leitung des Gastdirigenten Werner Sander (Meiningen), Mitgliedern des Bachchores, des Arbeitersängerchores, der Meininger Chorgemeinschaft sowie Schülerinnen und Schülern der höheren Lehranstalten der Wartburgstadt.

 

Aus: Die Novemberpogrome: Gegen das Vergessen. Eisenach, Gotha, Schmalkalden. Spuren jüdischen Lebens, 1988, Landesjugendpfarramt der Ev-Luth. Kirche in Thüringen, Eisenach.

 

 

 

Gotha

Erinnerung an die Gothaer Synagoge:

In Gotha lebten früher einige hundert Juden. Im Jahre 1933 waren es 264. Im Jahre 1940 lebten in Gotha noch etwa dreißig Juden. Eine einzige jüdische Frau lebte nach 1945 wieder in Gotha. Sie hat das Konzentrationslager Theresienstadt überlebt.

Als ich noch ein Kind war, gab es in Gotha einen Platz, da war gar nichts. Auch einen Zaun gab es nicht. Kinder spielten dort, das war das einzige, was dort überhaupt passierte. Die Leute nannten diesen Platz „die Syna“ (so wurde es ausgesprochen, geschrieben habe ich diese Ortsangabe nie gesehen). Was die „Syna“ war, wurde damals nie gesagt. Vielleicht hätte man fragen müssen. Später, als ich erwachsen wurde, wurde auch die Vergangenheitsbewältigung erwachsen - der Platz wurde zum Parkplatz.

Aber langsam wuchs in dieser Zeit auch meine erschreckende Ahnung, daß die schlimme Vergangenheit erst so kurz vergangen war, und daß diese Vergangenheit bis heute unser Leben bestimmt, den Rest unseres Lebens bestimmen wird und auch das unserer Kinder. Wir haben - alle miteinander - noch nicht völlig begriffen, daß hier eine ganze Kultur ausgelöscht wurde, daß wir tatsächlich dadurch ärmer geworden sind. Und auch in unserer Stadt wurde diese Kultur ausgelöscht, durch normale Menschen, das „gesunde Volksempfinden“, ermuntert, unterstützt und geführt von einer kriminellen Staatsgewalt. Betrug, Diebstahl, Brandstiftung, Mord von Staats wegen. Mit Staats-„Segen“ und - Erschrecken immer tiefer - auch mit Kirchensegen. Das Grausen über das Mögliche wird immer größer.

Heute steht auf dem Platz ein achtgeschossiger Wohnblock. Als ich 1987 von den Überlegungen erfuhr, an der Stelle der ehemaligen Synagoge eine Plastik zu errichten, dachte ich gleich an die Form der zwei abgewinkelten Stahlprofile, die sich mit der schon vorhandenen Schrifttafel verbinden lassen. Wir werden heute und in der Zukunft nicht an jüdische Kultur denken können, ohne uns an Konzentrationslager und Massenmord zu erinnern.

Zugleich fiel mir auf, daß der Begriff „Denkmal“ zu abgegriffen ist. Wir haben noch kein Wort für das, was wir als Trauerzeichen setzen. Für mich ist es eine Denkstelle. Die Stahlsäulen sind sicher stilisierte KZ-Zaunpfähle. Sie könnten auch, bei weiterer Betrachtung, ein zerbrochenes Kirchenfenster symbolisieren. Wenn man sehr lange hinsieht, kann man auch zwei Hände sehen, die es nicht schaffen, sich zum Gebet zu falten. Die Trauer ist zu tief

Synagogen-Mahnung wurde erst in den achtziger Jahren Bestandteil der bildkünstlerischen Konzeption zur Gartenstraße. Im Auftrag des Rates der Stadt, Abteilung Kultur, wurde in diesem Rahmen eine Gedenktafel angefertigt. Es war vorgesehen, diese Tafel am ehemaligen Standort der Synagoge an einem Wohnhausgiebel anzubringen. Die Befestigung am Giebel erwies sich aus Konstruktions- und gestalterischen Gründen als sehr nachteilig. So mußte eine neue Art der Befestigung gefunden werden. Der Rat der Stadt, Abteilung Kultur, erteilte erneut einen Auftrag. Hans Klein konzipierte eine freistehende Stelle in Form zweier abgeknickter, zueinandergeneigter Stahlprofile. Die Formgebung vermittelte Mahnung und zugleich Hoffnung (H. Klein).

 

Eine Gothaerin erinnert sich: Die Nacht, als die Synagogen brannten.

In der Schützenallee, nicht weit von der Stelle, an der die Gothaer Synagoge stand, wohnt eine Frau, die berichtet, wie sie die Zerstörung dieses Hauses erlebt hat. In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 wurde sie, etwa um halb vier morgens, von Nachbarn geweckt, die ihr sagten, daß die jüdische Synagoge in Flammen stand. Mit vielen anderen Anwohnern der umliegenden Straßen lief sie zum Ort des Feuers, wo schon eine große Menschenmenge versammelt war. Am nächsten Morgen, als die Synagoge bis auf die Grundmauern zerstört und das Feuer gelöscht war, konnte sie beobachten, daß die Ruine geplündert wurde. Jeder konnte nach Belieben aus den noch rauchenden Trümmern mitnehmen, was er wollte. Offensichtlich wurde die Plünderung durch Polizei nicht behindert.

 

Zeitungsausschnitt aus dem „Gothaer Beobachter“ vom 11. November 1938.

 

Schriftverkehr zum Abbruch der Synagoge

 

Ins Exil - und wieder zurück: Leben, Erleben und Überleben in Gotha

Frau A. Z., geb. Rosenburg, nach Nazigesetzen „Mischling 1. Grades“, emigrierte am 20. April 1938 mit ihrer jüdischen Mutter nach Frankreich. Sie war damals 14 Jahre alt. In Frankreich konnte sie eine Internatsschule besuchen, gleichwohl verspürte sie eine starke Sehnsucht nach ihrer Heimatstadt Gotha, ihren Freunden, ihrer vertrauten Umgebung. Hier lebten auch ihre - nichtjüdischen - Großeltern.

Sie schaffte es schließlich, mit einem zeitlich begrenzten Einreisevisum, am 25. August 1939 in ihre Heimatstadt besuchsweise zurückzukehren. Doch dieses - als kurzer Besuch geplante - Wiedersehen erwies sich als endgültig. Am 1. September 1939 begann der 2. Weltkrieg und an eine Rückkehr nach Frankreich war nicht mehr zu denken. Von nun an lebte sie als „Halbjüdin“ in Deutschland.

Ihr Vorhaben, die Schulbildung nun in Gotha fortzusetzen, scheiterte zunächst am Widerstand des damaligen Direktors der Arnoldi-Schule, Dr. Kinttof. Schließlich wurde sie - nach einer Prüfung auf Schultauglichkeit in Weimar - doch noch aufgenommen. Für sie als Schülerin der Arnoldi-Oberschule in Gotha verlief das Jahr 1941 ohne größere Probleme.

Im Jahre 1942 begannen jedoch auch hier verschärfte Schikanen gegen die noch verbliebenen jüdischen Schüler. So mußte die damalige Schülerin auf einer separaten Einzelbank sitzen und sich zu Beginn jeder Unterrichtsstunde mit der Meldung: „Ich bin die Jüdin und Kommunistin Alfreda Rosenburg“ selbst demütigen.

Nach einem Nazi-Gesetz vom Oktober 1942 mußten nun alle noch an den Schulen verbliebenen Juden und „Mischlinge“ diese endgültig verlassen. Eine Ausnahme gab es für Frau Z. lediglich, weil sie bereits die 12. Klasse besuchte und kurz vor dem Abitur stand. Ausgeschlossen wurde sie nur von den Unterrichtsfächern „NS-Geschichte“ und „NS-Biologie“. Das Abitur konnte sie 1943 - trotz Erschwernis durch Prüfung in allen Fächern - ablegen.

In diese Zeit fällt auch eine Judendeportation im Haus Arnoldiplatz 5, deren Opfer wahrscheinlich Anna Brock, Rosalie Deminsky, Sally Grünberg, Hugo Lewin (mit einem Kind) und Ruth Weissenberg (mit einem Kind) waren. Diese Menschen wurden unter Anwendung brutaler Gewalt aus dem Haus geholt und mit Lastwagen abtransportiert. Frau Z. wurde Augenzeuge dieser Aktion, weil sie sich zufällig dort befand.

Nach dem Abitur mußte sie ein sogenanntes „Pflichtjahr“ absolvieren. In Weingarten, einem Dorf nordwestlich von Gotha, mußte sie zusammen mit sowjetischen „Fremdarbeiterinnen“ auf einem Bauernhof arbeiten.

Nach Ableisten dieses Pflichtjahres wurde sie zur weiteren Arbeitsableistung in den Betrieb Gothaer Waggonfabrik AG verpflichtet. In ihrer Arbeitsgruppe traf sie auf solidarisches Verhalten durch Kollegen, wie den Goldschmied Kister, einen Sozialdemokraten, und den Radiomechaniker Leihbecher. Nach ihrer 12stündigen Arbeitszeit hätte sie sich eigentlich im „Ostarbeiterlager“ in der Gleichenstraße aufhalten müssen, aber wegen der durch die Kriegswirren bedingten ungenügenden Kontrollen konnte sie fast immer bei ihren Großeltern übernachten.

Zu Ostern 1945 spitzte sich die Lage für die noch hier lebenden „Halbjuden“ so zu, daß Frau Z. im Rückzugschaos der deutschen Wehrmacht sich nach Weingarten durchschlug, um sich hier, vom Verwaltungszentrum Gotha etwas entfernt, relativ sicher zu fühlen. Doch sie wurde auch hier von den Ereignissen eingeholt: Durch den Telefonanruf einer befreundeten BDM-Führerin wurde sie informiert, daß die Gestapo die Wohnung der Großeltern durchsucht habe. Daraufhin ging Frau Z. sofort zurück nach Gotha und erfuhr dort von ihren - nichtjüdischen - Großeltern, daß man ihnen die Geiselhaft angedroht habe, falls sie - Frau Z. - sich nicht bis 12.00 Uhr mittags des folgenden Tages bei der Gestapo in der Erfurter Straße gemeldet hätte.

Mit dem Vorsatz, sich nun eben doch bei der Gestapo zu melden, nahm Frau Z. am Osterdienstag 1945 die Arbeit wieder auf. Der Kriegsverlauf rettete Frau Z. höchstwahrscheinlich das Leben, denn an diesem - wie auch immer - entscheidenden Tag kam es nicht mehr zur Meldung bei der Gestapo.

Um 10.00 Uhr vormittags war „Feindalarm“ in Gotha, und während die meisten Gothaer sich abwartend versteckten, fuhr Frau Z. mit dem Fahrrad durch Gothas leere Straßen nach Hause. Die amerikanische Armee war in Gotha einmarschiert. Die Stadt war befreit.

 

Liste der in Gotha polizeilich gemeldeten Juden:.

Von den bei der Volkszählung 1933 in Gotha registrierten 264 Menschen jüdischen Glaubens lebte nach heutigem Erkenntnisstand 1945 keiner mehr in Gotha. Über die genaue Zahl der Überlebenden und der Ermordeten läßt sich momentan nichts Genaues sagen. Es scheint heute so, als ob einer relativ großen Zahl Gothaer Juden die Auswanderung gelang. Im Gothaer Adreßbuch 1941/42 sind zum letzten Mal auf einer gesonderten Seite die in Gotha „polizeilich gemeldeten Juden nach dem Stande vom 20. August 1941“ aufgeführt. Es handelt sich dabei um 39 Personen (Die Liste ist abgedruckt).

 

Aussagen zu den antisemitischen Ges in Gotha von 1933 – 1945:

In Gotha waren die Nazis ja schon vor 1933 an die Macht gekommen, und die haben schon in der Zeit oft gegen die Juden gehetzt. Aber so richtig ging das dann erst los, nachdem die Nazis 1933 in ganz Deutschland gewonnen hatten. Ich erinnere mich, daß dann des öfteren die SA - das waren auch vor allem junge Leute - und die Hitlerjugend durch die Stadt marschierten und „Deutschland erwache - Juda verrecke!“ brüllten. Die zogen meist, von Friedrichstraße und Arnoldiplatz herkommend, durch die Erfurter Straße, über den Neumarkt zum Hauptmarkt und dann durch die Judenstraße, also durch die Innenstadt, wo sich viele jüdische Geschäfte befanden. Und da wurden schon mal die Schaufenster eingeschmissen und randaliert. Die waren alle aufgehetzt worden; es gab doch oft Kundgebungen, auf denen die Redner gegen die Juden hetzten, besonders Trieber und Busch - der war Staatsrat und wohnte in Seebergen - taten sich da hervor.

Aber auch in den Zeitungen stand ja dauernd was gegen die Juden drin und das alles hat die Menschen natürlich beeinflußt, besonders die Jüngeren. Die waren damals in der HJ und danach, wenn sie etwas älter waren, in der SA, nicht alle ganz freiwillig; etliche, weil sie keine Nachteile in der Schule oder an der Arbeit haben wollten, viele auch, weil sie nur eine Arbeit bekamen, wenn sie in diese Organisationen reingingen.

Und wenn sie drin waren, mußten sie mitmachen, sonst konnten sie die Arbeit ganz schnell wieder verlieren. Aber nicht wenige haben auch gerne mitgemacht, und wenn man sich offen dagegen geäußert hat, dann drohten die doch auch gleich mit dem Konzentrationslager.

Ich glaube, es war 1935, da wollten die Nazis, daß keiner mehr in den jüdischen Geschäften einkauft und haben davor gewarnt, dies zu tun. Aber vor allem die Haufrauen haben lange Zeit diese Warnungen und Drohungen überhört. Die sind doch nach den Preisen gegangen und die waren eben bei manchen Juden niedriger als in den deutschen Geschäften. Da gab es zum Beispiel das Wohlwert-Geschäft oder auch Einheitspreisgeschäft von Herrmann am Neumarkt. Weil dort die Preise sehr günstig waren, haben viele Leute, besonders die Frauen, sich nicht abhalten lassen, dort weiter einzukaufen.

Um das zu unterbinden, sind die Nazis dazu übergegangen, zivilgekleidete - damit sie nicht auffielen - Polizisten oder Parteileute vor diesem Geschäft zu postieren, die die Leute, die da noch hineingingen, aufschrieben und weitermeldeten. Damals wurde sogar davon gesprochen, daß man fotografiert werde, wenn man versuche, das Geschäft zu betreten. Auch vor anderen jüdischen Geschäften soll das so gewesen sein, man sprach von überraschenden Kontrollen durch solche zivilgekleideten Polizisten. Ich habe selbst solchen gegenüber gestanden; man erkannte die doch gleich. Wer von denen erkannt und weitergemeldet wurde, bekam Schwierigkeiten, zum Beispiel an seiner Arbeit. Die Nazis hatten doch überall das Sagen. So sind dann mit der Zeit die Leute doch nicht mehr dort einkaufen gegangen, weil sie keine Schwierigkeiten bekommen wollten, und weil sie es für zu gefährlich hielten.

Ich erinnere mich, daß in diesen Jahren etliche Juden ihre Geschäfte aufgaben und auswanderten. Einige waren ja bereits vor 1933 oder Anfang 1933 rausgegangen. Ich weiß nicht mehr genau das Jahr, es kann 1935 oder 1936 gewesen sein, da habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie der jüdische Viehhändler aus der Goldbacher Straße - wir nannten ihn immer „Moses“ - fort ist. Was er mitnahm, war in großen Kisten verpackt, auf denen deutlich sichtbar „New York“ stand; die standen vorm Haus an der Straße und wurden dann mit einem Fahrzeug der Spedition Braun abgefahren.

Es muß in dieser Zeit gewesen sein, da wurden die Schaufenster der jüdischen Geschäfte mit einem großen Davidsstern gekennzeichnet, die waren mit Farbe daraufgemalt. Später, so 1940/41, haben sie solche Sterne dann auch an die Türen der Häuser geschmiert, in denen noch Juden wohnten, und die waren noch nach dem Krieg, als ich aus der Gefangenschaft zurückkehrte, an einigen Türen sichtbar. Das war 1946, aber man hat sie dann doch schnell beseitigt.

In der „Reichskristallnacht“ haben die Nazis die Synagoge angezündet! Ich glaube, ich befand mich zu Hause - ich wohnte damals in der Goldbacher Straße - als jemand rief: „Die Synagoge brennt!“ Wir gingen raus und nahmen in der Richtung einen hellen Feuerschein wahr. Meine Mutter sagte zu mir und meinem Bruder, wir sollten da nicht hingehen. Am nächsten Tag war ich in der Gartenstraße und habe aus einiger Entfernung die immer noch rauchenden Trümmer gesehen. Auch wahrgenommen habe ich Spuren von Gewalteinwirkungen an Türen und Schaufenstern jüdischer Geschäfte. Die Schaufenster wiesen entweder Sprünge auf, wie zum Beispiel das vom Geschäft „Max Blau“ im Brühl, oder waren notdürftig mit Pappen oder Brettern geflickt. Auch waren in den Auslagen kaum noch Waren zu sehen.

Es gab einige Leute, die waren über das, was die Nazis da gemacht hatten, über das Anzünden und Zerstören der Synagoge, wie über die Gewaltaktionen gegen die Juden und ihre Geschäfte, empört, aber das waren wenige, und man konnte das auch nicht laut äußern. Wir wagten ja nicht einmal stehenzubleiben und uns genauer anzusehen, was geschehen war. Davon, daß in den jüdischen Geschäften geplündert wurde, habe ich damals gehört.

Wir selbst - mein Vater betrieb einen Rohprodukthandel und ich arbeitete bei ihm mit - hatten geschäftliche Verbindungen mit einigen jüdischen Geschäften, so mit der Firma Conitzer, die Alttextilien aufkaufte, mit den Gebrüdern Grünstein, den Heilbrunns in der Gerbergasse sowie mit den Geschäften bzw. Handlungen Meier Minz und Weiser in der Augustinerstraße. Diese Verbindungen konnten aber nicht mehr lange aufrechterhalten werden, weil die Inhaber dieser jüdischen Geschäfte entweder auswanderten oder nichts mehr aufkaufen oder bezahlen konnten.

Später, vor allem nach der Kristallnacht, haben sie ja die Juden noch mehr verfolgt und drangsaliert, aber das gab es durch diese ganzen Jahre vor dem Krieg. Etliche Juden haben versucht zu fliehen; so erinnere ich mich, daß wir, mein Vater und ich - wir waren oft mit einem Kleinlastwagen in der Gegend Ruhla, Bad Thal und Seebach unterwegs - Ende der dreißiger Jahre, wahrscheinlich war es 1939, einmal von zwei Frauen angehalten wurden, die uns fragten, ob wir sie mitnehmen könnten, da sie von der SS verhaftet werden sollten.

Aus dem Gespräch ging hervor, daß es sich um jüdische Verfolgte handelte. Nach unserer Zusage kamen noch einige Frauen und zwei Männer, zusammen waren es wohl acht Personen, und die stiegen alle auf die Ladefläche. Wir haben sie dann aus dieser Gegend herausgefahren, durch Eisenach hindurch bis in die Nähe von Unkeroda, um sie wenigstens fürs erste in Sicherheit zu bringen. An einem Waldstück haben wir sie dann abgesetzt, und sie sind im Wald verschwunden. Ich weiß nicht, ob sie durchgekommen sind.

Wir fanden es schlimm, was sie mit diesen Menschen damals gemacht haben, aber gegen die Nazis und die vielen, die mitgemacht haben, konnten wir nichts tun, denn wir hatten Angst, auch ins Konzentrationslager gesperrt zu werden (Rudolf H.)..

 

„Judenspiegel“, Ausgabe August 1935, Beilage zum „Gothaer Beobachter“.

Beim Juden kaufen ist unmoralisch: Trotz unserer immerwährenden Aufklärungsarbeit über das Judentum, gibt es immer noch zahlreiche artvergessene Volksgenossen, die es nicht unterlassen können, ihre Einkäufe beim Juden zu tätigen. Wenn man nun einmal einen solchen Volksgenossen zur Rede stellt, erklärt er meistens: „Ja ich wußte nicht, daß dies ein Judengeschäft ist!“ Um hier nun ein für allemal vorzubeugen, veröffentlichen wir nachstehend sämtliche jüdischen Geschäfte in Gotha. Es liegt nun an jedem Volksgenossen selbst, die Liste einer genauen Prüfung zu unterziehen. Diejenigen deutschen Volksgenossen, die es aber trotzdem nicht unterlassen können, beim Juden zu kaufen, sind kein Teil des Volkes mehr, der die öffentliche Meinung darstellt. Die deutsche öffentliche Meinung vertritt vielmehr die Auffassung von dem sittlichen Unwert des Einkaufens beim Juden.

 

Gothaer Juden:

1. Judenärzte:

Falkenstein, Leo, Adolf-Hitler-Straße 50

Heilbrunn, Leo, Gartenstraße 32

Heilbrunn, Max, Arnoldiplatz 5

Mayer, Kurt, Gartenstraße 11

Mayer, Adolf, Gartenstraße 11

Schulenklopper, Richard, Seebergstraße 13/15

Wassermann, Wilhelm, Katharinenstraße 1

 

2. Rechtsanwälte:

Oppenheim, Dr., Bruno, Friedrichstraße 13

 

3. Altwarenhändler:

Schiffmann, Albert, Gerbergasse 10

Wirth, Moses, Gartenstraße 10

4. Fellhändler: Minz, Meier, Augustinerstraße

5. Rohproduktenhändler: Pflanzer, Kalmann, Hützelsgasse 2

 

6. Viehhändler:

Emanuel, Moses und Markus, Gutenbergstraße

Mannheimer, Max, Mohrenstraße 27

 

7. Getreidehändler:

Lebram, Ernst, Ohrdrufer Straße 33

Wachtel, Jakob, Reinhardsbrunner Straße 17

 

8. Darmhändler: Heilbrunn, M., Gerbergasse 9

 

 

9. Judengeschäfte:

Conitzer & Söhne, Kaufhaus, Erfurter Straße

Liebermann, Hersch, Kurzwaren, Friedrichstraße 10

Mansbach, Jakob, Textilwaren, Marktstraße 3

Tauber, Moses, Wäschehandlung, Schwabhäuser Straße 13

Blau, David, Textilwaren, Brühl

Frey, Jakob, Konfektion, Dietrich-Eckhart-Straße 12

Fellig, Julius, Kreditgeschäft, Brühl 13/15

Steinhaus, David, Damenkonfektion, Augustiner Straße 2

 Thüringer Kleiderwerk, Inh. Rosenblatt, Lucas-Cranach-Straße 3

Kiewe u. Co., Konfektion, Arnoldiplatz

Wohlwerth, Willi Herrmann, Einheitspreisgeschäft, Erfurter Straße

Ledermann, M. G., Lederfabrik, Pulvermühlenweg

Neuwirth, Isidor, Photograph, Neumarkt 11.

 

10. Fabrikbesitzer:

Ruppel, Gebr., Metallwarenfabrik, Reinhardsbrunner Straße

Simson, Julius, Porzellanfabrik, Nützleber Weg 1

 

11. Händler:

Geller, Wolf, Schuhwaren, Hauptmarkt

Gutstein, Hersch, Schuhwaren, Mohrenstraße

Wilk, Benjamin, Stoffhändler, Langensalzaer Straße 26

 

Auszüge aus: Thüringer Gauzeitung Gothaer Beobachter (Beilage)

Freitag, den it. November 1938, Nr. 265, 16. Jahrgang

Vergeltungsaktionen sofort einstellen.

Aufruf des Reichsministers Dr. Goebbels an die Bevölkerung

Die berechtigte und verständliche Empörung des deutschen Volkes über den feigen jüdischen Meuchelmord an einem deutschen Diplomaten in Paris hat sich in der vergangenen Nacht in umfangreichem Maß Luft verschafft. In zahlreichen Städten und Orten des Reiches wurden Vergeltungsaktionen gegen jüdische Gebäude und Geschäfte vorgenommen. Es ergeht nunmehr an die gesamte Bevölkerung die strenge Aufforderung, von allen weiteren Demonstrationen und Aktionen gegen das Judentum, gleichgültig welcher Art, sofort abzusehen. Die endgültige Antwort auf das jüdische Attentat in Paris wird auf dem Wege der Gesetzgebung, bzw. der Verordnung dem Judentum erteilt werden.

 

12. November 1938, Beilage „Gothaer Stadtnachrichten“, 1. Seite

Aus Unkenntnis in Judenladen gekauft.

Die gelben Firmenaufschriften auf den Schaufenstern würden helfen

Von einem unserer Leser geht uns ein Brief zu, in dem er uns zu seinem Leidwesen mitteilt, daß er vor einiger Zeit ganz ahnungslos in einem jüdischen Geschäft gekauft habe. Es handelt sich hier um das jüdische Korsettgeschäft Neumann in der Marktstraße. Wie wir bereits veröffentlichten, ist der Besitzer dieses Geschäfts der Jude Dr. Werner Maas. Wie uns mehrmals bestätigt wurde, ist es anscheinend in Gotha wenig bekannt, daß gerade diese Firma jüdisch sei.

Nachdem wir nun in unserer Ausgabe vom 28. Okt. 1938 die noch in Gotha vorhandenen jüdischen Geschäfte veröffentlicht haben, wird wohl jeder Gothaer nunmehr wissen, woran er ist. Sollte jedoch der eine oder andere die damalige Aufzählung übersehen haben, soll die folgende Wiederholung abhelfen. In Gotha gibt es also noch 13 Judenläden. Es sind dies:

Baile Weiser, Augustinerstraße 19

Meier Minz, Augustinerstraße 3

Chaja Liebermann, Friedrichstraße 20

Heinrich Mausbach, Marktstraße 3

Max Blau, Inh. David Blau, Brühl 8

Anna Frei, Sulzengasse 3

Sovie Schädter geborene Liebermann, Friedrichstraße 20

Wolf Geller, Adolf-Hitler-Platz 42

W. und G. Neumann (Korsettgeschäft), Inh. Dr. Werner Maas, Marktstraße 3

Gebr. Mannheimer, Inh. Erich Siegfried und Max Mannheimer, Robert-Ley-Straße 27

Julius Fellig, Inh. David Blau, Brühl 13/15

Das muß man besonders jetzt verstehen: es ist jedem anständigen Volksgenossen zumindest sehr unangenehm, wenn er hinterher feststellen muß, er ist, ohne es zu ahnen, Käufer in einem Judenladen gewesen. Wir fragen uns deshalb mit vielen anderen Gothaern, warum in Gotha die Kennzeichnung der Judenläden nicht durchgeführt wird.

Im ganzen Gau Thüringen tragen die Judenläden in großen gelben Antiqua-Lettern auf der Schaufensterscheibe den Namen des jüdischen Inhabers. Da diese gelbe Aufschrift sich von allen sonstigen üblichen Firmenbezeichnungen deutlich abhebt, sind die Judenläden jedem klar erkenntlich gemacht. In Gotha ist dies jedoch noch nicht ganz durchgeführt. Einzelne Judengeschäfte haben diese Aufschrift bereits angebracht, aber der große Teil der jüdischen Inhaber in Gotha bisher noch nicht. Woran das liegt, daß diese gesetzlichen Anordnungen in Gotha noch nicht durchgeführt wurden, ist uns nicht bekannt. Wenn diese Anordnung in Gotha streng befolgt würde, so könnte es nicht passieren, daß Volksgenossen unbewußt beim Juden kaufen.

Durch die angebrachten großen gelben Buchstaben auf der Schaufensterscheibe ist einwandfrei das Geschäft als Judenladen gekennzeichnet. Keiner könnte sich künftig darüber ärgern oder damit ausreden, daß er nicht gewußt habe, hier ein jüdisches Geschäft vor sich zu haben. Und wer beim Juden kauft, von dem muß man annehmen, daß er sich von der deutschen Volksgemeinschaft zu trennen wünscht.

Nach den Schüssen in Davos und Paris, nach den zahlreichen Provokationen von Juden gegenüber Deutschen im Ausland, nach den hetzerischen Aufrufen der Judenpresse zu Meuchelmord und Krieg, gibt es für uns Deutsche um so mehr nur eine Konsequenz: Wer zum Juden geht, wer mit Juden verkehrt, der will und soll mit uns nichts mehr zu tun haben.

Aus: Die Novemberpogrome: Gegen das Vergessen. Eisenach, Gotha, Schmalkalden. Spuren jüdischen Lebens, 1988, Landesjugendpfarramt der Ev.-Luth. Kirche in Thüringen, Eisenach.

 

 

Erfurt

Allen Synagogen des Mittelalters war diese Schieflage zwischen Präsenz und Isolation, Teilhabe und Ausgrenzung zu eigen. Als die christlichen Kaufmannschaften die lästige jüdische Konkurrenz endgültig aus den großen Städten vertrieben, wurden die Synagogen abgerissen und in einem letzten symbolischen Racheakt mit Kirchen überbaut. Oder sie gingen an Handelsleute über, die sie als geräumige Warenlager in bester Lage nutzten.

Solchem Geschäftssinn verdankt eines der ältesten jüdischen Gotteshäuser in Deutschland seine Erhaltung - die Alte Synagoge in Erfurt. Direkt hinter dem historischen Rathaus ist sie gelegen, im Einzugsbereich der Krämerbücke, dem letzten erhaltenen Ponte Vecchio diesseits der Alpen. So konnte sie zum Warenspeicher christlicher Kaufleute werden. Doch das Dicht an Dicht der Brückenhäuser ist eine großzügige Promenade verglichen mit der Enge, in der die Synagoge steckt.

Aus der Umklammerung von Bürgerhäusern, Lagern, Schuppen und Hinterhäusern ragt nur eine merkwürdig verkrümmte Giebelspitze. Einzig alteingesessene Erfurter und Denkmalpfleger wußten, was da so pittoresk das Dächergewirr überragte.

Das wäre wohl noch lange so geblieben, hätte nach der Wende nicht das große Sanieren in Erfurts wunderbarer Altstadt begonnen. Da in ihr, wie überall im Osten, Rückübertragungsfragen wie Bleigewichte am Enthusiasmus hängen, klärte man zunächst die Nutzungsgeschichte der Synagoge: Seit 1349, dem Jahr des letzten Pogroms im mittelalterlichen Erfurt, hat sie den unterschiedlichsten Zwecken gedient.

Ihre ursprüngliche Bestimmung aber war nie ganz vergessen worden. In alten Grundbüchern heißt sie die „Judenschule“, 1861 wurde sie in einer Erfurter Häuserchronik zum ersten Mal als Altertum gewürdigt. Entdeckungen während des 1859 begonnenen Umbaus zum Tanzsaal eines angrenzenden Kaffeehauses waren wohl der Anlaß. Die Ursache aber dürfte das wachsende Selbstbewußtsein der damaligen Jüdischen Gemeinde Erfurts gewesen sein. Zwei Generationen hatten frei vom Ghettozwang gelebt, die dritte wies bei der Einweihung ihrer neuen Synagoge 1884 stolz auf den Ursprungsbau an der Krämerbrücke hin.

An Denkmalschutz dachte niemand: 1876 erweiterte man den Tanzsaal, 1896 wurde eine Kegelbahn im gotischen Keller eingerichtet. Sie war noch zu Zeiten der DDR in Benutzung. als letzte Umbauten den eierschalfarbenen Plaste-und-Elaste-Chic der siebziger Jahre hinzufügten. In den Stadtführern wurde die Alte Synagoge nicht mehr erwähnt.

Im Jahre 1993 endlich bestätigten erste Bauanalysen den gotischen Bestand. Doch eine gründliche, seit 1998 andauernde Untersuchung brachte sensationelle Ergebnisse: In der gotischen Synagoge steckt eine romanische, erbaut vielleicht 1150, spätestens aber 1190. Was sich hinter dieser nüchternen Feststellung des Marburger Bauhistorikers Elmar Altwasser verbirgt, offenbart der Anblick der freigelegten Westwand.

Ehe man sie erreicht, passiert man die wuchtigen Reste einer frühgotischen Kemenate mit Spitzbogenportal. Dann windet man sich mit eingezogenem Kopf durch ein Labyrinth von Gängen, Höfchen und das bloßliegende Balkengerüst einer Gaststätte namens „Alte Feuerkugel“, die gerade saniert wird. In ihrem Hof ragt die Synagoge auf: Steine, an deren rissiger Oberfläche Putzreste, Flechten und Schutt haften wie Schrunden der Geschichte, vermauerte Spitzbogenfenster, armbreite Risse. ausgeböschte und eingesunkene Abschnitte. Zur Mitte hin vertieft sich das Graubraun des Mauerwerks ins Schwarze. Noch rauher ist die Oberfläche, wie mit Spitzhämmern bearbeitet. Das ist, identifizierbar an einem kleinen, doch wuchtigen rundbogigen Doppelfenster, die romanische Fassade.

Die Schwärzung und die Absplitterungen sind Spuren eines Brandes. Man vermutet 1266, das Jahr des zweiten Erfurter Pogroms. Um 1270, so haben die Stilanalysen ergeben, wurde das Haus wieder aufgebaut und der ausgeglühte Rest des Vorgängers gleich einer Reliquie einbezogen. Ungewöhnlich wäre ein solcher Akt der Pietät nicht: In Magdeburg zum Beispiel, beim Wiederaufbau des verbrannten Doms, übernahm man 1210 die alten Säulen und stellte sie, zum ehrenden Andenken, mitten in die gotischen Stützen des neuen Chors.

In Erfurt dagegen, wo nach dem Ende der mittelalterlichen Jüdischen Gemeinde Jahrhunderte pietätlosen Umgangs die Synagogenwände zum bizarren Rätselrelief gemacht haben, kommt einem das biblische Wort von den Steinen in den Sinn, die schreien. wenn Menschen verstummen müssen. Doch das ist die Ergriffenheit unserer Generation, die, wo immer sie jüdische Denkmäler anschaut. auch auf Auschwitz starrt.

Vieles haben die Mauern schon preisgegeben: daß der Bau von 1270 eine symmetrische Westfront mit Lanzenfenstern, Fensterrose und einem mächtigen Stufengiebel besaß, Firsthöhe fast zwanzig Meter. Ein hölzernes freitragendes Tonnengewölbe, nach dem Vorbild von Erfurter Kirchen. hat wahrscheinlich den Innenraum überspannt. Baufugen belegen einen Anbau um 1300, der neue Spitzbogenportale und -fenster mit kompliziertem Maßwerk hinzufügte. Beim Umbau zum Speicher wurde nach 1349 ein asymmetrischer Dachstuhl auf den wohl beschädigten Bau aufgebracht, eine komplizierte Konstruktion, die größtenteils noch vorhanden ist.

Daß die Nordwand der Synagoge, heute verdeckt durch ein Nachbarhaus, 1300 zur Schaufront ausgebaut wurde, die der benachbarten St.-Michaelis-Kirche angeglichen war, zählt, wie die außer jeder Tradition stehende querrechteckige Ausrichtung, zu den vielen neuen Rätseln, die das Bauwerk aufgibt – und zu den schier unlösbaren Problemen: Sechs Jahre notgedrungener Untätigkeit dauerte es, bis die Synagoge in den Besitz der Stadt Erfurt gelangte.

Der Hof aber gehört zum Traditionslokal. Sein Bauherr willigte in den Abriß eines Lagerhauses ein, das die Westfront verdeckt hatte, ließ einen Anbau niederlegen, wodurch die Südwand der Synagoge frei wurde, und erklärte sich bereit, künftig öffentlichen Zugang zu dem Denkmal zu gewährleisten. Im Gegenzug ist ihm der Betrieb eines Biergartens im Hof zugesagt worden und ein Wintergarten an der Synagogen-Südwand. Sein ziegelsteinerner Unterbau steht bereits. Für ihn fordern Behörden jetzt eine Brandmauer, hinter der, kaum freigelegt, die südliche Flanke der Synagoge wieder verschwinden würde.

Alarmierend selbst für Experten war eine neue Betonplattform knapp einen Meter vor der Westfassade. Das Gebilde deckt einen 1840 entstandenen Gewölbekeller, der unter Denkmalschutz gestellt worden ist. In ihm soll eventuell eine Weinstube, auf der Plattform ein Altan entstehen. Hier die verbrieften Ansprüche und Rechte eines Privatbesitzers, da die ungeklärten Ansprüche eines unvorhergesehenen Denkmals – Erfurt, schier überquellend an bedeutenden sanierungsbedürftigen Monumenten, ringt um Lösungen.

Klar ist vorerst nur das Bau- und Nutzungsprogramm der Traditionsgaststätte. Doch welchem Zweck soll die restaurierte Synagoge einmal dienen? Was tun mit der verdeckten Nordseite? Was mit den historistischen Wandmalereien des Tanzsaals, unter denen womöglich Bauschmuck der Synagoge steckt? Zudem ist die vollständig erhaltene Ausstattung des Saals mit Karyatiden, Emporen. Lüstern und Buntglasfenstern ihrerseits ein bemerkenswertes Denkmal. Doch die Vorstellung. außen die Synagoge und innen den Tanzsaal zu restaurieren, provoziert sofort die Erinnerung an Joshua Sobols grausig heiteres Singspiel „Ghetto": „Auf dem Friedhof tanzt man nicht“, heißt es darin.

Nur eines ist sicher: Mit der romanisch-gotischen Synagoge hat Erfurt ein Denkmal von europäischem Rang wieder entdeckt – und Deutschland das Zeugnis einer verschollenen Architektur, älter noch als Prag, anders als in Worms in situ erhalten. Und es ist, wie alle Zeugnisse jüdischen Lebens in Deutschland, umgeben vom düsteren Nimbus der „Kristallnacht“ und des Holocaust. Dieser verwahrloste Bau ist ein Kulturgut. das die Deutschen so viel angeht wie die Dresdner Frauenkirche oder der Speyerer Dom. Die Denkmalpflege hat noch langwierige Bettelgänge bei Stadt, Land und Bund vor sich. Wie Strandgut der Geschichte wartet die Synagoge. während ringsum neue samt restaurierten alten Mauern wachsen – und der Treibsand der Behörden rieselt.

 

 

Schmalkalden

Geschichte:

Im Jahre 1524 wurden die Juden aus der Herrschaft Schmalkalden ausgewiesen. Landgraf Philipp von Hessen befahl seinen Amtleuten, sämtliche in der Herrschaft wohnenden Juden des Landes zu verweisen und ihnen den fürstlichen Schutz aufzusagen. Es sollte den Jude natürlich nur gegen einen entsprechenden Zoll, lediglich not gestattet sein, das „Fürstenthumb zu passieren“.

Dabei hatte sich die Landesherrschaft 1494 selbst über das Schmalkalder Privileg hinweggesetzt, keine Juden aufnehmen zu brauchen und hatte trotz des heftigen Protestes des Rates die ihm willkommenen Steuerzahler in der Stadt angesiedelt. Selbstverständlich mag dabei die Furcht vor der Wut der Volksmassen auf besonders reiche Juden, die sich al Wucherer mit an der Ausbeutung des Volkes beteiligten, eine große Rolle gespielt haben. Es liegt aber auch nahe anzunehmen, daß sich die herrschenden Kreise mit dem landesherrlichen Erlaß ein Ventil schaffen wollten, um die revolutionäre Kraft des Volker für sie ungefährliche Bahnen zu lenken. Judenfeindliche Tendenzen sollten im Bauernkrieg noch eine große Rolle spielen.

Der Hammerschmied Hans Dobereiner ließ sich als Mithauptmann ins Bauernheer wählen, um seinen Einfluß im Interesse der städtischen Oberschicht geltend zu machen. Er war einer der reichsten Bürger Schmalkaldens (er mußte 600 Gulden Strafe zahlen und ein Gut abtreten) rühmte sich sogar in der Badestube, daß er sich zum Aufstand habe gebrauchen lassen, um Juden und Pfaffen schatzen zu helfen. Der Judenhaß flammte also auch wieder während des Aufstandes auf, und die futterneidischen Reichen der Stadt versuchten, die allgemeine Stimmung dazu auszunutzen, ihre jüdischen Konkurrenten zu schädigen (Festschrift zur 1100-Jahr-Feier der Stadt Schmalkalden, S.42 und 48).

Am 8.4.1757 wurde ein Judenjunge, der aus Würzburg stammte in der reformierten Kirche auf den Namen „Christian Wilhelm Eberhard Schmalkalden“ getauft. Er erhielt also als Familiennamen den Namen der Stadt, in der er getauft wurde (Heimatkalender 1939, Seite.85).

Ostfriesen und Juden erhielten Anfang des 19. Jahrhunderts durch behördlichen Zwang Familiennamen.

Am Haus Steingasse 7 ist heute noch ein Judenstern zu sehen (wohnten etwa dort Juden und nicht im Haus Nr. 9 ?). Augenzeuge der Zerstörung der Synagoge ist Ernst Endter, über die geschichtlichen Vorgänge kann Herr Willi Peter zuverlässig Auskunft geben.

Ein Jude war auch Herr Friedländer, dessen Frau auf der Kirchenkasse arbeitete. Er hat einen Sohn, der behauptete, ein Herr Werner, der Schreibmaschinen repariert, sei Augenzeuge (der Vater?).

 

Die jüdische Gemeinde Schmalkaldens

Von Carl Plaut aus: Heimatkalender für den Kreis Herrschaft Schmalkalden auf das Jahr 1930.

Zu den Erneuerungsbauten, die das Bild unserer Stadt in besonders glücklicher Weise verschönert haben, gehört der Umbau des jüdischen Gotteshauses, der Synagoge. Solange die Judengasse eine Nebenstraße war, die wegen schlechten Pflasters und mangelnder Bürgersteige von Fahrzeugen und Fußgängern nur wenig benutz wurde, fiel die alte Synagoge umso weniger auf, als sie durch einen kleinen Vorhof von der Maße getrennt und durch einen hohen Bretterzaun teilweise verdeckt war. Mit einem Male änderten sich die Dinge: der rasch zunehmende Verkehr machte es notwendig, daß die enge Steingasse als Einbahnstraße erklärt und die Judengasse verbreitert und mit guten Bürgersteigen versehen wurde, und da war fast plötzlich die einst so stille Gasse mitten in dam hastige Getriebe unseres Lebens gestellt.

Die Anwohner spürten das und sie begannen, ihre ungepflegten Häuser herauszuputzen, Herr Rompf errichtete moderne Bauten in dem großen Garten, der zu seinem- Hause gehörte, und dessen fruchtbare Üppigkeit bis dahin durch einen Lattenzaun gleichfalls den Blicken der Welt entzogen war, scheu, wie seine ehemaligen Besitzer versteckt gelebt hatten. Da mußte die Synagoge auch aus ihrer ärmlichen Verstecktheit heraustreten, und die israelitische Gemeinde beschloß ihre Erneuerung.

Das Haus hatte keinerlei .architektonischen Schmuck. Es war ein hoher rechteckiger Steinkasten ohne Fenster nach der Straßenseite. Nur ein verwitterter Holzverschlag, der die Frauenempore barg unterbrach die kahle Front. Es muß gesagt werden, daß in den jüdischer Gotteshäusern Männer und

Frauen getrennte Plätze haben; die Frauen nehmen Emporen ein, den Männern ist das Erdgeschoß vorbehalten. In der alten Synagoge lag der Eingang zur Männerabteilung auf der Rückseite des Gebäudes. Man plante nun, diesen Eingang nach der Straßenseite zu verlegen und mit der Frauenempore zu verbinden und dadurch zugleich dem Hause m ein würdiges Aussehen zu geben, es zu einer schlichten Zierde der Straße zu machen. Das bauliche Problem scheint sehr gut gelöst zu sein, ein Verdienst des Architekten Herrn Walter Peter, denn täglich bleiben Vorübergehende stehen, betrachten das schöne, schlichte Haus, und viele lassen sich auch hineinführen, um sein Inneres kennenzulernen, das einfach ,aber geschmackvoll gehalten ist.

Die Einweihung der so erneuerten Synagoge fand am Sonntag, dem 22.September statt. Um 11 Uhr versammelten sich die Ehrengäste- und die Gemeindemitglieder im Vorhof, der sinnvoll mit gärtnerischem Schmuck ausgestattet war. Herr Emil Hehn, der Vorsteher der beiden Kreisgemeinden Barchfeld und Schmalkalden, von dem der Gedanke des Neubaus ausgegangen war, übergab mit freudig bewegten Worten dem Provinzialrabbiner, Herrn Dr. Cahn aus Fulda, den Schlüssel, der mit einem Gebete feierlich die Tür aufschloß.

Nachdem Ehrengäste und Gemeinde ihre Plätze eingenommen hatten, wurden die Thorarollen in feierlichem Zuge unter Psalmengesang eingebracht und in den Schrein gestellt. Sodann begrüßte der zweite Gemeindeälteste, Herr Julius Heilbronn, die Versammlung: zuerst Herrn Dr. Cahn, das geistige Oberhaupt der Gemeinde, dann die Herren Bürgermeister Boehne, Metropoliten Wolff, Stadtverordnetenvorsteher Söldner, die Gemeindeältesten von Barchfeld u.a.

Er sagte in einer kurzen Ansprache: „Nicht die Notwendigkeit einer Vergrößerung des Hauses hat den Umbau bestimmt, sondern allein der bürgerliche Ordnungssinn der Gemeinde, ihre Liebe zur Heimat, ihr Wille, auch zu ihrem Teil beizutragen an der Verschönerung des Straßenbildes der Stadt. Darum hat sie in dieser wirtschaftlich so schweren Zeit gern die Opfer gebracht, die bald nach Beginn der ersten Bauarbeiten sich um ein Mehrfaches gegen den Voranschlag erhöhtet: Den Mittelpunkt und die Höhe der Feier bildete die Weiherede des Herrn Dr. Cahn. Sie zeichnete sich aus durch seinen rednerischen Stil, durch Klugheit ihres Gedankenganges und ganz besonders durch ergreifende Tiefe religiösen Gefühls.

Die Rede umspannte drei große Gedanken: Die Weihe einer so heiligen Stätte muß zuerst Gefühle des Dankes gegen Gott erwecken, der allein die Idee zum Werke eingegeben, sein Gelingen gefördert und seine Vollendung gefügt hat. (Orthodoxe jüdische Geistliche sprechen im Gotteshause nie einem Menschen. Lob oder Anerkennung für geleistete Dienste aus).

Dann ermahnte er die Gemeinde zur Treue gegen Heimat und Staat zu reger hingebender Mitarbeit an der Wohlfahrt der Allgemeinheit nach den Worten, die der Prophet Jeremia den in die Verbannung abziehenden Juden nachrief: „Sorgt für die Wohlfahrt des Volkes, in dessen Mitte euch zu leben bestimmt ward!“ Zu allen Zeiten hat der wahrhaft religiöse Jude getreu diesem hohen Worte gelebt. In Zeiten schwerster Anfeindung heben unsere Väter in ihren Gotteshäusern inbrünstig gebetet für die Wohlfahrt derer, von denen sie bedrängt und verfolgt wurden, denn Haß soll der Jude nicht üben.

Zum dritten wies er auf die ursprüngliche und ganz besondere Bedeutung der jüdischen Synagoge hin. Ihr wahrer Charakter offenbart sich in des schlichten Wort: „Schulen gehen“, d.h. zur Schule gehen, wenn man sagen wollte, man geht zum Gottesdienst .Die Synagoge soll die Stätte sein, wo der Jude lernt. Was er dort in der heiligen Schrift hört, solle er beherzigen und im Leben soll er danach handeln, auf daß er ein edler Mensch werde. Die Synagoge sei eine Hochschule der Erziehung zum sittlichen Handeln. Mit dem Gebete für Vaterstadt und Vaterland, das er in hebräischer Sprache las, schloß die Feier. Es sei herzlich zu. wünschen, daß die Gemeinde den Eindruck jenes hohen Tages treu bewahre.

Es dürfte erlaubt sein, an dieser Stelle einen kurzen Abriß über die Geschichte der israelitischen Gemeinde Schmalkaldens zu geben. Sie ist ein Stück echter Heimatgeschichte. Die hiesige Gemeinde ist alt. Leider fehlen eigene jüdische Aufzeichnungen. Man weiß nicht, wann die ersten Juden sich hier niedergelassen haben. Doch die Heimatgeschichte berichtet mancherlei über sie. Das Erfurter Judenbuch nennt bereits im Jahre 1383 mehrere Juden in Schmalkalden namentlich, die steuerpflichtig sind. Im Jahre 1349, nach anderer Meldung 1435, sollen 18 Juden wegen Brunnenvergiftung totgeschlagen und an der Stelle begaben worden. sein, die heute noch den Namen „Judendelle“ trägt Nach unverbürgten Auffassungen sollen jene Unglücklichen sogar lebendig begraben worden sein, was immerhin möglich erscheint in einer Zeit mittelalterlichen Dunkels der Geister, in einer Zeit, die mit grausamsten Folterwerkzeugen Geständnisse erpreßte, Hexen und Ketzer verbrannte und in Frankreich zum Beispiel 50 Tempelritter auf den Scheiterhaufen schickte. Sicher ist, d aß in Jahre 1552 Graf Wilhelm VII. von Henneberg den Juden gestattete, sich in seinem Herrschaftsgebiete niederzulassen. Es werden zwei Namen in Breitungen und Brotterode genannt. In Schmalkalden selbst scheinen sie nicht geduldet worden zu sein, vermutlich, wie Geisthirt meint, gegen den Einspruch des Landgrafen Philipp‚dem Schmalkalden seinerzeit gehörte. Dagegen gestattete Landgraf Moritz-1611 vier Judenfamilien die Niederlassung in Schmalkalden. Einer von ihnen war Isaak Schmuel. Er baute 1622 in einem Hofe und Winkel der Judengasse die Synagoge, einen kleinen niedrigen Bau, der sein Andenken in einer bescheidenen Gedächtnisinschrift trug.

Dieser Mann zog nach Verheiratung seiner Kinder nach Palästina, wo er starb. Landgraf Moritz wies den Juden ihre Rechte zu. Sie durften kein anderes Gewerbe treiben als das des Handelns und Geldverleihens, die Höhe des Zinses war vorgeschrieben. Eine Judengasse, das Ghetto, gab es damals trotz des Namens „Judengasse“ nicht, denn die hier eingewanderten Judenfamilien wohnten an verschiedenen Stellen der Stadt, so Pfaffengasse und Haindorfsgasse.

Es scheint aber außer ihnen andere Juden als Händler häufig in die Stadt gekommen sind, sonst würde sich der Bau einer Synagoge nicht erklären lassen, da nachjüdischem Brauche ein gemeindlicher Gottesdienst nur stattfinden darf, wenn zehn Männer versammelt sind. Als 1636 die Schmalkalder Bürger sich über die Anwesenheit von Juden beschweren und um ihre Verweisung aus der Stadt nachsuchen, verwarnt sie Landgraf Georg II. ausdrücklich mit dem Hinweis, daß er keine Vergewaltigung der Juden dulden wird, wie sie in Frankfurt geschehen seien.

Er wisse sehr wohl, daß die Bürger von der Geistlichkeit aufgehetzt seien. Es wird immer und gewiß auch mit gutem Rechte so sein, daß die Fürsten nur deswegen in ihrem Gebiete Juden geduldet hätten, weil diese ihnen hohe Abgaben (Schutzgelder) zu entrichten hatten und so willkommene Steuerzahler waren, die den fürstlichen Säckel füllen mußten.

Da aber gerade unter den Hennebergern geistig sehr hoch stehende Männer waren, sollte man annehmen dürfen, daß sie auch aus rein menschlichem Empfinden gegen die Juden toleranter waren als selbst die Geistlichkeit. Auch die Auslassungen des hessischen Landgrafen Georg scheinen dafür zu sprechen.

Geisthirt berichtet weiter, daß 1666 bereite 11 Judenfamilien hier ansässig gewesen seien, die 55 Seelen zählten. Das muß zutreffen, denn sie haben damals schon einen Friedhof gehabt, den heute noch vorhandenen Friedhof am Stiller Tor, dessen mächtige wunderbar gewachsene Eiche jetzt unter Naturschutz steht und mit den alten, halb umgestürzten, moosbedeckten Grabsteinen ein malerisches Bild gibt.

Bei einer Untersuchung vier Grabsteine in letzter Zeit wurde einer ermittelt, der in hebräischer Sprache und Berechnung die Jahreezahl1652 trägt; er mag indessen noch nicht der älteste sein. Auch späterhin haben die Landesfürsten Schutzbriefe an Juden in Schmalkalden erteilt. Die Familie Cohn, die ihren Stammbaum einige Jahrhunderte zurückverfolgen kann, besitzt mehrere solcher Schutebriefe mit fürstlichen Siegeln und Unterschriften und ein Ölbild eines ihrer Vorfahren, der in einem solchen Briefe benannt ist; das Bild trägt die Jahreszahl 1726. Die Gemeinde scheint sich im laufe der Zeit nur wenig vergrößert zu haben. 

Ob um das 18. Jahrhundert Juden zwangsweise in der Judengasse wohnten oder ob mehrere Familien zufällig ihre Häuser dort hatten, darüber wird nichts berichtet. Doch sagt Geisthirt, daß bei einem Brand, der in der Nacht vom 6. zum 7. Juni des Jahres 1717 in der Waschküche eines Juden in der Judengasse ausbrach, vier Judenhäuser verbrannt sind. Auch die fast 100 Jahre alte Synagoge fiel dem Feuer zum Opfer. Sie durfte aber bald wieder aufgebaut werden und ist dasselbe Haus, das jetzt seine Erneuerung erlebt hat.

Allmählich besserten sich auch die Beziehungen zwischen den christlichen und jüdischen Bürgern der Stadt. Je länger man zusammen wohnte, desto mehr lernte man einander kennen. Viel hat zu dieser glücklichen Wendung die Befreiung der Juden von den mittelalterlichen Fesseln beigetragen. Die von der großen französischen Revolution ausgehende Aufklärung der Geister Uropas gab auch in Deutschland den Juden die bürgerliche Freiheit, sowohl der Wohnung als auch der Berufswahl. Eine Anzahl jüdischer Bürger unsrer Stadt ergriffen Handwerke. Außer einem Metzger gab es im 19. Jahrhundert hier einen Sattler, einen Schneider und zwei Leinenweber, die alte Schmalkalder teilweise noch gekannt haben. Durch besondere, noch gültige Gesetze aus den Jahren 1823 und 1833 wurden die israelitischen Gemeinden Kurhessens der Staatsaufsicht unterstellt. Sie erhielten eine eigne innengemeindliche Verfassung.

Ihre wirtschaftliche Verwaltung untersteht der Aufsicht des Landratsamtes ihres Kreises, und alle Gemeinden des Kasseler Gebietes haben eine gemeinsame Aufsichtsbehörde im Vorsteheramt Fulda, dessen Regierungskommissar der Landrat zu Fulda ist. In religiösen Angelegenheiten sind sie dem Rabbinat Fulda unterstellt, wie die hiesige katholische Gemeinde dem Episkopat Fulda angehört. Fulda scheint schon seit alters maßgebenden Einfluß auf die hiesige jüdische Gemeinde gehabt. zu haben, denn ein bedeutender Talmudforscher, Rabbi Meir Schiff aus Fulda, hat vor etwa 300 Jähren sein Werk der Talmuderklärung hier in Schmalkalden vollendet.

Die Erneuerung der Judengasse und der Synagogenbau haben unlängst einen witzigen Schmalkalder veranlaßt, in einem mundartlichen Gedicht scherzend seinen Unmut darüber auszulassen, daß nun die Juden sehr bequem zu ihrer Schule gehen könnten, während die Christen sich auf dem Gang zur Kirche auf dem verwahrlosten Pflaster des Kirchhofs die Schuhsohlen und die Füße wundlaufen müßten. Doch auch hier wird die Zeit einmal Wandel bringen.

 

Judenpogrom 1938:

Wie überall in Deutschland wurde auch in Schmalkalden in der Dacht vom 9. zum 10. November 1938 das jüdische Gotteshaus, die Synagoge, zerstört. Sie stand in der heutigen Straße „Hoffnung“, in dem Teil nach der Salzbrücke zu, der damals „Judengasse“ hieß. Neben dem Geschäft Roppel (heute: Werkzeughaus) befand sich damals schon eine Autovermietung, daneben war dann die Synagoge. Deren Bereich ist heute in die Autowerkstatt mit einbezogen. Erst seit dem 2.11.1988 erinnert eine Gedenktafel an der Wand der Autowerkstatt an das jüdische Gotteshaus.

Nach einer Angabe wurden in jener Nacht die Einrichtungsgegenstände (Bücher usw.) im Inneren verbrannt. Nach anderer Angabe wurde das Mobiliar der Synagoge uns alles andere Brennbare auf den Altmarkt gebracht und dort verbrannt. Die Juden der Stadt und einzelne Juden aus den Orten des Kreises mußten zusehen. Dann mußten sie im Hof des Rathauses antreten. Dort hat sie eine Frau aus Altersbach gesehen, die beim Fleischer Katzung arbeitete und den Juden immer Fleisch brachte, weil sie nicht mehr ins Geschäft durften. An diesem Tag wollte sie Fleisch in den Ratskeller bringen. Es wurde ihr aber bedeutet, sie solle nicht wie üblich über den Hof gehen, sondern von vorne durch die Gaststätte in die Küche gehen.

Die Synagoge wurde dann am nächsten Tag gesprengt. Man hatte sie nicht anzünden können, weil dadurch die Nachbarhäuser gefährdet worden wären. Auch die jüdischen Geschäfte wurden verwüstet. Einige waren praktisch schon nicht mehr in Betrieb, zum Beispiel das Konfektionsgeschäft Teller an der Salzbrücke (heute: Volksbuchhandlung), wo nur noch einige Schaufensterpuppen in den Schaufenstern standen, oben wohnten noch zwei alte Leute.

Beim Geschäft Eckmann in der Auergasse (heute: Textileinkaufzentrum) versuchte man, die Schaufensterscheiben mit Beilen einzuschlagen. Als dies aber wegen der Stabilität des Glases nicht gelang, holte man Balken und rammte die Scheiben mit vereinten Kräften ein. Ein Sohn der Familie Eckmann kam nach dem Krieg noch einmal nach Schmalkalden. Der Fleischer Katzung gab ihm Geld, er wollte nach England.

Es gibt noch zwei weitere Zeugnisse für die jüdische Gemeinde in Schmalkalden. Da ist einmal der jüdische Teil des Städtischen Friedhofs. Dorthin hat man auch die Grabsteine vom Friedhof bei der Totenhofskirche in der Bahnhofstraße gebracht und wieder aufgestellt. Die Junge Gemeinde hat damals dabei geholfen. Es wurde dort auch ein zusätzlicher Gedenkstein aufgestellt.

Dort waren auch schon Gräber von Juden, die in den letzen Jahrzehnten dort bestattet worden sind. Diese Grabstätten wurden 1988 wieder würdig hergerichtet mit großem Einsatz der städtischen Behörden. Das letzte Grab ist aus dem Jahr 1939. Das sagt mehr als alle Nachrichten in Geschichtsbüchern.

Außerdem erinnert das Grundstück Stiller Tor 3 an die Juden in Schmalkalden. Dort war der erste jüdische Friedhof, damals noch außerhalb der Stadtmauer gelegen. Das Haus war 1925 im Besitz der jüdischen Gemeinde, die Familie Ernst Köhler war damals Mieter. Im späteren Adreßbuch dagegen ist Köhler Eigentümer, von der jüdischen Gemeinde ist keine Rede mehr. Es könnte allerdings sein, daß das Haus offiziell verkauft wurde. Heute soll es wieder im Besitz der jüdischen Gemeinde sein.

Juden gibt es in Schmalkalden nicht mehr. Die nächste jüdische Gemeinde ist in Erfurt. Sie hat noch 28 Mitglieder. In der gesamten DDR gibt es nur noch 350 Juden, die sich zur Gemeinde halten (solche, die im Politbüro oder im ZK sind, kann man nicht mehr zählen).

 

Das Schicksal unserer jüdischen Mitbürger von Schmalkalden

Sie sind nicht vergessen

Von Helmut Kirchner, Mitglied des Kreisvorstandes für Heimatgeschichte im Kulturbund der DDR

 

Vor 50 Jahren, in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938, verübten die Faschisten eines ihrer furchtbaren Verbrechen. Sie begannen, ein kleines Volk, das unter uns lebte, schon fünf Jahre unter Druck gesetzt, restlos zu vernichten. Auch unsere Kreisstadt Schmalkalden wurde Schauplatz dieses Verbrechens. Die Jüdische Gemeinde Schmalkalden und mit ihr sechs Millionen Bürger jüdischen Glaubens in Deutschland mußten in den Mordanstalten des Faschismus sterben.

Was wissen wir von den jüdischen Mitbürgern unserer Stadt? Hier nur einige Angaben:

 Schon 1349 werden im Erfurter Judenbuch namentlich mehrere Juden in Schmalkalden genannt. 1611 gestattet Landgraf Moritz vier Judenfamilien, sich hier niederzulassen, 1622 hat Isaak Schmuel die erste Synagoge, das Versammlungshaus und die Schule der Juden, in einem niedrigen Bau in einem Hof und Winkel in der ehemaligen Judengasse errichtet. 1660 gab es bereits elf Judenfamilien mit 53 Angehörigen. Vor 360 Jahren hat der bedeutende Talmudforscher Rabbi Meir Schiff aus Fulda hier in unserer Stadt sein Werk der Talmudaufklärung vollendet (Talmud - Sammlung von jüdischen Überlieferungen).

Die jüdischen Mitbürger durften im Laufe der Jahrhunderte nur bestimmte Tätigkeiten ausführen. So waren sie meistens Händler, Kaufleute, Geldverleiher. In der Zeit von 1918 bis 1933 gingen sie ihrer Arbeit als Geschäftsleute, Händler, vor allem hier beim Handel mit Vieh und Altstoffen, nach. Im Bankgewerbe, in der Drogeriearbeit u. a. m. waren diese Bürger beschäftigt. Durch ihre Tätigkeit nahmen die jüdischen Mitbürger regen Anteil am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben zum Wohle unserer Stadt.

Die Jüdische Gemeinde besaß am Stiller Tor einen sehr alten Friedhof, den „Guten Ort“, wie die Juden sagen. Für Begräbnisse reichte er nicht mehr aus. Nach jüdischer Sitte durften die Gräber nicht eingeebnet werden. So erhielten sie im 19. Jahrhundert einen neuen Friedhof im Eichelbach. Durch bauliche Maßnahmen wurden die sehr alten Grabmäler des Friedhofes am Stiller Tor auf den neuen Begräbnisort verlegt.

Da die alte Synagoge durch einen Brand vernichtet wurde, errichtete 1929 die damalige Firma Walter Peter im Auftrag der Jüdischen Gemeinde hier in der ehemaligen Judengasse ein neues Gotteshaus. Die Synagoge sollte nur acht Jahre und einen Monate alt werden. Nachdem man in den Jahren von 1934 bis 1938 auch die Schmalkalder Bevölkerung zwang, nicht mehr bei den jüdischen Geschäftsleuten zu kaufen, spitzte sich die Haßkampagne der Nazis gegen diese Menschen immer mehr zu. „Wer beim Juden kauft, ist ein Volksverräter!“ So lauteten die Schilder an jüdischen Geschäften und dienten der Abschreckung der Bevölkerung.

Dann kam jene schmerzvolle Nacht vom 9. zum 10. November 1938. Die damaligen Herrscher gaben den Befehl zur völligen Vernichtung der jüdischen Bürger in Deutschland. Auch in Schmalkalden begann diese Nacht um 22 Uhr mit dem Befehl „Zerstörung sämtlicher jüdischer Geschäfte, Verhaftung der gesamten jüdischen Bevölkerung, Vernichtung der Synagoge!“

Hier ein Augenzeugenbericht: „Kaum hatten die Nazigrößen der Stadt den Befehl an die SS- und SA-Abteilungen weitergegeben, als die Zerstörung der Läden begann. Mit Steinen warf man die Schaufenster ein, und wo die Scheiben zu stark waren, mußten Handwerkzeuge wie Pickel, Zuschlaghämmer her. Danach warf man die Auslagen durcheinander. Bis Mitternacht hatte man sämtliche Juden, ganz gleich, ob Männer, Frauen, Kinder, alte Leute, aus den Betten gezerrt und auf dem Altmarkt zusammengetrieben. Von dort ging es im Eilschritt zur Synagoge.

Die Juden mußten ihr neues Gotteshaus selbst ausräumen. Wertvolle Altargeräte, Bänke, Thorarollen und kostbare Teppiche, die an den Wänden hingen, schleppten die verängstigten Menschen zu einem mächtigen Haufen zusammen. Der alte Markt erlebte ein Bild nazistischer Grausamkeit. In den auflodernden Flammen konnte man die verzweifelten Gesichter der jüdischen Bürger sehen. Unter Schlägen und Gebrüll jagte man sie durch die Auer Gasse und sperrte die armen hilflosen Menschen in das Haus des jüdischen Mitbürgers Moritz Jakob, Auer Gasse 29, ein, wo sie unter SS-Bewachung die Nacht verbringen mußten. Am anderen Morgen, dem 10. November, mußten sie vor den Augen der Schmalkalder aufräumen, was andere bei ihnen mutwillig zerschlagen hatten. Die Synagoge war durch eine Sprengladung in sich zusammengestürzt. Der Versammlungsort, die Schule der Juden, war vernichtet. Nun sollten die Menschen an die Reihe kommen!“

 

Die Frage erhebt sich, wie viele jüdische Mitbürger in dieser schrecklichen Zeit in den Mauern der Stadt Schmalkalden wohl lebten. Nach den letzten Forschungen wohnten 37 Familien mit insgesamt 71 Männern, Frauen und Kindern hier. 28 Häuser gehörten den jüdischen Mitbürgern, darin waren 15 Geschäfte bzw. Läden, in denen sie die Schmalkalder Bevölkerung in Stadt und Land weitgehendst mit ihren preiswerten Waren zufriedenstellten.

Namen wie Kaufhaus Eckmann und Hahn (Auer Gasse), Drogerie Müller und Kurzwarenladen Rosenthal (auf dem Altmarkt), Schuhgeschäft Schlesinger (Soldatensprung), Wäschehaus Müller (Salzbrücke 10), Konfektionshaus Meier und Ganz, (Steingasse 9), Altstoffhandel Schlesinger (Entenplan), Bankhaus Gumprich (Weidebrunner Gasse) und viele andere sind den älteren Schmalkalder Bürgern noch gut in Erinnerung.

Diese schätzungsweise 63 Schmalkalder Juden - acht Bürger konnten noch rechtzeitig ohne Hab und Gut auswandern - gingen den letzten bitteren Weg durch die Todeskammern von Auschwitz, Buchenwald, Theresienstadt, Ravensbrück, Mauthausen und anderen Konzentrationslagern des faschistischen Regimes.

Wir verneigen uns vor unseren ermordeten jüdischen Mitbürgern und geben auch 50 Jahre danach das Versprechen ab, der Jugend unserer Stadt und des Kreises Schmalkalden immer wieder Geschichte und Schicksal dieser Menschen nahezubringen, sie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, ihren Friedhof zu pflegen, denn kein jüdischer Bürger lebt mehr in unserer Stadt.

Mögen uns die Worte des Präsidenten des Weltjudenkongresses, Prof. Dr. Israel Singer, stets Erinnerung und Mahnung bleiben: „Wir sind ein kleines Volk der Juden. Was uns geschehen ist, darf niemals anderen geschehen!“

 

Gedanken zu einem Bild

Dieses Bild wurde mir vor wenigen Tagen von einem Bekannten übergeben. Aufgenommen wurde es genau heute vor 50 Jahren in unserer Heimatstadt Schmalkalden von einem mutigen Bürger unter Lebensgefahr.

Wenn ich dieses Zeitdokument betrachte und sehe, wie die jüdischen Männer und auch Kinder unter Aufsicht von SS und Gestapo die von den Faschisten verursachten Trümmer und Scherben aus zerstörtem jüdischem Eigentum mit Besen, Schaufeln und den bloßen Händen; auf die-Handkarren aufladen und dann zum Schutt fahren mußten, dann stehen mir diese und ähnliche grausame Bilder dieser Zeit und aus persönlichem Erleben vor den Augen. Unauslöschlich bleiben die zerschlagenen Fensterscheiben, die herausgezerrten und zerstörten Auslagen der jüdischen Geschäfte, die verbrannten Einrichtungsgegenstände der Synagoge auf dem Altmarkt, aber besonders die unmenschliche Art der Behandlung der jüdischen Menschen durch SS und Gestapo in meinem Gedächtnis eingeprägt. Dies aber auch aus eigenem Erleben. Ich weiß und es ist vielen bekannt, daß dies nicht erst in der Pogromnacht am 9. 11. 1938 begann. Der Anfang der Judenverfolgungen und des Antisemitismus liegt in der Geschichte weit zurück. Das, was in dieser Nacht geschah, war Fortführung durch den Faschismus und der Beginn der millionenfachen Vernichtung der

jüdischen Menschen. Es wäre zu einfach, vom geschehenen Unrecht an den Juden zu sprechen. Das war planmäßig vorbereitetes Verbrechen, das war planmäßig organisierter millionenfacher Mord an den Juden Europas, aber auch an Antifaschisten, Polen, Sowjetbürgern und auch Zigeunern, das war Völkermord im Zweiten Weltkrieg. Es. gab aber auch in dieser Zeit millionenfaches Schweigen zu diesen Grausamkeiten, Dulden dieser Verbrechen und aktives Mittun.

Wir haben in unserem Staat die Lehre gezogen, das Vermächtnis der Opfer dieser Zeit wird geachtet und gewahrt: Das Bild der Pogromnacht in Schmalkalden mahnt und verpflichtet uns aber auch, nicht zuzulassen, daß sich das wiederholt (10. Nov. 1988 Kurt Pappenheim).

 

Schmalkalden

Das Schmalkaldener Adreßbuch von 1936 weist 20 jüdische Familien auf. Da die jeweilige Zahl der Familienmitglieder nicht immer zu ermitteln war, lassen sich keine sehr genauen Angaben über die absolute Zahl der jüdischen Bürger in Schmalkalden machen. Meine Schätzung liegt bei 40 bis 60 jüdischen Bürgern.

Für solch eine Gemeinde war natürlich auch ein Gotteshaus, eine Synagoge, vorhanden. Erst 1930, drei Jahre vor Beginn der Nazidiktatur, wurde die alte Synagoge im Zuge der verkehrsmäßigen Erschließung der Judengasse erneuert und wurde so zu einem Schmuckstück des Stadtkerns von Schmalkalden.

Doch diese Schönheit konnte nicht lange bewundert werden. In der Nacht des 9. November 1938, der sogenannten „Kristallnacht“, fiel die erst acht Jahre stehende neue Synagoge dem Ansturm der Schmalkaldener SS und SA zum Opfer.

Nach Berichten einer Reihe von alten Leuten lief diese Nacht folgendermaßen ab: Gegen 23.00 Uhr marschierte die Schmalkaldener SS in der Judengasse vor der Synagoge auf. Die vorwiegend jungen SS-Leute begannen, die Synagoge zu zerstören, indem sie als erstes die gesamte Inneneinrichtung herausrissen und auf dem Altmarkt verbrannten. Danach wurde die Synagoge in Brand gesteckt und brannte völlig aus. Doch die SS gab sich mit diesem Bild der Zerstörung nicht zufrieden. Die Synagoge sollte dem Erdboden gleich gemacht werden. Nichts sollte mehr an das einstige geistliche Zentrum der jüdischen Gemeinde erinnern. Einige Tage nach der Pogromnacht beschäftigte sich die SS sage und schreibe einen vollen Tag damit, die übriggebliebenen verkohlten Mauern des jüdischen Gotteshauses zu sprengen.

Aber nun wieder zurück zu den Geschehnissen in der Pogromnacht. Natürlich richteten sich die Aktionen der SS und SA auch gegen die jüdischen Geschäfte. Beim Kaufhausbesitzer Emanuel Eckmann wurden z. B. sämtliche Schaufensterscheiben eingeschlagen und er selbst wurde sofort verhaftet und wenig später ins Konzentrationslager geschafft. Eine Schmalkaldenerin, die damals sieben Jahre alt war, erlebte als kleines Kind, wie ganz plötzlich Feindschaft zwischen altbekannten Nachbarn aufbrach. Sie mußte zusehen, wie ein bekannter jüdischer Geschäftsinhaber von seinem „arischen“ Nachbarn auf die Straße getrieben wurde. Der Mann schlug auf seinen jüdischen Nachbarn ein und beschimpfte ihn. Der Geschlagene rief laut: „Warum schlagen Sie mich denn, Herr Nachbar, was habe ich Ihnen denn getan?“ Die Antwort des Schlagenden; „Halt’s Maul, Judenschwein!“

Eine heute 91 Jahre alte Frau beobachtete, wie die Juden auf dem Altmarkt zusammengetrieben und dann ins Gefängnis abtransportiert wurden. Ein Großteil wurde wieder freigelassen, um später ins Vernichtungslager transportiert zu werden.

Keiner meiner Interviewpartner hatte mitbekommen, wann und wie z. B. sein jüdischer Nachbar von der SA bzw. der SS oder der Polizei abgeholt wurde. Lediglich an einem Beispiel ist es mir möglich, den Weg der jüdischen Bürger Schmalkaldens nachzuzeichnen. Ob dieses eine Beispiel repräsentativ für die anderen jüdischen Bürger im Ort ist, kann ich allerdings nicht sagen, Aus persönlichen Gründen möchte mein Interviewpartner jedoch nicht namentlich genannt werden.

In der Pogromnacht zogen SA und SS vor das Haus, in dem die Familie meines Gesprächspartners wohnte, Seine Großmutter und auch seine Mutter waren jüdischer Abstammung, sein Vater war ein sogenannter Nichtjude und von Beruf Arzt.

SS-Leute traten die Tür ein und verschleppten die Mutter zum Polizeiamt. Ebenso wurde die 70jährige Großmutter, die in einem anderen Haus wohnte, aus dem Bett geholt und an denselben Ort gebracht. Nach ein paar Tagen wurden beide wieder entlassen, waren aber von der SA und der SS körperlich mißhandelt worden. In der Folgezeit durften die Familienmitglieder nur noch bestimmte Geschäfte aufsuchen und waren einem Friseur zugeteilt, der nur „Juden“ die Haare schneiden durfte. Das Tragen des Judensterns wurde Pflicht und keiner der Familie durfte öffentliche Verkehrsmittel benutzen, ins Kino gehen, eine Gaststätte besuchen oder Reisen unternehmen. Mein Gesprächspartner wurde damals vom Gymnasium verwiesen, was er als Kind „nur“ als wahnsinnige Ungerechtigkeit empfand.

Als erster der Familie wurde 1942 die 70 Jahre alte Großmutter meines Gesprächspartners in ein Zwischenlager gebracht, das sich in einem ausgebauten Ghetto von Theresienstadt befand. Von dort wurde sie auf Transport nach Auschwitz geschickt. Irgendwo zwischen Theresienstadt und Auschwitz verliert sich die Spur der Frau. Die späteren Nachforschungen meines Gesprächspartners blieben erfolglos.

Im Oktober 1944 wurde dann mein Gesprächspartner (damals 16 Jahre alt) ins Zwangsarbeitslager verfrachtet. Ebenso geschah es mit dem sogenannten „arischen“ Vater meines Gesprächspartners.

Die Mutter wurde Ende 1944 unter Bewachung eines Polizisten aus Schmalkalden ins Konzentrationslager Theresienstadt gebracht. Der Polizist wußte, daß der Weg im Konzentrationslager enden sollte und sagte der Mutter meines Gesprächspartners, daß es ihm sehr leid tue und daß er nichts gegen die Juden habe. Aber auch in diesem Falle müsse er seine Pflicht erfüllen.

Der Vater meines Gesprächspartners überlebte das Zwangsarbeitslager ebenso wie sein Sohn (mein Gesprächspartner), und zur großen Freude der Familie war auch die Mutter noch am Leben, als das Konzentrationslager Theresienstadt befreit wurde, und sie konnte nach Schmalkalden zurückkehren.

Jetzt, nach der Kapitulation Hitler-Deutschlands, wehte der Wind andersherum, und das merkten viele Schmalkaldener Bürger schnell. Plötzlich gab es keine Nazis mehr. Der Familie meines Gesprächspartners wurde das 'Haus eingelaufen. Alle möglichen Leute baten um sogenannte „Persilscheine“, die bescheinigen sollten, daß sie eine weiße Weste hatten, also keine Nazis gewesen waren.

Im Verlaufe des Gesprächs nahm mein Gesprächspartner auch allgemein zum Faschismus und seiner Ideologie Stellung. Ich will versuchen, einige dieser Äußerungen sinngemäß wiederzugeben. Das Vokabular habe ich dabei jedoch nicht verändert: Die Bevölkerung muß gewußt haben, was mit den Juden gemacht wurde. Wer damals nicht Augen und Ohren vor diesem Unrecht verschlossen hat, der wußte, was in den Konzentrationslagern geschah.

Den Grund dafür, daß sich viele Nichtjuden am Besitz der Juden bereichert haben, sieht mein Gesprächspartner darin: Die meisten Juden in Deutschland gehörten der besseren Gesellschaftsschicht an (Künstler, Kaufmänner, Intelligenz). Aus dieser Stellung in der Gesellschaft resultierte der Neid der nichtjüdischen Bevölkerung. Mein Gesprächspartner drückte es etwa so aus: „Der Neid ist eine der übelsten Triebkräfte, und wer den Neid weckt, findet offene Ohren!“ Der Bürger war einem System der laufenden Betrommelung ausgesetzt, das bereits im Vorschulalter begann, um den Menschen in seiner Entwicklung zu beeinflussen.

Mein Gesprächspartner führte den Erfolg dieser Massenpsychose auf drei Hauptursachen zurück: religiösen Haß, Rassenhaß und materiellen Neid. Unter Ausnutzung dieser drei Faktoren ist es den Nazis gelungen, ein Machtgebilde zu errichten, das den Effekt hatte, daß jede andersartige Regung mit Erfolg erstickt werden konnte.

Eine Frage wiederholte mein Gesprächspartner immer wieder während der gesamten Unterhaltung. Eben in dieser Frage lag die bitterste Enttäuschung und Traurigkeit: „Wie konnte es geschehen, daß es ein paar fanatischen Irren gelang, die in Jahrhunderten unter den Menschen gewachsene Moral mit einem Schlag zu zerschmettern?“

Ein Teil der Antwort auf diese Frage sieht für mich so aus: „Die buchhalterische Ausrottungspolitik der Faschisten war ein besonders scheußliches Beispiel dafür, wozu der Mensch fähig ist oder fähig gemacht wird, wenn er, ohne sein eigenes Gewissen und seinen eigenen Verstand zu befragen, die von der Obrigkeit geforderte Haltung und geförderte Haltung einnimmt. Ich meine aber auch, daß wir nicht das Recht haben, uns über die Menschen zu erheben, die damals nicht zum aktiven Widerstand fähig waren. Vielleicht hätte ich damals selbst nicht den Mut gehabt, in aller Öffentlichkeit gegen den Faschismus aufzutreten (Hosea Heckert, in: Gegen das Vergessen, Landesjugendpfarramt der Ev.-Luth. Kirche in Thüringen, 1988).

 

Einweihung der Gedenktafel für die Synagoge in Schmalkalden

Zeitungsartikel im Jahr 1988:

Stadtausschuß der Nationalen Front                                                                                   09.07.1988

zur Stiftung „Neue Synagoge Berlin“: „Wir unterstützen dieses Vorhaben“.

Mit Aufmerksamkeit wird von unseren Bürgern verfolgt, wie in der DDR konsequent die Verpflichtung erfüllt wird, das Andenken an die jüdischen Opfer des Faschismus zu ehren und wach zu halten.

Wir begrüßen in diesem Zusammenhang den Beschluß über die Errichtung einer Stiftung „Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum“. In ihrer Funktion als Zentrum zur Wahrung des Andenkens an die jüdischen Opfer, als Erinnerungsstätte und als Stätte des Gebets und der Andacht für jüdische Gläubige wird diese Synagoge zum Symbol der engen Verbundenheit der Bürger unterschiedlicher Weltanschauungen und Religionen in unserer Republik werden und unser Streben nach Frieden in der Welt dokumentieren.

Wir unterstützen dieses Vorhaben. Der Stadtausschuß Schmalkalden der Nationalen Front der DDR überweist daher auf das Konto 6651-34-200 bei der Staatsbank der DDR 500 Mark. Wir wirken weiterhin im Rahmen der Nationalen Front dafür, daß die Grabstätten jüdischer Bürger auf dem Friedhof der Stadt in Pflege genommen werden

 

In der ehemaligen Judengasse in Schmalkalden:                                                        30.07.1968

Gedenktafel wird angebracht

Der jüdische Friedhof im Eichelbach wird wieder in Ordnung gebracht.

Von der Salzbrücke kämmend vor dem jetzigen Werkzeughaus links gelangt man in diese Gasse Auf der rechten Seite schließt sich die jetzige Kfz-Vertragswerkstatt an. Und genau an dieser Stelle stand einst die - Synagoge das jüdische Gotteshaus.

Die Juden waren besonders im faschistischen Deutschland unmenschlichen Diskriminierungen und Verfolgungen ausgeliefert. Dies förderten die faschistischen Politiker durch massive Volksverhetzung und „legitimierten“ es sogar noch in Gesetzen. Für Millionen Juden begann eine Zeit unsagbarer Leiden und mit der berüchtigten Pogromnacht am 9. November 1938 wurde die massenhafte Liquidierung unschuldiger jüdischer Menschen eingeleitet.

50 Jahre sind seitdem vergangen, und nur wenige Schmalkalder werden sich noch an die brutalen Verbrechen hier in Schmalkalden erinnern. Alle Juden wurden gewaltsam auf die Straßen getrieben, Geschäfte und Einrichtungen zerstört und auch die Synagoge niedergebrannt. Am nächsten Morgen mußten die Juden die Scherben- ihres Eigentums zusammenräumen und wurden anschließend in die Vernichtungslager abtransportiert.

Die Judengasse benannte man später um und gliederte sie der „Hoffnung“ zu. Seitdem erinnert in

dieser Gasse eigentlich nichts mehr an diese furchtbaren Ereignisse vor 50 Jahren. Der Vorschlag, den früheren Standort der Synagoge mit einer Gedenktafel zu kennzeichnen, wäre sehr gerechtfertigt. Diese Erinnerung sei gleichzeitig eine Mahnung, alles zu tun, damit sich solche Verbrechen niemals wiederholen können (E. Liebaug).

Anmerkung der Redaktion: Wie eine Rücksprache mit dem Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Kreises für Inneres ergab, wurden exakte Absprachen mit dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinden Thüringens, Scharf-Katz, getroffen. Demzufolge wird in der ehemaligen Judengasse eine Gedenktafel angebracht. Es gibt auch Vorstellungen, wie der jüdische Friedhof (Eichelbach) in Ordnung gebracht werden soll.

 

Am jüdischen Friedhof im Eichelbach stehen umfangreiche Arbeiten bevor, die darauf abzielen, der Anlage ein würdiges .Aussehen zu verleihen. Die vorgesehenen Maßnahmen sind zwischen dem örtlichen Organ und der Jüdischen Gemeinde Erfurt abgestimmt worden. Die FDJ-Grundeinheit Rat des Kreises hat sich zu Arbeitseinsätzen an diesem Objekt verpflichtet (26.08.1988).

 

Gesperrte Straßenbereiche

Schmalkalden. Aus Anlaß des 50. Jahrestages der faschistischen Pogromnacht wird am 2. 11. 1988, 10 Uhr, in der Hoffnung (hier stand die ehemalige Synagoge) eine Gedenktafel enthüllt. in Abstimmung mit dem VPKA werden die Straßenbereiche Kothersgasse, Stiller Gasse und Hoffnung im Zeitraum vom 1. 11. 1988, 18 Uhr, bis 2. 11. 1988, 11 Uhr, für den öffentlichen Verkehr gesperrt. Alle Kraftfahrer werden gebeten, diese Maßnahmen zur Gewährleistung von Ordnung und Sicherheit zu beachten (28.10.1988):

 

Pioniere und FDJler aus Schulen und Einrichtungen der Kreisstadt haben bereits mehrere Einsätze geleistet, um Ordnung und Sauberkeit auf dem Jüdischen Friedhof im Eichelbach zu erhöhen, wobei sie vom Rot der Stadt nach besten Kräften unterstützt werden. Solche Einsätze leisteten z. B. Schüler der Klasse 6o der OS „Ludwig Pappenheim“ gemeinsam mit Mitgliedern des Elternaktivs, die Klasse 8 der OS „Karl Marx“ und Freunde der FDJ-Grundorganisation Rat des Kreises. Ihre Bereitschaft zu solchen Einsätzen bekundeten die FDJ-Studenten der beiden Fachschulen (Pädagogische Schule für Kindergärtnerinnen „Rosa Luxemburg“ und Ingenieurschule „Fritz Heckert“ sowie FDJler aus dem VEB Werkzeugkombinat (26.10.1988).

 

Ausgabetag 8. November: 50.Jahretag der faschistischen Pogromnacht.                         01.11.1988

Anläßlich des 50. Jahrestages der faschistischen Pogromnacht 1938 erscheint am 8. November eine mehrfarbige Sonderbriefmarke zu 35 Pf. Sie zeigt eine symbolische Gestaltung der Menora, des siebenarmigen Leuchters, ein Wahrzeichen des Judentums. Auf dem Ersttagsbriefumschlag ist die Synagoge in der Berliner Rykestraße dargestellt.  Die Entwürfe zu dieser Ausgabe schuf Detlef Glinski, Berlin.

 

Gedenkveranstaltung in Schmalkalden                                                                       03.11.1988

Ehrung für jüdische Opfer des Faschismus

Einweihung einer Gedenktafel für ehemalige Synagoge in Schmalkalden

Aus Anlaß des 50. Jahrestages des faschistischen Pogroms vom 9. zum 10. November 1938 wurde gestern in Schmalkalden auf einer Gedenkveranstaltung am Ort der in der Pogromnacht von SS- und SA-Schergen niedergebrannten Synagoge der vom Faschismus ermordeten und verfolgten jüdischen Bürger der Stadt gedacht. In Anwesenheit von Elke Krieg, 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Schmalkalden, Gerhard Sommer, Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes für Inneres. sowie Raphael Scharf-Katz, Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen. wurde eine Gedenktafel eingeweiht.

Anwesend waren Einwohner der Stadt, vor allem zahlreiche Jugendliche, die bei der Pflege und Erhaltung des jüdischen Friedhofes aktiv sind.

Der stellvertretende Bürgermeister der Kreisstadt, Klaus Schubert, erinnerte an die hemmungslose chauvinistische Hetze und den Massenmord an Millionen Bürgern jüdischen Glaubens durch das faschistische Terrorregime. Die KPD sei die erste Kraft des deutschen Widerstandes gewesen, die die rassistischen „Nürnberger Gesetze“ und den braunen Judenpogrom aufs schärfste verurteilt hat. In jener Novembernacht vor 50 Jahren seien euch in Schmalkalden die Synagoge niedergebrannt, jüdische Geschäfte demoliert und die 44 jüdischen Bürger verhaftet und ins Konzentrationslager verschleppt worden.

Auch im Gedenken daran sei die Politik des Friedens und der Völkerverständigung von Partei und Regierung der DDR ein würdiger Beitrag im Interesse aller Völker. Die DDR sei eine Heimstatt der Bürger aller religiösen Überzeugungen, die gleichberechtigt an der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft mitwirken. Den bei der Pflege des jüdischen Friedhofes engagierten Jugendlichen wurde herzlicher Dank ausgesprochen.

Dekan Kirchenrat Alfred Schreiber machte in seinen Worten die schrecklichen Ereignisse der Pogromnacht deutlich, die er als Schüler in Schmalkalden miterlebte. Deshalb solle die Gedenktafel neue Anstöße geben, die Liebe zu den Mitmenschen zu fördern.

Raphael Scharf-Katz legte besonders der Jugend nahe, durch das Erinnern die Vergangenheit zu begreifen, denn die Aufgabe der jungen Generation sei es, das progressive Erbe in .unserem Staat anzutreten und Ihn als humanistische Gesellschaft weiterzuführen. Die Ereignisse vor 50 Jahren seien nur der Vorhof zur Hölle gewesen, zum Holocaust, der 6 Millionen Juden in den Tod trieb. Das Nachdenken darüber würde besonders auch in den Einrichtungen unserer Volksbildung gefördert. Raphael Scharf-Katz las ein Gebet zur mahnenden Erinnerung an die jüdischen Opfer und die Stätten ihrer Leiden.

Bei einer Begehung und Ehrung auf dem jüdischen Friedhof der Stadt sprach sich der Repräsentant anerkennend über die in Bürgerinitiative gepflegte Stätte aus.

Am vergangenen Freitag hatten Mitglieder der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen in der Erfurter Synagoge der Opfer der faschistischen Pogromnacht gedacht. Gäste des jüdischen Sabbatgottesdienstes waren aus unserem Bezirk Helmuth Vierling, 1. Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Suhl, und Gerhard Sommer, Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes für Inneres.

 

Gedenktafel wird eingeweiht                                                                                                 05.11.1988

In der „Hoffnung“, am Standort der in der faschistischen Pogromnacht vor 50 Jahren gesprengten jüdischen Synagoge, wurde dieser Tage eine Gedenktafel eingeweiht. Teilnehmer dieser Zusammenkunft waren Repräsentanten des öffentlichen Lebens, antifaschistische Widerstandskämpfer, Herr Scharf-Katz, Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringens, Herr Kirchenrat Schreiber, weitere Bürger und viele Jugendliche, die in freiwilligen Einsätzen den jüdischen Friedhof im Eichelbach in Ordnung gebracht haben.         

 

Augenzeugenbericht:

In der Zeitung wurde nicht sehr auffällig auf die Gedenkveranstaltung hingewiesen. Es stand nur etwas von Verkehrsraumeinschränkungen drin. Es hätten auch kaum mehr Leute in der schmalen Gasse Platz gehabt. Es wurde versäumt, eine Lautsprecheranlage zu installieren, so daß Fernstehende schlecht verstehen konnten, was gesprochen wurde (einige Verkäuferinnen unterhielten sich über andere Dinge). Es war eine große Zahl Jugendlicher da. Darunter auch 17 Jugendliche, die Pfarrer Naumann benannt hatte, die den Gedenkgottesdienst am 9.November gestalten wollen. Sie wurden von der Schule delegiert, mußten aber nicht FDJ-Hemd tragen. Sie hörten auch besonders gut zu.

Außerdem sah man Leute, die aus den Betrieben und Geschäften delegiert waren, zum Teil in Arbeitskleidung. Aus Steinbach-Hallenberg waren da der Sekretär des Rates der Stadt, Gerhard König, der Spanienkämpfer Waldemar Gute und der Lehrer Anschütz (Ehemann der Direktorin). Leider wurde in der Autowerkstatt die Arbeit nicht. unterbrochen. Einige Arbeiter schauten während der Veranstaltung durch die Fensterscheiben. Sie hätten in erster Linie dazugehört, wo sie doch „auf dem geheiligten Boden der Synagoge“ arbeiten. So drückte es Raphael Scharf-Katz aus, der Vorsteher der jüdischen Landesgemeinde in Erfurt. Er hat als einziger mit seiner Familie die Verfolgung überlebt und konnte beim Herannahen der Amerikaner aus dem Konzentrationslager Nordhausen entfliehen. Mit ihm waren zwei Mitarbeiterinnen gekommen. Sie waren nachher noch Gast bei der Pfarrkonferenz, die an diesem Tag turnusmäßig zusammengetreten war.

Es sprach zunächst der amtierende Bürgermeister Schubert. Er gab zunächst gute Informationen (z.B. daß aus Schmalkalden 44 Juden verschleppt wurden). Dann aber fing er an mit dem Wohnungsbauprogramm und daß heute die Juden in diesem Staat in Geborgenheit leben könnten.

Dekan Schreiber berichtete aus eigenem Erleben und legte besonders Wert auf ein Zitat von Elie Wiesel, das die Gleichgültigkeit der Menschen als das Unglück bezeichnet. Er vermied den Namen „Reichskristallnacht“ und die Formulierung „die Juden sind umgekommen“, nachdem ich ihn vorher noch drauf hingewiesen hatte.

Dann sprach Herr Scharf-Katz und schloß mit zwei gesungenen Gebeten. In dem ersten nannte er die Konzentrationslager, in denen Juden umgebracht worden sind, das konnte man natürlich verstehen. Es war ein beeindruckendes Bild, wie dieser alte Mann im strömenden Regen auf der Straße Gebete sang.

Im Dekanat berichtete Herr Scharf-Katz, daß er jetzt jeden Tag zu solchen Einweihungen von Gedenktafeln reise. Er selber gehört zu den liberalen Juden und lebt nicht „koscher“, d.h. er ißt auch Fleisch von Tieren, die nicht nach jüdischer Vorschrift geschlachtet worden sind. Wir sprachen auch über die Zukunft der jüdischen Gemeinde, die insgesamt 28 Mitglieder umfaßt. Es wären vor einiger Zeit vier Kinder beschnitten worden. Sie hofften aus Zuzug aus Osteuropa, aber die dortigen Juden würden lieber in den Westen gehen. Immer wieder betonte er in seinen Reden die großen kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen der Juden in Deutschland, so als wollte er sich rechtfertigen. Sicher sollte man so etwas auch einmal dokumentieren, so wie man das etwa mit den Pfarrerssöhnen gemacht hat. Aber die Juden hätten natürlich auch eine Daseinsberechtigung, wenn sie diese Leistungen nicht vollbracht hätten.

Nach dem Mittagessen wurde zusammen mit den Staatsvertretern der jüdische Friedhof im Eichelbach besichtigt (Peter Heckert).

 

 

Peter Heckert, Steinbach-Hallenberg,                                                04.10.1988

An den Rat der Stadt Schmalkalden

Betr. Jüdischer Friedhof, Gedenken an die Pogromnacht

 

Mit Freude habe ich festgestellt, daß die Instandsetzungsarbeiten an dem jüdischen Friedhof im Eichelbaeh schon reit fortgeschritten sind. Der Platz, wo die alten Grabsteine aufgestellt worden sind, war ja sehen immer sehr gut instand gehalten. Die dort aufgewandten Geldmittel sind nicht verloren, denn man kann den nachfolgenden Generationen viel besser Geschichte vermitteln wenn noch Sachzeugen vorhanden sind. Daß das letzte Grab aus dem Jahre 1939 ist, sagt mehr als alle Geschichtsbücher. Ich begrüße es auch, wenn in der ehemaligen Judengasse an der Stelle der ehemaligen Synagoge eine Gedenktafel angebracht wird, wie es u.a. auch mein Sohn angeregt hat. Für diese Initiativen möchte ich dem Rat der Stadt ausdrücklich Dank sagen und ihn bitten, auch weiterhin die Zeugen der jüdischen Geschichte in Schmalkalden zu pflegen.

 

An das Zweite Deutsche Fernsehen, Mainz                                                 04.10.1988

Redaktion: Deutsches aus der anderen Republik

Ihr Bericht über jüdische Friedhöfe in der DDR hat mich wegen seiner Einseitigkeit empört. Hier hat wieder einmal ein Redakteur unbedingt sein vorgefaßtes. Urteil bestätigt haben wollen und dann auch geringe Anhaltspunkte gefunden. Im Bericht selber mußte er sich ja dann auch korrigieren.

Warum wurde denn nichts darüber gesagt, daß in 8 Städten der DDR Synagogen neu .gebaut oder restauriert wurden, schon vor vielen Jahren? Auch eine ganze Reihe jüdischer Friedhöfe wurde seit Jahren mit Millionenaufwand gepflegt. In Berlin wurde der Plan fallengelassen, eine Straße über einen Teil des Friedhofs in Weißensee zu bauen Ein großer Teil der Synagoge in der Oranienburgerstraße wird wieder aufgebaut.

Natürlich könnte man beim Anblick dieser Ruine auch sagen: „Seht einmal wie das jüdische Erbe verkommt!“ Aber immerhin war dort schon immer eine Gedenktafel, die an vielen derartigen Gedenkstätten in der Bundesrepublik noch fehlt. Man muß ja sehen, daß noch viele Denkmale der deutschen Geschichte renovierungsbedürftig sind. Man kann nicht alles auf einmal schaffen.

Es ehrt die verantwortlichen Leute bei uns, daß sie schon immer das Andenken der jüdischen Mitbürger bewahren wollten. Andere Gräber werden nach 25 oder 30 Jahren beseitigt, aber die jüdischen Gräber werden erhalten so wie Soldatengräber. Als man in Schmalkalden den alten Friedhof um die Totenhofskirche auflöste, da hat man nur die jüdischen Grabsteine erhalten und auf dem neueren jüdischen Friedhof erneut aufgestellt. Alle Jahre wurde dieser Friedhof gepflegt und wird auch jetzt wieder mit erheblichem Aufwand instand gesetzt (Anmerkung. Die Grabsteine kamen nicht von dem Friedhof rund um die Totenhofskirche, der war nur „christlich“, sondern von dem Friedhof am Stiller Tor).

Machen Sie erst einmal einen Bericht über jüdische Friedhöfe und Gemeindehäuser in der Bundesrepublik! Dann zeigen Sie einmal die ehemalige Synagoge in Wachenbuchen bei Hanau, in der jetzt eine Autowerkstatt ist und wo erst kürzlich eine Gedenktafel angebracht wurde. Dann werden Sie nicht mehr so leicht auf die DDR zeigen können, weil man im Gebiet um Eberswalde einige Friedhöfe übersehen hat.

Sicher bleibt es eine Aufgabe, solche Plätze der Vergessenheit zu entreißen. Und wenn ein Mann sich darum besonders kümmert, ist es nur zu begrüßen. Die Reaktion der staatlichen Stellen zeigt doch, wie man solche Initiativen aufnimmt. Man kann in diesem Falle den staatlichen Stellen kein Versagen nachweisen wollen, sondern sollte ihr ehrliches Bemühen anerkennen. Woher sollen sie aber wissen, daß jüdische Grabsteine nach Osten ausgerichtet werden (ich hätte es auch nicht gewußt), wenn es ihnen niemand sagt? Ihr Bericht war jedenfalls tendenziös und diente nicht einer guten Information. Ich würde empfehlen‚in solchen Fällen sich nicht nur auf zufällige Informanten au verlassen, sondern die staatlichen und vor allem auch die jüdischen Stellen mit einzubeziehen.

 

Friedhof:

Im Juni 1988 erschien ein Artikel in „Glaube und Heimat“: Hinweise erbeten: In vielen Teilen unseres Landes sind Menschen auf Spurensuche nach der deutsch-jüdischen Vergangenheit. Eine Gruppe aus Eberswalde sammelt Hinweise zu allen jüdischen Friedhöfen, die sich auf dem Gebiet der DDR befinden oder befanden. Sie möchte eine Gesamtliste dieser Friedhöfe erstellen und allen Interessierten in Bibliotheken und Archiven, die sich mit jüdischer Geschichte befassen, zustellen. Zur Zeit wurden 150 jüdische Friedhöfe verzeichnet, vermutet werden jedoch 800.  Die Gruppe bittet nm Mithilfe bei der Erfassung. Die Hinweise richten Sie bitte an: Kai-Uwe Schulenburg, Lessingstraße 3, Eberswalde, 1300.

Diese Bitte erschien später noch einmal mit dem gleichen Text, nur wurden jetzt Hinweise erbeten an Eckehart Ruthenberg, Kollwitzstr. 54, Berlin, 1055, später Breite Straße 19, 1000 Berlin 33..

 

06.04.1989: Herr Ruthenberg antwortet auf meine Karte vom 19.08.1988, die ich an Herrn Schulenburg gerichtet hatte und die dann bei ihm angekommen ist (inzwischen auch Berlin-Grunewald, er spricht von einem Mißgeschick, das ihm widerfahren ist). Er bittet um Einzelheiten, um eine Skizze und Auskunft über die Inschriften. Er vermutet doch in Steinbach-Hallenberg und Zella.

-Mehlis einen jüdischen Friedhof, denn 1910 gab es in Steinbach 3 drei Juden und in Zella-Mehlis einen.

 

17.06.1989: Am 17. Juni 1989 schrieb ich an Herrn Ruthenberg (jetzt: Berlin –West): Der erste Friedhof der jüdischen Gemeinde Schma1kalden lag beim Haue Stiller Tor 3, unmittelbar vor dem Osttor der Stadt. Auf Stadtplänen aus dem vorigen Jahrhundert ist er eingezeichnet, in den 30iger Jahren dieses Jahrhunderts stand dort noch ein Baum, unter dem die alten Grabsteine standen. Es ist nur ein kleines Grundstück, wie ein Garten bei dem Haus. Heute wird der Ort eicht mehr als Friedhof angesehen und ist durch Bauarbeiten (Abriß) total heruntergekommen. Die Juden wurden nämlich später auf dem neuen Friedhof im Eichelbach neben dem allgemeinen Friedhof im Westen der Stadt bestattet.

Dort befinden sich jüdische Gräber aus diesem Jahrhundert, das letzte aus dem Jahr 1939. Dorthin hat man aber euch die alten Grabsteine von dem früheren Friedhof gebracht. Es steht dabei noch. eist Gedenkstein aus dem Jahr 1962, der auf diese Veränderung hinweist. Kirchliche Gruppen waren, damals beteiligt und heben auch bei der Pflege geholfen.

Die Grabsteine stehen in östlicher Richtung, wie es auch die Gelände an einem Hang allein zuläßt.

Einige Grabsteine sind hebräisch beschriftet, ob nur einseitig, kann ich nicht sagen.

Dieser Teil, auf dem die alten Grabsteine stehen, wurde all die Jahre in Ordnung gehalten, d.h. vor allem das Gras gemäht. Die neueren (echten) Gräber waren die letzte Zeit etwas verkommen,

sind aber im vorigen Jahr von den staatlichen Stellen mustergültig hergerichtet worden, der Friedhof erhielt ein neues Eingangstor usw. Zur Einweihung einer Gedenktafel an der Stelle der Synagoge war auch der Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Erfurt da, und man bat ihm euch den Friedhof vorgeführt. Auch der Barchfelder Friedhof ist gut in Ordnung.

Deshalb habe ich auch damals einen etwas empörten Brief an das ZDF geschrieben wegen der Sendung über die jüdischen Friedhöfe in der DDR. Es mag noch viele Friedhöfe gehen, die unentdeckt und deshalb nicht gepflegt .sind. Aber in unserer Gegend war und ist das nicht so. Man gibt sich sehr Mühe bei den staatlichen Stellen. Da sie nicht wissen, von der Ost-Ausrichtung der Grabsteige, kann man ihnen das nicht übel nehmen, das müssen ihnen Leute sagen, die es wissen.

In Steinbach-Hallenberg hat es übrigens keinen jüdischen Friedhof gegeben, trotz der 14 km-Regel, meines Wissens auch nicht in Zella-Mehlis, dazu war die Zahl der Juden doch wohl zu klein.

 

24.06.1989: Herr Ruthenberg spricht von einer Publikation, die er vorhat und bittet um Fotos. Er bittet um die Zahl der Grabstellen und die Größe des Friedhofs. Er schreibt: Es mag sein, daß die Friedhöfe im Süden der DDR besser gepflegt sind als anderswo. In der Mitte und im Norden hat er meist schlechte Erfahrungen gemacht.

 

04.10.1989: Gestern war ich wieder einmal auf dem jüdischen Friedhof in Schmalkalden; er ist jetzt wohl in der Regel verschlossen, ich war schon einmal vergeblich dort, aber gestern wurden dort Pflegearbeiten durchgeführt.

Auf dem Inschriftstein von 1962 steht leider auch nur, daß die alten Steine von dem „alten jüdischen Friedhof hierher versetzt wurden. Leider geht daraus nicht hervor, wo dieser Friedhof war. Sie könnten also doch von dem alten Friedhof vor dem Stiller Tor stammen (der Garten dort ist übrigens inzwischen wieder aufgeräumt).

Der Friedhof im Eichelbach ist etwa 75 x 35 Meter groß. Die alten Steine stehen in mehreren Reihen, in drei Gruppen etwas versetzt gegeneinander. Es sind 86 Steine. Dazu kommen noch 21 echte Gräber aus der neueren Zeit.

Einige Steine tragen Inschriften in deutscher Sprache. Andere sind auf einer Seite deutsch und auf der anderen Seite hebräisch beschriftet. Zwei Steine und zwei Säulen sind beidseitig hebräisch beschriftet. Die anderen Steine tragen nur an einer Seite hebräische Inschriften.

 

Aus: Die Novemberpogrome: Gegen das Vergessen. Eisenach, Gotha, Schmalkalden. Spuren jüdischen Lebens, 1988, Landesjugendpfarramt der Ev.-Luth. Kirche in Thüringen, Eisenach.

 

 

Barchfeld

Zu den Rechten des in Barchfeld ansässigen Adels gehört auch der Judenschutz, d.h. das Recht, Juden anzusiedeln gegen ein beträchtliches Schutzgeld. Von diesem Recht machten die Freiherrn von Stein Gebrauch, vermutlich schon etwa im 13.Jahrhundert. Die älteste, von der Barchfelder Judenschaft handelnde Urkunde befindet sich in Meiningen und stammt aus dem Jahre 1566. Sie enthält ein Gebot des Grafen Georg Ernst von Henneberg an die Herrn von Boyneburg in Barchfeld, die Juden daselbst auszuweisen wegen Wuchers, Aufkaufens gestohlener Ware und dergleichen. Die Boyneburgs baten jedoch um Aufschub, damit die armen Leute erst ihre Schulden an die Juden zahlen konnten. Ebenso liegt ein Gesuch der Juden vor, sie müßten auch erst ihre Schulden abtragen, Kinder wären krank und der Winter würde bestimmt hart. Sie bitten, ein Jahr länger „ihren Pfennig zehren zu dürfen“ und wollen sich während der Zeit alles Handels enthalten.

Die nächstälteste Urkunde stammt von der Landgräfin Hedwig Sophie aus dem Jahre 1686. Sie über­läßt den Juden gegen einen jährlichen Erbzins ein Stück Land zu einem Erbbegräbnis „vor dem Dorf Barchfeld, vor dem Fischertor“. Außerdem mußte für jedes Begräbnis eine Gebühr bezahlt werden. Im Jahre 1803 wurde der Friedhof erweitert für einen Erbzins von 16 guten Groschen. Ansonsten sollte es bei den in der Konzession von 1714 bestimmten Erbzins- und Begräbnisgeldern bleiben.

Damals war der Friedhof schon einmal erweitert worden und der Erbzins für das neue Stück auf zwei Taler festgesetzt worden. Um das Jahr 1930 hat die israelitische Gemeinde einen neuen Friedhof in den Sömmiger Wiesen angelegt, aber noch nicht in Gebrauch genommen.

Im Jahre 1720 gab es in Barchfeld 15 erwachsene männliche Juden, 15 Frauen, 22 Söhne, 22 Töchter und 2 Mägde, insgesamt also 76. Die Juden waren vom Landbesitz und der Ausübung eines Gewerbes ausgeschlossen. Deshalb blieben ihnen nur Handel und Geldgeschäfte als Erwerbsquellen übrig.

In der westfälischen Zeit aber wurde 1808 das Judenschutzgeld abgeschafft und die Juden durften auch in den Handwerkerstand eintreten: Am 28.5.1828 wurde Abraham Leopold als Zunftfremder ein Meister, und 1835 wurde Surmann Weil als Schuhmacherlehrling aufgenommen.

Eine Liste von 1826 zeigt folgende Berufsverteilung der Juden: 13 Viehhändler, 4 Makler, 3 Metzger, 2 Schneidwarenhändler, 1 Spezereiladen, l Händler, 1 Porzellankitter. Insgesamt waren es 148 israelitische Einwohner. Im Jahre 1828 kommen noch hinzu: 2 Schneider, 1 Schreiner, l Schuhmacher, 1 Bäcker, 1 Knopfmacher, 1 Schreiber, 1 Lotteriegeschäft.

Im Jahre 1848 gab es bei 1.609 Einwohnern 170 Juden: 1887 gab es bei 1856 Einwohnern etwa 240 Juden; 1913 waren es bei 2.8222 Einwohnern 130 Juden und 1923 unter 3.066 Einwohnern nur noch 85 Juden.

Im Jahre 1836 wurde die israelitische Schule zur öffentlichen Schule erklärt. Bis dahin hatte der israelitische Kantor Hirsch Goldspiegel Privatunterricht erteilt. Die ersten Lehrer waren Levisohn, Philipp Lewald, Jakob Oppenheim und L. Weinberg. Die Schülerzahlen betrugen: 1841 = 35; 1863 = 56; 1867 = 44 1906 = 12; 1913 = 11 Kinder. Das Schulhaus am Unteren Graben wurde 1841/42 auf Verlangen der Regierung gebaut. Im Jahre 1926 wurde die Schule wegen Schülermangels aufgelöst und der Lehrer Weinberg nach Langenselbold versetzt.

Die Synagoge wurde 1845 erbaut. Die Gemeinde zählte damals 48 Glieder mit folgenden Berufen: 24 Handelsleute, 6 Makler, 3 Metzger, 2 Schuhmacher, 2 Schneider, 1 Schreiner, 1 Zeugweber, 1 Buchbinder, 1 Schreiber.

Die Bedeutung der Judenschaft bestand darin, daß sie Barchfeld zu einem Handelsplatz gemacht hat. Viehtreiber und handelnde Gruppen gehörten um 1900 zum ständigen Straßenbild. Durch die neuzeitlichen Verkehrsverhältnisse wurde die überlieferte Handelsweise mehr und mehr verdrängt. Die Zahl der Barchfelder Juden ist daher erheblich zurückgegangen. Die jüngeren Leute sind vielfach in die Städte übergesiedelt, wo sie im Bankfach und in der Industrie Erwerbsmöglichkeiten gefunden haben. Seit 1926 gab es in der Volksschule nur noch ein israelitisches Kind.

Im Jahre 1933 gab es in Barchfeld 63 Juden in folgenden Berufen: 6 Viehhändler und Fleischer, 1 Viehhändler, 1 Pferdehändler, 1 Kaufmann, 1 Ölhändler, 2 Zucker- und Kurzwarenhändler, 1 Lebensmittel- und Futterhändler, 1 Lebensmittelhändler, 1 Eisenwarenhändler, 1 Manufaktur, 1 Vorsänger, 1 Schlosser, 1 Rechnungsführer (aus: Karl Volkmar: Tausend Jahre Barchfeld (Werra), 1933).

Im Jahre 1938 wurde auch in Barchfeld die Synagoge zerstört und die Juden abtransportiert. „Hier ist eine Schuld entstanden, die man nicht verschweigen sollte“. Dieser Satz stand in dem Manuskript von Peter Heckert für das Buch über die Schmalkaldischen Artikel und das Dekanat Schmalkalden, das 1987 in Kassel erschien. Dadurch, daß man diesen Satz gestrichen hat, hat man natürlich genau das getan, was vermieden werden sollte. Heute gibt es in Barchfeld keine Juden mehr. Im Jahre 1988 soll vom Rat der Gemeinde ein Gedenkstein oder eine Gedenktafel aufgestellt werden, entweder am Ort der ehemaligen Synagoge oder an dem jüdischen Friedhof, der heute noch gepflegt wird.

 

 

Südthüringen: Woher kamen die Juden zwischen Rennsteig und Rhön?

In meiner Heimatstadt Suhl kann keiner der einstmals Suhler Juden mehr berichten, was in einer der schrecklichsten Nächte des 20. Jahrhunderts geschah. Ich meine jenen Pogrom, den die Faschisten als „Kristallnacht“ bezeichneten und der die massenhafte Liquidierung unschuldiger jüdischer Menschen in Deutschland und Europa einleitete. Über 6 Millionen luden fielen dem faschistischen Rassenwahn zum Opfer. Als Zeitzeuge jener barbarischen Ereignisse erfüllt es mich mit Genugtuung und Stolz, daß in meinem sozialistischen Vaterland, der DDR, die Wurzeln des Antisemitismus und des Rassenwahns ausgerottet sind.

Im 14. Jahrhundert hatte sich auch in unseren Breiten das Fronhof-System überlebt Der verstärkte Bedarf an Rohstoffen, Vieh, Kramwaren o.ä., aber auch der Umsatz der Fertigware brachte den verstärkten Handel hervor. Dabei bildeten sich an besonders verkehrsgünstigen Knotenpunkten bedeutende Markt- und Messeorte heraus. Die kürzeste Direktverbindung einer Vielzahl von Städten führte durch die Rhön und über den Thüringer Wald. In diesem Gebiet hatten die Grafen von Henneberg ihre Territorialherrschaft errichtet

Ihr Machtausbau, Fehden und Hofstaat verschlangen mehr, als einkam. Geldnot blieb der ständige Begleiter des Feudaladels, und nicht nur in Henneberg. Unter den Kaufleuten befanden sich ihren religiösen Bekenntnissen noch auch Juden, die für den hohen Feudaladel von besonderem Interesse waren, dies ihrer besonderen Stellung wegen. Zur rechtlichen Stellung der Juden in damaliger Zeit heißt es in einer Norm Karls IV. aus dem Jahre 1347: „Die Juden gehören mit Leib und Gut unserer Kammer und sein in unserer Gewalt und Händen, daß wir mit unserer Mächtigkeit damit tun und lassen mögen, was wir wollen.“

Die Henneberger, wie auch andere Grafen, – ihres Zeichens zugleich auch oberste christliche Kirchenfürsten – erteilten gegen beträchtliche Gebühren Schutzbriefe an Gläubige der jüdischen Religion. Dies taten sie keineswegs aus Sorge um das Wohlergehen der Menschen jüdischer Abstammung, denn „Schutzverwandte“ konnten nur wohlhabende Juden werden. Ihnen gestatteten die Grafen, im bestimmten Umfang in ihrem Hoheitsbereich Handel zu treiben und auf begrenzte Zeit seßhaft zu werden. Damit aber forderten sie den massiven Widerspruch ihrer eigenen Geistlichkeit wie euch der Landstände heraus, von denen maßgeblich der Antisemitismus ausging. So ersuchten im Jahre 1548 die Geistlichen zu Schleusingen und vier Jahre später die Hennebergischen Landesstände „umb Forträumung der Jüden“. Drei weitere Jahre später ist in einem Visitationsprotokoll zu lesen, daß „zu Ilmenau viel Jüden erhalten werden ... so wollten sie doch auf die Wege und Mittel denken, daß Sie derselben loswerden möchte.“

Oftmals wurden Vorwände ersonnen, sich der Juden und mit ihnen der herrschaftlichen Schulden zu entledigen. Auch die Henneberger Grafen ließen im Jahre 1555 ihre Vorbehaltsklausel „….. die Juden, wenn sie sich des Schutzes unwürdig bewiesen, aus der Grafschaft zu weisen ..“ wirksam werden.

Unter Ausnutzung weitverbreiteten Aberglaubens wurden Juden unter dem Vorwand der Brunnenvergiftung, Schuld an Mißernten, des Ausbruches von Seuchen und anderen Bezichtigungen verfolgt, mißhandelt, des Landes verwiesen oder getötet. Einer der blindwütigsten und fadenscheinigsten Exzesse des Antisemitismus im Mittelafter ist der Meininger Chronik entnommen. Eine Zusammenkunft jüdischer Bürger zum Palmsonntag des Jahres 1349 wurde als Zusammenrottung und Konspiration angeprangert, bei der Pläne zum Überfall auf Christen besprochen worden seien. Durch „sonderbare Schickung“ seien sie daran gehindert worden, zahlreiche Juden wurden sofort erschlagen, Gefangengenommene wurden am 17. Juli mit Gesinde, Weib und Kind verbrannt. An jener Stelle aber, wo die Synagoge der Juden gestanden hatte, wurde am 22. 7. 1384 eine christliche Kirche geweiht.

Auch in anderen Bereichen gipfelt der von christlichen Fanatikern und der sich in den Kleinstädten herausbildenden neuen Oberschicht geschürte Antisemitismus darin, daß die Juden des Landes verwiesen und Synagogen, wie 1492 in Ilmenau, in Christenkirchen umgewandelt wurden. Im Hennebergischen wurde offensichtlich im Zuge der Visitationstätigkeit zur Durchführung der Reformation erreicht, daß ab 1566 in diesem Territorialbereich Juden nicht mehr ansässig waren. Erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurden Schutzjuden wieder verstärkt ansässig.

Um die arg gebeutelten herrschaftlichen Kassen spürbar aufzubessern, ging der Adel Mitte des 17. Jahrhunderts dazu über, erneut „Schutzjuden“ anzunehmen. In unserem Territorialbereich geht die Ersterwähnung wieder seßhaft gewordener jüdischer Familien auf das Jahr 1658 in der kleinen Gemeinde Bibra zurück. Um die Wende des 17. Jahrhunderts aber hatten sich bereits wieder zahlreiche jüdische Gemeinden herausgebildet. Doch erst im Ergebnis der bürgerlich-demokratischen Revolution wurden alle Gesetze und Verordnungen, die der bürgerlichen Gleichstellung von Menschen jüdischen Glaubensbekenntnisses entgegenstehen, aufgehoben.

Nunmehr ist es jüdischen Unternehmern möglich, bedeutenden Anteil am Aufschwung der Industrie in unserem Bereich zu nehmen. Ein Beispiel war die große Barchentweberei von Siegel, Elsbach und Co. in Walldorf. Die Hildburghäuser Firma Wilhelm Simon war führend an der Entwicklung der Spielzeugindustrie in Deutschland beteiligt und erlangte Weltruf. Im Jahre 1866 erwarb Moses Simson den Alleinbesitz am Alten Stahlhammer zu Heinrichs, .dem Ausgangsunternehmen des späteren Großbetriebes „Simson-Werke“.

Die gesetzlich verbriefte Emanzipation ließ zu, daß Juden, wenngleich nicht Bürgermeister, so aber doch Mitglied des Magistrats oder der Gemeindevertretung werden können. Auch die Bildung von Synagogenbezirken, die sich nach Möglichkeit mit den landrätlichen Bezirken decken sollten, vollzog sich im Rahmen dieser Entwicklung. Zahlreiche Synagogen wurden um-, aus - oder neu gebaut.

Zum Bau der im Jahre 1892 geweihten Synagoge zu Bauerbach hatte Herzog Georg von Sachsen-Meiningen eine ansehnliche Summe gespendet. In einem Schreiben an die dortige Kultusgemeinde versicherte er: „Angesichts der Versuche, der Verirrung des Antisemitismus auch bei uns Eingang zu verschaffen, können die Israeliten Meiningens auf mich zählen“.”

„Der israelitischen Gemeinde zur Ehre, der Stadt Suhl zur Zierde!“ - das waren die Worte des Suhler Bürgermeisters Janssen anläßlich der symbolischen Schlüsselübergabe an die israelitische Gemeinde in Suhl am 7. August 1906. Weiter brachte er seine Hoffnung dahingehend zum Ausdruck, „... daß der Friede zwischen den verschiedenen Religionsgemeinschaften, wie in Suhl der Fall, stets so bleiben möge“.

Drei Jahrzehnte später offenbarten und praktizierten die faschistischen Machthaber mit ihrem verbrecherischen Juden-Pogrom ein wahnsinniges, chauvinistisches Vorgehen gegenüber jüdischen Gemeinden (Hans Nothnagel)(Fortsetzung nicht erhalten).

 

Aschenhausen

Aschenhausen ist ein verträumtes Dorf im Kreis Meiningen abseits der großen Landstraßen. Doch hier war etwa die Hälfte der 200 Einwohner jüdischen Glaubens. Die erste Erwähnung in einer Urkunde ist auf das Jahr 1425 datiert. Wenige Jahre später wird der Ort als Lehen dem Adelsgeschlecht derer von Speßhadt übergeben. Durch den 30jährigen Krieg und die Pest war das Dorf geleert worden. Im Jahr 1699 gewährte Freiherr Balthasar von Spessart dem ersten Juden das Recht, sich hier niederzulassen.

Jeder bekam ein Stück Land. Jeder entrichtet den Speßhardts die geforderten Gebühren - für jede Geburt, für jede Beschneidung eines Knaben, für Eheschließung und Begräbnis. Außerdem mußte jeder einen Beruf haben, um so die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Als geachtete Mitbürger leben sie hier, gehen unterschiedlichsten Gewerben nach: Peitschenmacher, Mützenmacher, Händler.       

Nach Zahlung. einer entsprechenden Summe erhielt die jüdische Gemeinde 1767 das Recht, sich eine eigene Synagoge zu errichten. Reich war sie nicht, diese kleine Gemeinschaft jüdischer Rhönbewohner. Es entstand hier ein kleines, bescheidenes jüdisches Gotteshaus inmitten von Aschenhausen

Mit den Jahren kommen immer mehr hierher, um der Verfolgung an anderen Orten zu entgehen. sich auf eigenem Land ernähren zu können. Über die Jahrhunderte hinweg lebten Juden und Christen in Aschenhausen einträchtig nebenein­ander. Ja, um die Mitte des vergan­genen Jahrhunderts war es fast die Hälfte der Dorfbewohner, die sich zum jüdischen Glauben bekannte.

Als um die Jahrhundertwende die Beschränkungen für jüdische Ge­meinden in vielen Teilen des dama­ligen Deutschlands gelockert wurden, ziehen viele fort in die großen Städte, um dort ihr Glück zu versuchen. Immer weniger Juden wohnten Als der Antisemitismus eine neue Blüte erreichte, wanderten viele aus, nach Israel oder Amerika und auch in andere Länder. Andere gingen in die großen Städte wie Frankfurt (Main) oder nach Erfurt.

Höhepunkte im Leben der jüdischen Gemeinde waren die großen Feiertage: das Passahfest, das Laubhüttenfest, der große Versöhnungstag. Jede Woche wurde feierlich der Sabbat, der „Schabbas“, begangen. Der Diener der Schule (Synagoge) ging Freitagabend durch das Dorf, klopfte mit einem Holzhämmerchen an die Tür und rief „Schule“. Dann gingen alle Juden zur Synagoge, sangen und beteten.

Das Leben der Juden in Aschenhausen war sehr sparsam. Aber man wollte allen Kindern eine bestmögliche Ausbildung gewähren. Doch die jüngeren Leute zogen in die Städte oder ins Ausland, die Alten starben. Die Häuser wurden an die andere Bevölkerung verkauft. Auch die Synagoge wurde verkauft an einen Bauern, der sie als Scheune nutzen wollte, allerdings unter der Bedingung, sie niemals als Schweinestall zu nutzen.

Der 78jährige Bauer Erich Schmidt aus Aschenhausen erinnert sich: „Wir brauchten die jüdischen Händler. Sie brachten uns Öle, Fette, Stoffe für Hemden und Hosen auf die Höfe. Eben das, was wir dringend brauchten. Einer, der Kaufmann Stern aus Kaltennordheim, kam immer mit dem Rucksack zu uns auf den Hof und packte seine Sachen aus. Manchmal mußte er ein halbes Jahr auf sein Geld warten, obwohl er selbst arm war“. Im Laden von Adolf Kahn im Ort kauften alle. Erich Schmidt: „Es gab im Dorf keine Trennung, keine Verachtung“. Alle litten unter der gleichen Armut.

Die Juden lebten integriert in der dörflichen Gemeinschaft. Es gab eine jüdische Gemeindeschwester namens Kitty Schmidt. Sie gab Spritzen und besorgte die Erste Hilfe, auch bei Nichtversicherten. Die älteren Einwohner erinnern sich, so Frau Jobst, die noch heute voller Anerkennung von der jüdischen Krankenschwester Kali spricht, die im Ort ihren Dienst versah: „Hier waren sich alle gut!“

Der Antisemitismus wurde von außen in das Dorf getragen. So kam öfters der Kaltennordheimer Zahnarzt Günther und sang:

„Fünfzehn Eier zählt man auf ein Mandel

und der schachre Jude lebt vom Handel,

bimmle, bimmle, bei, gedidelt munter,

so’n koscher Jüdche geht nicht unter.

Denn mit den Viertelche

und mit den Achtelche

tut halt der Christ nit viel verstehn!“

Aber der Zusammenhalt der Einwohner mit den Juden war vorerst stärker als der Terror. Die Juden bekamen weiter Milch und Brot. Fleisch bekamen sie vom Kaltensundheimer Fleischer Armin Schneider. Als die Juden nicht mehr im Backhaus backen durften, gab man die Kuchen durch den Zaun weiter, so daß auch die Juden weiter backen konnten.

Doch schon schnell nach dem Machtantritt der Faschisten änderte sich das alltägliche Miteinander. Auch in der Rhön erklangen Parolen wie „Wer beim Juden kauft, ist ein Judenknecht. Die Juden den sind unser Unglück“. Die Leute da wußten es besser. Waren es nicht die jüdischen Händler, die den armen Rhönbauern auch mal anschreiben ließen, wenn das Geld knapp war?

Doch nach 1933 wuchs die Angst. Mancher wagte nur noch im Dunkeln in Kahns Laden zu gehen. Viele ahnten wohl, wie die Ent­wicklung werden würde, auch so mancher aus der jüdischen Gemeinde, die von Jahr zu Jahr kleiner wurde. Im Jahr 1934 wurde zum letzten Mal eine Bestattung auf dem jüdischen Friedhof. Im Jahre 1938 lebten nur noch wenige Juden in Aschenhausen.

In der Pogromnacht kam die Kaltennordheimer SA und wollte die Synagoge zerstören.

Es waren viele Dorfbewohner auf den Beinen, als Nazis aus den Nachbarorten auftauchten, die das inzwischen als Scheune genutzte Bauwerk brennen sehen wollten. Doch die Bauern aus Aschenhausen sagten sich: Wenn erst die Synagoge in Flammen steht, brennt bald das halbe Aschenhausen. Als sich die Leute aus dem Dorf schützend vor das Portal gestellt hatten, mag so mancher auch daran gedacht haben, daß die jüdischen Nachbarn auch ihm gute Nachbarn gewesen sind. Es war schwer und es war mutig. Damals zu verhindern, daß in jener Nacht in Aschenhausen auch. nur eine einzige Scheibe zu Bruch ging.

Die jüdischen Einwohner wurden zunächst nach Buchenwald gebracht. Einige kamen zurück, wurden aber 1943 nach Theresienstadt deportiert. Man brachte sie auf einem Dorffuhrwerk nach Kaltennordheim. Von dort wurden sie unter Begleitung des Dorfgendarmen nach Eisenach geschickt. Der Jude. Max Kahn konnte noch rechtzeitig auswandern. Seine Frau konnte nicht genügend Kaution stellen, sie wurde ermordet. Im Aschenhäuser Kirchenbuch wurden nach dem Krieg einige Seiten herausgerissen und die Geschichte über die Nazizeit neu geschrieben.

An die Juden in Aschenhausen erinnert noch heute die ehemalige Synagoge inmitten des Dorfes. Der erste Blick verrät nicht sofort die ehemalige Bestimmung des Gebäudes, das inzwischen Eigentum der Gemeinde ist. Eine gegliederte Holzfassade, das blau-weiße Schild vom Denkmalschutz. Im Inneren ein saalartiger Raum mit Empore, eine mit Wolkenhimmel bemalte Kuppel. Baumaterialien zeigen an, daß hier ein Bauwerk rekonstruiert wird, an dem sich über 200jährige Geschichte widerspiegelt. Dazu gibt es Beschlüsse des Meininger Kreistages ebenso wie Überlegungen für eine künftige kulturelle Nutzung.

Auch der jüdische Friedhof ist heute noch erhalten. Es gab dort zwei Abteilungen: eine für den Priesterstamm und eine für die anderen Stämme. Das Leichenhemd bekam jeder Jude, ob männlich oder weiblich, in der Aussteuer mit. So war für alles gesorgt. Bei armen Juden führte der Lehrer Katz aus Stadtlengsfeld die Beerdigung durch. Bei reichen Juden kam der Landesrabbiner aus Eisenach. Totengräber waren zwei christliche Männer (Markus Heckert, in: Gegen das Vergessen, Landesjugendpfarramt der Ev.-Luth. Kirche in Thüringen, 1988, sowie ein Zeitungsartikel „Die bewahrte Synagoge in Aschenhausen“ vom 5.11.1988).

 

Gehaus

In den zwanziger Jahren wohnten in dem kleinen Dorf mit 860 Einwohnern über 20 Juden. Einiges ist noch heute über sie zu erfahren:

So lebte im Haus Nr. 11 Sally Weil mit seiner Frau Sophie und fünf Kindern (zwei Jungen, drei Mädchen). Sie handelten mit Getreide und Futtermitteln. In den Jahren 1935/36 sind sie nach Dermbach verzogen und dann emigriert.

Im Haus Nr. 19 lebte die Familie Nußbaum. Sophie Nußbaum arbeitete beim Nachbarn und wurde, wie ihr Mann, in Gehaus begraben. Ihr Sohn, Bowie Nußbaum, heiratete seine Frau Jetti. Sie bewirtschafteten 40 Morgen Land. Von seiner Schwester Anne fehlt jede Spur. Seine Schwestern Lisbeth und Lotte sind nach Paris und England gezogen. Ein Schwager namens Theodor soll im Konzentrationslager umgebracht worden sein.

Joseph Wachtel bewohnte das Haus Nr. 20 mit seiner Schwester, die „Ettelje“ gerufen wurde, und deren Tochter Rosa. Beide lebten vom Kuhhandel. Die Tochter heiratete Sally Kahn. den Ersten Vorsitzenden der Gemeinde.

Das Haus mit der Nr. 24 war die Synagoge. In der Pogromnacht im November 1938 wurde sie von der Dermbacher SA zerstört, ebenso die jüdischen Geschäfte. Wegen der angrenzenden Häuser wurde die Synagoge aber nicht niedergebrannt. Heute existiert sie nicht mehr.

In der Nr. 28 wohnte Sally Kahn, der 1. Vorsitzende der Gemeinde, mit seiner Frau Rosa. Er reparierte Fahrräder, unterhielt eine Shell-Tankstelle und handelte mit Radios, Lampen und anderen Sachen. Ir Jahre 1914 wurde die Tochter Ruth geboren. Sally Kahn wurde vermutlich während der Nazizeit in Erfurt. wegen Spionage hingerichtet, Frau und Tochter wurden ins Konzentrationslager deportiert. Sein Vater, Nathan Kahn;. lebte im Nachbarhaus. Er handelte mit Lebensmitteln und hatte alles „von der Kuh bis zum Schnürsenkel“. Er starb 1935 in Gehaus.

Im Haus Nr. 31 befand sich früher eine Metzgerei. die bis etwa 1927 von jüdischen Einwohnern geführt wurde.

Im Haus Nr. 100 wohnte und arbeitete Hans Lichtenstädter. Später unterhielten Fritz Andorn und seine Frau Marianne hier ein Geschäft für Schnittwaren, Stoffe und Kleidung. Sie konnten noch vor 1938 Deutschland verlassen und gingen nach Amerika.

Martha Gottgetreu aus dem Haus Nr. 113 handelte mit Hasenfellen, Schuhcreme und anderen Sachen. Nach 1938 wurde sie in ein Konzentrationslager verschleppt.

Ein Kolonialwarengeschäft betrieb Hans Rehbock mit seiner Frau Jetti und Tochter Martha im Haus Nr. 114. Jetti wurde in Gehaus begraben, Martha konnte nach Amerika entkommen. Ein Sohn heiratete in Suhl eine evangelische Frau. Über sein Schicksal und das seines Vaters ist nichts bekannt.

Im Haus Nr. 116 lebte Meier Rosenthal mit seiner Frau. Beide sind in Gehaus begraben. Ihre Tochter Lene war mit dem Russen Joseph Klüger verheiratet. Im Jahre 1930 wurde ein Sohn geboren. Die ganze Familie kam vermutlich im Konzentrationslager um.

Meier Nußbaum, ein Bruder von Samuel Nußbaum, lebte im Haus Nr. 122. Er war ein Viehhändler. Seine Kinder Lene, Fritz und Kurt zogen nach Erfurt. Der Leidensweg des Vaters endete im Konzentrationslager.

Das Haus Nr. 123 war die Schule der jüdischen Gemeinde. Hier unterrichtete Siegmund Kahn. Seine Frau war eine geborene Rehbock. Zwei Töchter konnten vermutlich nach Amerika fliehen. Als sich eine eigene jüdische Schule nicht mehr lohnte, unterrichtete Herr Kahn zusammen mit dem Lehrer Kister. Dieser hatte die Klassen 1 bis 3 und 7 bis 8. Er war ein eingeschworener Nazi und Mitglied der Waffen-SS. Einen jüdischen Schüler hat er in besonderer Weise gequält. Wegen seiner Verbrechen kam er 1945 in Kriegsgefangenschaft. Später lebte er in Öchsen.

In der Pogromnacht lebten nur noch drei bis vier jüdische Mitbürger in Gehaus. Sie mußten sich am Ortsausgang aufstellen und wurden vom Ortsgendarm in Richtung Stadtlengsfeld deportiert. Ein Einwohner gab ihnen noch etwas Stroh mit (Markus Heckert, in: Gegen das Vergessen, Landesjugendpfarramt der Ev.-Luth. Kirche in Thüringen, 1988).

 

 

Kassel

Manch ein engagierter Leser dürfte bei der Lektüre des Buches „Reichskristallnacht” von Wolf-Arno Kropat (Wiesbaden 1998, 35 Mark) über den Untertitel stolpern: „Der Judenpogrom vom 7. bis 10. November 1938 - Urheber, Täter, Hintergründe2. Daß die Ausschreitungen bereits am 7. November begonnen haben, dürfte er als wichtige neue Information empfinden, hatte bisher doch ein erheblicher Teil der Forschung als Auslöser der Pogrome die berüchtigte Hetzrede des Reichspropagandaministers Joseph Goebbels in München am 9. November angenommen.

Doch der frühere Leiter des Hessischen Hauptstaatsarchivs und ausgewiesene Kenner der Geschichte der Juden in Deutschland weist en detail nach, daß die Pogrome in der Tat bereits am Abend des 7. November begonnen hätten - in Kassel und anderen Städten Kurhessens. Zu diesem Zeitpunkt hatte die NS-Führung das Attentat des jungen Juden Herschel Grynszpan auf den deutschen Legationssekretär vom Rath noch nicht in einen Anschlag des Weltjudentums gegen das deutsche Volk umgemünzt. Als Initiatoren treten nicht fanatische örtliche NS-Funktionäre auf, angestoßen hat den Terror vielmehr der Gaupropagandaleiter Gernand, der sich gegenüber Untergebenen auf den Willen Goebbels’ beruft.

Allerdings gab es am 7. November bei der Durchführung des Terrors gegen die Juden noch erhebliche Pannen; anders als Gestapo und SD, SA und SS ist die Ordnungspolizei offenbar zunächst nicht einbezogen worden. Sie fährt umher und versucht, judenfeindliche Aktionen zu unterbinden. Einzelne Gauleiter weisen sogar noch am 9. November untergeordnete Stellen an, „sämtliche antijüdischen Demonstrationen“ zu verhindern.

 Kropat weist nach, daß diese brutalen Aktionen von Anbeginn an mit Wissen und Zustimmung der engeren Nazi-Führung von Hitler bis Heydrich begonnen und durchgeführt worden seien. Es habe deswegen auch, anders als ein Großteil der Forschung meint keine „Krise“ in der Führungsspitze gegeben, wenngleich angesichts des verheerenden Echos aus dem Ausland Göring, Heß und Himmler Entlastungsstrategien starteten und gerüchteweise streuen ließen, sie hätten gegenüber Hitler Vorbehalte geäußert.

Großen Wert legt Kropat auf die Feststellung, daß die Novemberpogrome nicht als „Vorstufe der Endlösung im Sinne der Vernichtung der Juden“ verstanden werden dürften, so unmenschlich und „für eine zivilisierte Nation unfaßbar“ sie auch gewesen sein mochten. Die NS-Führung habe vielmehr zunächst das Ziel verfolgt, mit solchen Terroraktionen die Juden zur Auswanderung zu veranlassen. Einzig für Hitler dürfte die „Reichskristallnacht“ ein Probelauf für die Endlösung gewesen sein, da nur er damals bereits wußte, daß es Krieg geben werde. Und der Krieg war eine Voraussetzung für die Ausrottung.

Wie auch in seinen anderen Büchern pflegt Kropat bei aller Wissenschaftlichkeit einen erzählenden Stil, der die Unfaßlichkeit dieses Geschehens nur noch unterstreicht. Glänzend recherchiert und abwägend, daher besonders zur Lektüre empfohlen, das Kapitel „Täter und Zuschauer“: Ein Spiegel für die Deutschen.

 

Neue Synagoge:

Einen „Palast“ nennt Semen Kats die Kasseler Synagoge. Stolz zieht das Vorstandsmitglied der Kasseler jü­dischen Gemeinde den Vorhang des Thora-Schreins auf. „Ein sehr schönes Gebäude“ – der 68-Jährige kann den im Jahre 2000 einge­weihten Bau aus Beton und Zedernholz, ent­worfen vom Frankfurter Architekten Alfred Jacoby, nicht genug loben. Der Ingenieur, der vor elf Jahren mit seiner Familie aus dem ukrainischen Kiew nach Kassel kam, ist hier „sehr zufrieden“. Auch wenn er selbst und seine Frau – ebenfalls Ingenieurin – keine Ar­beit gefunden haben. Sein Sohn arbeitet seit Jahren als Architekt in Nordhessen, seine Tochter schreibt ihre Diplomarbeit an der Göttinger Uni, auch der Neffe ist Ingenieur.

Doch vor kurzem hat Kats „ein bisschen Angst bekommen“. Da waren auf dem Kasse­ler jüdischen Friedhof zig Grabsteine zer­stört und Wände beschmiert worden, kurze Zeit später passierte Ähnliches auf dem jüdi­schen Friedhof im nahen Gudensberg. „Un­ruhe im Herzen“ hat ihn da befallen. Deshalb schrieb er mit anderen Gemeindemit­gliedern einen Brief an den hessischen Mi­nister­präsidenten Roland Koch (CDU) und dessen Innenminister. Die Absender wiesen darauf hin, daß sie wegen des Antisemitis­mus in ihrer Heimat nach Deutschland ge­flüchtet seien – jetzt würden sie hier das Glei­che erleben. Und in diesen Tagen sind nicht nur Juden in Hessen durch die Äußerungen des CDU-Bundestagsabgeordneten Hoh­mann, der Juden als „Täter“ bezeichnete, schockiert und irritiert, wie der Vorsitzende des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden in Hessen, Moritz Neumann, die Stimmung beschreibt. Für ihn ist die Hohmann-Rede „ein schlimmes Machwerk“.

 

Deutschland tut sich schwer im Umgang mit seiner Vergangenheit. Darauf verwies bei der Gedenkveranstaltung für die November-Pogrome im Jahr 2003 auf dem Kasseler Friedhof auch Esther Haß vom Vorstand der jüdischen Gemeinde. Vor wenigen Tagen war des 60. Jahrestages der Zerstörung Kassels durch Bomben der Alliierten gedacht worden. Gestern stand der 65. Jahrestag der so genannten Reichskristallnacht an. In Kassel hatten die von den Nazis angestachelten Horden nicht erst am 9., sondern schon am 7. November zugeschlagen und die Große Synagoge zerstört, die wenig später wegen „Baufälligkeit“ abgerissen wurde. Während der Jahrestag der Bombardierung mit Erinnerungs-Events wie der Illumination der Kirchen begangen worden war, ging das Gedenken zum 7. November im Stillen vonstatten. Für Esther Haß waren es zwei Gedenkveranstaltungen, „die nicht unterschiedlicher hätten sein können“.

 

Trotz solcher Brüche scheint sich die Stadt wieder bewußt zu werden, daß jüdisches Leben ein Teil ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist. Im Jahr 2002 etwa wurde zum Volkstrauertag erstmals auch auf dem jüdischen Friedhof der Toten gedacht. Für den Leiter des Kasseler Stadtmuseums, Karl-Hermann Wegner, ist es eine „Ehrenpflicht“, jüdische Geschichte zu dokumentieren. Auch „um der neuen jüdischen Gemeinde zu zeigen, daß sie Wurzeln hat“. Die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit versucht mit kulturellen und politischen Veranstaltungen zu dokumentieren, „daß Juden hier sind, daß sie mit uns leben – und nicht neben uns“, so Geschäftsführerin Eva-Schulz-Jander.

Einst hatte die Kasseler Gemeinde mehr als 3.000 Mitglieder, von 1807 an hatte in der Stadt an der Fulda das „Königlich Westfälische Konsistorium der Israeliten“ mit einem Lehrer- und einem Rabbinerseminar seinen Sitz. Vor der „Kristallnacht“ gab es 2.500 Kasseler Juden, unzählige wurden in Konzentrationslagern ermordet, 1945 gab es nur noch 250. Zeitweise war die Kasseler Gemeinde „eine große Familie“, erinnert sich Landesverbandsvorsitzender Neumann. Rund 70 Juden lebten in der Stadt und im Umland.

Das hat sich gewaltig geändert. Seit den 90er Jahren, als die Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion einsetzte, wuchs die Zahl immens. Derzeit sind es rund 1200. Doch für sie ist es ist nicht leicht, Wurzeln zu schlagen. Das beginnt mit der Sprache. Die meisten Flüchtlinge sprechen Russisch. Deshalb wird in der Synagoge neben Hebräisch und Religion vor allem Deutsch gelehrt – eine wichtige Bedingung, um einen Job zu finden. Doch Arbeit ist im strukturschwachen Nordhessen dünn gesät. Die meisten Neuankömmlinge sind deshalb Sozialhilfeempfänger. Deren soziale Betreuung ist deshalb schwierig, weil es für das ganze Land gerade mal eine einzige Sozialarbeiterin gibt. Die - Kasseler Gemeinde hat inzwischen selbst angepackt und einen mobilen Pflegedienst für Senioren aufgebaut. In der Synagoge gibt es eine Theater- und eine Sportgruppe sowie eine Bibliothek.

Doch die jüdischen Gemeinden haben auch mit einer Folge des Lebens in einer kommunistischen Diktatur zu kämpfen, so Landesvorsitzender Neumann: „Menschen, die jüdisch sind, wissen kaum etwas davon“. Und so sagt dann auch der Neu-Kasseler Kats: „Wir sind ohne Religion aufgewach­sen“. Andererseits wird in den Ländern der Ex-Sowjetunion das Wort „Jude“ im Paß vermerkt. Wer sich dort einen jüdischen Ehepartner auswählt, wird automatisch zum Juden, die Kinder ebenso. Doch das ist gar nicht im Sinne der Religion, weil man nur als Jude geboren werden oder bewußt übertreten kann. Eine Lösung, die in Deutschland sowohl den Vorschriften der Religion als auch den Menschen entspricht, steht auch in den hessischen Gemeinden noch an.

Derweil versucht die Kasseler Gemeinde, auf ihre Weise die religiösen Traditionen zu beleben. Zum Beispiel mit koscheren Kochkursen in der Synagoge. Oder mit einer traditionellen Hochzeit eines ukrainischen Ehepaars. Der Bräutigam hatte - als erwachsener Mann - sogar die Beschneidung über sich ergehen lassen. Über solche Ereignisse kann sich Vorstandsmitglied Esther Haß genau so freuen wie über die fünf Jugendlichen, die im vergangenen Schuljahr ihr Abitur mit jüdischem Religionsunterricht abgeschlossen hatten.

Gleichwohl kocht das religiöse Leben zwangsläufig auf Sparflamme. Größere Gottesdienste muß der Religionslehrer halten, an hohen Feiertagen wird ein Rabbiner aus Israel eingeflogen. Im Jahr 1938 war der amtierende Rabbiner Robert Raphael Geis zusammen mit anderen jüdischen Männern nach Buchenwald deportiert worden. „Nach 65 Jahren“, fordert Esther Haß, „ist es an der Zeit, daß Kassel wieder einen Rabbiner bekommt“. Es müsse ein „sichtbares Zeichen der Solidargemeinschaft“ gesetzt werden, damit „Gedenken nicht zum leeren Ritual“ wird.

Vor kurzem war zur Finanzierung einer Rabbiner-Stelle die „Mosenthal-Stiftung“ gegründet worden, benannt nach dem aus Kassel stammenden Dramatiker, Lyriker und Erzähler Salomon Hermann Mosenthal (1821 - 1877). Die Gemeinde stellt aus eigener Kraft 15.000 Euro Grundkapital.

Verhandlungen über Zuschüsse der Stadt laufen, auch mit dem Landkreis gibt es Gespräche, immerhin lebt etwa die Hälfte der Mitglieder in Kassels Umland. Sogar die Evangelische Landeskirche von Kurhessen-Waldeck hat 5.000 Euro in Aussicht gestellt, auch das Bistum Fulda will sich nicht lumpen lassen. Esther Haß ist optimistisch: „Das jüdische Jahr ist zwar schon rum, das gregorianische noch nicht“. Im Februar/ März, hofft sie, wird der Rabbiner- ein Interessent ist schon da - seinen Dienst antreten: „Man muß einfach dran glauben“.

 

Das Verhältnis zwischen Christen und Juden zu verbessern, ist Schwerpunkt der Arbeit der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Dies geschieht durch intensive Beschäftigung mit dem Trennenden und Verbindenden der religiösen Traditionen, mit den Belastungen aus der Vergangenheit und den Problemen der Gegenwart. Dazu gehören auch die Förderung von Begegnungen und die Pflege der Beziehungen zu Israel.

Darüber hinaus versucht die Gesellschaft, Fremdenfeindlichkeit. Diskriminierung, Hass, Gewalt und Antisemitismus entgegenzutreten. Sie weiß sich mit allen religiösen, demokratischen, politischen und sozialen Kräften mit gleicher Zielsetzung verbunden und sucht die Zusammenarbeit. Die Mitglieder der Gesellschaft wollen informieren und auf Gefahren hinweisen; sie sind der Überzeugung, daß die Greueltaten der Nazi-Barbarei nicht vergessen, nicht verdrängt, nicht aufgerechnet oder geleugnet werden dürfen.

In der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit engagieren sich Christen verschiedener Bekenntnisse, Juden unterschiedlicher Traditionen. aber auch Menschen anderer Anschauung. Verbindliches Ziel ist die Verwirklichung der Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit aller Menschen ohne Unterschied ethnischer, religiöser, politischer oder sozialer Herkunft.   

Im Rahmen eines privaten Forschungsprojektes zur Geschichte der Mönchebergstraße vor den beiden Weltkriegen, das eine Ausstellung im Kasseler Stadtmuseum krönte, gab es in Israel eine Begegnung mit Mitgliedern zweier jüdischer Familien. die bis 1936 in der Straße lebten und auch dort geboren wurden. Sie berichten in Gesprächen. die auf Tonband dokumentiert sind. über ihren Alltag in der Mönchebergstraße. Eine der Familien kam um 1910 aus Galizien in die Stadt. die andere zählt zu den sogenannten assimilierten jüdischen Familien, deren Vorfahren bereits seit 300 Jahren in der Region lebten.

Die Anfänge der Kasseler Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit liegen im Jahr 1953. Grund und Motiv für die Gründung waren leidvolle und grauenhafte Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und die Kenntnis des Genozids an den europäischen Juden. Antisemitismus, Rassismus, Militarismus, nationale Überheblichkeit, religiöse Intoleranz und weltanschaulichen Fanatismus sollte es nicht mehr geben.

 

 

Battenfeld

Das kleine Heimatmuseum in der ehemaligen Dorfschule von Battenfeld, heute Ortsteil von Allendorf/Eder, verfügt über eine umfangreiche Sammlung von Dokumenten und Fotografien, die das jüdische Leben in Battenfeld darstellen. Außerhalb des Ortes befindet sich auch ein weitgehend erhalten gebliebener jüdischer Friedhof mit alten Grabsteinen. Seit 1988 erinnert eine Gedenktafel an die Opfer jüdischer Gewaltherrschaft und die zerstörte Synagoge.

 

Fritzlar

In Fritzlar ist der jüdische Friedhof mit Grabsteinen aus der Zeit von 1733 bis 1949 erhalten. Dort befindet sich auch ein von einem überlebenden Juden 1947 errichtetes Holocaust-Mahnmal. Zwei Gedenktafeln erinnern an die 1939 abgerissene „neue Synagoge“ in der Neustädter Straße. In der Gießener Straße 25 ist über der Haustür die jüdische Zahl 55.47 erhalten geblieben.

 

Fürstenhagen

Im Waldgebiet über Hessisch Lichtenau-Fürstenhagen exsistierte von 1938 bis 1945 die drittgrößte Sprengstoff. und Munitionsfabrik der NS-Zeit unter dem zynischen Decknamen „Friedland“. Zahlreiche Ruinen, Bunker und umgebaute Werksgebäude künden von der Zeit. als hier 5.000 Menschen rund um die Uhr Bomben, Granaten, Tellerminen und Gewehrmunition produzierten.

Eine Geschichtswerkstatt e. V.“' hat von 1985 bis 1998 die Geschichte der Angestellten, deutschen Dienstverpflichteten, deportierten Zwangsarbeiter und Sklavenarbeiterinnen und -arbeiter eines noch im August 1944 eingerichteten KZ-Außenlagers von Buchenwald aufgearbeitet. Darüber hinaus hat sie Begegnungen mit „Ehemaligen“ ermöglicht. dokumentiert in „Lebenserinnerungen einer ungarischen Jüdin“ von Judith Magyar Isaacson und „Eine Katze namens Adolf“ von Trude Levi.

Führungen durch das ehemalige Werksgelände von einmal zwei Kilometer Ausdehnung lassen die Entstehungsgeschichte der Fabrik und die Kriegszeit nach Art der „oral history“. der erzählten Geschichte, wieder lebendig werden.

 

Gudensberg

Die ehemalige Synagoge in der Hintergasse 21, das bau- und kulturgeschichtlich bedeutsamste erhaltene Synagogengebäude im Schwalm-Eder-Kreis, wurde im November 1995 nach mehrjähriger Restaurierung als Kulturhaus der Öffentlichkeit übergeben. Im Jahr 1843 eingeweiht, war die frühere Synagoge bis zur Vertreibung der letzten Gudensberger Juden im Jahr 1938 der Mittelpunkt des religiösen und kulturellen Lebens der jüdischen Gemeinde gewesen.

Danach wurde das Gebäude an einen Geschäftsmann verkauft und jahrelang als Lager genutzt. Der Kauf durch die Stadt1990 beendete den bereits weit fortgeschrittenen Verfall des seit 1985 unter Denkmalschutz stehenden Hauses und machte den Weg frei für seinen Erhalt. Die ehemalige Synagoge ist ein Ort der Erinnerung. seine ausschließliche Nutzung als Gedenk- und Dokumentationsstätte ließ sich jedoch nicht realisieren. Im Erdgeschoß befinden sich die Geschäftsräume des DRK-Ortsvereins. Die erste Etage. die auch für Konzerte. Vorträge und andere kulturelle Veranstaltungen genutzt wird, ist an die Musikschule Schwalm-Eder vergeben. Auf der Empore befindet sich eine Dauerausstellung zur Geschichte der jüdischen Gemeinde und der Synagoge von

Gudensberg.

Die deutsch-israelische Künstlerin Dina Kunze, die ein Kind zweier Auschwitzüberlebender ist. gestaltete das aus Sandstein gefertigte Denkmal vor dem Eingang. Die Dauerausstellung wurde vom Arbeitskreis Synagoge erstellt. Inhaltliche Fragen zu Geschichte und Spurensuche. aber auch zu Kontakten mit Zeitzeugen können an Hans-Peter Klein gerichtet werden.

 

Mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Holocaust gibt es in vielen deutschen Städten wieder jüdi­sche Gemeinden. Auf dem Land aber ha­ben sie noch nicht wieder Fuß fassen kön­nen. Eine Ausnahme ist die Gemeinde im nordhessischen Gudensberg im Schwalm-Eder-Kreis, einer beschaulichen Stadt mit knapp 9.000 Einwohnern in der Nähe von Kassel.

Seit wenigen Monaten bemühen sich hier die 22 Mitglieder der liberalen Ge­meinde „Emet we Schalom“ Wahrheit und Frieden um eine Wiederbelebung der jüdi­schen Tradition auf dem Lande.

„Wir fühlen uns für die ganze ländliche Region zuständig“, sagt Gemeinde-Vorsit­zende Deborah Tal-Rüttger. Nur zwei der Mitglieder wohnen in Gudensberg, der Rest verteile sich auf die Dörfer und Städ­te des Umlands.

„Wir konnten uns aber nicht zwischen zwei Orten auf der Straße gründen“, erklärt die in Israel geborene Nachfahrin deutscher Juden, warum die Wahl des Ge­meindesitzes schließlich auf Gudensberg fiel. Ganz willkürlich aber ist die Entschei­dung trotzdem nicht: Vor 1933 gab es hier eine Gemeinde mit rund 200 Mitgliedern, die ehemalige Synagoge steht noch heute im Zentrum des Ortes und wird von der Stadt als Kulturhaus genutzt.

Antisemitische Anfeindungen habe es bislang keine gegeben, berichtet die Vorsitzende. Damit es auch nie dazu kommt, haben sich Juden und Nicht-Juden aus der Region zu einem Freundeskreis zusammengeschlossen. „Wir werden mit unseren Namen und unseren Personen für die Gemeinde eintreten, wenn es problematisch wird“, sagt Freundeskreis-Vorsitzender und Lehrer Thomas Bruinier. Ziel der Vereinigung sei, über das liberale Reformjudentum zu informieren und um Verständnis sowie Un­terstützung zu werben.

Nicht zuletzt geht es dabei um materiel­le Hilfe. Da sich die Gudensberger Gemeinde nicht vom Zentralrat der Juden in Deutschland, sondern von der „Union pro­gressiver Juden in Deutschland, Oster­reich und der Schweiz“ vertreten läßt, be­kommt sie keine Steuergelder und muß sich ausschließlich über Spenden und Mit­gliedsbeiträge finanzieren. Die benötigten Beträge sind stattlich: Allein die unlängst angeschaffte Thora-Rolle schlug mit 8.000 Mark zu Buche.

Doch auch die Gespräche mit der gegenüber der Gemeinde noch eher zurückhal­tenden Stadt gehören zu den selbstgestell­ten Aufgaben des Freundeskreises. „Es kann keine herausgehobene Stellung für die jüdische Gemeinde geben, weil wir sonst der überwiegenden Mehrheit der Gläubigen in der Stadt auf die Füße treten würden“, formuliert der Erste Stadtrat Walter Berle (SPD) die Haltung der Kommune.

Wenn die Gemeinde an hohen jüdischen Feiertagen das Kulturhaus Synagoge nutzen wolle, müsse sie das genauso beantragen wie alle anderen Vereinigungen im Ort auch. „Die Stadt hat das absolute Hoheitsrecht über die ehemalige Synagoge - und wird es nutzen.”

Noch stellt das für die kleine Gemeinde kein Problem dar. Für die wenigen Mitglieder reicht die als Betraum und Bibliothek genutzte Kellerwohnung in einem Neubaugebiet am Ortsrand aus. In den kommenden Wochen aber will sich die Gemeinde verstärkt um die eingewanderten Juden aus Osteuropa kümmern.

Immerhin siebzig dieser so genannten Kontingent-Flüchtlinge kommen derzeit pro Jahr in den nordhessischen Schwalm-Eder-Kreis - ein reiches Potential, das die jüdische Gemeinde Gudensberg wachsen lassen könnte.

Für den Zentralrat ist die Ansiedlung von Juden auf dem Land indes gar nicht erstrebenswert. „Wir haben die Bundesregierung gebeten, künftige Kontingent-Flüchtlinge nur noch in Städten mit bestehenden jüdischen Gemeinden anzusiedeln“, erklärt Zentralrats-Vorsitzender Paul Spiegel. Für den Aufbau von Landgemeinden habe der Zentralrat kein Geld, das ist allenfalls Zukunftsmusik.

Die vom Zentralrat unabhängige Gemeinde in Gudensberg ist also nicht nur die erste, sondern könnte auf absehbare Zeit auch die letzte jüdische Gemeinde auf dem Land sein.

 

Guxhagen

Unter den Gefangenen in Breitenau befanden sich zahlreiche Jüdinnen und Juden; es besteht die Möglichkeit, deren Verfolgungsschicksal als thematischen Schwerpunkt einer Führung zu wählen. Anhand dieser Einzelschicksale lassen sich regionalgeschichtliche Bezüge in den gesamten Regierungsbezirk Kassel aufzeigen. Ein Rundgang durch das ehemalige Lagergelände veranschaulicht die damaligen Haftbedingungen. Mit Hilfe der umfangreichen Bibliothek, der Mediensammlung und des Archivs lassen sich viele Fragen zur Geschichte jüdischer Gemeinden und zur Verfolgung der Juden vertiefen. Darüber hinaus wurden zahlreiche Materialien zur Geschichte der jüdischen Gemeinde Guxhagen zusammengetragen.

Nachdem die Gemeinde Guxhagen die ehemalige Synagoge ursprünglich verkaufen wollte, entschloß sie sich im März 2000, das Gebäude selbst zu sanieren, es aber auch vollständig durch Vermietung kommerziell zu nutzen. Das Ziel des Vereins „Ehemalige Synagoge“, den Synagogenraum wiederherzustellen, wurde dabei ausgeschlossen.

Das Nutzungskonzept des Vereins sieht demgegenüber vor, den ehemaligen Synagogenraum, der sich rechts vom Eingang über zwei Geschosse und die ganze Haus-tiefe erstreckte, in seiner ursprünglichen Form wieder herzustellen. „Dabei ist nicht an eine Rekonstruktion gedacht“, so eine Erklärung des Vereins, „vielmehr ist eine räumliche Struktur geplant, in der die volle Höhe des zweigeschossigen religiösen Raumes mit Empore und Luftraum nachempfunden werden kann“. Damit müsse eine Öffnung des Gebäudes für die Öffentlichkeit einhergehen: „Die Synagoge soll nicht als Mahnmal, sondern als Ort der Begegnung. des natürlichen und gewöhnlichen Umgangs miteinander von möglichst vielen Menschen im Alltag frequentiert werden“. Die beiden Wohnungen im linken Teil des Gebäudes könnten als privater oder im öffentlichen Interesse vermieteter Wohnraum erhalten bleiben. Mietzins und Nutzungsentgelte, so der Vorschlag des Vereins, könnten den laufenden Unterhalt des sanierten Gebäudes sichern.

Die Synagoge, ein 19 Meter langer und neun Meter tiefer Fachwerkbau, wurde 1826 eingeweiht. Bis zum Jahr 1938 (Verwüstung in der Pogromnacht) befanden sich im Haus der Betraum (zweigeschossig mit Empore), der Schulraum und eine Lehrerwohnung. 1938 gelangte das Gebäude in den Besitz der politischen Gemeinde Guxhagen, die umfassende Veränderungen vornahm. Der Verein geht davon aus. daß sich die baulichen Veränderungen wieder rückgängig machen lassen, denn „Die Synagoge muß als eines der wenigen in seiner ursprünglichen Substanz erhaltenen Zeugnisse der ehemaligen ‚Hessischen Landjuden’ gewertet werden“.

 

Hofgeismar

Der Ausstellungsbereich der Judaica-Sammlung. nach der des Jüdischen Museums in Frankfurt die bedeutendste in ganz Hessen. richtet sich an ein Publikum aller Altersstufen. In drei Schauräumen werden die Themenbereiche „Jüdische Regionalgeschichte bis 1945“ und „Jüdische Religion“ (Feste, Schabbat, Synagoge, Thora).

Besondere Berücksichtigung erfährt dabei er Aspekt der jüdischen Integration in die christliche Mehrheitsgesellschaft bis 1933. Ein ganz in schwarz gehaltener Raum ist ausschließlich dem Thema „Schoah“ gewidmet. Dort befindet sich eine Tafel mit den Namen. Geburtsjahrgängen und Deportationszielen aller bis jetzt bekannt gewordenen jüdischen NS-Opfer aus dem Bereich Hofgeismar, Kassel, Wolfhagen. Ein Archiv mit umfangreicher Fachbibliothek (nach Voranmeldung zugänglich) ist der jüdischen Religion und Geschichte mit Schwerpunkt Judentum in Hessen sowie der nationalsozialistischen Judenverfolgung gewidmet. Eine laufend aktualisierte Bibliographie zu Geschichte und Kultur der Juden in Hessen ist bereits vorhanden und nutzbar.

 

Homberg

Seit 1880 siedelten sich auch in Homberg jüdische Mitbürger an. Im Jahre 1910 meldete die Stadt an den königlichen Landrat, daß sich insgesamt zwölf jüdische Familien in Homberg niedergelassen hätten. Im Jahre 1908 wurde die jüdische Volksschule von Falkenberg nach Homberg verlegt und am 1. Januar 1909 eine eigene Synagogengemeinde gegründet. Im Jahre 1933 wohnten 43 Menschen jüdischer Abstammung in Homberg.

Nach der Pogromnacht verließen viele Mitbürger die Stadt. Diejenigen Nachbarn, die nicht genug Geld für eine Auswanderung besaßen, wurden mit den beiden letzten Transporten im Mai und September 1942 in Richtung Osten „abgeschoben“ und vernichtet (siehe Abbildung des Schreibens der Stadt Homberg).

„Die letzte in Homberg wohnende Jüdin, die Witwe Minna Sara Heilbronn, ist am 7. 9. 1942 abgewandert. Damit ist die Stadt Homberg judenfrei geworden“, schreibt am 1. Oktober 1942 der Bürgermeister an den „Herrn Landrat“ in Fritzlar.

In mehreren Orten um Homberg herum gab es seit dem 16. beziehungsweise 17. Jahrhundert jüdische Einwohner, so in Falkenberg, Borken, Gudensberg. Dillich und Raboldshausen-Mühlbach. Homberg rühmte sich noch Mitte des 19. Jahrhunderts, keine Juden in seinen Mauern zu haben.

 

Naumburg

Jüdische Bewohner sind in Naumburg seit 1503 nachweisbar, ab dem Ende des 17. Jahrhunderts lebte hier für etwa 250 Jahre ständig eine kleine jüdische Gemeinde. Spuren des jüdischen Lebens sind der am Stadtrand gelegene Friedhof und das Gebäude der früheren jüdischen Schule und Synagoge.

Im heutigen Stadtteil Elbenberg befand sich 1944/45 ein Lager, überwiegend für jüdische Frauen aus sogenannten Mischehen aus Ostwestfalen. Sie wurden hier unter schwierigsten Bedingungen zum Ausbau einer Großstollenanlage herangezogen, wohin ein Teil der Produktion der Henschel Flugmotorenwerke verlagert werden sollte. Das Gelände kann besichtigt werden, die Stollen sind nicht frei zugänglich. In der 1998 erschienenen Schrift „…da war ich zu Hause“ wird auf 140 Seiten der gegenwärtige Forschungsstand zusammengefaßt.

 

Neukirchen

Jüdisches Leben in Neukirchen im Schwalm-Eder-Kreis ist seit 1672 bezeugt. Im Jahr 1832 erwarb die israelitische Gemeinde ein Privathaus, um es als Synagoge, Schule, Lehrerwohnung und Bad einzurichten. Im Jahr 1858 legte sie einen Friedhof an. Die nachbarlichen Beziehungen zwischen Christen und Juden waren ungestört. bis ihnen das Naziregime ein Ende setzte. Seit dem 31. Mai 1942 gibt es keine Juden mehr in Neukirchen. Von den 101 jüdischen Mitbürgern. die hier zuletzt lebten, sind bis auf einige wenige, die rechtzeitig fliehen konnten, alle von den Nazis ermordet worden.

Neben zahlreichen anderen Initiativen trat Magdalena Debus 1993 für die Errichtung eines Gedenksteins vor der ehemaligen Synagoge in Neukirchen ein. In diesem Zusammenhang wurde auch eine Dokumentation erstellt. Debus ist Initiatorin und Organisatorin der jährlichen offiziellen Gedenkveranstaltung des Magistrats der Stadt Neukirchen zum 9. November 1938. Sie pflegt briefliche und persönliche Kontakte mit ehemaligen jüdischen Mitbürgern und deren Nachkommen in Israel, aber auch neu entstandene Freundschaften mit Israelis. Darüber hinaus widmet sie sich der Befragung jüdischer und christlicher Zeitzeugen der Judenverfolgung.

 

Niederaula

Die erste urkundliche Erwähnung jüdischer Bewohner in Niederaula stammt aus dem Jahr 1503. Über die nächsten Jahre finden sich immer wieder Hinweise auf eine jüdische Gemeinde im Ort. Bereits 1683 wird eine israelitische Elementarschule erwähnt. Offenbar gab es so viele jüdische Schüler, daß die Einstellung eines Lehrers erforderlich wurde. Ende des 19. Jahrhunderts verzeichnet Miederaula 27 jüdische Familien und 50 jüdische Schülerinnen und Schüler. Danach nahm die Schülerzahl kontinuierlich ab. Jüdische Familien verließen das Dorf: sie zogen - was inzwischen möglich war - in andere. meist größere Marktgemeinden.

Der Antisemitismus. der auch Niederaula voll erfaßt hatte, erreichte 1935 die Auflösung der israelitischen Schule. Die noch verbliebenen neun Schülerinnen und Schüler besuchten die jüdische Schule in Hersfeld. Die letzte Erwähnung von Juden in Niederaula entnehmen wir dem Polizeibericht vorn Frühjahr 1942: „Unbekannt evakuiert“ heißt es da. Über 50 Juden aus Niederaula wurden Opfer des Holocaust. Damit endete die jahrhundertealte Tradition einer jüdischen Gemeinde.

Anfang des 19. Jahrhunderts wird im Zusammenhang mit der Judenschule auch eine Synagoge erwähnt. Ob sie mit der letzten Synagoge. die in der Bahnhofstraße stand. identisch ist. ist nicht nachweisbar. Am B. November 1938, in der Pogromnacht. wurde auch in Niederaula randaliert. Man wagte allerdings nicht, das Gebäude in Brand zu stecken, da es in einem dicht bebauten Wohnge­biet stand. Aber man zerstörte Tür und Fenster und warf die Kultgegenstände auf die Straße. Nach verschiedenen zweckentfremdeten Nutzungen der Synagoge in Kriegs- und Nachkriegzeiten mußte sie 1973 der Straßenerweiterung und dem Bau von Parkplätzen weichen.

Als einziges Zeugnis der israelitischen Gemeinde in Niederaula ist der jüdische Friedhof erhalten geblieben. Er wurde um 1850 angelegt und umfaßt 109 Grabsteine. Der letzte erhaltene Grabstein wurde im Jahr 1941 gesetzt.

 

Rotenburg

Die Arbeitsgruppe „Spurensuche“ and er Jakob-Grimm-Schule in Rotenburg ist auf vielen Feldern des Erinnerns und Erforschens jüdischen Lebens aktiv. Zur Zeit bereitet sie die Veröffentlichung ihrer zweiten CD vor. Sie trägt den Titel „Jüdisches Land- und Kleinstadtleben. Das Beispiel der Region Hersfeld-Rotenburg“.

 

Treysa

Zu Beginn des Jahres 1988 wurde in enger Kooperation mit dem Stadtgeschichtlichen Arbeitskreis e. V. ein Volkshochschul-Kurs zum Thema „Die Geschichte der Juden im ehemaligen Kreis Ziegenhain“ eingerichtet. In unzähligen Arbeitsstunden wurde von den 20 Teilnehmerinnen und Teilnehmern eine umfangreiche Materialsammlung erarbeitet, gesichtet und aufbereitet. Im November des gleichen Jahres. anläßlich des 50. Jahrestags des Novemberpogroms 1938, konnten der Öffentlichkeit wesentliche Forschungsergebnisse aus dieser Arbeit in einer viel beachteten Ausstellung präsentiert werden.

In den folgenden Jahren entstand ein Buch. Am 6. Juni 1993 wurde das über 800 Seiten umfassende, doppelbändige Werk vorgestellt. Unter dem Titel „Heimatvertriebene Nachbarn“ wird darin erstmals die Geschichte der Juden im Altkreis Ziegenhain mit Beiträgen zu den verschiedenen Wohn- und Synagogengemeinden dargestellt. Neben den Stadtteilen Treysa, Ziegenhain, Neukirchen und Schwarzenborn werden darin die dörflichen Synagogengemeinden in Frielendorf, Großropperhausen, Oberaula. Breitenbach. Ottrau. Hausen, Merzhausen und Gilserberg wissenschaftlich thematisiert. Das Buch kann zum Preis von 60 Mark beim Stadtgeschichtlichen Arbeitskreis oder über den Buchhandel bezogen werden.

 

Trutzhain

In Trutzhain wurde ein selbst verwaltetes Lager für osteuropäische Juden - „displaced persons“ - eingerichtet, das von November 1946 bis November 1947 bestand. Als „displaced persons“ bezeichnete man ausländische Zwangsarbeiter und andere aus ihrer Heimat weggeführte Menschen, die bei Ende des Zweiten Weltkriegs von den Alliierten im Deutschen Reich und den von ihm besetzen Gebieten vorgefunden wurden. Um sie kümmerte sich die Hilfsorganisation „United Nations Relief and Rehabilitation Administration“ (UNRRA), die im November 1943 von 44 Staaten in Atlantic City gegründet worden war.

Das von der UNRRA eingerichtete Trutzhainer Lager stand unter zionistischer Führung, die Insassen hatten nur wenige Kontakte zur Außenwelt. Ängste, Unsicherheiten und Vorurteile, die damals auf beiden Seiten des Lagerzauns herrschten. haben sich bei der Bevölkerung des Ortes bis in die Gegenwart erhalten und prägen das Bewußtsein.

 

Volkmarsen

Der Verein ..Rückblende gegen das Vergessen“, der 1995 gegründet wurde, tritt für Toleranz und Achtung der Menschenwürde und gegen Rassenhaß und Ausgrenzung von Minderheiten ein. Die Arbeit seiner Mitglieder an der Erforschung und Dokumentation jüdischer Geschichte umfaßt die Sicherung historischer Dokumente und Überlieferungen. die Aufarbeitung und Veröffentlichung von Zeitzeugenerinnerungen aus dem 20. Jahrhundert und die Information über die Schicksale der verfolgten, vertriebenen und deportierten Volkmarser Juden während der NS-Zeit. Eine Dokumentation über die Geschichte der jüdischen Gemeinde Volkmarsen ist in Arbeit.

Der Verein widmet sich dem Aufbau und der Pflege von Kontakten zu den emigrierten Familien, insbesondere auch zu der Kinder- und Enkelgeneration. So waren im Mai 1996 und im Mai 1998 auf Einladung des Vereins 42 ehemalige jüdische Bürger aus Volkmarsen, Breuna und Wolfhagen - beziehungsweise deren Ehepartner, Kinder und Enkel - zu Gast.

Der über 65 Mitglieder zählende Verein hat alle 118 Grabstellen, die es bis 1938 auf dem jüdischen Friedhof in Volkmarsen gab, erfaßt, hat sämtliche Personen und Daten der Volkmarser Juden seit Anfang des 18. Jahrhunderts ermittelt und archiviert (bisher 1.500 Personen) und setzt sich für die Benennung von Straßennamen in nordhessischen Städten nach ehemaligen jüdischen Einwohnern ein.

Vöhl (Edersee)

Mindestens seit dem 17. Jahrhundert wohnten Juden in Vöhl. Ein Einwohnerverzeichnis aus dem Jahr 1705 weist 8 jüdische Familien aus. Sie hießen Stern. Rothschild., Schönhof, Kugelmann, Blum, Katzenstein und Schaumburg. Große Familien waren später auch die Kaisers, Mildenbergs. Frankenthals, Schönthals, Löwensterns, Külsheimers und Kratzensteins

Wo sie vor dem Bau der Synagoge beteten und aus den heiligen Schriften lasen. ist bisher unbekannt. Vermutlich versahen sie diesen Dienst in Privatwohnungen. Im Jahr 1827 entschlossen sich die Juden aus Vöhl, Basdorf. Marienhagen und Oberwerbe zum Bau einer Synagoge in Vöhl. Wohl bereits ab diesem Jahr wurden die jüdischen Kinder dort unterrichtet. Im Jahr 1829 wurde die Synagoge eingeweiht. Im Jahr 1846 wurden umfangreiche Reparaturarbeiten durchgeführt. Möglicherweise wurde das Gebäude in südlicher Richtung um einige Gefache verlängert und die Kuppel eingebaut.

Um 1840 waren 19 Prozent der Vöhler Einwohner jüdischen Glaubens. Einen ähnlich hohen Anteil hat es - wenn überhaupt - nur in wenigen Orten in Deutschland gegeben. Mitte der 1860er Jahre wurde die Schule in ein anderes Gebäude verlegt. Die Synagoge wurde bis 1938 genutzt. Durch den rechtzeitigen Verkauf an eine nichtjüdische Familie entging die Synagoge der Zerstörung in der Pogromnacht am 9. November 1938. Bis 1999 wechselte das Gebäude mehrmals den Besitzer. Der Sakralraum wurde in dieser Zeit als Baustofflager und dann als Abstellraum genutzt. blieb aber fast unverändert erhalten.

Ende 1999 wurde der Förderkreis „Synagoge in Vöhl“ e.V. gegründet und erwarb das Haus. Wir, die wir heute in Vöhl und in Waldeck-Frankenberg leben, möchten uns zu dieser auch jüdischen Vergangenheit unserer Heimat bekennen, und indem wir die ehemalige Synagoge erhalten und mit neuem Leben erfüllen. denjenigen ein Denkmal setzen, die einst hier lebten. Und die Synagoge erinnert auch an jene über 30 Männer. Frauen und Kinder aus Vöhl, Basdorf und Marienhagen. die während der NS-Diktatur ermordet wurden. Möge Ähnliches nie wieder geschehen - nirgendwo in der Welt!

Der Sakralraum soll so wiederhergestellt werden, wie er vor 1938 ausgesehen hat. Hier könnten kulturelle Veranstaltungen (z.B. Vorträge. Folklore) verschiedenster Art stattfinden. In den Nebenräumen sollte ein Museum eingerichtet werden, das deutsch-jüdisches Zusammenleben im früheren Kreis Vöhl. in den Orten des heutigen Landkreises Waldeck-Frankenberg und in der Region thematisiert. Es soll jüdische Kultur, Geschichte und Religion darstellen, wozu auch die Geschichte der Verfolgung der Juden in Deutschland. in Europa und in der Welt gehört. aber es soll sich darin nicht erschöpfen. sondern auch zeigen, daß Menschen verschiedener Kultur und Religion friedlich und in gegenseitiger Achtung zusammenleben können.

 

Waldkappel - Harmuthsachsen

In Harmuthsachsen steht noch die ehemalige Synagoge. deren Verfall zwar gestoppt werden konnte. deren Restaurierung aber noch lange nicht beendet ist. Ebenfalls erhalten sind etliche jüdische Wohnhäuser. die ehemalige jüdische Schule sowie zwei jüdische Friedhöfe.

Durch den Kontakt mit Nachfahren ehemaliger jüdischer Einwohner Harmuthsachsens ist eine kleine Gruppe entstanden, die sich die Bewahrung der Spuren jüdischen Lebens im Raum Waldkappel zur Aufgabe gemacht hat. Hierzu gehören sowohl die Pflege des älteren der beiden Friedhöfe als auch das Zusammentragen und Niederschreiben von persönlichen Erinnerungen noch lebender Zeitzeugen.

An einer umfangreichen Dokumentation. die ständig weiter wächst, arbeitet Rolf Hocke. Diese Materialsammlung enthält neben einer Liste aller im Holocaust ermordeten Harmuthsächser Juden auch eine Fülle von Geschichtchen und Anekdoten sowie ein jiddisches Wörterbuch mit Spezialausdrücken und Redensarten nordhessischer Juden.

 

Marburg

Studenten waren die treibende Kraft des Nationalsozialismus an der Marburger Philipps-Univer­si­tät. Schon 1930 verwandelten sie die Hochschule in eine braune Hochburg. Zwei Historiker haben das dunkle Kapitel nun in einem 550 Seiten starken Grundlagenwerk aufgearbeitet.

Mit der Erforschung der Zeit des Nationalsozialismus ist die Marburger Universität spät dran. Während andere Hochschulen dieses Kapitel ihrer Geschichte schon vor mehr als 20 Jahren bearbeitet haben, kommt in Marburg selbst die kritische Wissenschaftlergeneration der 70er Jahre über wortreiche Ankündigungen nicht hinaus. Und das; obgleich die Alma Mater auf einen nahezu lückenlosen Aktenbestand zurückgreifen kann. Einen Grund für die bemerkenswerte Forschungslücke sehen die Historiker Anne Nagel und Ulrich Sieg in der „Atmosphäre der Enge“ dieser mittelhessischen Stadt, in der ein Schulterschluß der städtischen Honoratioren mit den alteingesessenen Gelehrten dafür ein wesentlicher gewesen sei, daß Forschungen zum Thema bereits in einem frühen Stadium zum Erliegen gekommen sind.

Jetzt, 55 Jahre nach der deutschen Kapitulation liegt nun die erste umfassende Publikation zum Thema vor. Nagel und Sieg haben in einer fünfjährigen Arbeit 300 überwiegend unbekannte Dokumente zusammengetragen und bearbeitet - Briefe, Gutachten, Protokolle, Denunziationen, Beschwerden, Erlasse und Presseartikel geben Aufschluß über die Philipps-Universität im Nationalsozialismus.

Die älteste protestantische Hochschule der Welt, die schon während der Weimarer Republik als „Hort der Reaktion“ gegolten hatte, entwickelte sich ebenso wie die Stadt zu einer braunen Hochburg. Schon von 1930 an verzeichnete die NSDAP überdurchschnittlich hohe Wahlerfolge in der Stadt an der Lahn. Während sich die Professoren vor 1933 noch nicht öffentlich für Hitler engagiert hatten, wurden die Studenten geradezu zum Motor für den Nationalsozialismus.

Bereits 1930 errang der Nationalsozialistische Studentenbund bei einer Wahlbeteiligung von 72 Pro­zent die Mehrheit im Studentenparlament. Marburg war der erste Hochschulort in Deutschland, wo dies gelang. Seit 1928 stand mit Hans Krawielitzki ein Student der NSDAP-Ortsgruppe vor, der nach 1933 zum Kreisleiter und Landrat befördert worden war. Ausschreitungen waren jedoch selten, weil die antirepublikanische Haltung von Stadt und Universität so bekannt war, daß der Anteil jüdischer Studierender bei nur 0,9 Prozent lag.

Auch der Lehrkörper: war schon während der Weimarer Republik so judenfeind­lich und politisch homogen zusammenge­setzt, daß kaum personelle Veränderun­gen nötig waren, wenngleich die Professo­ren zunächst eine Art konservativer Distanz zu den neuen Machthabern hielten. So besaß vor 1933 kein Ordinarius ein NSDAP-Parteibuch. Dies änderte sich in den folgenden zwölf Jahren allerdings drastisch. Bis 1945 waren mehr als zwei Drittel der Hochschullehrer Mitglieder der NSDAP, womit sie deutlich über dem Reichsdurchschnitt von rund 50 Prozent lagen. Unter den 187 Lehrenden waren 1933 nur neun Juden.

Besonders tragisch ist der Fall des Indogermanisten Hermann Jacobsohn, der sich am Tag nach der Mitteilung über seine Beurlaubung das Leben genommen hat. Von den Kollegen ist sein Tod meist verschwiegen worden. Auch un­ter dem nichtwissenschaftlichen Personal kam es zu Entlassungen. So wurde der langjährige Betriebsratsvorsitzende und Sozialdemokrat Justus Gaßmann - Vater des späteren Marburger Oberbürgermeis­ters Georg Gaßmann - aus seiner Stellung als Institutsdiener entfernt.

Wie integre Wissenschaftler die Möglich­keiten des Systems nutzten, läßt sich an den „Photokampagnen“ des Kunsthistorikers Richard Hamann ablesen. Obwohl sich der Gründer des Fotoarchivs Marburg zunächst als Kritiker des Regimes expo­niert hatte, ließ er während des Krieges al­le politischen Bedenken fallen. Um histo­risch wertvolle Bauten und Plastiken in den besetzten Gebieten fotografieren zu können, nahm er Geld aus der Privatkasse Hitlers entgegen.

Mit Hilfe von Gefangenen gelang es den Kunstfotografen auch, das Gestühl der Ka­thedrale von Chartres vollständig zu räu­men, um das mittelalterliche „Labyrinth“ im Fußboden fotografieren zu können. Die nach dem Krieg von Frankreich erhobe­nen Ansprüche auf die mehreren zehntau­send Aufnahmen sind kategorisch abgewiesen worden. Von 1936 an dominierte in der idyllischen Lahnstadt die Konzentrati­on auf kriegswichtige Forschung, die sich etwa im Aufschwung der medizinischen Fakultät widerspiegelt.

Damit einher ging ein Wandel des wis­senschaftlichen Profils der Hochschule, die traditionell als Stätte der Theologie, Philosophie und anderer Geisteswissen­schaften galt. Ihr Schwergewicht ging zu­gunsten der Natur- und Humanwissen­schaften verloren.

Anne Christine Nagel (Hrsg.): Die Philipps-Universität Marburg im Nationalsozialismus. Dokumente zu ihrer Geschichte. Franz Stei­ner Verlag, 563 Seiten. 158 Mark.

 

 

Kreis Marburg

„Den jüdischen Gotteshäusern ist auch nach ihrer Zerstörung Ehrfurcht entgegenzubringen, da sie auch noch nach ihrer Zerstörung heilig sind“ (Rabbi Jehuda in Megila 3, 3). So ist es unter Abs. 2 der „Richtlinien für die Erhaltung und Pflege aktueller und ehemaliger Synagogen“ zu lesen (aufgestellt am 5.10.1995 vom Landesverband der jüdischen Gemeinden in Hessen).

Für die staatliche Denkmalpflege stellt dieser vom Landesrabbiner niedergeschriebene Grundsatz eine Selbstverständlichkeit dar, die nicht nur allein im Rahmen der gesetzlich verankerten Verpflichtungen zum „Erhalt und Schutz von Zeugnissen menschlicher Geschichte“ wahrgenommen wird. Daß die Spurensicherung jüdischen Lebens indes in Deutschland nach den Jahren des Holocaust, trotz des Bekenntnisses zum demokratischen Neuanfang, immer noch von Unsicherheit, Gedankenlosigkeit, aber auch von Ignoranz geprägt ist, belegt der Umgang mit den unversehrt gebliebenen Synagogen auf dem Lande, wo sie oft heute noch jenen profanen Nutzungen unterworfen sind, die ihnen nach der Pogromnacht zugekommen waren.

Das ganze Ausmaß entstellender Überformungen im Zuge unwürdiger Umnutzungen, z.B. als Garagen, Hühner- und Schweineställe, wird erst beim Durchblättern der Buchpublikationen „Synagogen in Hessen - was geschah seit 1945?“ und „Das jüdische Rituelle Tauchbad“ von Thea Altaras ersichtlich. Auch die vom Landkreis Marburg-Biedenkopf herausgegebene Broschüre „Die ehemaligen Synagogen im Landkreis Marburg-Biedenkopf“ vermittelt einen Begriff von dem, was noch im Bestand erhalten ist und was noch zu tun ist, um der würdigen Darstellung der letzten Zeugnisse des Landjudentums gerecht zu werden. Sowohl oben genannte Publikationen als auch der Kontakt mit der Bevölkerung vor Ort beweisen mitunter, daß die Verarbeitung geschichtlicher Negativprozesse noch häufig durch einen übermächtigen Verdrängungsmechanismus blockiert wird.

Dennoch ist zu spüren, daß der Weg zu einem konfliktfreieren und unverkrampfteren Umgang mit diesen Denkmälern durch eine stetig ansteigende Anzahl gelungener Sanierungs-, Restaurierungs- und Umnutzungsmaßnahmen erleichtert wird. Drei ausgewählte Beispiele aus Hessen belegen die sehr individuellen bewahrenden Bemühungen um Synagogen, deren Erhaltungs- und Nutzungskonzepte nicht immer nur von unterschiedlichen materiellen Vorgaben geprägt waren.

Die leidenschaftlich geführte Diskussion zu Beginn der 90er-Jahre um die Versetzung einer Fachwerksynagoge aus dem Jahre 1845 von Wohra nach Gießen demonstriert beispielhaft den schwierigen Abwägungsprozeßzwischen dem konservatorischen Grundsatz zur Standorttreue und der denkmalgerechten Erhaltung und Nutzung an einem anderen Ort.

Allein der heftig vorgetragene Wunsch nach einer Synagoge mit Geschichte für eine neu sich bildende jüdische Gemeinde hat die Landesdenkmaipflege bewogen, auf den Verbleib der ruinösen Synagoge am historischen Ort der Entstehung in Wohra zu verzichten. Eine wesentliche Qualität des Denkmals war hierdurch zwar aufgegeben worden; der sorgfältige Wiederaufbau im Gießener Zentrum jedoch hat zwischenzeitlich seine fermentbildende Wirkung unter Beweis gestellt und ein neues großes jüdisches Gemeindezentrum mit Tauchbad, Versammlungsräumen und Gästezimmern entstehen lassen. In einem eleganten Bogen legt sich der Neubau um das Herzstück der Anlage – die wieder aufgebaute Fachwerksynagoge - und ist in der direkten Nachbarschaft zur Notkirche von Otto Bartning - der Pankratiuskapelle von 1949 - eine der wenigen Sehenswürdigkeiten einer vom Krieg total zerstörten Innenstadt.

Seit 1994 hatte sich die benachbarte Universitätsstadt Marburg heftig Gedanken zu machen, wie sie den spätmittelalterlichen Resten einer gotischen, rippengewölbten Synagoge aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts am Rande der Altstadt gerecht werden konnte. Bei Ausschachtungsarbeiten in einer alten Baulücke für die Errichtung einer Transformatorenstation hatten sich Reste der mittelalterlichen Bebauung aufgetan, die den lang vermuteten Standort der mittelalterlichen, 1452 nach einem großen Brand aufgegebenen Synagoge ans Licht brachten.

Der rechteckige 50 Quadratmeter große Betsaal mit einer vier Meter hohen erhaltenen Umfassungsmauer und einer ehemals sieben Meter hohen Überwölbung gehört zu einem Kreis von etwa zwölf mittelalterlichen Synagogenbauten in Mitteleuropa, die in diesem Umfang erhalten sind. Sie ist somit nicht nur wichtiges Dokument der Marburger Stadtgeschichte, sondern auch ein Denkmal jüdischer Geschichte mit überregionaler Bedeutung.

Ein Wettbewerb zur Sicherung und Überbauung des zerstörten Gewölbes mit dem Ziel einer pointiert architektonischen Herausstellung innerhalb des historischen Stadtrundganges ist in der bewußt inszenierten Abweichung von der gotischen Umrißlinie in Form eines gläsernen Kubus zu einer in Marburg noch nicht ganz ausdiskutierten Streitfrage geworden.

In Sichtbeziehung zu Marburg wurde zwischen 1995 und 1998, unter völlig anderen örtlichen und baulichen Voraussetzungen, zwar weniger spektakulär, jedoch nicht ohne lokale Auseinandersetzung, eine Dorfsynagoge in Weimar-Roth instand gesetzt.

Anfang der 40er-Jahre des 19. Jahrhunderts war Synagoge in Weimar-Roth, sie an der zur Lahn gelegenen Dorfrandzone als klassizistischer Saalbau in Fachwerk auf hohem Sandsteinquadersockel errichtet worden. Das im Innenraum quer orientierte Gebäude verfügt neben dem westlichen Haupteingang auch über eine Außentreppe, die zur Frauenempore führt.

An der Innenraumschale haben sich eine ältere Wandfassung, bestehend aus floralen Jugendstilelementen, und eine jüngere, ebenfalls dem Jugendstil zuzurechnende geometrische Ausmalung mit Rundbogenfries und hebräischen Aufschriften auf rot-braunem Grund erhalten. Die Decke des Innenraumes bestand aus einem blau gestrichenen Muldengewölbe mit goldenen Sternen.

In der Reichspogromnacht wurde die Inneneinrichtung der Synagoge zerstört. Eine Brandstiftung unterblieb, um die angrenzenden Gehöfte nicht zu gefährden. Anfang 1939 wurde die Synagoge zwangsweise an Privat verkauft und später als Abstellraum, Schreinerei und zum Schluß als Kornlager genutzt. Der fortschreitende Verfall des Gebäudes wurde durch die Initiative der Unteren Denkmalschutzbehörde des Kreises Marburg-Biedenkopf aufgehalten, die trotz mancher innerörtlicher Widerstände für den Erhalt der Synagoge eintrat.

Von Anfang an waren sich das Kreisbauamt und die Denkmalfachbehörde in Marburg darin einig, daß das zukünftige Erscheinungsbild des geschändeten Innenraumes als „Dokument des Augenblickes“ erhalten bleiben soll. Das Nutzungskonzept war durch diese denkmalpflegerische Entscheidung im Sinne eines Gedenk‑ und Lernortes vorgegeben. Diese Idee wurde auch durch einen am Ort tätigen Verein unterstützt, der sich die Aufarbeitung der jüdischen Geschichte von Roth zur Aufgabe gemacht und das Projekt in der Folgezeit propagiert und begleitet hat. Nicht zuletzt seinem engagierten Wirken ist es zuzuschreiben, daß die anfänglichen Widerstände am Ort durch Aufklärungsarbeit abgebaut werden konnten, so daß das neue Nutzungskonzept über eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung verfügt.

Die restauratorische Aufgabenstellung hatte zum Ziel, den überkommenen Zustand weitgehend zu erhalten und die künstlerisch gestaltete Innenraumschale mit den verschiedenen Farbfassungen und den Verletzungsspuren der Zerstörung ohne restauratorische „Schönung“ ablesbar zu lassen. Lediglich die laienhaften Ausbesserungsarbeiten der Nachkriegszeit wurden entfernt, um das Resultat der Pogromnacht annäherungsweise wiederzugewinnen.

So ergaben sich als konservatorische Aufgaben für den Restaurator Sicherungs- und Festigungsarbeiten an den gelösten Malschichten. Putzfestigungen und partielle Ergänzungsarbeiten an Fehl- und Ausbruchstellen waren erforderlich. Notwendige bauliche Ergänzungen betrafen im Wesentlichen die wieder herzustellende Empore, deren Brüstung nicht mehr vorhanden und deren ehemaliges Erscheinungsbild nicht mehr erinnerlich war.

Eines der Hauptziele der Innenraumfassung bestand darin, den Ist-Zustand des durch Abnutzung und Alterung entstandenen Craqueles zu erhalten. Die Schadstellen blieben dadurch weiterhin erkennbar und zeigen die Spuren der Gewalteinwirkung und des Alters. Es konnte ein denkmalpflegerisches Konzept von hohem Anspruch und eindrucksvollem, zeitgeschichtlichem Aussagewert verwirklicht werden.

Am 10. März 1998 konnte unter Teilnahme der vom Landkreis Marburg-Biedenkopf eingeladenen letzten vier Überlebenden mit ihren Familien aus den Vereinigten Staaten eine der wenigen in ihrem originalen Zustand erhaltenen Landsynagogen im Kreisgebiet unter großer öffentlicher Teilnahme als Gedenk- und Begegnungsstätte eingeweiht werden.

 

Lich

Zum achten Mal gedenkt die Stadt Lich mit einer Veranstaltungsreihe der Pogromnacht vom 9. November 1938. Die Auseinandersetzung mit der braunen Vergangenheit fällt vielen alteingesessenen Lichern schwer.

Die Veranstalterliste der Novemberreihe ist lang: Vom Kino Traumstern über die Musikschule, die evangelische Gemeinde, die Dietrich-Bonhoeffer-Schule bis hin zur Volkshochschule des Landkreises Gießen arbeiten die Initiatoren der Ernst-Ludwig-Chambre-Stiftung mit zahlreichen Institutionen zusammen. Mindestens so ausführlich ist das Programm: Eine Vernissage, mehrere Seminare, Vorträge, Besichtigungen, Filmvorführungen und ein Konzert sollen in diesen Wochen die Erinnerung an den 9. November in Lich wach halten.

„Wer Vergangenes verdrängt, läuft Gefahr, alte Fehler zu wiederholen“, mahnt Pastor Cornelius Mann die kleine Gemeinde, die sich am Mittwochabend in der Kapelle der evangelischen Marienstiftskirche versammelt hat. Rund 50 Menschen sind zu dem Gedenkgottesdienst mit anschließender Mahnwache gekommen.

Erstes Pogrom schon 1933

Darin erinnert der Pastor noch einmal an jene Nacht, in der viele Licher Bürger zu Barbaren wurden: Die beiden Synagogen wurden demoliert, jüdische Geschäfte und Privatwohnun‑

gen verwüstet, die noch verbliebenen 50 Juden mißhandelt und später deportiert. Es war nicht das erste organsierte Pogrom in Lich: Bereits in der Nacht vom 12. auf den 13. März 1933 - mehr als fünf Jahre früher - hatten 30 jüdische Einwohner vor den Verfolgern fliehen müssen. „Es geschah öffentlich, vor aller Augen“, betont Pastor Mann. „Niemand konnte sagen, er habe das nicht gewußt.”

Es mag dieser Umstand sein, der vielen Einwohnern der idyllischen Kleinstadt den Umgang mit der Novemberreihe so schwer macht. „Die meisten, die sich bei uns engagieren, sind nicht von hier”, berichtet Doris Nusko vom Vorstand der Ernst-Ludwig-Chambre-Stiftung, die die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus fördern und die Erinnerung an das oberhessische Judentum wach halten will. Nusko ist die Ausnahme: Sie stammt selbst aus einer alteingesessenen Licher Familie.

Für ihr Engagement muß sie sich hin und wieder schiefe Blicke gefallen lassen. „Einige sagen: Laß das doch mal mit den Juden, da muß doch endlich Gras drüber wachsen”, sagt sie. Auch der Name der Stiftung stößt nicht nur auf Begeisterung. Offene Anfeindungen gebe es aber nicht. Nusko: „Von den damaligen Tätern lebe niemand mehr“.

Beim Blick auf die Veranstalterliste der Novemberreihe fällt auf, daß die Stadt selbst fehlt. Erst seit einiger Zeit ist die Zusammenarbeit mit dem Magistrat intensiver geworden, denn Stiftung und Stadt kümmern sich gemeinsam um die Renovierung der ehemaligen Bezalel-Synagoge. Ursprünglich sollte dieses Kulturzentrum für einige Veranstaltungen der Novemberreihe fertig sein, doch die Eröffnung wird sich noch bis ins nächste Frühjahr verschieben.

Doris Nusko hat in den vergangenen fünf Jahren die Renovierung vorangetrieben, doch nach vielen Querelen um die Finanzierung wirkt sie erschöpft. Erst als klar war, daß die Stiftung zwei Drittel der Kosten von insgesamt 650.000 Euro übernimmt, erklärte sich die Stadt zur Zahlung des letzten Drittels bereit - nicht ohne den Betrag zu deckeln. Jetzt wird um jeden Cent gefeilscht.

So entschied sich die Stadt bei der Gestaltung der Gedenktafel zum Ärger der Stiftung für das günstigste Angebot. „Der Preis war am Ende ausschlaggebend`, bestätigt Stadtrat Richard Bayerlein (SPD). Für Doris Nusko ist das unbegreiflich: „Man kann doch bei so einem Thema nicht einfach das Billigste nehmen”, schimpft sie. Am Ende werde mit Sicherheit die Stiftung, die eigentlich Opfergelder verwalte, den Differenzbetrag zum teureren und ästhetisch ansprechenderen Entwurf zahlen. „Das ist doch absurd”, sagt Nusko und schüttelt den Kopf: „Die Opfer zahlen ihre Gedenktafel selbst. Aber das ist eben Lich.”

 

Ernst-Ludwig Chambré:

Der Gründer der gleichnamigen Stiftung wurde 1909 in Lich geboren. Seine sozialdemokratisch engagierte Familie besaß ein Manufakturwaren- und Bankgeschäft und geriet schon früh ins Visier der Nazis. 1995 rief er die Stiftung ins Leben.

Während des ersten Pogroms der Licher SA im März 1933 wurden die Schuldbücher des Bankhauses mit Verbindlichkeiten zahlreicher Licher Bürger gestohlen. Fast die ganze Familie starb später in Auschwitz, nur Ernst-Ludwig gelang die Flucht. Antisemitische Klischees, wonach die Chambres Halsabschneider gewesen sein sollen, halten sich in Lich bis heute.

 

 

Bad Nauheim

Die jüdische Gemeinde Bad Nauheim zählte 1933 etwa dreihundert Mitglieder. Am 9. November 1938 wurde die 1867 errichtete und 1929 von Richard Kaufmann aus Frankfurt am Main umgebaute und erweiterte Synagoge in der Karlstraße 34 im Innern verwüstet. Nach diesem barbarischen Zugriff diente sie als Lager für Schrott und Schwermetalle. 1945, nach dem Einmarsch der amerikanischen Truppen, beschloß der Stadtrat eilfertig die „Räumung und Reinigung“ der Synagoge.

Am 27.4.1945 - also noch vor der offiziellen Kapitulation des Dritten Reiches - fand in der Synagoge erstmals seit 1938 wieder ein Gottesdienst statt, der vorwiegend von amerikanischen Soldaten jüdischer Konfession besucht wurde. Von den Juden, die früher in der Stadt gelebt hatten und 1942 in verschiedene Konzentrationslager deportiert worden waren, konnten nur fünf am Gottesdienst teilnehmen - keiner von ihnen hat sich mehr in der Stadt niedergelassen.

 Im Innern umfaßt das Gebäude einen Betsaal mit dreiseitiger Frauenempore, eine Mikwe, eine Wohnung und einige Räume für das jüdische Gemeindeleben. Der notdürftigen Renovierung der Synagoge folgte 1960 ein durchgreifender Neuausbau, in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre sodann eine Wiederherstellung der ursprünglichen Ausstattung.

 

Friedberg

„Kehillah Kedoschah“ wurde seit altersher im Hebräischen die jüdische Gemeinde Friedbergs genannt. Ihre Wurzeln reichen bis in das 13. Jahrhundert zurück. Hans-Helmut Hoos hat ihre Geschichte bis ins Jahr 1942 recherchiert und in dem gleichnamigen Buch zusammengetragen: Hans-Helmut Hoos: „Kehillah Kedoscha - Spurensuche. Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Friedberg und der Friedberger Juden vom 13. Jahrhundert bis 1942“ , 360 Seiten zum Preis von 25 Euro.

Zwanzig Jahre hat Hoos jüdische wie nichtjüdische Zeitzeugen ausfindig gemacht, mit ihnen korrespondiert und sie in persönlichen Gesprächen befragt. In einzelnen Fällen reiste er ihnen bis in ihre heutige Heimat in Südamerika hinterher. . Unzählige Male hat er dafür seine Nase tief in das Friedberger Stadtarchiv gesteckt, alle einschlägigen wie verfügbaren Publikationen zum Thema gelesen und eine Fülle an Meldungen regionaler Tageszeitungen gesichtet. Kein Wunder also, daß sein Buch vollständig den Titel „Kehillah Kedoscha – Spurensuche“ trägt. Er wurde 1989 zum Mitglied der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen sowie im Jahr 2000 in die historische Kommission Hessen berufen.

Immer wieder stand Hoos vor der Aufga­be, „das zusammenzufügen, was erkennbar war“. Auch wenn der Schwerpunkt nun in den Buchkapiteln über die Ereignisse im 19. und 20. Jahrhundert liegt, blickt Hoos auf die Anfänge jüdischen Lebens in der vormaligen Reichsstadt zurück. Denn

da ist sich der Autor sicher: „Die Einmaligkeit der jüdischen Gemeinde Friedbergs kann nur verstehen, wer auch die vollständige Geschichte kennt“.

Hoos vermutet in der Begründung von Burg und Stadt im 13. Jahrhundert zugleich die „gezielte und ganz bewußt herbeigeführte Ansiedlung der Juden vor Ort“. Die Schutzherrschaft der Burgherren habe den Juden von Beginn an „eine bedingte politische Manövrierfähigkeit gegeben“. So habe sich Friedberg insgesamt zu „dem Schmelztiegel der Wetterauer Juden insgesamt entwickelt“, gewährte das Burgpatronat doch relative Sicherheit und Eigenständigkeit.

Der Titel des Buches verrät zugleich einiges über die Lebensweise der jüdischen Gemeinde, denn „Kehillah Kedoscha“ läßt sich ungefähr mit „Heilige Gemeinde“ übersetzen. Nicht die Gemeinde selbst sei jedoch heilig gewesen. Vielmehr offenbare sich in der hebräischen Bezeichnung die „traditionsbewußte, am orthodoxen Glauben orientierte Lebensweise“.

Während in den beiden zurückliegenden Jahrhunderten die Juden zunehmend um ihre Emanzipation und Integration kämpften, kam es auch hier immer wieder zu antisemitischen Gegenbewegungen. Im Jahr 1942 schließlich wurden die Gemeindemitglieder im Augustiner-Gymnasium zusammengeführt, anschließend von den Nazi-Schergen gewaltsam in die Vernichtungslager deportiert und ermordet.

Hoos lässt in einem Anhang abschließend die überlebenden Friedberger Juden zu den Ereignissen in den Jahren 1940 bis 42 zu Wort kommen. „Ganz bewusst habe ich es - bis auf wenige Ausnahmen - jedoch vermieden, Namen zu nennen. Mein Buch soll keine Anklage sein“, sagt der Autor.

Im Innenteil des Buches heißt es: „Geschichte wirkt fort, hinterlässt ihre Spuren nicht nur in Baudenkmälern, Gedenksteinen und Gedenkstätten, sondern im Unsichtbaren, im Unterbewussten, im Verdrängten“. Hans-Helmut Hoos hat mit seinem Buch einen Teil der Friedberger Stadtgeschichte wieder sichtbar gemacht und ins Bewusstsein gerückt.

 

 

Rodheim

Es blieb dem langjährigen Rodheimer Pfarrer Fritz Dahmen vorbehalten, die Historie dieser Betstätte der Rodheimer Juden und derer von Holzhausen, Ober-Rosbach und Petterweil aus wenigen Hinweisen in alten Schriften schlüssig zu rekonstruieren. Die Früchte seiner Arbeit hat der Verein im Jahr 2003 in Heft vier der Rodheimer Hefte vorgelegt (336 Seiten Stein, Preis15 Euro).

Am 17. April 1863, an einem Freitag, um 15 Uhr ist die Synagoge an der Ecke Grabengasse, damals Uhrgang, und der Wethgasse eingeweiht worden. Als die Synagoge eingeweiht wurde, lebten in Rodheim 45 jüdische Einwohner. Das waren acht oder neun Familien, die nach der Einschätzung von Pfarrer Dahmen kaum in der Lage gewesen sein dürften, diese Synagoge zu errichten. Zur Finanzierung haben also wohl die jüdischen Bürger der oben genannten Nachbargemeinden mit beigetragen.

Schon lange vor dem Synagogenbau haben sich schon Juden in der Wethgasse versammelt und zwar im Haus des Isaak Strauß, das ab 1826 in jüdischem Besitz war. Es ist unbekannt, ob in diesem Gebäude schon die Tora-Rolle und der Toraschrein aufbewahrt waren, ob es sich also schon um eine vollgültige Synagoge oder erst einen Betraum handelte.

Im Jahr 1830 ist die Bildung einer jüdischen Kulturgemeinde in Rodheim überliefert. Schon damals wurde für eine Synagoge gesammelt. Doch die Gemeinde zerstritt sich über dem Projekt. Das Geld wurde wieder zurückgezahlt. Erst als Metzger Abraham Cassel die Sache in die Hand nahm, wurde etwas aus der Synagoge.

Darüber, wie das Bauwerk an der Wethgasse einmal ausgesehen hat, gibt es nur eine einzige Zeichnung. Sie ist vom Maurermeister Wilhelm Becker 1890 angefertigt worden, als er einen Schornstein bauen sollte. Der Bauplan stammt von dem Büdinger Architekten Victor Melior, der auch die Bauaufsicht hatte und zugleich mit dem Bau des zweiten evangelischen Pfarrhauses betraut war.

Die Synagoge bestand aus einem recht-eckigen Saal mit 66,37 Quadratmetern Grundfläche. Die Fensteröffnungen waren einen Meter breit und bis zu drei Metern hoch. Auf der Westseite war ein separater Zugang für die Frauen der Gemeinde, die auf einer Empore Platz zu nehmen hatten. Das Äußere ist „stillos sachlich”. Für die Schlichtheit sind sicherlich Kostengründe verantwortlich. Das Bauwerk war mit 2.00 Gulden veranschlagt und kostete schließlich 3.000 Gulden. Bei der Pogromnacht am 10. November 1938 ist das viereckige Gebäude in Brand gesteckt worden. Zurück blieben nur Trümmer.

Doris Fischer hat sich mit dem jüdischen Leben in Rodheim seit 1820 und dem jüdischen Friedhof in Holzhausen befasst und berichtet über die Opfer der Judenverfolgung im Dritten Reich. Pierre Bouvain bietet eine Lesehilfe für die Grabinschriften an und Claudia Weber-Dreßler bringt einen Versuch über das Weiterleben in der Dritten Welt.

 

Pfarrer Fritz Dahmen konnte nur eine Außenansicht und einen Grundriß aus der Hand des Holzhäuser Maurermeisters Wilhelm Becker aus dem Jahr 1890 vorlegen.  Doch die Veröffentlichung dieser Zeichnung meldete sich der 26 Jahre alte Architekturstudent Björn von Hayn, der jetzt in Hanau wohnt, aber aus einer Familie stammt, die von 1865 bis 1955 in Rodheim als Zimmermann, Schreiner, Bauingenieur oder Architekt tätig war.  Aus dem Besitz seines Großvaters Reinhold von Hayn, der von 1917 bis 1960 lebte, konnte der Student noch weitere Ansichten der ehemaligen Synagoge an der Ecke Grabengasse/Wethgasse vorzeigen. Diese Zeichnungen stellen eine Seitenansicht dar und gestatten einen Blick in das Innere. Auf dem Plan ist auch ein Gebäudegrundriss eingezeichnet.

Dieser Plan stammt offenbar nicht, wie der bisher bekannte, aus dem Jahr 1890, sondern aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals, im Jahr 1948, war Reinhold von Hayn damit befasst, die Synagoge zu rekonstruieren, weil offenbar die Absicht bestanden hat, das Gebäude wieder aufzubauen. Die Skizze, die Björn von Hayn vorlegt, soll aus der Hand eines A. Becker aus Burgholzhausen stammen, womit also wieder eine Verbindung zu dem Plan von 1890 hergestellt wäre. Die Nachkriegsskizze unterscheidet sich allerdings deutlich von der alten. Wenn der Schornstein auf der Nordseite angebaut wurde, dann stimmt die Firstrichtung der Zeichnungen alt und neu nicht überein. Diese Unstimmigkeit be­darf noch der Aufklärung.

Eine weitere Zeichnung zeigt das Innere der Synagoge, wahrscheinlich von Osten her gesehen. Hier befindet sich links eine Treppe zur Empore, im Hintergrund ein „Pult“ und auf der rechten Seite sind Bänke angedeu­tet.

Es ist eine Geschichte für sich, weshalb Fritz Dahmen und mit ihm der Rodheimer Geschichts- und Heimatverein nicht im Be­sitz dieser wertvollen historischen Doku­mente sind. Björn von Hayn und der Ver­ein sind zerstritten. Von Hayn ist der Zugang zum Rodheimer Archiv einmal er­laubt worden und dann nicht wieder. Die Vorsitzende des Geschichtsvereins, Doris Fischer, sagt, für sie sei nicht erkennbar, welche Motive der Student bei seiner Absicht habe, die Archivunterlagen durchzusehen. Bürgermeister Detlef Brechtel, der mit der Sache befasst war, wollte sich daran erinnern, der junge Mann habe verlangt, daß Archivunterlagen über die Naziver­gangenheit seines Großvaters entfernt würden, was der Student wiederum be­streitet. Seine Absicht sei gewesen, die Firmengeschichte seiner Familie aufzuarbei­ten, und er habe gehofft, im Zuge einer Di­plomarbeit die Baugeschichte von Rod­heim, seine Bauherren und Architekten aufzuarbeiten.

Die Fronten sind verhärtet und Björn von Hayn dokumentiert, daß der Heimat­forschung von Rodheim dadurch wertvolle Unterlagen verloren gehen -nicht nur die im Zusammenhang mit der Synagoge. Björn von Hayn hat die Hoffnung nicht aufgegeben, seine Forschungen zur Famili­en- und zur Rodheimer Baugeschichte doch noch fortführen zu können. Er hofft darauf, daß eine vernünftige Lösung ge­funden wird und nicht Vorurteile die Oberhand behalten.

 

 

Dorheim

An der Kindertagesstätte „Rappelkiste“ in Dorheim ist am Sonntag eine Gedenktafel enthüllt worden. Die massive Tafel aus Bronzelegierung erinnert an die Opfer des Nationalsozialismus in dem Friedberger Stadtteil wie die jüdische Familie Meier, den Pfarrer und Hitler-Gegner Karl Vetter oder Bürgermeister Georg Bauschmann (SPD), der von den Nazis abgesetzt wurde.

Im November 2002 wurde die Tafel im Beisein einiger Lokalpolitiker, darunter auch Friedbergs Stadtrat Michael Keller, enthüllt. Es kamen aber auch viele Hinterbliebene der Menschen, an die erinnert werden soll. Zuvor hatte Pfarrer Hilmar Gronau in einem Gottesdienst der Opfer der Nazi-Greuel gedacht.

Einige der Opfer werden namentlich genannt. Die nationalsozialistischen Repressionen begannen nicht erst mit Hinrichtungen oder Deportationen ins Konzentrationslager. Regimegegner wurden bespitzelt, mit Meldeauflagen drangsaliert und aus Ämtern und Vereinen gedrängt. An vorderster Stelle erinnert die Tafel an den ehemaligen Bürgermeister Georg Bauschmann, einen Sozialdemokraten, der 1933 abgesetzt und durch den nationalsozialistischen Landwirt Karl Faber ersetzt wurde. Damit nicht genug: Jahrelang stand Bauschmann unter Polizeiaufsicht. Genauso wie andere Sozialdemokraten und Mitglieder der KPD. In seiner Festrede erwähnte Rack etwa die Kommunisten Joseph Besenreuther und Wilhelm Philippi, die nicht nur observiert wurden, sondern auch meldepflichtig waren.

Auf der Tafel wird auch Karl Vetter erwähnt. Vetter war Pfarrer. „Die pseudoreligiöse, gottähnliche Verehrung und Anbetung Hitlers, war mit seinem Glauben nicht zu vereinbaren“, erklärte Rack. Vetter engagierte sich in der Bekenntniskirche Martin Niemöllers, die eine deutliche Distanz zum Dritten Reich hielt. Die Folge: Ortsbürgermeister Faber versuchte auch über den Behördenweg jahrelang, Vetter aus Amt und Dorf zu vertreiben. Im April 1943 kam der Pfarrer gegen seinen Willen als Feldgeistlicher an die Ostfront.

 In Dorheim gab es nur eine jüdische Familie: die von Isaak und Ernestine Meier. Sie zogen in Folge ihrer Isolierung und Entrechtung im Herbst 1938 nach Friedberg. Die Kinder Bernhard, Max, Gertrud, Erna und Herbert emigrierten alle ins Ausland - mit Ausnahme der Tochter Hertha. Die Kinder sahen ihre Eltern nie wieder: Isaak und Ernestine Meier wurden 1942 ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, wo sie am 27. Februar und am 6. April 1943 starben. Nach Theresienstadt wurde im Februar 1945 auch Tochter Hertha verschleppt, die in „Mischehe mit einem Arier“ verheiratet war. Sie erlebte schwerkrank die Befreiung durch die Alliierten.

Namenlos bleiben die in Folge der Euthanasie zwangssterilisierten und in Heilanstalten deportierten Frauen und Männer. Dies gilt auch für rund 200 Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene aus Ost- und Westeuropa. Auch an sie erinnert die Tafel. Bewusst bemühte sich Klaus Dieter Rack, diese zentral im Ort und nicht in der Nähe der Gefallenen-Denkmäler anzubrin­gen, denn unter den Kriegsgefallenen be­finden sich auch Nationalsozialisten.

Fi­nanziert wurde die Gedenkplatte durch Spenden der Dorheimer Bürger. Die Sammlung ging zunächst nur schleppend voran, aber schließlich hatte Rack die rund 2.000 Euro für die Tafel zusammen und erzielte noch einen Überschuß, der an eine gemeinnützige Einrichtung gehen soll. Die Daten recherchierte Rack, der im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt arbei­tet, mit Hilfe von Akten in Gemeinde- und Pfarrarchiven, der NSDAP-Ortsakten und einiger Zeitzeugen.

Einen Fehler hat die Gedenktafel: Das in bronzefarbenen Lettern gegossene Da­tum „1939 bis 1945“ ist nicht ganz korrekt. Die Repressionen hatten schon mit der na­tionalsozialistischen Machtergreifung 1933 begonnen. Diesen Makel wolle er noch beheben, kündigte Rack an.

 

 

Florstadt

Die Stammheimerin Johanna Voss wohnt in einem Haus, das früher einer jüdischen Familie gehörte. Und diese Familie gehörte zu einer lebendigen jüdischen Landgemeinde. Nichts in dem Florstädter Ortsteil erinnert mehr an sie. Johanna Voss will das ändern.

Angefangen hat alles mit einem Mäusenest. Die kleinen Nager hatten es sich schon vor langer Zeit in dem alten Fachwerkhaus in der Stammheimer Schloßstraße gemütlich gemacht. Hatten einen langen Gang in die Zwischenwand im Obergeschoß geknabbert und ihre neue Wohnung sorgsam mit Papierschnipseln ausstaffiert.

Mehr als 150 Jahre später werden ihre Hinterlassenschaften zu historischem Quellenmaterial. Im Dezember 2000 zieht die 42jährige Grafik-Designerin und Illustratorin Johanna Voss zusammen mit Ehemann, Kind und Katze in das denkmalgeschützte Gebäude im alten Ortskern ein.

Das im 17. Jahrhundert erbaute Haus mit seinen niedrigen Decken ist stark sanierungsbedürftig. Balken müssen ausgetauscht, Lehmgefache erneuert werden. „Da hat der Judd Stern gewohnt“, hieß es im Ort. Und ein Judenbad sei da auch gewesen - was sich aber bislang nicht bewahrheiten ließ. Voss jedoch wurde „neugierig auf die Geschichte des Hauses“.

Den Ausschlag für eine eingehendere Spurensuche gab die Innenrenovierung. 14 verschiedene Farbschichten, darunter viel Blau und mit Schablonen aufgetragene Muster, traten zu Tage. Und eben jenes Mäusenest. Die Papierteilchen hatten sich die Tiere aus einer hebräischen Schrift und aus Zeitungen herausgerupft. Eine Gazette stammte aus dem Jahr 1846. Ein belesener Haushalt. Johanna und Samuel Stern lebten und starben im 19. Jahrhundert hier. Das Grundbuch weist sie trotzdem noch 1926 als Besitzer aus.

Die Sterns, Kahns oder Beckers zählten bis ins 20. Jahrhundert zu den angesehenen Familien einer lebendigen jüdischen Landgemeinde, deren Vergangenheit Johanna Voss jetzt wieder in Erinnerung rufen möchte. „Wo sind sie geblieben? Wer hat die Verfolgung und Vertreibung während der Nazi-Diktatur überlebt?“ Die Neubürgerin versucht, mit Hilfestellung der renommierten Nidderauer Geschichtsforscherin Monica Kingreen die Geschichte der jüdischen Familien zurückzuverfolgen. Und weil, ganz wie die evangelischen Christen, auch die jüdischen Bürger Stammheims und Stadens eng miteinander verbunden waren, bezieht sie auch die Familien der Nachbargemeinde in ihre Recherchen ein, forscht nach Namen wie Hessenberger, Strauss, Zuntz oder Fuld. Johanna Voss: „Das ist höchste Zeit. Es gibt kaum noch Zeitzeugen“ Ihr Wunsch: eine Straßenkarte mit Privathäusern und Gemeindegebäuden des jüdischen Staden und Stammheim zu erstellen, jeweils getrennt nach dem 19. und 20. Jahrhundert.

Der Florstädter Gemeindevorstand hat ihre Initiative mit einem Aufruf in den amtlichen Bekanntmachungen unterstützt und die Ortsbürger gebeten, ihr Wissen und ihre Erfahrungen zur Verfügung zu stellen. Archivar Kurt Leidecker, Erster Beigeordneter Hans-Wilhelm Stürtz und auch Kirchenarchivar Rolf Lutz, der den Stammheimer Juden bereits 2000 in der Kirchenjubiläumsschrift ein Kapitel gewidmet hatte, halfen Johanna Voss weiter. Bei ihrer Befragung im Dorf stieß sie freilich auch auf vereinzelte Vorbehalte.

 Als Glücksfall erwies sich eine Anzeige in der von Abraham Frank herausgegebenen israelischen Emigrantenzeitung MB (Mitteilungsblatt mitteleuropäischer Einwanderer). Nur wenige Tage später kam eine Antwort: „Ich möchte Ihnen gerne ganz viel erzählen“ schrieb Hedi Strauss (87 Jahre alt, geborene Hedwig Becker) -eine der vermutlich wenigen noch lebenden jüdischen Ex-Stammheimeri­nnen.  Hedi Strauss legte dem Schreiben ihre 1998 für ihre Enkel in Hebräisch verfaßten und bebilderten Memoiren bei. Johanna Voss ließ sie übersetzen und hält seitdem ein wertvolles Dokument in Händen, das Einblick ebenso in eine spannende Biographie wie in ein vergessenes und verdrängtes Stück Ortsgeschichte gibt.

Hedi Strauss erzählt offen und freimütig und trotz allen erfahrenen Schmerzes ohne Bitterkeit. Über ihre glückliche Kindheit in dem „immergrünen Dorf“ wie sie dem Vater in den geliebten Gärten bei den Kartoffeln hilft, wie sie zum Baden in den Waschzuber gesteckt wird. Und wie sehr sie ihren Volksschullehrer verehrt hat.

Vater Sah Becker war Kaufmann gewesen. Das ganze Dorf kaufte bei ihm Lebensmittel und Textilien ein. Die Familie war anerkannt und integriert. Sah Becker war hochgeehrt aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt und besaß im Ort das erste Auto und auch das erste Radio. Die Fähigkeiten des einstigen Reichswehr-Sanitäters waren im Dorf oft gefragt, wenn Erste Hilfe nötig war.

Die wenigen jüdischen Familien waren nicht eben wohlhabend, hatten jedoch ihr Auskommen.

 

Mit dem Erstarken der Nationalsozialisten wurde für sie das Leben in dem traditionell protestantischen und sozialdemokratischen Dorf immer schwieriger. Die Beckers verließen Stammheim und suchten die Anonymität der Stadt Frankfurt. Hedis Mutter und Großmutter starben dort.

Das aufgeweckte Mädchen hatte die Familie bereits 1926 mit zwölf Jahren zum Onkel nach Berlin gegeben: zur Schul- und Berufsausbildung. Nur in den Ferien war Hedi nach Stammheim zurückgekommen. Im Jahr 1938 heiratete sie in Berlin ihren ersten Mann Wolfgang Baruch. Sie wanderten gemeinsam nach Israel aus. Dort kam auch Hedis erstes Kind zur Welt. Schwester Liesel gelang später ebenfalls noch die Emigration. Der in Frankfurt zurückgebliebene Vater, die jüngste Schwester Ida mit Mann und Kind wurden nach Minsk deportiert. Sie wurden umgehend erschossen und in einem Massengrab verscharrt.

Den Baruchs gelang es nur schwer, in Israel Fuß zu fassen. Der britisch besetzte Landstrich erwies sich nicht als „gelobtes Land“. Die Ehe zerbrach. Hedi heiratete später Richard Strauss und brachte noch zwei Kinder zur Welt. Sie kam nie wieder nach Stammheim.

Ihre Erinnerungen sind nicht anklagend, wohl aber voller Wehmut über den Verlust ihrer Heimat. An Johanna Voss schreibt sie, sie sei erstaunt, aber auch erfreut, daß sich jemand für die Vergangenheit der Juden in Stammheim interessiere. Johanna Voss hat bei ihren Recherchen selbst die Erfahrung gemacht: „Es tut gut, ja, es ist heilsam, darüber zu erzählen und nicht alles unter den Teppich zu kehren. Ich glaube, Hedi geht es auch so“.

 

 

Metzger, Kaufleute, Gemüse- und Viehhändler waren sie gewesen. Schon im 18. Jahrhundert lebten Juden in der kleinen, 1244 erstmals urkundlich erwähnten Gemeinde am Rande der römischen Limes-Befestigung -so der Niddataler Geschichtsforscher Rudolf Lummitsch 1995 in der Festschrift „750 Jahre Stammheim”.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren 49 Einwohner jüdischen Glaubens amtlich registriert. In dem traditionell protestantischen, kaum mehr als 700 Einwohner zählenden Dorf lebten somit früher mehr Juden als Katholiken. Infolge der zunehmenden Armut auf dem Land nahm ihre Zahl jedoch stetig ab. Viele Familien suchten ihr wirtschaftliches Heil in der Großstadt oder wanderten nach Amerika aus. Mitte des 19. Jahrhunderts lebten nur noch 36 Juden in Stammheim, Ende des Jahrhunderts 19 und kurz vor dem Ersten Weltkrieg waren es nur noch elf.

Ähnlich den Protestanten waren die in Stammheim und im benachbarten Staden lebenden Juden eng miteinander verbunden. Sie bildeten eine gemeinsame Gemeinde, die in Staden eine Synagoge (heute Privathaus) sowie ein Schul- und Badehaus (in der heutigen Hofgasse) unterhielt und auch ihre Toten in Staden begrub. Der Friedhof ist erhalten und wird heute von der Gemeinde Florstadt gepflegt.

Eine weitere Auswanderungswelle in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts dezimierte die Zahl der Stammheimer Juden auf drei Familien mit etwa zehn Personen. Sah Becker handelte mit Lebensmitteln und Textilien, Leopold Kahn mit Fleischwaren und Isaak Kahn mit Stoffen. Allesamt waren sie geachtete Bürger. Und doch trauten sich mit dem Erstarken der Nationalsozialisten in der einstigen SPD-Hochburg nur noch wenige Einwohner in ihre Geschäfte.

Ein Teil der Familie Becker war bereits fortgezogen. In Staden lebten sogar nur noch zwei jüdische Bewohner. Die in Stammheim verbliebenen Juden wurden 1938 in der Reichspogromnacht von örtlichen und Friedberger Nazis ins Spritzenhaus und anschließend ins Schloss gesperrt, während ihre Wohnungen und Geschäfte geplündert wurden, so Rolf Lutz 2000 in der Festschrift „Die Kirche im Dorf“ um 250 jährigen Bestehen des evangelischen Gotteshauses.

Im Jahr 1942 wurden die wenigen Juden, die noch in Stammheim lebten, deportiert. Sah Becker, der das Dorf schon vorher in Richtung Frankfurt verlassen hatte, sowie seine jüngste Tochter und deren Familie wurden ermordet. Das Schicksal von Leopold Kahn und seiner Frau Hanna ist ungewiss. Ebenso das von Isaak Kahn. Vermutlich wurden auch sie umgebracht. Isaaks Frau Betti überlebte das KZ und wohnte später im Taunus.

 

 

Nidda

Wolfgang Stingl, der 57jährige Priester, hat bereits zwei Bücher über die Juden in Oberhessen verfasst. Er hält Kontakt zu Juden, die aus Nidda stammen, und zu deren Nachkommen. Jetzt verwirklicht Wolfgang Stingl seinen „Lebenstraum“: Noch Jahr 2002 soll das „Zimmermann-Strauss-Museum“ eröffnet werden. Das Gebäude, in dem es untergebracht wird, kaufte er. Es gehörte einmal einer jüdischen Familie.

 

Effektiv löschten die Nationalsozialisten in wenig mehr als einem Jahrzehnt nicht nur sechs Millionen Juden, sondern auch ihre gesamte Kultur aus. Daß der Holocaust, dieses düstere Kapitel der deutschen Geschichte, nicht in Vergessenheit gerät, dafür sorgen Gedenkstätten, Mahnmahle, Filme und unzählige Geschichtsbücher. Doch nur wenige Spuren und Erinnerungen bleiben aus den Zeiten vor der „Endlösung“, als es auch in Oberhessens Kleinstädten viele jüdische Gemeinden gab.

Da und dort haben sich jüdische Friedhöfe erhalten, einige Orte verfügen noch über ihre „Judengasse“. Diese stummen Zeugen sagen aber kaum etwas über die jüdischen Menschen, ihre Kultur, ihr Alltagsleben und letztendlich auch ihr Schicksal aus. So gerät die jüdische Vergangenheit auf dem Lande langsam ins Vergessen - gäbe es nicht Menschen, die mit Engagement nach Spuren jüdischen Lebens forschen.

Einer von ihnen ist Dr. Wolfgang Stingl aus Nidda. Seit seiner Jugendzeit beschäftigt sich der katholische Priester und im Hauptberuf Gefängnispfarrer mit der jüdischen Geschichte von Nidda am Rande des Vogelbergs. Es waren kleine Dinge, die den Anstoß gaben und Stingls Interesse für die Juden weckten: die unter dem Putz gerade noch erkennbare Parole „Wir werden siegen!“ auf dem Gebäude der alten Synagoge; der damals noch unbewußte Kindheitskontakt zur getauften Jüdin Liesel Kaschmieder, die 1945 aus dem KZ Theresienstadt zurück nach Nidda kam und mit Stingls in einer Wohnung wohnte; ein Koffer mit textilen kultischen Gegenständen, die er während seiner Lehrzeit auf einem Abfallhaufen fand. Schließlich mag auch die Vertreibung seiner eigenen Familie aus dem Sudetenland Sympathie und Verständnis für die Situation der Juden geweckt haben.

 Doch die reine persönliche Beschäftigung mit den Niddaer Juden als „Hobby“” reichte Stingl nicht aus. Er möchte die Erinnerung an die jüdische Gemeinde und ihre Mitglieder wach halten.

„Es gab ein hessisches Judentum”, schreibt er im Vorwort eines seiner Bücher. „Hiervon ist auf den ersten Blick nichts zu sehen, ganze Generationen könnten hierzu keinen Satz sagen.“ Seit Anfang der 90er Jahre arbeitet Stingl aktiv und vor allem produktiv daran, die Ergebnisse seiner Forschung der Öffentlichkeit zu präsentieren.

Im Jahr 1995 veröffentlichte er sein erstes Buch „Fragmente jüdischen Lebens in Nidda“. Stingl bezeichnet dieses Werk als „Bestandsaufnahme, damit mein gesammeltes Wissen nicht verloren geht“. In dem Lesebuch wurde erstmals versucht, die jüdische Geschichte umfassend darzustellen. Sein zweites Buch „Jüdischen Leben in Nidda im 19. und 20. Jahrhundert“ stellt gleichzeitig auch seine Dissertation zum Dr. phil. dar.

Weiter bemühte sich Stingl erfolgreich um den Kontakt zu heute noch lebenden Niddaer Juden und deren Nachfahren. Dabei lernte er Else Wallenstein kennen, die 1935 nach Israel emigrierte, aber noch „so spricht, als sei sie erst gestern aus ihrer oberhessischen Heimat Herbstein weggegangen“. Oder Fred S. Strauss, der nach Amerika ging, dort ein erfolgreicher Geschäftsmann wurde und seit Jahrzehnten einmal im Jahr seine Heimat besucht.

Jetzt aber geht der 57 Jahre alte Priester daran, seinen „Lebenstraum zu verwirklichen“: In diesem Jahr soll in Nidda das „Zimmermann-Strauss-Museum“ zur jüdischen Geschichte eröffnen. Bei einer Zwangsversteigerung erwarb Wolfgang Stingl 2001 das Haus „Raun 62“. Derzeit wird es noch renoviert. Daß dieses Haus zum Verkauf stand, wertete Stingl als „Wink des Schicksals“. Genau hier wohnte nämlich bis zu ihrer Emigration im Jahre 1938 die jüdische Familie Stern. Die Spuren der Niddaer jüdischen Gemeinde sollen hier würdig präsentiert werden.

Zum einen stellt Stingl hier jüdische Kulturgegenstände aus Nidda aus. Dazu gehören einerseits Objekte der Familien wie Gebetsriemen (Tefillin), aber auch noch solche aus der Niddaer neuen Synagoge, dem heutigen Haus Schillerstraße 33. Erhalten haben sich etwa ein Thora-Vorhang und ein vier Meter langer Läufer. Außerdem wird im Museum die Geschichte der zeitweise 100 Personen zählenden jüdischen Gemeinde in Nidda dokumentiert werden. Weiter soll in einem Raum der 37 bekannten Niddaer Holocaust-Opfern gedacht werden, die in Auschwitz, Theresienstadt oder Minsk und an verschiedenen teils unbekannten Orten umkamen beziehungsweise als „verschollen“ gelten.

 Eröffnet werden soll das „Zimmermann-Strauss-Museum“, das seinen Namen nach aus der Schloßgasse 34 stammenden Familie des bereits erwähnten 1914 geborenen Fred Strauss im Oktober dieses Jahres. Auch die Niddaer jüdische Gemeinde, gäbe es sie noch heute, hätte in diesem Jahr gefeiert: Niddas Juden wurden vor 725 Jahren das erste Mal erwähnt; vor 125 Jahren eröffnete die Synagoge in der Schillerstraße.

 

 

Wöllstadt

 

Auf gemeinsame Einladung mit der „Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer“ schilderte im November 2003 der Leiter des Butzbacher Museums, Dieter Wolf, im Kreishaus anhand seiner eigenen Familiengeschichte stellvertretend das Schicksal vieler Wetterauer Juden. In seinen detaillierten Ausführungen, die er unter den Titel „Eine Reise nach Theresienstadt, Auschwitz und anderswo“ stellte, skizzierte der Historiker bei seinem Vortrag ein durchaus facettenreiches Bild, wie Nachbarn und Mitbürger auf die diskriminierende Rassenpolitik der Nationalsozialisten reagierten. Im Mittelpunkt seiner Erläuterungen stand seine eigene Familie, kündigte er schon in seiner kurzen Einleitung einen „sehr persönlichen Vortrag“ an.

Zuvor hatte Kreistagsvorsitzender Manfred Schneller die rund 50 Gäste begrüßt. Er erinnerte an die eindrucksvollen Berichte des „Schindler-Juden“ Mietek Pemper am diesjährigen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus an gleicher Stelle. Trauer und Scham könnten sich jedoch nur einstellen, wenn man die Opfer aus der Anonymität heraushole. In den Konzentrationslagern seien nicht „die Juden“ bestialisch in den Tod geschickt worden, sondern es waren Klassenkameraden, Vereinsfreunde oder Nachbarn, sagte Schneller.

Genau dort setze Wolf an, dessen jüdische Großmutter Martha Wolf in eine „rassereine“ deutsche Familie einheiratete und nach Nieder-Wöllstadt zog. In dieser »privilegierter Mischehe“ lebend, blieb seine Großmutter zunächst von einer Deportation in die Konzentrations- und Vernichtungslager verschont. Mit enormer Akribie und optisch mit einer Vielzahl von Fotos aufbereitet, schilderte der Historiker Wolf, wie sich in dem Ort allmählich ein Klima der Ausgrenzung breit machte. In Auflagen und diskriminierenden Verboten. So sei der Vater ab 1943 von SA-Schergen aus Kneipen und dem Kirmeszelt im eigenen Ort verwiesen worden.

Die Lebensumstände wurden für Martha und ihre Familie auch ökonomisch schwierig, als sie den kleinen Einzelhandel auf behördliche Anordnung schließen mußten. Ein Klima der ständigen Angst habe sich aufgebaut, genährt durch behördliche Schikanen und Denunziationen. Wer sich im Ort an dem stärker werdenden Kesseltreiben beteiligte und wer auch in schwierigen Zeiten noch zu den Nachbarn hielt, habe die Familie seiner Großeltern kaum abschätzen können, erläuterte Wolf das Ergebnis seiner jahrzehntelangen Recherchen. Mut und Loyalität seien naturgemäß unterschiedlich ausgeprägt. „Bäcker gaben ihnen Mehl, der Zahnarzt, der sich in der Reichspogromnacht noch als übler Schläger aufgetreten war, behandelte meine Großmutter, ohne sie zu beleidigen oder ausfallend zu werden.“

Hatte Martha bis zuletzt gehofft, von einer Einlieferung in ein Konzentrationslager verschont zu bleiben, erging es ihrer Familie im Südhessischen schlechter. Die meisten Angehörigen wurden bereits ab 1942 in Lager deportiert, die meisten seien umgebracht worden.

Mitte Februar 1945 – nur wenige Wochen vor dem bereits absehbaren Kriegsende - wurden aber auch seine Großmutter und mit ihr viele weitere Juden aus Oberhessen in das von den Nazis zynisch als „Reichsgenesungsheim“ dargestellte Konzentrationslager Theresienstadt deportiert.

Die Kapitulation Nazi-Deutschlands auf den Schlachtfeldern war auch ihre persönliche Rettung. Sie kehrte nach Nieder-Wöllstadt zurück, wo sie 1966 starb, als der Referent zehn Jahre alt war. Besonders beeindruckend sei für ihn gewesen, daß seine Großmutter es fertig gebracht habe, nach den schlimmen Erfahrungen in Theresienstadt mit ehemaligen Mitläufern und Tätern zusammenzuleben.

 

 

Münzenberg

Die ehemalige Münzenberger Synagoge wird renoviert. Motor des Projektes ist der Freundeskreis Burg und Stadt Münzenberg. Entstehen soll ein Denkmal, das an die Leiden der Münzenberger Juden und den Terror der Nazi-Herrschaft erinnert.

Sie ist 157 Jahre alt und ihre ursprüngliche Bestimmung sieht man ihr heute nicht mehr an. Das soll sich nun än­dern. Die Stadt Münzenberg will ihre ehema­lige Synagoge so restaurieren, daß man dem Gebäude zumindest von außen den reli­giösen Ursprung wieder ansieht. Einen ent­sprechenden Beschluß fassten die Stadtver­ordneten bereits vor einem halben Jahr. Ins-gesamt kostet die Restaurierung 300.000 Euro, davon kommen 30.000 Euro vom Wetterau kreis und mit 52.500 Euro beteiligt sich der Verein „Freundeskreis Burg und Stadt Mün­zenberg”.

Das von der damaligen jüdischen Gemeinde Münzenbergs 1848 erbaute Gebäude hat bisher verschiedenen Zwecken gedient. Bis 1938 kamen hier die Juden aus der Region zu ihren Gottesdiensten zusammen. Als die Na­zis im November desselben Jahres auch in Münzenberg jüdische Geschäfte zerstörten und jüdische Bürger terrorisierten, mach­ten sie auch vor der Synagoge nicht Halt. Fenster wurden zerschlagen, die Einrich­tung zusammen mit den Thorarollen auf der Straße verbrannt. In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts kaufte die Stadt Münzen­berg das Gebäude. Eine öffentliche Badean­stalt mit Mietwohnung hielt Einzug. Anfang der 80er Jahre nutzte es die Feuerwehr als Ge­rätehaus. Seit sie vor einem Jahr ein neues Domizil bezog, steht das historische Bauwerk leer.

Für den Münzenberger Freundeskreis war das der Startschuß. Er legte der Stadt ein ausgereiftes Nutzungskonzept vor. Nach der Renovierung soll die ehemalige Synagoge ein kulturelles Zentrum werden, in dem auch der Verein einen Treffpunkt finden würde. Doch es geht um noch viel mehr. „Ein lebendiges und begehbares Denkmal” solle entstehen, betonte der Vereinsvorsit­zende Uwe Müller bei der offiziellen Scheck­übergabe an die Stadt am vergangenen Dienstagabend. „Die jüdischen Bewohner wurden schikaniert und mißhandelt und mußten emigrieren oder wurden in den Ver­nichtungslagern ermordet”, so Müller. Daran solle das Gebäude fortan erinnern.

Der Einsatz des 600 Mitglieder starken Freun­deskreises rief viel Lob hervor. „Wir brau­chen mehr dieser Zeichen”, sagte Manfred de Vries vom Vorstand der jüdischen Ge­meinde in Bad Nauheim. Zwar werde es in der Münzenberger Synagoge keine Gottes­dienste mehr geben, weil die Bad Nauhei­mer die einzige jüdische Gemeinde in der Wetterau ist. Aber ähnlich den „Stolperstei­nen gegen das Vergessen”, einer Initiative des Künstlers Gunter Demnig, hielten die wieder aufgebauten Synagogen die Erinne­rung an den Naziterror wach.

„Das Beste gegen das Vergessen ist die Er­innerung an bestimmte Orte, Personen und Geschehnisse”, hob auch Ruth Wagner hervor, Vorsitzende der Kommission zur Erfor­schung der Geschichte der Juden in Hessen.

Nach dem Umbau sollen nur die wieder eingebauten Fenster mit Rundbögen an den typischen Synagogenbaustil erinnern. Die frühere sechs Meter hohe und gewölbte Holzdecke wird ebenso weiterhin fehlen wie die Empore. Die heute vorhandene Zwischende­cke bleibt erhalten und damit auch die obe­ren Räume, in denen sich zukünftig auch andere Vereine treffen könnten: Anfang kom­menden Jahres soll laut dem Münzenberger Bürgermeister Hans Jürgen Zeiß der Umbau los gehen. Die Kosten sind mit dem Haushalt 2006 abgesegnet. Das Gebäude bleibe in städtischer Hand, so Zeiß auf Nachfrage. Der Freundeskreis schlug in seinem Kon­zept vor, daß er selbst das Gebäude übertra­gen bekommt im Rahmen einer Erbpacht. Dafür würde er sich dann um dessen Verwal­tung kümmern und die Aufsicht darüber führen. Das muß Zeiß zufolge aber noch verhandelt werden.

 

 

Bad Vilbel

Die Vilbeler Judengemeinde war eine der letzten, die sich in der Wetterau fest etablierte. Denn jüdisches Leben ist hier schon erheblich früher verbürgt, läßt doch die Erwähnung der „judei de Weiterebia“ in der ältesten überlieferten königlichen Steuerliste von 1241 den Rückschluß auf Siedlungen im Umfeld der uralten Judengemeinden entlang des Mains und Rheins zu. Es sind vor allem die städtischen Siedlungskerne, die späteren Freien Reichsstädte, die Juden seit dem frühen Mittelalter beherbergten. Von hier aus organisierten sie gewissermaßen als „geborene Kaufleute” den innereuropäischen und den nahöstlichen Fernhandel.

 Um 1700 ließen sich in Vilbel die ersten Juden nieder. Der Landgraf zu Hanau besteht in der auch für Vilbel gültigen „Juden-Capitulation“ von 1738 noch auf dem „Ringel-Tragen“. Selbstverständlich gibt es hier eine Judengasse, leben ihre Bewohner in Distanz zu ihren Nachbarn. Sie sind arm, denn sie ernähren sich vom sogenannten Nothandel. Die etwas wohlhabenderen Juden versuchen sich als Viehhändler oder Metzger, die die Frankfurter Judengasse beliefern. Für durchreisende Juden gibt es einen Gastwirt, denn selbstverständlich würde kein christlicher Wirt einen Juden beherbergen.

Aber bei aller sozialen Distanz entwickelt sich im 19. Jahrhundert ein toleranteres Nebeneinander. Immerhin wurde es um 1800 der 55 Köpfe zählenden Gemeinde gestattet, eine Synagoge nebst Schule und Mikwe (rituelles Frauenbad) zu errichten. Auch wurde der Gemeinde 1845 nach mühseligen, jahrelangen Verhandlungen mit dem Bürgermeister und dem Friedberger Kreisrat endlich die Anlegung eines Friedhofs gestattet. Damit bestand für 100 Jahre eine in formaler Hinsicht selbständige jüdische Gemeinde als Teil des kulturellen Lebens in Vilbel. Nach der letzten Erwähnung im Handbuch der jüdischen Gemeindeverwaltung von 1924/25 lebten in dem auf 6.000 Bürger angewachsenen Vilbel gerade mal 61 Juden, also ein Prozent der Bevölkerung! Sie sind scheinbar integriert. Von offenem Antisemitismus, wie er sich längst wieder breit gemacht hat, ist hier wenig zu spüren.

Der reichsweit organisierten „Anti-Boykottags“ gegen jüdische Geschäfte vom 1. April 1933 wurde sicher auch in Vilbel durchgeführt. Wie gestaltete sich das jüdische Gemeindeleben, und wie verhielten sich die Vilbeler zu ihren jüdischen Nachbarn in einem Gemeinwesen, das nun von Bürgermeister und NSDAP-Ortsgruppenleiter Seitz, einem glühenden Nationalsozialisten, beherrscht wurde?

Am 10. November 1938 am späten Nachmittag: In der Adolf-Hitler-Straße (heute Frankfurter Straße), am Marktplatz lärmen SA und SS-Männer, Hitlerjugend und Pöbel. Ihr Ziel ist das Haus der „Siegfried-Quelle“. Rund 30 Personen, darunter Vermummte mit geschwärzten Gesichtern, dringen in das Haus von Simon Wechsler und seinem Sohn Siegfried ein, dem Besitzer und Entdecker der Siegfried-Quelle. Das hölzerne Firmenschild in der Hofeinfahrt wird zertrümmert. Parfüm, Seidenkissen und edles Mobiliar der Familie schmeißt die Horde aus dem Fenster. Ein weißer Flügel zerschmettert auf dem Pflaster. Ein Mann zertrümmert die Deckenlampe und zwei weitere mit Knüppeln den Wohnzimmerschrank und die dann befindlichen Gläser und Geschirre. Das Haus und seine Bewohner werden in dieser Nacht nicht zum letzten Mal angegriffen. Die zweite Attacke der Randalierer richtet sich vor allem auf die beiden Lieferwagen für Mineralwasser-Flaschen, die demoliert und umgekippt werden. Auf dem Scherbenhaufen im Hof wird spät in der Nacht der alte und bereits bettlägerige Simon Wechsler schwer mißhandelt.

 

Folgt man der Darstellung Ritschers, war der Pogrom vom November 1938 ein im Grunde singulärer Gewaltausbruch, getragen zudem von vielen Auswärtigen. Danach stellte sich in Vilbel wieder scheinbare Normalität her. Aber dem war nicht so: Am 19. Dezember 1938 verkaufte der sich danach auflösende Rumpfvorstand der jüdischen Gemeinde die Synagoge an einen Privatmann, unzweifelhaft ein Zwangsakt unter den gegebenen Verhältnissen. Dies war der Auftakt zu einer „Arisierungwelle“ jüdischen Haus- und Grundbesitzes. Was sich am Abend des 10. November noch als spontane Diebstähle vollzog, wurde nun zum systematisch organisierten Raub. Gerade hieran hätte sich der verbrecherische Charakter des NS-Staats und seiner Helfershelfer aufweisen lassen: Material ist genügend vorhanden.

Nachdem 1939 ein Teil des Eigentums der Vilbeler Juden arisiert war, durchforstete Bürgermeister Seitz die Grundbücher, um den Besitz von auswärtigen Juden zu erfassen, keine leichte Aufgabe, denn Grundbücher vermerkten auch damals nicht die Religionszugehörigkeit. Der größte Einzelbesitz gehörte der nach New York geflüchtete Offenbacherin Hedwig „Sara” Kamberg, der allein in der Vilbeler Gemarkung 40.000 Quadratmeter Grundbesitz gehörten. Aber die Witwe Kamberg wollte nicht verkaufen. Daraufhin schaltete Seitz die Geheime Staatspolizei in Darmstadt zur Einleitung des „üblichen” Vorgangs ein, und das bedeutete Ausbürgerung. Damit verfiel ihr Besitz entschädigungslos dem Reich. Die Gemeinde mußte 30 Pfennig pro Quadratmeter an die Finanzbehörde abführen, dann konnten die Grundstücke verteilt werden. Den größten Brocken behielt die Gemeinde selbst. Wer sich die verbleibenden Grundstücke auch der anderen Enteigneten aneignete, gehört zu den bis heute emsig beschwiegenen Geheimnissen. Denn ihre Besitzer wurden nolens volens Nutznießer und damit Komplizen eines staatlich gelenkten Verbrecherkartells gegen jüdisches Eigentum.

Ein weiteres Problem stellt die Darstellung der Ereignisse um die Zerstörung des jüdischen Friedhofs dar. Hier verläßt sich die Autorin auf die Angaben eines jüdischen Chronisten aus Frankfurt, dem die Stadtverwaltung auf Anfrage lapidar 1979 mitteilte, es habe keine Zerstörung stattgefunden. Er wurde zerstört und nicht nur die Friedhofsmauer, deren Abdecksteine heute die oberhalb gelegene Mauer des evangelischen Friedhofs zieren. Es geht auch um die praktische und bis heute nicht korrigierte Verkleinerung des Friedhofs um etwa 180 Quadratmeter zugunsten der evangelischen Kirche.

Wie hatte der Vilbeler Lokalhistoriker Martini 1953 in unfreiwilliger Sprachkomik die verquere Nachkriegssituation beschrieben: „Wenn auch zur Zeit keine Juden mehr in unserer Gemeinde leben, so schwebt ihr Geist immer noch über den ihnen einstmals gehört habenden Anwesen, und die heutigen Besitzer ehemals jüdischen Eigentums haben mit den Nachfolgern und Anverwandten ihre liebe Last, ob zu recht oder zu Unrecht, ist hier nicht der Raum zur Untersuchung.“ Diese für die Entwicklung der Nachkriegszeit gewiß nicht untypische Geisteshaltung gehörte zumindest in einen Epilog zur Geschichte der Vilbeler Juden, der allerdings noch geschrieben werden muß.

 

Eine Chronologie schwieriger Integration in Bad Vilbel:

1987: Auf Initiative von SPD und Grünen beschließt das Stadtparlament, die Gesichte der Juden in der Stadt wissenschaftlich dokumentieren zu lassen.

1988: Bei den Gedenkveranstaltungen zur 50. Jährung der Pogromnacht kommt es zum Eklat: Konservative Kräfte wirken auf die evangelische Kirchengemeinde ein, die daraufhin zwei Referenten der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) wegen angeblicher Kommunistennähe auslädt - darunter den Vorsitzenden des Oberlandesgerichts Frankfurt und einstigen Staatsanwalt im Auschwitz-Prozeß, Heinz Düx (SPD).

1988: Ein Frankfurter Immobilienmakler eröffnet ein privates „Jüdisches Diaspora-Museum“ in Bad Vilbel. Er verpflichtet Dr. Berta Ritscher und steigt in das Dokumentationsprojekt mit ein, nachdem sich der CDU-geführte Magistrat in Art und Umfang der Arbeit verschätzte.

1992: Der heute 87 Mitglieder zählende Verein der Jüdischen Gemeinde wird gegründet. Die Dokumentationsarbeit kommt zum Erliegen, weil der Makler nach geschäftlichem Mißerfolg seinen Part der Honorarzahlung nicht leistet.

1993: Das „Diaspora-Museum“ wird geschlossen. Die Kommune unternimmt trotz der Bitte um Hilfe nichts.

1993/94: Die ehemalige Synagoge (privates Wohnhaus) steht zum Verkauf. Die Jüdische Gemeinde bittet die Stadt, ihr das Anwesen wieder als Gemeindezentrum zugänglich zu machen. Der Magistrat lehnt dies ab, weil sich Bund und Land nicht finanziell beteiligten.

1994: Am Gymnasium wird ein über Judentum unterrichtender Religionslehrer bedroht. In eine Menschenkette reihen sich zum Protest Bürgermeister Günther Biwer und Michel Friedmann von der Jüdischen Gemeinde Frankfurt ein.

1996: Bürger sammeln für eine Gedenktafel, die an den im Konzentrationslager ermordeten Schulleiter Dr. Albert Chambre erinnern soll. Zu der Initiative zählen unter anderem der Stadtverordnetenvorsteher und (federführend) der Bürgermeister. Zwei Jahre später teilt der Bürgermeister mit, das Thema sei ihm „durchgerutscht“.

1996: Kurz nach Fertigstellung ihrer Arbeit, die die Kommune allein weiterfinanzierte, stirbt die Autorin.

1996: Juden sind für den Magistrat eine Religionsgemeinschaft wie andere auch. Räumlichkeiten würden daher nicht zur Verfügung gestellt, weil sie nicht der Allgemeinheit dienten, erklärt der Bürgermeister im Stadtparlament. Der Magistrat kündigt einen neuen Standort für die Gedenktafel am Diaspora-Museum an. Bis heute wurde dies nicht umgesetzt.

1996: Jüdische Gemeinde und Kommune streiten über die Herausgeberrechte an Ritschers Arbeit. Erster Stadtrat Klaus Minkel (CDU) nennt den Gemeindevorsitzenden Rafael Zur (SPD) einen „ständigen Lügner“. Einer Gedenkveranstaltung der Gemeinde bleibt der Magistrat fern.

1997: Durch die Vermittlung des Landesvorsitzenden der Jüdischen Gemeinden, Moritz Neumann, wird ein Rechtsstreit abgewendet. Herausgeber der Dokumentation wird der örtliche Geschichtsverein. Dessen Vorsitzender Claus Kunzmann, zugleich Leiter des städtischen Kulturamtes, begründet die immer wieder verschobene Drucklegung mit Korrekturen und Nachträgen.

1997: Das kleine, nicht denkmalgeschützte Vorderhaus der ehemaligen Synagoge (vermutlich ehemalige jüdische Knabenschule) wird abgerissen und durch einen größeren Neubau ersetzt, der die alte Synagoge völlig verdeckt. Trotz Umgebungsschutzes sehen Kommune, Kreisbauaufsicht und Untere Denkmalbehörde keine Möglichkeit einzugreifen. Die Landesdenkmalpflege verweist auf die Zuständigkeit der kommunalen Behörden.

1997: Beim Wegebau auf einem Grundstück der evangelischen Kirchengemeinde neben dem Jüdischen Friedhof werden Grabreste freigelegt, jüdische Gräber dabei beschädigt. Die ursprünglich größere Ausdehnung des Friedhofes war nicht bekannt gewesen. Die Stadt als Eigentümerin des Friedhofes sichert dem Frankfurter Rabbinat zu, den neuen Weg als Teil des Friedhofes kenntlich zu machen und die Friedhofsgrenze neu einzugrünen. Bis heute ist das nicht geschehen.

1998: Die Gedenktafel am ehemaligen Diaspora-Museum soll auf Wunsch der CDU nicht im Wohnbereich der israelitischen Gemeinde, sondern auf einem Gedenkstein vor dem Alten Rathaus angebracht werden: Gegen den Willen der Jüdischen Gemeinde, die auf die Funktion des Alten Rathauses als Ausgangsort der NS-Propagandisten verweist.

1998: Der öffentliche Druck auf den Magistrat, endlich die Ritscher-Dokumentation zu veröffentlichen, wächst. Der renommierte Kunstverein kündigt eine Lesung aus der Arbeit an. Trotz Zusicherung liegt das Buch bis heute nicht vor.     

 

Protest gegen Synagogen-Umbau:

In Bad Vilbel werde ein allzu laxer Umgang mit den Überresten der jüdischen Kultur getrieben, meint der auch als SPD-Stadtverordnete tätige Rafael Zur im November 2003. Er ist Vorsitzender der kleinen jüdischen Gemeinde Bad Vilbels. Die Stadtverwaltung und das Kreisbauamt haben nichts dagegen unternommen, daß seit wenigen Tagen die ehemalige Synagoge an der Frankfurter Straße 97 umgebaut werde. Der Eigentümer richte darin Wohnungen ein.

Das aus der Barockzeit stammende Haus neben der Stadtschule habe die Nazizeit überstanden - doch nun würden die Fenster und Türen heraus gerissen, um das Gesicht der Synagoge zu ändern.

Schon vor Jahren sei der vordere Teil des Hauses abgerissen worden, klagt Rafael Zur: „Keine Proteste halfen. Keine Behörde hat sich gerührt“.

Angeblich stehe die ehemalige Synagoge nicht unter Denkmalschutz – dabei sei sie in dem von Thea Altaras herausgegebenen Nachschlagewerk über hessische Synagogen enthalten. Schon im Februar habe er wegen des geplanten Umbaues an die Denkmalschutzbehörde in Friedberg geschrieben. Doch bis heute habe er keine Antwort bekomme - auch nicht, nachdem er im September beim Kreisbeigeordneten Bardo Bayer nachgefragt habe. Wenigstens jetzt müsse der Umbau der ehemaligen Synagoge gestoppt werden.

 Leider sei auch nichts aus dem seit Mitte der Achtzigerjahre geplanten Rückkauf der Synagoge geworden. Auf Vorschlag des damaligen Stadtrats Klaus Minkel hätten die Stadt, das Land und der Bund die Kosten zu jeweils einem Drittel tragen sollen.

 

Jakob Horowitz betreut in Frankfurt auch die Gräber der Vilbeler Simon Wechsler und Dr. Albert hambre:

Zwei jüdische Vilbeler wurden in der Main-Metropole beerdigt. Wechsler war in seiner Heimatstadt während des Pogroms so sehr verletzt worden, daß er an den Folgen starb, Chambre war ins Konzentrationslager Dachau verschleppt und dort ermordet worden. „Wechsler, Wechsler... Simon Wechsler habe ich hier. Begraben am 7. Dezember 1938. Als Angehörige wird Henny Wechsler angegeben, Adolf-Hitler-Straße 20 in Bad Vilbel. Die Adresse stimmt wohl nicht mehr.“

Der alte Friedhofswärter, Jakob Horowitz, studiert konzentriert die Eintragung in der vergilbten Karteikarte. Das Grab von Simon Wechsler liegt in dem Teil des Friedhofs, in dem auf fast allen Inschriften ein Todesdatum zwischen November und Dezember des Jahres 1938 angegeben ist. Das Gehen ist für den alten Mann anstrengend geworden; er nimmt sein Fahrrad, um den Weg zu weisen: „Viele sind nicht unmittelbar in der Nacht des Pogroms umgekommen, sondern in den darauffolgenden Tagen und Wochen“, sagt Horowitz nachdenklich.

„Hier ist es.“ Ein schlichter Grabstein. Horowitz: „Typisch für die Jahre vor dem Krieg“. Irgend jemand hat irgendwann einmal einen Stein zum Gruß an den Toten auf der Tafel mit der Grabinschrift zurückgelassen. Noch in der Nacht jenes 10. November ist Simon Wechsler zu Fuß und schwerverletzt in das völlig überfüllte jüdische Krankenhaus nach Frankfurt gelaufen. Einige Wochen später starb er dort.

Das Grab seines Sohnes Siegfried Wechsler sucht man auf dem Frankfurter Friedhof vergebens. Unmittelbar nach der grausamen Nacht wurde der junge Vilbeler Brunnenbesitzer ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Anfang 1939 entlassen, konnte er für eine Weile in Frankfurt untertauchen. Im Juni 1942 verhaftete ihn die Gestapo, um ihn „im Osten” in einem der Konzentrationslager ermorden zu lassen. Längst hätte der Friedhofswärter sich in den Ruhestand begeben können. Aber der Friedhof und die Menschen, die hier begraben sind – „besonders die. die zwangsläufig hier liegen“ - halten ihn fest. „Ich habe eine Aufgabe hier“, weiß er, „ich fühle mich den Toten verpflichtet.“

Er deutet auf einen Stein eine Reihe oberhalb der Wechsler-Grabstätte. Auch hier liegt eine wichtige Persönlichkeit Vilbels begraben: Dr. Albert Chambre, einst Schulleiter der Höheren Bürgerschule Vilbel und später der Realschule. Er prägte in den zwanziger und dreißiger Jahren das geistige Leben der Stadt entscheidend. Im Jahr 1933 wurde er aus dem Staatsdienst entlassen. Auf seinem Grabstein ist das Datum 14. November 1938 angegeben: In der Pogrom-Nacht, die Chambre am 9. November in Frankfurt erleben mußte, wurde der zwangspensionierte Schuldirektor ins Konzentrationslager Dachau gebracht. Nur fünf Tage später schickte man seiner Frau Gertrud Chambre die Leiche ihres Mannes in einem Holzsarg, Taschenuhr und Ehering fehlten.

 

 Buch „Geschichte der Vilbeler Juden:

Das Buch „Geschichte der Vilbeler Juden - Von der Integration zur Deportation“ liegt im November 1998 vor. Nachdem die Drucklegung des über 400 Seiten starken Werkes von Dr. Berta Ritscher immer wieder verschoben worden war, ist das Buch zum Preis von 24 Mark im Buchhandel sowie beim örtlichen Geschichtsverein erhältlich.

Keine öffentliche Präsentation. keine Pressekonferenz: In aller Stille und ohne großes Aufheben zu machen, kündigt der Bad Vilbeler Verein für Geschichte und Heimatpflege mit dem Heft 45 seiner heimatkundlichen Mitteilungen „Bad Vilbeler Heimatblätter“ die Veröffentlichung des wohl umfangreichsten Druckwerks seiner Vereinsgeschichte und die nach Willi Giegerichs Heimatbuch wohl bedeutendste Forschungsarbeit zur Vilbeler Lokalhistorie an.

 „Nach langwieriger. komplizierter und nicht immer ganz glücklicher Arbeit“ sei das Buch „nunmehr fertig“, so Claus Kunzmann, Vorsitzender des Bad Vilbeler Vereins. Von dieser „schweren Geburt“ einer über Jahrzehnte tabuisierten Aufarbeitung der Vilbeler NS-Geschichte kündet schon die Formulierung auf dem grauen Einband: „Herausgegeben vom Bad Vilbeler Verein für Geschichte und Heimatpflege e.V. im Auftrag des Magistrats der Stadt Bad Vilbel unter Mitarbeit der Jüdischen Gemeinde Bad Vilbel e. V.“

Dieser Darstellung nach Trotz weitgehender Fertigstellung der Arbeit durch Dr. Ritscher kurz vor ihrem Tode 1996 verstrichen noch weitere zwei Jahre bis zur Veröffentlichung, weil es sowohl Auseinandersetzungen um die Herausgeberrechte als auch „technische Schwierigkeiten“ und „zusätzliche Erkenntnisse“ aufgrund weiterer Forschungen gegeben habe. Man habe sich entschieden. Ritschers Manuskript „unverfälscht“ und „ohne inhaltliche Eingriffe der Öffentlichkeit zugänglich zu machen“.

Neuere Erkenntnisse sollten nicht als Fußnoten oder im ohnehin bereits umfangreichen Anhang angegliedert werden, sondern einem „eigenständigen Nachtrag vorbehalten“ bleiben.

Eine „gesonderte Rezension” des aufgrund seiner 125 Familienbiographien eindrucksvollen Werkes hält Geschichtsvereinsvorsitzender und Kulturamtsleiter Kunzmann für „entbehrlich“, da das Buch inhaltlich bereits über die Kooperation mit dem örtlichen Kunstverein vorgestellt worden sei.

 Leihgeber von Fotos und anderen Dokumenten, die der Verein aufgrund des Todes der Historikerin namentlich nicht mehr ermitteln konnte, werden gebeten, sich mit ihm in Verbindung zu setzen.

 

Nur eine trügerische Ruhe vor dem Sturm:

Die Historikerin Dr. Berta Ritscher hat im Auftrag der Stadt Bad Vilbel ein Buch verfaßt „Geschichte der Vilbeler Juden - Von der Integration zur Deportation”. Der Erziehungswissenschaftler Dr. Rolf Seubert hat sich mit diesem Buch kritisch auseinandergesetzt.

Das Werk beleuchtet auftragsbedingt zwar intensiv die Opfer-. nicht aber die Täterseite. Aspekte wie die „Arisierung“ jüdischen Eigentums und die Friedhofszerstörung spart das Buch völlig aus.

Der Nationalsozialismus ist erforscht wie kaum eine andere Periode der deutschen Geschichte. Aber auf lokaler Ebene muß untersucht und verständlich gemacht werden. wie sich das soziale und politische Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft generell veränderte und wie sich diese Veränderung vor Ort vollzog. Auch müssen die lokalen Strukturen der Macht, ihrer Träger und Nutznießer untersucht werden. In ihnen wäre die Ursache zu suchen, wieso es nach dem Jahr 1933 zu dem in jeder Hinsicht tiefsten Stand an rechtsstaatlicher und menschlicher Gesittung kommen konnte.

Das soll nicht heißen. daß der Auftrag an Frau Ritscher falsch war, sondern daß er im wahrsten Sinne des Wortes nur halbherzig erfolgte und das außerdem auf der falschen Seite: Denn nicht in den Opfern. in ihrer sozialen und kulturellen Besonderheit liegt die Ursache für die Katastrophe. Sie ist vielmehr in den historischen Rahmenbedingungen des geistig-kulturellen Zustandes der Akteure zu suchen und in einem politischen System, das deren antizivilisatorischen Neigungen nicht nur freien Lauf ließ, sondern diese zur Grundlage des staatlichen Handeins machte. Das wendet sich nicht gegen eine Bearbeitung des Themas „Geschichte der Vilbeler Juden“, sondern setzt sich für eine ganzheitliche Betrachtungsweise ein, die Opfer und Täter in diesem komplexen Handlungsrahmen einer historisch-systematischen Betrachtungsweise zusammenführt.

Um dies vorab am Beispiel von Frau Ritschers detailliert rekonstruierter Darstellung der Ereignisse vom 10. November 1938 zu verdeutlichen: Während das Schicksal der von ihren Mitbürgern malträtierten jüdischen Vilbelern - sie allein werden namentlich genannt - anhand der späteren Prozeßakte und von Zeitzeugenberichten plastisch beschrieben wird, bleiben die Täter anonym. Selbst das wenige, was im Prozeß vor dem Gießener Landgericht 1948 an Informationen über sie mitgeteilt wird, wird kaum ausgewertet.

Nachgerade bedrückend ist, daß von Frau Ritscher befragte Zeitzeugen, die die Ereignisse damals beobachteten, selbst heute noch zum Teil ungenannt bleiben wollen. Dabei geht es in der Frage nach den Tätern, das sei betont, nicht um nachträgliche Denunziation, sondern zunächst um die möglichst genaue Rekonstruktion des Ereignisses. sodann um den Versuch der Offenlegung von Motiven, die jene Täter leiteten, die ja keine Verbrecher im herkömmlichen Sinne waren, obwohl sie später des schweren Landfriedensbruchs angeklagt wurden.

Sie hatten sich in der berechtigten Erwartung einer positiven Bewertung ihrer Tat durch die formierte Öffentlichkeit spontan mitreißen lassen: Die aktiven Nazis konnten sich immerhin noch auf „Befehl von oben” berufen. Und im Prozeß versteckten sie sich zudem noch hinter jener „größeren Menschenmenge“, die sich freiwillig an den unglaublichen Zerstörungen, Plünderungen und Mißhandlungen beteiligt und die sie angeblich von Schlimmerem abgehalten hätte.

Diese anonym gebliebenen Beteiligten sind ein bis heute unbewältigtes Problem: Denn sie bestätigten einerseits die Propagandathese von der „wütenden deutschen Volksseele”, die angeblich die Geduld mit dem „parasitären jüdischen Verbrechertum” verloren habe. Andererseits sind sie offensichtlich für das Schweigekartell der Nachkriegszeit maßgeblich verantwortlich. Hatten sie, als sie sich am 10. November 1938 und danach klammheimlich bei den „reichen Juden“ bedienten, keinen Sinn mehr für Gerechtigkeit. Schutz des Privateigentums und der Person? Hatten sie nachträglich wenigstens Schuldgefühle?

Und warum bewies die schweigende Mehrheit der passiv gebliebenen Zuschauer, von wenigen rühmlichen Ausnahmen abgesehen, so wenig Zivilcourage? Hatte es damit zu tun, daß die jüdischen Vilbeler doch nicht so integriert waren, wie es bereits im Titel des Buchs als These behauptet wird? Daß auch in Vilbel vor 1933 nur eine oberflächliche, mehr von jüdischen Anerkennungssehnsüchten getragene trügerische Ruhe über dem jahrhundertealten christlichen Antijudaismus und dem Rassenhaß der antisemitischen Bewegung des 19. Jahrhunderts lag; ein Judenhaß also gewissermaßen auf Abruf?

Wir können das nur vermuten, denn wie breit die Verankerung antisemitischer Haltungen in der Bevölkerung wirklich war, wird sich nur noch schwer nachweisen lassen. Sie war in der Forschung über die NS-Zeit ein eher vernachlässigter Gegenstand. Gerade deshalb erregte 1996 die gewiß nicht falsche These Daniel Goldhagens. am Holocaust in einem weiten Sinne sei eine erheblich breitere Schicht von „ganz gewöhnlichen Deutschen“ beteiligt gewesen, als man bisher angenommen habe, heftige Ablehnung. Sie traf offensichtlich ins Mark all derer, die sich über die Persilscheine der Entnazifizierungsverfahren, über die Verdammung der Kollektivschuldthese zugunsten einer Neuauflage des „Führerprinzips” als Entlastungsstrategie oder über Prozeßfreisprüche, wie beim größten Teil unserer Vilbeler „Helden“ ein gutes Gewissen zugelegt hatten.

Weder im Auftrag des hiesigen Stadtparlaments noch im hier zu besprechenden Buch wird der Frage nachgegangen. unter welcher Zielsetzung, welchem übergeordneten Zusammenhang eine solche Aufarbeitung stehen sollte. Überspitzt könnte man sagen, daß unklar geblieben ist, wieso diese „alten Geschichten” dem bisherigen Konsens des sanften Vergessens überhaupt entrissen werden sollen. Angesichts dieser unklaren Zielvorgabe setzte sich die Autorin selbst die Arbeitsschwerpunkte, wie sie in ihrer Rede zur Eröffnung des inzwischen längst wieder geschlossenen „Jüdischen Diaspora-Museums am 5. Juli 1988 andeutete: „Neben weiterer Erforschung der jüdischen Geschichte der NS-Zeit sollte man sich jetzt ... vermehrt um die Aufklärung der Geschichte einzelner jüdischer Familien kümmern.“ Diese Idee entwickelte sie konsequent zu einem genealogischen Forschungsansatz über 125 jüdische Familien, ja ganzer Familiendynastien. Eine angesichts der schwierigen Archivlage sehr aufwendige, zeitraubende Arbeit.

 

 

Karben

Zum Gedenken an die Pogrome des 9. November 1938 zeigte Referentin Moni­ca Kingreen in der Klein-Karbener St. Michaelis-Kirche jüdische Schicksale auf. Im September 1942 ging der Depor­tationstransport der jüdischen Bürger der Wetterau über das Sammellager Friedberg und Darmstadt nach There­sienstadt. Direkt aus Karben wurden sieben jüdische Bürger in die Vernich­tung getrieben.

Die jüdische Gemeinde Groß-Kar­ben verlor damit Adolf und Antonie Hirsch, geborene Junker, mit den Kin­dern Marga und Erich Hirsch; Moritz Rosenthal; den 81-jährigen Spengler Isidor        Kahn.   Auch Lea Weinberg aus Rendel, geborene Grünebaum, gehörte zur Gemeinde.

Um der Kontrolle und den Schikanen der Faschisten in der überschaubaren Gemeinde zu ent­gehen, waren etliche Juden zu Beginn der 30er Jahre meist nach Frankfurt ge­zogen. Von dort wurden als ehemalige Karbener deportiert: Hugo und Rosel Junker, geborene Grünebaum; Joseph und Bella Junker mit Tochter Ruth; Juli­us und Flora Ross mit Tochter Ilse; Moritz und Klara Ross. Aus Friedberg: die Karbenerin Antonie Wertheimer, gebo­rene Junker. Aus dem jüdischen Altenheim in Bad Nauheim die drei Schwes­tern Sofie, Emilie und Lina Grünebaum. Aus Würzburg: Rosa und Beate Grünebaum. Aus Hamburg: Lilly Grü­nebaum. Aus Holland: Julius Kulb und Johanna Isenburger, geborene Kulb; Jo­hanna Jacobs, geborene Kulb, Frieda Driels; Max Grünebaum.

Aus Burg-Gräfenrode waren nach Frankfurt gezo­gen und wurden von dort wurden in den Tod getrieben: Rosa Löwenberg mit Tochter Margot; Willi und Martha Lö­wenberg mit den Kindern Inge, Kurt und Judith; Lina Jacob; Alexander und Recha Kirschberg, geborene Schott. Adolf und Ida Strauss aus Groß-Kar­ben mit Kindern Lieselotte und Walter sowie der Oma Berta retteten sich nach New York, ebenso Lina und Ferdinand Strauss mit der Nichte Lieselotte Kulb. Max und Paula Kulb aus der Heldenber­ger Straße in Groß-Karben schafften es nach Uruguay. Die Kinder Ruth Junker und Albert Ross waren 1939 mit einem Kindertransport eines Hilfswerkes in die Schweiz gerettet worden.

Rosa Rosenthal gehörte wie Bella Vogt zu den wenigen aus Groß-Kar­ben, die die Befreiung aus dem KZ erlebten. Bella Vogt war als Frau eines nichtjüdischen Ehemannes noch kurz vor Kriegsende deportiert worden.

 

Erinnerung an die Verfolgung und Mahnung:

Historikerin Monica Kingreen zum Schicksal der Juden aus Karben

Anläßlich der Gedenkfeier zum 9. November 1938 in der St. Michaeliskirche berichtete die Historikerin Monica Kingreen über die Deportation und Vernichtung jüdischer Bürger aus Karben und seinen Nachbarorten im Jahr 1942.

 

Den bewegenden Abschluß der grausigen Schilderungen bildete ein gesun­genes Gebet aus der zweiten Sinfonie des pol­nischen Komponisten Henryk Görecki. Or­ganist Herbert Helfrich berichtete, dieses Gebet habe eine 18-jährige Jüdin vor ihrer Hinrichtung an die Wand eines Gestapo-Ge­fängnisses geschrieben.

Auf Einladung des Deutsch-Ausländi­schen Freundschaftskreises (DAF) und der evangelischen St. Michaelis-Gemeinde Klein-Karben entwickelte Monica Kingreen das Szenario, wie die Faschisten gerade nach der so genannten Reichskristallnacht 1938 systematisch das Leben für jüdische Bürger abschnürten. Arbeit wurde ihnen un­möglich gemacht, ihre Sparguthaben einge­zogen. Es wurden ihnen immer neue finan­zielle Belastungen auferlegt wie die „Juden­ver­mö­gens­abgabe” mit dem Ziel, sich ihrer Habe zu bemächtigen. Glück hatten die, die rechtzeitig nach der so genannten „Machter­greifung” die Zeichen der Zeit erkannten und wegzogen. Allerdings holte jene, die nur in die Anonymität der Großstadt Frankfurt oder in europäische Nachbarländer geflüch­tet waren, die mörderische NS-Maschinerie des Todes ein.

Die Referentin regte daher an, das Schick­sal dieser Menschen zu erforschen, die zu-nächst aus ihren Wohnorten weggezogen wa­ren. Sie. sind nicht in den Akten zur zentra­len Deportation im September 1942 - zu-nächst ins Sammellager in Friedberg und von dort nach Darmstadt mit Ziel Theresienstadt - enthalten. Insgesamt wurden aus Friedberg 264 Menschen nach Theresien­stadt deportiert. Von dort wurden manche etwa nach Treblinka mit dem Versprechen gebracht, es handele sich um eine Umsied­lung.

Lebens- und Todesspuren

Kingreen mahnte an, daß immer noch zu wenige Kommunen der Region ihrer verfolg­ten und getöteten jüdischen Bürger gedäch­ten. Es gelte, ihre „Lebens- und Todesspuren sichtbar zu machen”. Anhand des umfangreichen Namens- und Datenmaterials zeigte sie, daß dies durchaus möglich ist. Die Refe­rentin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fritz Bauer-Institut, Studien und Doku­mentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust in Frankfurt. Sie be­schäftigt sich seit vielen Jahren mit der Erfor­schung des jüdischen Landlebens in Hessen und der Verfolgung während der NS-Zeit.

Es waren meist jüngere, die sich durch Wegzug zu retten versuchten. Einigen ge­lang auch die Flucht nach Nord- oder Süd­amerika. Wer das nicht bis 1938 schaffte, hat­te es später schwer zu fliehen: Zunehmendes finanzielles Auspressen sowie der Visumzwang möglicher Gastländer machten ein Entkommen fast unmöglich.

 

 

Düdelsheim (bei Büdingen)

„Wenn meine Schwester über die Straße geht. wird sie mit Steinen beworfen!“ Das klagte Daniel Hamburger, der Bruder der 69jährigen Sophie Hess, 1938 in einem Brief an den Düdelsheimer Bürgermeister Albrecht. Halbwüchsige terrorisierten sie. Der Protest des Bruders half nicht. So­phie Hess wurde im Konzentrationslager Trawnika ermordet. Im Jahr 1940 war die jüdi­sche Gemeinde von Düdelsheim vernich­tet. An sie erinnern nur noch ein paar Grabsteine.

Hinter Gebüsch und einer Mauer dämmert ein Friedhof am Steinern-Hügel abseits von Düdelsheim. Etwa 80 Grabmale aus rötlichem Sandstein stehen schief oder liegen auf diesem verwunschenen Fleck. Keine Angehörigen haben Kiesel auf die Steine gelegt. Es gibt hier keine Angehörigen mehr. Die 300jährige jüdische Gemeinde Düdelsheims erlosch im Mai 1940. Als Letzte wurde die 75jährige Mathilde Levi am 18. Juni 1938 vor Ort beerdigt. Ihr 83jähriger Ehemann Berthold mußte im April 1939 nach Kapstadt fliehen. Er hat seine Frau wohl nicht lange überlebt.

Die Deutschen haben nach Angaben des Früheren evangelischen Pfarrers Rainer Heß 18 Düdelsheimer Juden umgebracht. Sie starben an unbekannten Orten und in den Konzentrationslagern Auschwitz, Trawnika, Lodz und Theresienstadt. Zum Beispiel die Witwe Sophie Hess. Im Jahr 1938 beklagte sich ihr Bruder Daniel Hamburger in einem Brief an den Düdelsheimer Bürgermeister Albrecht über Halbwüchsige, die seine Schwester tags und nachts terrorisierten: „Man hat jetzt schon verschiedene Mal die Türfüllungen eingeschlagen, die Fenster demoliert, und durch die Öffnung in der Tür, wo die Füllung fehlt, hat man brennendes Papier hereingeworfen“. Die kranke alte Frau sei mit Latten und Steinen mißhandelt worden.

Der Beschwerdebrief von Daniel Hamburger ist in der 1991 erschienenen Chronik von Düdelsheim abgedruckt. Die Namen der jugendlichen Übeltäter wurden für das Buch geschwärzt. Sie leben zum Teil noch heute vor Ort, sagt der Büdinger Historiker Willi Luh.

Am 9. November 1938 verwüstete ein Rollkommando der Büdinger und Düdelsheimer SA die Wohnungen der letzten Düdelsheimer Juden. Die 55jährige Frieda Hess wurde von der Toilette gezerrt, mit Jauche bespritzt und zusammen mit ihrem Bruder Sally (53) unter Schlägen und Fußtritten zum Rathaus getrieben. Dort bekam sie einen Sack über den Kopf und einen Besen in die Hand, und mußte „tanzen“.

Der 51jährige Rudolf May wurde vom Heuboden geholt und mußte einen Mann auf dem Nacken zum Rathaus tragen. Alle Juden wurden im Rathaussaal versammelt und dort verhöhnt. Einige bekamen einen Strick um den Hals, einen Mehlsack über den Kopf und wurden in den Rathausfenstern dem Publikum „ausgestellt“.

Die große, 1861 erbaute Synagoge an der Hauptstraße 19 wurde am selben Tag ausgeräumt, das Inventar auf der Marktwiese verbrannt. Nur die Thorarolle fand man später auf dem Nachbargrundstück. Sie wurde in der Bürgermeisterei aufgehoben und nach dem Krieg in ein jüdisches Archiv in Michelstadt gebracht. Eine Kopie steht im Büdinger Heuson-Museum.

Die geschilderten Vorgänge sind noch heute im jüdischen Gemeindearchiv im Düdelsheimer Rathaus nachzulesen. „Kein Briefumschlag wurde weggeworfen“, sagt Emil Gerlach, der nach dem Krieg Verwaltungschef in Düdelsheim war. Nach dem Krieg habe es noch einige Kontakte zwischen Juden und Düdelsheimern gegeben. Manche waren bis in die frühen achtziger Jahre mit dem Büdinger Nachtklubbesitzer Charly Nayman befreundet. Ein gewisser Heß sei aus den USA gekommen, auch andere Nachkommen von ehemaligen Judenfamilien aus Düdelsheim. Der alte Weil, Betreiber des Textilgeschäftes im heutigen Edeka-Markt am Büdinger Marktplatz, war laut Gerlach in den fünfziger und sechziger Jahren Sponsor des SV Phönix Düdelsheim. Er habe seinen Stammplatz am Spielfeld gehabt und manchmal etwas für die Vereinskasse springen lassen.

Das war es dann auch. Bis heute wohnt offenbar kein Jude im 2400-Seelen-Stadtteil Düdelsheim. Die jetzigen Besitzer der einstigen jüdischen Häuser zahlten nach dem Krieg an einen jüdischen Vermögensfonds und bekamen dafür. Wohnrecht in den Immobilien. Die Synagoge wurde abgebrochen und mit einem Wohnhaus bebaut. Die alte Judenschule an der Ortsdurchfahrt wird jetzt als Abstellraum genutzt. Städtische Arbeiter mähen gelegentlich das Gras auf dem alten Friedhof an der Hauptstraße und dem „neuen“ Friedhof am Hügel. Das Land Hessen gibt dafür Zuschüsse. Manchmal überzeugt sich eine Kommission vom würdigen Zustand der Totenäcker.

 

 

Kestrich (Vogelsberg)

Sie hießen Liebmann, Isaac, Godschalc oder Wolf und waren Gemischtwaren- oder Viehhändler. Auch ein Schulmeister Veit findet sich in den Akten des Örtchens Kestrich im Vogelsberg. So unterschiedlich ihr sozialer Status war, eines hatten diese Menschen doch gemeinsam: ihren Glauben. Als „Jirre“, wie die Juden im Oberhessischen genannt wurden, waren sie fester Bestandteil der dörflichen Gemeinschaft und lebten Haus an Haus mit ihren christlichen Nachbarn.

Nach der Vernichtung jüdischen Lebens in der NS-Zeit gibt es im heutigen Vogelsbergkreis nur noch steinerne Spuren der Opfer. Darum, daß diese nicht gänzlich verloren gehen, kümmert sich seit 1999 der Verein „Judaica Vogelsberg“. Nicht immer stößt der Verein mit seinem Anliegen auf Sympathie. „Immer noch wird das Thema Juden in vielen Ortsgemeinschaften totgeschwiegen“, sagt der Alsfelder Journalist Joachim Legatis, Mitbegründer und Vorsitzender des Vereins.

Der Verein mit seinen 23 Mitgliedern will die Reste einstigen Zusammenlebens zwischen Christen und Juden erhalten. Daß dieses Kapitel Heimatgeschichte reichhaltige Forschungsansätze liefert, belegen nach Legatis auch die Zahlen. 18 jüdische Gemeinden gab es bis in das 20. Jahrhundert im Hohen Vogelsberg. In manchen Orten stellten die Juden zeitweise bis zu 15 Prozent der Bevölkerung. Im Vogelsberg hatten zehn der einstmals zwölf ehemaligen Synagogen noch bis 1987 Bestand, die meisten als Wohnhaus oder Stall zweckentfremdet. Nur wenig erinnert noch an ihre einstige Nutzung.

In einigen Gebäuden wie etwa in Romrod oder in Kestrich kann man deren einstige Nutzung noch erkennen: die traditionelle Trennung zwischen Männerplätzen, Almenor (Tisch, auf den die Thora-Rolle bei der Lesung gelegt wird) und Thoraschrein im Erdgeschoß und die Frauenplätze auf der Empore. Augenfälliger sind die jüdischen Friedhöfe. Immer noch gibt es 16 Begräbnisstätten im größten Landkreis Hessens.

Für Legatis sind die verbliebenen Relikte ein Zeichen dafür, daß Juden und Christen im Vogelsberg über Jahrhunderte eng zusammengelebt haben. So schwierig die Überzeugungsarbeit vor Ort, so groß ist das internationale Echo auf die Bemühungen des Vereins. Heinrich Dittmar, Lokalhistoriker und treibende Kraft bei Gründung des Fördervereins, wurde 2003 für seine Forschungen mit dem „Obermayer German Jewish History Award“ ausgezeichnet.

In Kestrich gibt es trotz intensiver Verhandlungen immer noch keine Erinnerung an die Bacharachs, Kapenbergs und Goldenbergs. Insgesamt sollen nach Recherchen des Vereins mindestens zehn Kestricher Juden in den Vernichtungslagern umgekommen sein. Die letzten in Kestrich verbliebenen, das betagte Ehepaar Kapenberg und Sally Bacharach, wurden im September 1942 nach Theresienstadt deportiert und dort ermordet.

Internet: www judaica-vogelsberg.de

 

 

Crainfeld (Gemeinde Grebenhain)

Allgemeines:

Crainfeld liegt am südöstlichen Rand des hohen Vogelsberges in einer Höhe von 442 Metern. Die Gemarkung von Crainfeld hat eine Größe von 1005 Hektar und erstreckt sich über eine Höhe von 435 bis 510 Meter. Von ihr sind 708 Hektar landwirtschaftlich genutzte Fläche, 196 Hektar Waldfläche sowie 101 Hektar Siedlungs- und Verkehrsfläche. Das Dorf Crainfeld befindet sich auf einer leichten Anhöhe oberhalb der Lüder, die östlich des Ortes vorbei fließt und nach 40 Kilometern bei Lüdermünd im benachbarten Landkreis Fulda in die Fulda mündet.

 

Crainfeld dürfte bereits um 800 im Zusammenhang mit dem beginnenden Rodungen und dem Landesausbau im Vogelsberggebiet während des hohen Mittelalters entstanden sein. Es gehörte als Gerichtsort zum Besitz des Klosters Fulda in der Wetterau, der von den Grafen von Nidda als seinen Vögten verwaltet wurde. Nach dem Erlöschen des Niddaer Grafenhauses 1206 kam es an die Grafen von Ziegenhain und noch vor deren Aussterben 1434 an die Landgrafen von Hessen.

In althessischer Zeit war Crainfeld Sitz des gleichnamigen Gerichts, das aus den Gemeinden Crainfeld, Grebenhain, Bermuthshain und Ilbeshausen bestand und zum Oberamt Nidda gehörte. Das Gericht Crainfeld wird erstmals 1311 in einem Ehevertrag des Grafen Johann von Ziegenhain genannt. Nach den verschiedenen hessischen Landesteilungen im 16. Jahrhundert kam es 1604 zur Landgrafschaft Hessen-Darmstadt.

Eine im Codex Eberhardi überlieferte Notiz, die im Original auf die Zeit um 800 bis 900 datiert wird, nennt einen Cancher de Creienvelt, der seine Güter in der Mark des Ortes Rodheim an der Horloff in der Wetterau der Abtei Fulda schenkte. Im Jahr 900 überließ Graf Stephan den Ort Soden mit beschriebenem Bezirk gegen den Ort Crichesfeld.

 

Ersterwähnungsurkunde vom 29. Dezember 1012

1011 (im Codex Eberhardi auf 1020 datiert) wurde die Pfarrei Crainfeld eingerichtet und die erste dem heiligen Ulrich geweihte Kirche erbaut.

Das älteste im Original erhaltene Schriftstück, in dem Crainfeld erwähnt wird, ist eine Urkunde vom 29. Dezember 1012, in der König Heinrich II. der Abtei Fulda den Forst Zundernhart schenkt. Neben „ufe Creginfelt“ (Crainfeld) werden in dieser Schenkungsurkunde unter anderem Iliuuineshusun (Ilbeshausen), Warmuntessneida (Bermuthshain), Widenaho (Weidenau) und Calbaho (Kalbach) als Grenzpunkte des geschenkten Gebietes genannt.

Im Spätmittelalter wurde das Gericht Crainfeld wiederholt von den Äbten von Fulda verpfändet, so 1332 an die Ritter von Fischborn, 1399 an die Riedesel zu Eisenbach, 1407 an die Herren von Merlau und von 1441 bis 1451 erneut an die Riedesel. Gemäß einem zwischen Landgraf Wilhelm II. von Hessen und dem Gericht Crainfeld 1493 geschlossenen Abkommen hatten die Männer der Dörfer Kreyenfelt und Bernhartsheim jährlich 100 Viertel Hafer aus dem Amt Nidda auf das Marburger Schloß zu führen.

Im Jahre 1542 wurde zwischen der Landgrafschaft Hessen und den Herren Riedesel zu Eisenbach ein Vertrag über die Festlegung der Grenzen zwischen dem hessischen Gericht Crainfeld und dem riedeselischen Gericht Moos geschlossen, um die ständigen gegenseitigen Grenzstreitigkeiten zu beenden (Crainfeld lag an den Grenzen zu riedeselschem, fuldischem und hanauischem Gebiet).

In zwei Verzeichnissen von Personen, die ein Furstgelt (Abgabe für Bau- und Brennholz) entrichtet haben, werden 1549 alle insgesamt 25 zahlungspflichtigen Personen aus Crainfeld genannt, das damals 51 Hausvorstände zählt. Dies ist die erste Nennung einer größeren Zahl von Familiennamen in Crainfeld. Das 1556 folgende Salbuch des Amtes Nidda nennt dann alle Hausvorstände und beinhaltet außerdem die älteste erhaltene Grenzbeschreibung des Gerichts Crainfeld.

Um 1580 bis 1590 wurde erstmals eine Schule in Crainfeld eingerichtet, die zunächst auch die Kinder aus den benachbarten Gerichtsdörfern besuchten, bevor dort eigene Schulen entstanden.

Während des Dreißigjährigen Krieges zogen die Truppen des Herzogs Christian von Braunschweig auf ihrem Weg zur Pfalz am 1. Juni 1622 durch das Gericht Crainfeld und plünderten es vollständig aus. Ein von dem Grafen Wolfgang Ernst von Isenburg-Büdingen kommandiertes Reiterregiment brannte Crainfeld fast vollständig nieder. 25 Einwohner des Ortes wurden ermordet und 114 Häuser, Scheunen und Ställe ein Raub der Flammen. Zu den zerstörten Gebäuden gehörten auch die Kirche, das Pfarrhaus mit allen Kirchendokumenten, das Amtshaus des Schultheißen (Edelhof), das Forsthaus sowie das Schulhaus. Nur acht Gebäude blieben erhalten.

Der Gesamtschaden in Crainfeld, wie er im 1625 entstandenen Kriegsschadensverzeichnis des Oberfürstentums Hessen festgestellt wurde, betrug 20.532 Reichstaler. In diesem Kriegsschadensverzeichnis werden erstmals auch drei jüdische Einwohner erwähnt. Der Wiederaufbau von Crainfeld und der Kirche begann bald nach 1622 und war bis etwa 1630 abgeschlossen. Im weiteren Verlauf des Dreißigjährigen Krieges wurde das Gericht wiederholt von Durchzügen, Einquartierungen und Plünderungen verschiedener Armeen und Truppen stark heimgesucht und verarmte völlig. Auf Veranlassung des Landgrafen erfolgte die Aufstellung von Schutzwachen (Salvaguardien) gegen die wiederholten Plünderungen. Dorf und Gericht waren nach Kriegsende vollständig verarmt, die wirtschaftliche Erholung dauerte mehrere Jahrzehnte.

Am 9. Juli 1652 erteilte Georg II. von Hessen-Darmstadt auf Gesuch sämtlicher Orte des Gerichts Crainfeld dem Gerichtsort Crainfeld das Recht zur Abhaltung eines freien Marktes an Johannis Enthauptung (29. August) als Krämer- und Viehmarkt. Der Crainfelder Herbstmarkt wurde noch bis zum Jahr 1973 abgehalten.

Im Jahre 1685 wurde der Edelhof als Wohn- und Amtshaus der landgräflichen Oberschultheißenfamilie Ellenberger anstelle eines älteren Vorgängergebäudes neu erbaut. Das prächtige Fachwerkhaus ist bis heute erhalten und das Wahrzeichen von Crainfeld.

Während des Siebenjährigen Krieges (1756 bis1763) lagerten abwechselnd französische und alliierte Truppen im Gericht Crainfeld und erzwingen umfangreiche „Fouragierungen“ (Verpfle­gungen). Im Jahre 1759 vertrieben braunschweigische Truppen die Franzosen gewaltsam aus Crainfeld, wobei ein französischer Soldat getötet wurde. Im Sommer 1762 fand bei Crain­feld und Gre­benhain ein größeres Gefecht statt, bei dem die Franzosen vernichtend geschlagen werden.

Nach dem Inkrafttreten der neuen hessischen Gemeindeordnung 1821 wurde die aus dem Mittelalter überkommene Gerichtsorganisation abgeschafft und das Gericht Crainfeld aufgelöst. An die Stelle des bisherigen Schultheißen trat ein gewählter Bürgermeister. Aus dem Gerichtsort wurde eine gewöhnliche Landgemeinde. 1832 wurde Crainfeld in den Kreis Nidda eingegliedert, 1848 in den Regierungsbezirk Nidda. Seit 1852 gehörte es zum Landkreis Lauterbach.

Nach dem Neubau der hessischen Staatsstraße zwischen Lauterbach und Gedern in den Jahren 1831 bis 1857 büßte Crainfeld seine Rolle als Verkehrsmittelpunkt der Region ein und verlor allmählich an Bedeutung zugunsten des benachbarten Grebenhain, von dem es dann im Verlauf des 20. Jahrhunderts sowohl in Bezug auf die Einwohnerzahlen als auch die gewerblichen Betriebe überflügelt wurde. Dieser Prozeß beschleunigte sich nach dem Bau der Vo­gels­bergbahn zwischen Stockheim und Lauterbach (Hessen), die 1906 vollendet wurde, und dem Bau der Luftmunitionsanstalt Hartmannshain im Oberwald bei Grebenhain 1936, deren Gelände nach 1945 für Industrieansiedlungen genutzt wurde. An der Vogelsbergbahn erhielt Crainfeld 1901 einen gemeinsamen Bahnhof mit Grebenhain und 1906 eine Haltestelle in unmittelbarer Ortsnähe. Die Nebenbahnstrecke blieb bis 1975 für den Personenverkehr in Betrieb. Der Abbau der Gleisanlagen erfolgte 1997.

Durch den Zusammenbruch der bäuerlichen Hausweberei und die überwiegend kleinbäuerliche Landwirtschaft war Crainfeld im 19. Jahrhundert teilweise von großer Armut geprägt. Bis in die 1890er Jahre wanderten mindestens 32 Crainfelder, zum Teil mit ihren Familien, in die USA und nach Brasilien aus.

Von 1859 bis 1861 erfolgten der Neubau des neuen 42 Meter hohen Kirchturms, der bis heute das Orts- und Landschaftsbild prägt, und eine Renovierung der Kirche. Unter Bürgermeister Heinrich Schmalbach, von 1884-1886 und 1896-1909 Abgeordneter im hessischen Landtag, wurde 1895 die Crainfelder Wasserleitung als erste ihrer Art im hohen Vogelsberg angelegt. In seiner Amtszeit erfolgte auch im Jahr 1907 der Neubau des Schulhauses und 1909 die Anlage einer Straßenbeleuchtung. Im Jahre 1922 wurde Crainfeld an das Stromnetz des oberhessischen Überlandwerks angeschlossen. Im Jahre 1925 begann die erste Flurbereinigung. Zwischen 1919 und 1928 bestand in Crainfeld zeitweise auch eine private Realschule. Im Ersten Weltkrieg hatte Crainfeld 16 Gefallene zu beklagen.

Nach dem Ersten Weltkrieg dominierte bei den Wahlen zunächst der Hessische Bauernbund, bevor sich auch hier die NSDAP durchsetzte. Im Jahre 1932 wurde eine NSDAP-Ortsgruppe Crain­feld gegründet. Nach 1933 verschlech­terten sich zunehmend die Lebensbedingungen für die ortsansässigen jüdischen Familien, die dann bis Ende 1938 alle ihren Heimatort verließen.

Insgesamt 25 in Crainfeld geborene Juden wurden im Holocaust ermordet. Im Zweiten Weltkrieg fielen 23 gebürtige Crainfelder als Soldaten. Die während oder nach dem Krieg nach Bermuthshain gekommenen Evakuierten und Heimatvertriebenen verloren 9 Angehörige als Gefallene.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde 1948 ein neuer Hochbehälter für das inzwischen überlastete Wasserleitungsnetz errichtet. Im Jahre 1950 erfolgte die Errichtung einer Leichenhalle auf dem evangelischen Friedhof, 1952 die des Feuerwehrhauses der Freiwilligen Feuerwehr (1967 erweitert). Im Jahre 1954 wurden die Ortsstraßen geteert und mit einer Kanalisation versehen, 1959 die Wasserleitung komplett erneuert. Im Jahre 1964 wurde am ehemaligen Standort des alten Crainfelder Brauhauses das Kassengebäude der heutigen Volksbank Grebenhain erbaut. Noch vor dem Verlust der kommunalen Selbständigkeit begann 1971 der Umbau des bisherigen Schulhauses zum Dorfgemeinschaftshaus.

Aufgrund der Gebietsreform in Hessen mußte sich die Crainfeld zum 1. Januar 1972 der neugebildeten Großgemeinde Grebenhain anschließen und gehört seitdem zum Vogelsbergkreis. Die zweiklassige Volksschule im Ort mußte 1969 zugunsten der Mittelpunktschule in Gre­benhain geschlossen werden.

Als erster Ortsteil der Großgemeinde Grebenhain wurde Crainfeld in das Dorferneuerungsprogramm des Landes Hessen aufgenommen. Die Fördermaßnahmen erstreckten sich auf den Zeitraum 1983 bis 1991. Seit Anfang der 1990er Jahre entstand östlich des historischen Ortskerns ein Neubaugebiet. Ein weiteres Neubaugebiet auf der Westseite wird gegenwärtig erschlossen. Anstelle der traditionellen Pfingstkirmes findet seit 1985 am letzten Wochenende im April die Lüderkirmes statt (aus: Wikipedia).

 

Jüdische Gemeinde:

Erstmals werden 1625 drei jüdische Einwohner von Crainfeld erwähnt, die offenbar damals bereits in eigenen Häusern in Crainfeld lebten. In einem Kriegsschadensverzeichnis von 1626 werden die Juden Abraham, Koppel und Wolph erwähnt, jeweils mit einem Schaden in Höhe von 300 bis 400 Reichstalern (Der Name Koppel blieb dort bis zur Zerstörung der Gemeinde im Nationalsozialismus erhalten). Durch die Höhe der Schadensbeträge wird deutlich, daß die betroffenen Familien nicht arm waren, sie lebten vom Handel und hatten, da es in der Umgebung wenig jüdische Konkurrenz und auch keine Zünfte gab, ein gutes Auskommen.

Im Jahre 1666 wird Jud Nathan zu Crainfeld genannt. 1701 lebten zwei jüdische Familien am Ort Die Entstehung der jüdischen Gemeinde ist u. a. darauf zurückzuführen, daß im benachbarten Gebiet der Riedesel Juden die Ansiedlung bis 1806 nicht gestattet war. In Crainfeld lebten seit dem 17. Jahrhundert kontinuierlich Juden.

Im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts kam es zum Zuzug einiger Familien aus Nieder-Wöllstadt (nach Arnsberg: aus Nieder-Mockstadt) und aus der Grafschaft Hanau, da ihnen dort die Existenz erschwert wurde (unter anderem mußten sie dort seit spätestens 1725 wieder diskriminierende Kennzeichen tragen).

. Die jüdischen Familien lebten bereits im 17./18. Jahrhundert im ganzen Ort verstreut und nicht in einer besonderen Gasse. Im Jahre 1886 hatte Crainfeld schließlich 118 Bürger jüdischen Glaubens bei einer Einwohnerzahl von 518. 1933 waren es noch 60 Juden bzw. 15 jüdische Familien Sie lebten vom Viehhandel oder Ladengeschäften

Die Lebensumstände in Crainfeld waren günstig. Die Konkurrenz war gering, es gab keine

Zünfte, und die bäuerliche Bevölkerung waren auf die Geschäfte der Juden angewiesen. Sie lebten überwiegend vom Viehhandel oder von Ladengeschäften und trugen nicht unwesentlich zur wirtschaftlichen Bedeutung von Crainfeld für die nähere Umgebung bei. Hier konnte sich im 19. Jahrhundert eine große Gemeinde mit einer eigenen Synagoge, einem Friedhof und einer Schule etablieren. Die ansässigen Familien wurden im Ort weitgehend respektiert und waren somit ein Teil der Dorfgemeinschaft.

Im Jahre 1886 hatte Crainfeld schließlich 118 Bürger jüdischen Glaubens bei einer Einwohnerzahl von 518. In den folgenden Jahren nahm ihre Zahl aber wieder ab. Am Vorabend der nationalsozialistischen Machtübernahme hatten noch 60 Juden bzw. 15 jüdische Familien in dem damals 462 Einwohner großen Dorf ihre Heimat. Aber 1939 waren es nur noch 449 Einwohner.

Die Zahl der jüdischen Einwohner entwickelte sich im 19. Jahrhundert wie folgt: 1804 36 jüdische Einwohner (von insgesamt 446), 1828 36, 1861 83 (16,0 % von insgesamt 520), 1871 112 (von 519), 1880 102 (20,1 % von 508), 1886 118, 1895 77 (15,4 % von 499), 1900 81 (von 512), 1910 68 (14,1 % von 482). Zur jüdischen Gemeinde in Crainfeld gehörten auch die in den umliegenden Orten Grebenhain (1924: 20; 1932: 14), Bermuthshain (1924: 6; 1932: 6) und Niedermoos (1924 3; 1932: 6) lebenden jüdischen Personen.

Die jüdischen Haushaltsvorstände waren überwiegend Vieh- (etwa die Hälfte) und Warenhändler sowie Kaufleute. In der Mitte des 19. Jahrhunderts eröffneten mehrere von ihnen für das wirtschaftliche Leben am Ort wichtige Läden und Handlungen; zwei waren als Metzger, einer als Gastwirt tätig. Die meisten hatten auch im Nebenerwerb eine kleine Landwirtschaft.

 

Nachdem 1842 ein bestehendes Privathaus zu einer Synagoge umgebaut worden war, wurde im Jahr 1885 an gleicher Stelle unweit des Edelhofes eine eigene Synagoge mit einem Raum für die Religionsschule neu erbaut. Im Jahre 1870 entstanden ein Badehaus (1910 renoviert) und ein vermutlich am Anfang des 19. Jahrhunderts stammender Friedhof. Die jüdische Gemeinde war - selbst streng orthodox geprägt - dem orthodoxen Provinzialrabbinat in Gießen zugeteilt. Zur Besorgung religiöser Aufgaben war ein Lehrer angestellt, der zugleich als Vorbeter und Schächter tätig war.

 

Jüdischer Friedhof:

Inmitten von landwirtschaftlich genutztem Gelände liegt auf einer Anhöhe nördlich der Straße von Crainfeld nach Bannerod, etwas versteckt hinter Hecken, der jüdische Friedhof von Crain­feld. Er ist heute die letzte sichtbare Erinnerung an die einstige jüdische Gemeinde. Das Alter des Friedhofs ist unbekannt, er soll etwa 200 Jahre alt sein. Möglicherweise wurden die ersten jüdischen Einwohner von Crainfeld noch auf den Friedhöfen auswärtiger jüdischer Gemeinden bestattet. Die jüdische Gemeinde im benachbarten Lichenroth etwa begrub ihre Toten auf einem Sammelfriedhof bei Birstein, der auch von den dortigen Gläubigen genutzt wurde. Wahrscheinlich entstand der Crainfelder Friedhof zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als der Anteil der Juden an der Crainfelder Dorfbevölkerung enorm angestiegen und auch bereits eine jüdische Gemeinde gegründet worden war. Die erste lesbare Grabinschrift ist von 1820. Im Jahre 1858 wurde er erweitert. Er hat 75 erkennbare Gräber. Die letzte Bestattung fand im Jahr 1937 statt.

Die erste Erwähnung des jüdischen Friedhofs und zugleich auch die erste bildliche Darstellung findet sich in dem 1832 angefertigten Parzellhandriß der Gemarkung Crainfeld. Bereits hier ist eine rechteckige Form des Friedhofsgeländes zu erkennen.

Für das Jahr 1858 ist eine Erweiterung des Friedhofes belegt, wodurch dieser seine jetzige Größe erhielt. Am 3. Februar 1858 verkauften der christliche Ortsbürger Konrad Strauch II. und seine Ehefrau Margaretha geborene Laufer (Hausname „Kannsmusjes“) der Israelitischen Gemeinde zwei Grundstücke, nämlich einen Acker am „Haselacker“ neben Sebastian Schäfer von 13 Quadratklafter (ein Quadratklafter hatte 6,2 Quadratmeter) und einen Acker neben dem „Judenacker“ (Jüdischer Friedhof) von 7 Quadratklafter zum Preis von 30 Gulden. Die Übergabe der Grundstücke geschah unter der Bedingung, daß die jüdische Gemeinde nach der Aberntung Fuhren von Denkmälern oder anderen Materialien auf den Totenhof neben seinem Grundstück außer dem Pfad zu fahren.

Aufgrund von Geldmangel verzichtete die Jüdische Gemeinde auf eine Umzäunung des Friedhofs. Zu einem in der Literatur leider nicht angegebenen Zeitpunkt (wohl um 1900) entschloß sie sich aber doch zur Anlage eines Zauns und bat den Crainfelder Gemeinderat, einen Teil der Kosten zu übernehmen, da die jüdische Gemeinde auch Gemeindeumlagen bezahlen müsse und der christliche Friedhof ebenfalls aus der Gemeindekasse in Ordnung gehalten werden. Die politische Gemeinde lehnte einen solchen Zuschuß jedoch ab und verwies darauf, daß der jüdische Friedhof nicht nur den Crainfelder Juden gehöre, sondern auch denjenigen in Grebenhain, Bermuthshain und Nieder-Moos. Zudem hätten die Crainfelder Juden das gleiche Recht am christlichen Friedhof und könnten auf ihm beerdigt werden (was freilich aus Sicht der strenggläubigen jüdischen Bürger Crainfelds nicht akzeptabel war). Ob die Umzäunung entstand, ist nicht überliefert. Heute sorgen Hecken und Lesesteine von den umgebenden Äckern für eine zusätzliche Begrenzung des durch einen Maschendrahtzaun umgebenen Friedhofes.

 

Wenn ein jüdischer Bürger Crainfelds verstarb, wurde der Sarg durch Verwandte und Freunde selbst zusammengenagelt. Es war eine einfache rechteckige und hölzerne Kiste. Der Verstorbene wurde gewaschen und anschließend in den Sarg gelegt. Für den weiteren Weg wurde ein kleiner Beutel mit Geld zugegeben, daß als „Zehrgeld“ dienen sollte. Zur Beerdigung wurde der Sarg mit dem Verstorbenen mit Hilfe von sechs jüdischen Gemeindemitgliedern zum Friedhof getragen. Die Särge von Juden, die Untaten begangen hatten, durften übrigens nicht durch die Friedhofspforte getragen, sondern mußten über die Mauer gehoben werden. Ein Christ durfte den Friedhof selbst während einer Beerdigung nicht betreten, aber außerhalb davor stehen.

Im Trauerzug gingen der jüdische Lehrer sowie Verwandte und Freunde mit. Wie bei den Christen wurde schwarze Trauerbekleidung getragen. Der jüdischen Tradition entsprechend markierte nur ein Grabstein die Begräbnisstätte, eine besondere Grabpflege oder Grabschmuck wie bei christlichen Friedhöfen waren nicht üblich. Als Zeichen der Anteilnahme mit den Verstorbenen wurden Steine auf den Grabstein gelegt.

Im Jahr 1937 erfolgte die letzte Beerdigung auf dem jüdischen Friedhof, die des Götz Zimmermann (Hausname „Götzjes“) aus Grebenhain. Während der NS-Zeit ist es wiederholt zu Schändungen auch der Grabstätten der jüdischen Crainfelder gekommen. So haben 1937/38 Angehörige der Hitlerjugend aus Crainfeld mehrere Grabsteine umgestürzt. Tatsächlich weisen einige Grabsteine noch heute Beschädigungen aus dieser Zeit wie gestohlene Grabplatten auf. Besonders viele der jüngeren Grabsteine wurden umgeworfen und erst im Jahr 2005 wieder aufgerichtet. In einem Protokoll über das Vermögen der jüdischen Gemeinde vom 11.Oktober 1937 wurde der jüdische Friedhof als „wertlos“ bezeichnet, weil die Fläche in den nächsten 20 Jahren nicht als Wirtschaftsgelände genutzt werden könne. Es ist ohne weiteres vorstellbar, daß der jüdische Friedhof nach einem „Endsieg“ und im Rahmen der 1935 begonnenen Flurbereinigung vollständig beseitigt worden wäre, wie dies anderenorts geschah. Heute obliegt die Verantwortung für die Instandhaltung des Friedhofes der Großgemeinde Grebenhain. In den Jahren 1992/93 erfolgte eine Dokumentation des Friedhofes und der Inschriften der Grabsteine durch eine Schulklasse der Oberwaldschule Grebenhain.

 

Die Grabsteine:

Der jüdische Friedhof von Crainfeld hat die Form eines unregelmäßigen Rechtecks mit einem Flächeninhalt von 1100 Quadratmeter. Wie bei jüdischen Begräbnisstätten üblich, sind die dicht aneinander stehenden Grabsteine mit der Vorderseite nach Osten (in Richtung Jerusalem) ausgerichtet. Insgesamt befinden sich heute auf dem jüdischen Friedhof 75 Grabsteine, welche in 10 Reihen angeordnet sind. Die meisten von ihnen sind der Tradition jüdischer Grabsteine seit dem Mittelalter entsprechend in Stelenform gehalten mit einem oben abschließenden Halbbogen oder Giebel.

Die ältesten Grabsteine (in den ersten beiden Reihen) verfügen nur über eine hebräische Inschrift. Erst ab etwa 1870 wurde, zunächst nur auf der Rückseite, eine deutsche Inschrift hinzugefügt. Die jüngeren Steine sind auf der Vorderseite hebräisch und darunter deutsch beschriftet. Lediglich der zuletzt gesetzte Stein des Götz Zimmermann von 1937 verfügt über keine hebräischen Schriftzeichen.

Die hebräischen Inschriften gleichen sich im Schema und nennen außer dem Namen des Toten und dem Todesdatum (nach jüdischer Zeitrechnung) sowie einem Lobvers auf den Verstorbenen keine genauen Lebensdaten. Auf einigen Grabsteinen sind Symbole zu sehen, wie Sonnen, sechs- und achteckige Sterne, segnende Hände und das Schofarhorn. Die segnenden Hände stehen für die Zugehörigkeit des Verstorbenen zu den Kohanim, die ihre mythische Abstammung auf die ersten jüdischen Priester zurückführen. Das Schofarhorn soll anzeigen, daß der Verstorbene in der Gemeinde das Ehrenamt des Schofarbläsers in der Gemeinde innehatte. Dieses Instrument wird im Judentum zur Ankündigung hoher religiöser Festlichkeiten verwendet.

 

Auf dieser und der folgenden Seite findet man auf der Basis der 1992/93 erstellten Dokumentation, Informationen zu den einzelnen Grabsteinen und den dort Bestatteten. Aufgelistet sind alle Grabmale stets von Süden nach Norden in West-Ost-Richtung, nach dem Zustand zur Zeit ihrer Dokumentation 1992/93. Die Maße (Zentimeter) beziehen sich auf Breite, Höhe und Tiefe im Boden.

 

Die Grabsteine in Reihe 1 und 2 tragen nur hebräische Inschriften (nicht entziffert).

 

Ab Reihe 4, Grabstein 10, auf der Rückseite deutscher Text. Vermutlich ältester Grabstein mit deutscher Inschrift.

 

 Reihe 5

Grabstein 21. Material: grauer Sandstein. Maße: 55 x 110 x 10. Zustand: gut erhalten. Gesetzt: 1878. Inschrift: hebräisch (Vorderseite), deutsch (Rückseite). Deutsche Inschrift: Hier liegt begraben die Sanftmütige Frau, des Verstorbenen Johann Rothschilt, Efrau des Jakob Bähr wonhaft zu Niedermoos. Sie ward gebohren den 15. Ocktober 1848. Gestorben den 25 Mai 1878. den Tausend Jahre sind vor dir einen Tag, der gestern verging, einer nachwache gleich, du strömest sie hin, in Schlumer enstehen sie, des Morgens wie wandeltes Grass, früh blüht es und wandelt, am abend abgehauen und verdort so vergehen wier in deinem zorn.

Grabstein 22. Material: roter Sandstein. Maße: 58,5 x 121,5 x 7,5. Zustand: steht schief, verwittert. Symbole: dreistrahlige Sonne. Inschrift hebräisch (Mitte), deutsch (Ober- und Unterseite). Deutsche Inschrift: Salomon Stern Crainfeld.

 

Reihe 6

 Kein Grabstein „Stern“. 

Reihe 7 bis 10 fehlen noch im Internet

 

Emanuel Stern, Sohn des Emanuel (?) Stern, betrieb zusätzlich das Gewerbe des Metzgers und war im Jahr 1877 einer von vier Crainfelder Metzgern

 

Grabstein: Löb Stern, geboren 09.04.1857, gestorben 19.10.1934.

Die Frau des Wachenbucher Löb Stern ist 1836 geboren, er müßte also auch zwischen 1830 und 1840 geboren sein. Seine Frau hieß Jette. Es könnte sein, daß die Heirat nur in Wachenbuchen registriert wurde, aber die Hochzeit in Crainfeld stattfand, so daß sie auch dort gewohnt hätten und dort vielleicht auch begraben wurden.

 

Abmeldeliste aus dem Jahr 1939

Quelle: Bundesarchiv Berlin (ergänzt und berichtigt durch Webmaster)

 

Namen der vertriebenen Juden:

Sommer, Wertheim, Stein, Lind, Zimmermann, Bär, Weinberg, Stern:

Stern, Meier, geboren 19.9.1875, abgemeldet 7.11.1933 Arnheim (Niederlande)

Stern, Rosa, geboren 3.2.1877, 7.11.1933 Arnheim (Niederlande)

Stern, Sally, geboren 23.1.1901, abgemeldet 21.12.1933 „auf Reisen“.

 

Das rituelle Tauchbad: (Mikwe)

Jede traditionsbewußte jüdische Gemeinde verfügt über ein rituelles Tauchbad, eine sogenannte Mikwe. Sie kann in einem Keller oder in einem eigens hierfür errichteten Badehaus untergebracht sein und ist für eine jüdische Gemeinde fast noch wichtiger als eine Synagoge, da ein Gottesdienst am Sabbat auch in einem Privathaus abgehalten werden kann. Zweck des Besuchs einer Mikwe ist nicht das Erlangen hygienischer, sondern allein ritueller Reinheit. Nach jüdischer Tradition müssen verheiratete Frauen monatlich einmal nach Menstruation oder Entbindung eine Mikwe aufsuchen. Das reinigende Wasser muß aus Quell-, Grund- oder Regenwasser bestehen und verliert seine Wirkung, wenn es in ein Gefäß geschöpft wird. Auch neu angeschaffte Kultgegenstände müssen vor ihrer Benutzung in einem Kultbad gereinigt werden. In orthodoxen Gemeinden, wie es die Crainfelder war, wird die Mikwe auch von Männern vor Beginn des Sabbats oder von Feiertagen zum Untertauchen benutzt. Eine der ältesten und am besten erhaltenen Mikwaot ist das im Jahr 1260 in Friedberg gebaute romanische "Judenbad".

Im Jahr 1879 errichtete die jüdische Gemeinde Crainfeld aus Mitteln der Stiftung des bereits erwähnten Kommerzialrats Heinemann eine Mikwe, nachdem sie bereits am 19.6.1869 ein Grundstück in der Märzwiese zum Preis von 120 Gulden. erworben hatte. Zuvor hatte sich das rituelle Tauchbad in einem Keller befunden, möglicherweise dem eines Privathauses. Die Crainfelder Mikwe wurde im Volksmund und auch amtlich im Brandkataster "Badehaus" genannt. Dieses Badehaus war ein sehr kleiner Fachwerkbau mit nur 1 x 2 Metern Grundfläche und steinernem Fundament. Es enthielt das eigentliche Tauchbecken, einen Ofen zur Heizung und einen Wasserabfluß zum Mühlgraben. Das Wasser zum Gebrauch im Bad wurde ebenfalls dem Mühlgraben entnommen, was bei den zuständigen Behörden auf nicht geringe hygienische Bedenken stieß.

Der Standort der Mikwe befand sich am Ende der kleinen Seitengasse zwischen den Hofreiten „Brandeweis“ und „Jeckels“, etwa 100 m von der Synagoge entfernt. Im Jahr 1910 wurde das Badehaus auf Anordnung des orthodoxen Provinzialrabbiners Dr. Hirschfeld in Gießen neu wiederhergestellt, wobei sich die Kosten auf 745 RM beliefen. 1935 erfolgte im Rahmen der Flurbereinigung die Neuanlage des heutigen Märzwiesenweges. Das "im Weg stehende" Badehaus wurde abgebrochen. Da der Abbruch bereits in die NS-Zeit fiel, ist jedoch auch eine politische Motivation nicht auszuschließen. Heute ist der Standort der ehemaligen Mikwe vom Straßenasphalt bedeckt und von dem kleinen Badehäuschen nichts mehr zu erkennen.

Über den jüdischen Friedhof, der mindestens schon seit 1820 bestand, wird auf einer gesonderten Seite berichtet.

 

Das Ende der jüdischen Gemeinde Crainfeld

Ende des 19. Jahrhunderts gewann auch in Crainfeld die antisemitische Bewegung an Einfluß. Gelegentlich kam es zu Konflikten zwischen der nicht-jüdischen Bevölkerungsmehrheit und der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark angewachsenen jüdischen Gemeinde, die damals ein Fünftel der Ortsbevölkerung umfaßte. Aber trotz der mannigfaltigen Unterschiede der Religion und gesellschaftlichen Weltbilder lebten jüdische und christliche Crainfelder über Jahrhunderte im Allgemeinen friedlich zusammen.

Dieses Zusammenleben und die Existenz der jüdischen Gemeinde als solche endeten innerhalb nur weniger Jahre nach dem Beginn des so genannten „Dritten Reiches“ am 30. Januar1933.

Nach dem Ersten Weltkrieg dominierte bei den Wahlen zunächst der Hessische Bauernbund, bevor sich auch hier die NSDAP durchsetzte. Als Folge der „ideologischen Erblast“ der Antisemitenbewegung und der schlechten wirtschaftlichen Lage in der Landwirtschaft in den 1920er Jahren gehörte die Vogelsbergregion zu den Gebieten Deutschlands, in denen der Aufstieg der Nationalsozialisten bereits sehr früh begann. Der Raum Grebenhain war sogar der Ursprung der nationalsozialistischen Bewegung im Kreis Lauterbach, denn hier wurde bereits am 1. März 1929 die erste NSDAP-Ortsgruppe des Kreises gegründet. Initiator war ein Tierarzt aus Angersbach (heute Ortsteil von Wartenberg), der seit 1927 in Grebenhain ansässig und bereits seit 1926 NSDAP-Mitglied war.

Am 1. April 1930 wurde dann eine weitere NSDAP-Ortsgruppe im benachbarten Bermuths­hain gegründet, wo ihr auch der örtliche Bürgermeister angehörte, der mit einigen anderen schon vorher zur Ortsgruppe in Grebenhain zählte. Zu einer weiteren NSDAP-Hochburg entwickelte sich das Dorf Salz (heute Ortsteil von Freiensteinau) im südlichen Zipfel des Kreises, wo eine NSDAP-Ortsgruppe am 1. Juni 1930 gegründet wurde.

In Crainfeld gab es vor dem 1. März 1932 keine NSDAP-Ortsgruppe und auch keine NSDAP-Mitglieder. Durch einen NS-Aktivisten aus Schlitz wurde schließlich im Sommer 1930 der SA-Sturm 25/254 gegründet, der seinen Sitz in Bermuthshain hatte, dem aber auch Mitglieder aus Grebenhain, Crainfeld und Ilbeshausen angehörten. Seither prägten die „Braunhemden“ insbesondere während der Wahlkämpfe und der zahlreichen Propagandaveranstaltungen das Bild der Vogelsbergdörfer. Schon im Juni 1932 ernannten die Gemeinden Crainfeld, Grebenhain und Bermuthshain Adolf Hitler zu ihrem Ehrenbürger. Auch im Norden des Kreises Lauterbach wurde die Organisation der NSDAP ab 1929/30 zügig ausgebaut.

Bei der Reichstagswahl vom 14. September 1930 errang die NSDAP die Stimmenmehrheit im Kreis mit 39,4 Prozent der Wähler. Die NSDAP-Wähler waren fast ausschließlich Bauern und Mittelständler (Handwerker, kleine Gewerbetreibende) in den Dörfern des Kreises, wo die Partei bald Wahlergebnisse von durchweg über 90 Prozent erreichen konnte. Nur in Lauterbach mit einem größeren Anteil an Industriearbeitern und im katholischen Herbstein gab es bis zuletzt noch nicht von der NSDAP beeinflußte Wählerschichten. Auch in Crainfeld hatte die NSDAP bei den Wahlen ab 1930 eine Mehrheit. Bei den letzten freien Wahlen am 6. November 1932 holte sie hier 236 von 297 gültigen Stimmen.

 Inwieweit das Auftreten der Nationalsozialisten bereits vor 1933 das Verhältnis der christlichen Bevölkerungsmehrheit zur jüdischen Gemeinde in Crainfeld verschlechterte, ist noch ungeklärt. Möglicherweise ist aber die Tatsache, daß Ende der 1920er Jahre bereits zwei jüdische Familien aus Grebenhain nach Crainfeld übersiedelten, diesem Umstand zuzuschreiben. Am Abend des 30. Januar 1933 feierte schließlich die NSDAP-Ortsgruppe Crainfeld die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler:

Nach der Machtergreifung der NSDAP 1933 sahen sich die einheimischen jüdischen Familien immer stärker Repressalien durch lokale Nationalsozialisten sowie wirtschaftlichen Boykottmaßnahmen ausgesetzt, so daß sie nach und nach den Ort verließen und insbesondere nach Frankfurt am Main abwanderten oder emigrierten. Ende September 1934 berichtete der Lauterbacher Anzeiger aus Crainfeld, daß „in diesen Tagen bereits das dritte Anwesen jüdischer Einwohner käuflich an neue Besitzer übergegangen“ sei.

Es gibt keine Hinweise, inwieweit bereits kurz nach der Machtübernahme der NSDAP das Leben der jüdischen Familien in Crainfeld durch Ausschreitungen, wie sie etwa aus dem südlich gelegen Dorf Lichenroth (heute Ortsteil von Birstein) im preußischen Kreis Gelnhausen überliefert sind, beeinträchtigt war. Dort soll es im Jahr 1935 sogar einen regelrechten Pogrom gegen die jüdischen Familien und ihre Häuser sowie einen nichtjüdischen Gastwirt, der Gegner des Nationalsozialismus war, gegeben haben.

Dies änderte sich in Crainfeld spätestens mit dem von der NSDAP verkündeten reichsweiten Boykott aller jüdischen Geschäfte am 1. April 1933. An diesem Tag wurde auch in den Dörfern Crainfeld, Grebenhain und Bermuthshain der Zutritt zu den Geschäften jüdischer Einwohner von SA-Männern des Sturms 25/254 unterbunden bzw. diese Häuser regelrecht umstellt. In der Folgezeit wurden die jüdischen Familien aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen und von den meisten gemieden. Auch innerhalb der christlichen Dorfbevölkerung breitete sich ein immer stärkeres gegenseitiges Mißtrauen betreffend der Stellung des Anderen zur NSDAP aus.

Im Grunde genommen zerbrach die gesamte althergebrachte Dorfgemeinschaft in den zwölf Jahren des Nationalsozialismus allmählich in einem Klima von Mißtrauen und Denunziation. Selbst enge Freunde trauten sich bald nur noch heimlich, mit ihren jüdischen Nachbarn zu reden. In den jüdischen Läden wurde nur noch heimlich und durch die Hintertür eingekauft. Bereits 1933 wurde in zumindest einem Fall auch die Fensterscheibe eines Geschäfts eingeschlagen. Ortsansässige, die es dennoch wagten, die gewohnten Beziehungen zu jüdischen Familien aufrechtzuerhalten, wurden teilweise öffentlich angeprangert.

 

Im Jahr 1935 verboten nach und nach alle Gemeinden des Kreises Lauterbach auch offiziell ihren Ortsbürgern den Handel mit Juden und den Einkauf in jüdischen Geschäften. Bei Zu­widerhandlung drohte der Ausschluß von allen Arbeiten und Berechtigungen innerhalb der Gemeinde. In jedem Ort wurden so genannte „Stürmerkästen“, Schaukästen für den Aushang der antisemitischen Hetzzeitung „Der Stürmer“, angebracht. Im September 1935 wurde in Stockhausen (heute Stadtteil von Herbstein) am Ortseingang ein großes Schild mit der Aufschrift „Juden sind hier unerwünscht“ aufgestellt. Aus Bermuthshain ist überliefert, daß die SA im ganzen Dorf Schilder mit der Aufschrift „Die Juden sind unser Unglück“ verteilte, die in den Häusern aufgehängt wurden.

Bereits kurz nach dem Boykott vom 1. April 1933 entschlossen sich einige jüdische Familien, aus Crainfeld wegzuziehen, so die Familien Stein („Feistjes“, „Koppels“, „Mattese“), die nach Südafrika emigrierten. Wohl auch aus Verzweiflung über die politischen Verhältnisse beging der Händler Hermann Lind („Itzigs“) im Mai 1933 Selbstmord durch Erhängen. Der „Lauterbacher Anzeiger“ meldete am 30. September 1933: „Crainfeld. Dieser Tage ging bereits das dritte Anwesen jüdischer Einwohner käuflich an neue Besitzer über!“

 

Auch im Jahr 1934 verließen einige jüdische Familien Crainfeld, darunter die Metzgerfamilie Sommer („Girschels“). Einige emigrierten ins Ausland, andere suchten ihr Heil in der vermeintlich sicheren Anonymität der Großstadt Frankfurt. und anderen Orten. Den später, in den Jahren 1936-1938, Wegziehenden fiel es immer schwerer, ihr Eigentum vor ihrer Auswanderung bzw. der Übersiedlung in andere Teile Deutschlands zu einem dem Wert entsprechenden Preis verkaufen zu können.

Ob ihnen wirklich das erhaltene Geld, wie von Müller in seinem Buch behauptet, nach einem Versprechen des Bürgermeisters Johannes Meinhardt IV. nachgesandt wurde, ist angesichts der politischen Realität im „Dritten Reich“ eher als nachträgliche Legendenbildung bzw. „Rechtfertigung“ zu bezeichnen. Dagegen sprechen allein schon die zahlreichen Prozesse, die nach 1945 wegen des Eigentums der jüdischen Familien geführt werden mußten.

Schon aufgrund des massiven politischen und gesellschaftlichen Drucks kam der Verkauf der meisten Anwesen faktisch unter Zwang und vor allem oft weit unter dem tatsächlichen materiellen Wert zustande. Daher war aufgrund der Restitutionsgesetze nach 1945 in den meisten Fällen eine Nachzahlung erforderlich, die zusammengerechnet dem tatsächlichen Kaufpreis nahe kam, der unter normalen Umständen für die Häuser gezahlt worden wäre.

In einigen Fällen stammten die Käufer aus Crainfeld selbst (Nachbarn), oftmals waren es aber auch Auswärtige, welche die politischen Verhältnisse kaltblütig ausnutzten und auf diese Weise in Crainfeld Haus- und Grundbesitz zu regelrechten Schleuderpreisen erwarben. In den Jahren 1936 und 1937 hatten die letzten jüdischen Familien Bermuthshain und Grebenhain verlassen.

Aus Crainfeld und den beiden anderen Dörfern sind zahlreiche Repressalien überliefert, die gegen jüdische Einwohner und gegen Personen, die noch Kontakt mit jüdischen Familien pflegten, gerichtet waren. Es herrschte eine kaum vorstellbare haßerfüllte Atmosphäre gegen alles Jüdische. Häufig waren ortsansässige SA-Männer aus den Dörfern Crainfeld, Greben­hain und Bermuthshain in Uniform oder Zivil die Täter. So hatten einige SA-Männer Schulden bei einem Crainfelder Viehhändler. Einer der drei Männer hielt die Familie mit einer Pistole in Schach, während die anderen beiden das Haus durchsuchten und die ganzen Rechnungen verbrannten.

 Ein ganz ähnlicher Fall ist aus Bermuthshain überliefert. Hier wurde der jüdische Gastwirt Seligmann Lind von einem ortsansässigen SA-Mann mit vorgehaltener Waffe gezwungen, dessen Schulden bei ihm zu streichen. Einem nichtjüdischen Bermuthshainer Gastwirt und Metzger wurde die Gemeindestube (Tagungsort des Gemeinderats) gekündigt, weil er Juden in seiner Gastwirtschaft beherberge und sich gegen den Bürgermeister ungebührlich benommen habe. Nachdem 1935 das Betreten jüdischer Geschäfte verboten worden war, kontrollierten SA-Männer und der NSDAP-Orts­gruppenleiter, ob dort noch jemand einkaufte. In einigen Fällen wurden von diesen dann Güter aus den Läden, ohne zu bezahlen, „mitgenommen“.

Der Sturmführer des SA-Sturms Bermuthshain soll einmal bei der Familie Weinberg („Sallys“) in Crainfeld ein Radio gestohlen haben. In Crainfeld durften sich Bewohner des Dorfes nicht mehr mit jüdischen Nachbarn treffen, taten es aber dennoch, indem sie sich bei einer nichtjüdischen Familie versammelten. Als einmal eine Frau in Crainfeld von SA-Männern beobachtet wurde, wie sie mit Juden Kontakt aufgenommen hatte, wurde sie mit dem Tode bedroht und durch das Dorf gehetzt. Andere Dorfbewohner schlossen sie vor den SA-Leuten im Backhaus ein.

Sogar Kinder wurden von Nationalsozialisten dazu angestiftet, bei jüdischen Häusern die Fensterscheiben einzuwerfen. Kinder, die noch mit befreundeten jüdischen Nachbarskindern spielten, wurden teilweise von Gleichaltrigen beschimpft. In einem Fall halfen Nachbarn den Juden bei der Flucht und fuhren nachts ihre Habseligkeiten mit einem Schubkarren über das Feld aus dem Dorf, in einem anderen Fall versteckten sie sie vor der SA in ihrer Scheune.

 

Am 14. Februar 1936 erfolgte die letzte Neuwahl des Vorstands der jüdischen Gemeinde, der sich aus Moses Sommer („Affremjes“), Abraham Sommer („Abrahams“), Joseph Bär („Kadaljes“) und Seligmann Lind („Sandersch“) zusammensetzte. Im November 1936 war die jüdische Gemeinde so stark zusammengeschmolzen, daß sie nicht mehr die nötige Zahl von 10 erwachsenen Männern hatte. Lediglich sieben Familien in Crainfeld und eine in Greben­hain mit 20 Seelen (8 erwachsenen Männern) gehörten ihr noch an. Das Gemeindeeigentum bestand noch aus der Synagoge mit einem Brandkatasterwert von 3.500 RM, dem Friedhof und einem verpachteten landwirtschaftlichen Grundstück von 200 Quadratmetern. Am 11. Oktober 1937 hatte die Gemeinde noch ein Guthaben von 415,29 RM bei der Bezirkssparkasse Herbstein.

Die Auflösung der Gemeinde erfolgte durch Beschluß vom 11. Oktober 1937. Die Vermögensübergabe an den Landesverband israelitischer Gemeinden in Mainz wurde endgültig erst im Mai 1940 genehmigt, die Gemeindebücher mußten auch nach Beantragung der Auflösung bis November 1938 dem Kreisamt Lauterbach vorgelegt werden, doch kam seitens des Kreisamtes dann jegliche „Weiterbearbeitung nach der Judenaktion vom 9. bis 11. November 1938 nicht mehr in Frage“. Im Vor- und Umfeld der später so genannten „Reichskristallnacht“ bzw. Pogromnacht verstärkte sich noch einmal der Druck auf die noch verbliebenen jüdischen Familien und die antisemitische Hetzpropaganda in der Lokalpresse:

Der „Lauterbacher Anzeiger“ Anzeiger schreibt am 18. November 1938: „Crainfeld. Das letzte hier noch nicht verkaufte Judenhaus, in dem der Jude Sally Weinberg mit seiner nicht ganz normalen Familie seither wohnte, war über Nacht derart baufällig geworden, daß es auf behördliche Anordnung wegen Lebensgefahr der Vorübergehenden, besonders der Nachbarsleute, abgerissen werden mußte. Die hiesige Feuerwehr besorgte dies mustergültig. Es wird allgemein angenommen, daß auch die Tage der hiesigen Synagoge zur allgemeinen Genugtuung gezählt sind!“

Während der Reichspogromnacht am 9. November 1938 wurde die Synagoge von SA-Män­nern verwüstet und die beiden noch verbliebenen Wohnhäuser jüdischer Familien geplündert. Daraufhin verließen die letzten jüdischen Einwohner Crainfeld und Anfang 1939 wurde der Ort öffentlich für judenfrei erklärt. Am 13. Januar 1939 meldete der „Lauterbacher Anzeiger“ den „Erfolg“ von fast sechs Jahren sich immer weiter steigernder antijüdischer Hetze und Diskriminierung ganz im Stil der nationalsozialistischen Propaganda: „Crainfeld ist judenfrei!“

Die an einen Privatmann verkaufte Synagoge überstand den Krieg unbeschadet, wurde aber im Jahr 1951 abgerissen. Mindestens 25 Angehörige der jüdischen Gemeinde Crainfeld wurden während des Zweiten Weltkrieges in Konzentrationslager verschleppt und ermordet. Eine Gedenktafel soll angebracht werden durch den Verein „Landjuden im Vogelsberg“.

 

Während des Novemberpogroms kam es auch in Crainfeld am 9/10. November 1938 zu schweren Ausschreitungen. Überliefert ist, daß sich die SA-Männer in Bermuthshain am Abend des 9. November 1938 in einem dortigen Gasthaus trafen, um nach den Worten des Sturmführers „den Juden in Crainfeld die Fresse voll zu hauen“. Die Fensterscheiben der Crainfelder Synagoge wurden eingeworfen, die Tür eingebrochen und das Innere verwüstet. Ursprünglich hatte die SA vorgehabt, auch die Crainfelder Synagoge wie anderorts in Brand zu stecken. Nur die unmittelbare Nähe zum Nachbarhaus „Jeckels“ ließ sie von ihrem Vorhaben absehen.

Am 10. November 1938 überfielen in Crainfeld beim Dachdecken bei „Michelhennerjes“ tätige Zimmerleute aus Salz das Haus „Itzigs“, das zu dieser Zeit nur noch von Auguste Lind allein bewohnt wurde. Diese plünderten das Haus und schlugen in einer unglaublichen Orgie der Gewalt alles im Haus kurz und klein. Auguste Lind konnte noch zu Nachbarn fliehen und sich dort verstecken. Bereits vorher hatte die allein stehende Witwe in panischer Angst vor Überfällen fanatisierter Nationalsozialisten mehrere Male bei nichtjüdischen Nachbarn geschlafen. Da sie ihre Helfer nicht gefährden wollte, übernachtete sie im Stall. Nachbarn halfen ihr später auch, das Dorf heimlich zu verlassen.

Auch das Haus „Sallys“ wurde in der Pogromnacht von SA-Männern heimgesucht, welche die Fensterscheiben zertrümmerten. Zu diesem Zeitpunkt lebte dort noch die Familie Weinberg. Sally Weinberg, der im ersten Weltkrieg Soldat gewesen war, wurde gezwungen, vor dem Haus „anzutreten“. Am 17. November 1938 wurde das Haus durch die örtliche Feuerwehr zwangsweise abgerissen. Die letzten jüdischen Ortseinwohner verließen bis zum Jahresende das Dorf, so daß am 13. Januar 1939 der „Lauterbacher Anzeiger“ in großer Aufmachung und ganz „im Stil der Zeit“ meldete: „Crainfeld ist judenfrei!“

 

Wer von den jüdischen Familien aus Crainfeld nicht schon bis Ausbruch des zweiten Weltkrieges am 1. September 1939 aus Deutschland emigriert war, fiel der ab 1941 beginnenden physischen Ausrottung der Juden zum Opfer. Mancher, der ins benachbarte europäische Ausland gegangen war, wurde infolge der deutschen Besetzung wieder vom nationalsozialistischen Regime eingeholt. Insgesamt wurden mindestens 25 Angehörige jüdischer Familien aus Crainfeld im Holocaust ermordet, weiterhin drei jüdische Bermuthshainer. Obwohl die gesamte „Endlösung der Judenfrage“ offiziell geheim war, verbreiteten sich jedoch etliche Gerüchte und Einzelheiten in der Bevölkerung aufgrund der für jeden sichtbaren Abtransporte aus den Großstädten und durch in den besetzten Gebieten stationierte Soldaten. Auf diese Weise war zumindest einigen Einwohnern der Dörfer und Crainfeld das grauenvolle Schicksal der Juden, wenn auch nicht im ganzen Ausmaß, schon vor Kriegsende bekannt.

Heute erinnert in Crainfeld und in den meisten anderen Vogelsbergdörfern, wo es jüdische Gemeinden gab, abgesehen vom jüdischen Friedhof nichts mehr an die jahrhundertelange Existenz der Landjudengemeinden und das friedliche Zusammenleben von Juden und Christen in den Dörfern.

 

Crainfeld: Jüdische Gemeinde Im 18. Jahrhundert ließen sich zahlreiche jüdische Familien aus Nieder-Wöllstadt und dem Gebiet der Grafschaft Hanau in Crainfeld nieder. 1886 hatte Crainfeld schließlich 118 Bürger jüdischen Glaubens bei einer Einwohnerzahl von 518. 1933 waren es noch 60 Juden bzw. 15 jüdische Familien Sie lebten vom Viehhandel oder Ladengeschäften

 

Crainfeld: Das Alter des Friedhofs ist unbekannt, er soll etwa 200 Jahre alt sein; erste lesbare Grabinschrift 1820. Er liegt sehr weit abseits vom Dorf auf einer Anhöhe und wurde deshalb früher sogar manchmal als Höhenfriedhof bezeichnet - 75 erkennbare Gräber. 

 

Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde In Crainfeld bestand eine jüdische Gemeinde bis 1938/42. Ihre Entstehung geht in die Zeit des 17./18. Jahrhunderts zurück. Erstmals werden 1625 drei Juden am Ort genannt (Abraham, Koppel und Wolf), die offenbar damals bereits in eigenen Häusern in Crainfeld lebten. 1666 wird Jud Nathan zu Crainfeld genannt. 1701 lebten zwei jüdische Familien am Ort. Im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts kam es zum Zuzug einiger Familien aus Nieder-Wöllstadt (nach Arnsberg: aus Nieder-Mockstadt) und aus der Grafschaft Hanau. Die jüdischen Familien lebten bereits im 17./18. Jahrhundert im ganzen Ort verstreut und nicht in einer besonderen Gasse.

 

Die Zahl der jüdischen Einwohner entwickelte sich im 19. Jahrhundert wie folgt: 1804 36 jüdische Einwohner (von insgesamt 446), 1828 36, 1861 83 (16,0 % von insgesamt 520), 1871 112 (von 519), 1880 102 (20,1 % von 508), 1886 118, 1895 77 (15,4 % von 499), 1900 81 (von 512), 1910 68 (14,1 % von 482). Zur jüdischen Gemeinde in Crainfeld gehörten auch die in den umliegenden Orten Grebenhain (1924: 20; 1932: 14), Bermuthshain (1924: 6; 1932: 6) und Niedermoos (1924 3; 1932: 6) lebenden jüdischen Personen. Die jüdischen Haushaltsvorstände waren überwiegend Vieh- (etwa die Hälfte) und Warenhändler sowie Kaufleute. In der Mitte des 19. Jahrhunderts eröffneten mehrere von ihnen für das wirtschaftliche Leben am Ort wichtige Läden und Handlungen; zwei waren als Metzger, einer als Gastwirt tätig. Die meisten hatten auch im Nebenerwerb eine kleine Landwirtschaft.

 

An Einrichtungen bestanden eine Synagoge (s.u.) mit einem Raum für die Religionsschule, ein rituelles Bad (1879 neu errichtet, 1910 renoviert) und ein vermutlich am Anfang des 19. Jahrhunderts stammender Friedhof. Die jüdische Gemeinde war - selbst streng orthodox geprägt - dem orthodoxen Provinzialrabbinat in Gießen zugeteilt. Zur Besorgung religiöser Aufgaben war ein Lehrer angestellt, der zugleich als Vorbeter und Schächter tätig war (siehe Ausschreibungstexte und einzelne Berichte unten). 

 

Im Ersten Weltkrieg fielen aus der jüdischen Gemeinde: aus Crainfeld Leopold Sommer II (geb. 10.2.1888 in Crainfeld, gefallen 23.11.1915), Leopold Stein (geb. 31.10.1897 in Crainfeld, vor 1914 in Köln wohnhaft, gefallen 21.7.1917), Gustav Sommer (geb. 2.12.1896 in Crainfeld, gefallen 22.8.1917) sowie Gerson Sommer (geb. 16.3.1873 in Crainfeld, vor 1914 in Biblis wohnhaft, gefallen 30.7.1917), aus Grebenhain Unteroffizier Adolf (Abraham) Weinberg (geb. 20.9.1889 in Grebenhain, vor 1914 in Chemnitz wohnhaft, gefallen 13.6.1915), Albert Sommer (geb. 20.11.

 

Verein zur Förderung der Geschichte des Judentums im Vogelsberg. Die: E-Mail

„a-s-k@online.de“, Vorsitzender Herr Legatis in Fulda.

 

Jews in Crainfeld, community Grebenhain.

In a war-damage-table of 1625 are mentioned for the first time three Jewish inhabitants of Crainfeld. The Jews Abraham, Koppel and Wolph are mentioned, in each case with one harming in height of 300 to 400 Reichsthaler (The name “Koppel” remained gotten there up to the destruction of the community in the national-socialism). Through the height of the harming it becomes clear, that the concerned families were not poor, they lived on the trade and had since there were little Jewish competition and also no guilds in the surroundings, a good livelihood. 

The formation of the Jewish community is attributet to the fact, that Jews won't allowed the settlement in the neighboring area of the Riedesel until 1806. In Crainfeld lived since the 17. Century continuously Jews. In the 18. century numerous Jewish families settled in Crainfeld, coming from Nieder-Wöllstadt and the area of the county Hanau, since among other things the existence was impeded them there, they had to carry discriminatory marks there since (at the latest 1725) again.

The circumstances in Crainfeld were favorable. The competition was low, there were no Guilds (“Zünfte”), and the rural population was depended on the businesses of the Jews. They lived mainly from the livestock-trade or from store-businesses and didn't contribute unim­portantly to the economic meaning of Crainfeld for the nearer surroundings.

Here could establishe in the 19. Century a big community with an individual synagogue, a graveyard and a school. The resident families were respected largely in the place and were a part of the village-community consequently.

In the year 1886, Crainfeld finally had 518 citizens, and among them 118 Jews. Their number decreased in the following years however again. At the eve of the national-socialistic take­over, 60 Jews as well as 15 Jewish families still had their home in the village, which had at that time 462 inhabitants.

After an existing private house had been rebuilt 1842 to a synagogue, an individual synagogue was built in the year 1885 at same position not far from the nobly-yard (“Edelhof”) again. A bath-house was originated in the year 1870. Already since approximately 1820. exists the Jewish churchyard on free field in the north of the village.

 

Jewish graveyard:

Amid from agriculturally used terrain lies the street of Crainfeld to Bannerod the Jewish graveyard of Crainfeld. It is the last visible memory at the former Jewish community today. It probably turned in the early 19. Century positioned and in the year 1858 widened. The grave­yard still includes 75 tombstones and shrines today. The last burial took place in the year 1937.

The exact time of the formation of the Jewish graveyard lies in the dark. Probably the first Jewish inhabitants of Crainfeld will be buried on the graveyards of Jewish communities out-of-town. The Jewish community in the neighboring Lichenroth for example buried its their dead persons on a collective-graveyard with Birstein, that was used also by the local faithfuls.

Probably, the Crainfelder graveyard originated to beginning of the 19. century, as the share of the Jews had been ascended enormously at the Crainfelder village-population and a Jewish community had also been established already. The oldest still today god conditioned tombstones should come from the time about 1820. As it was not rare for Jewish village-graveyards, also the Crainfelder " Jew-graveyard " originated from the village close to the border far from. 

The first mention of the Jewish graveyard and at the same time also the first picture is located in the 1832 map of the area of Crainfeld. Already here is a rectangular form of the graveyard-terrain to recognize.

 

For the year 1858, an expansion of the graveyard, through which this got h its present size, is covered. On February 3, 1858, sold the Christian Inhabitant Konrad Strauch II. and his wife Margaretha born Laufer, house-name " Kannsmusjes ", the Israelite community two properties, namely a field at the “Haselacker " beside Sebastian Schäfer of 13 square-fathoms, one square-fathom had 6,2 cubic meters, and a field beside the " Jew-field " (Jewish graveyard) from 7 square-fathoms to the price of 30 guilders (Gulden). The transfer of the properties happened under the condition, that the Jewish community dad to drive cart loads of monuments or other materials on the dead person-yard beside his property besides the path.

 

On the basis of from money-lack abstained the Jewish community on a rail of the graveyard. To a time unfortunately not stated in the literature (probably about 1900), it deided itself to the installation of a fence however and asked the Crainfelder district council to adopt a part of the expenses, since the Jewish community must pay also community-allocations and is also held the Christian graveyard from the community-cash register in order. The political community refused such a subsidy however and referred to it, that the Jewish graveyard belongs to not only the Crainfelder Jews, but also the one in Grebenhain, Bermuthshain and Nieder-Moos. Moreover the Crainfelder Jews would have the same right at the Christian graveyard and what admittedly was not acceptable Crainfelds from view of the strict Jewish citizens could be buried on it. Wether the rail originated, is not traditionrd. Today, hedges and found-stones of the surrounding fields provide an additional restriction of the graveyard, surrouded through a stitch-wire-fence. 

If a Jewish citizen of Crainfelds died, the coffin was together-nailed by relatives and friends themselves. It was a simple rectangular and wooden crate. The died was washed and afterwards was put into the coffin. For the wide way, a small bag was admitted with money that should serve as money on the way” (“ Zehrgeld "). To the burial, the coffin was carried to the graveyard with the help of six Jewish parishioners. The coffins of Jews, that had commit­ted atrocities, were not allowed to carry incidentally through the graveyard-gate, but had to be lifted over the wall. A Christian was not allowed to enter the graveyard itself during a burial, but he could stand outside before it. 

In the mourning-train went along the Jewish teacher as well as relatives and friends. Black mourning-clothing was carried like with the Christians. The Jewish tradition accordingly marked only one tombstone the burial-place, a special grave-care or grave-jewelry like at Christian graveyards was not usual. As signs of the sympathy with the deceased, stones were put on the tombstone. In the year 1937, the last burial took place on the Jewish graveyard, that the Götz Zimmermann from Grebenhain.

During the NS-time, it is come repeated also the shrines of the Jewish Crainfelder to desecra­tions. So, 1937/38 members of the Hitler-youth have toppled several tombstones from Crain­feld. Actually some tombstones show still today damages from this time like stolen memorial slabs on. Especially many of the younger tombstones were overturned and were raised in the year 2005. In a protocol over the fortune of the Jewish community of the 11.Oktober 1937, the Jewish graveyard was called worthless " because the surface could not be used in the next 20 years as economic-terrains. It is without further conceivable that the Jewish graveyard would have been removed in the 1935 startet hall-adjustment and after a " final victory " and in the framework completely as this happened elsewhere. Today, the responsibility is incumbent on Grebenhain for the upkeep of the graveyard of the big-community. In the years 1992/93, a documentation of the graveyard and the inscriptions of the tombstones took place through a school class of the Oberwald-Schule Grebenhain.   

 

The tombstones:

The Jewish graveyard of Crainfeld has the form of an irregular rectangle with a surface of 1100 cubic meters. As at Jewish burial-places usually, the densely together-standing tombstones are with the forefront eastward organized, in direction Jerusalem. Altogether, 75 tombstones, which are lined in 10 rows, are on the Jewish graveyard today. Most of them are -in the tradition of Jewish tombstones since the Middle age - made in rhe form of a “stele” with a half-bow or gables above. 

The oldest tombstones ( in the first two rows) have only a Hebrew inscrpition. Only from approximately 1870 (first only on the rear) a German inscription was added.. The younger stones are Hebrew on the forefront and under it in German. Only the finally sedate stone of the Götz Zimmermann from 1937 owns no Hebrew characters. 

The Hebrew inscriptions are alike themselves in the scheme and name besides the name of the death and the deathday (after Jewish calendar) just a praising-song on the death no exact life-data. On some tombstones symbols are to be seen, like suns, six - and octagonal stars, bles­sing hands and the schofar-horn. The blessing hands stand for the affiliation of the deceased by the Kohanims, that attribute their mythical descent to the first Jewish priests. The Schofar-Horn should show, that the deceased had the the honorary office of the Schofar-player in the community. This instrument is used in the Jewry for the announcement of high religious feasts.

 

Names of the expelled Jews:

Sommer, Wertheim, Stein, Lind, Zimemrmann, Bär, Weinberg, Sstern.

 

Names of the deportated jews.

Stern, Meier, born 19.9.1875, died 7.11.1933 Arnheims (Netherlands)

Stern, Rosa, born 3.2.1877, died 7.11.1933 Arnheims (Netherlands)

Stern, Sally, born 23.1.1901, died 21.12.1933 "on trips".

 

The ritual diving-bath: Mikwe

In the year 1879, the Jewish community Crainfeld erected from money of the foundation of the Kommerzialrat Heinemann mentioned already a Mikwe, after she had acquired already at the 19.6.1869 a property in the “Märzwiese” to the price of 120 Gulden. Before, the ritual diving-bath had been in a cellar, possibly in a private house. The Crainfelder Mikwe became in the vernacular and also named officially “ bath-house ". This bath-house was a very small timbering-construction with only 1 x 2 meters of base and stone foundation. It contained the actual diving-basin, an oven to the heater and a water-drain to the Mühlgraben. The water to the application in the bath was also taken from the Mühlgraben, what came with the responsible authorities upon not low hygienic misgivings.

The location of the Mikwe was in the end of a small side-alley between the farmhouses "Brandeweis" and "Jeckels", approximately 100 meters of the synagogue removes. In the year 1910, the bath-house was restored again on order of the orthodox provincial-rabbi Dr. Hirschfeld in Gießen with what the expenses amounted to 745 Reichsmark.

In the year 1935, the Märzwiesen-Weg was built new and the "bath-house”, standing in the way, was broken off. Since the demolition already fell into the NS-time, however also a political motivation is not to be excluded. Today, the location of the former Mik-weh of the street-asphalt is covered and from the small bath-little house nothing more to see.

 

The end of the Jewish community Crainfeld

End of the 19. Century, the antisemitic movement gained influence also in Crainfeld. Occasionally, conflicts occurred between the Not-Jewish population-majority and that in the second half of the 19. Century's strongly increased Jewish community, that included one fifth of the inhabitants at that time. But despite the manifold differences of the religion and social philosophies, Jewish and Christian Crainfelder lived together over centuries in general peacefully.  This living together and the existence of the Jewish community as such finished within only less years after the beginning of the so named “third empire” at the 30. Januar1933.

 

After the World War I, the Hessian farmer-association first dominated with the elections before the NSDAP became generally accepted also here. As consequence of the " ideological Erblast " of the Anti-semiten-movement and the bad economic situation belonged in the agriculture in the 1920er years the Vogelsberg-region to the areas of Germany, in which the increasing of the National socialists began already very early. The area of Grebenhain was even the origin of the national-socialistic movement in the circle Lauterbach, because here was already established the first NSDAP-group of the circle on March 1, 1929. Initiator was an animal-doctor from Angersbach, today part of Wartenberg, that since 1927 in Grebenhain resident and was already since 1926 NSDAP-members.

At the 1. April 1930 another NSDAP-group in the neighboring Bermuthshain was estab­lished, to which also the local lord-mayor belonged. In Crainfeld, there were no NSDAP-group and also no NSDAP-members before the March 1, 1932. By a NS-Aktivist from Schlitz was finally established in the summer 1930 the SA-Sturm 25/254, that had its seat in Bermuthshain, that however also members belonged from Grebenhain, Crainfeld and Ilbeshausen. Since then, the “brown-shirts" especially shaped the picture of the bird-mountain-villages during the election campaigns and the numerous propaganda-events. Already in June 1932 appointed the communities Crainfeld, Grebenhain and Bermuthshain Adolf Hitler to their honorary-citizen. Also in the north of the circle of Lauterbach, the organization was developed the NSDAP from 1929/30 freely.

With the Reichstag-election of the 14. September 1930 achieved the NSDAP the vote-majority in the circle with 39,4 percent of the voters. The NSDAP-voters were almost exclusively farmers and middle-class persons, craftspersons, small tradesmen, in the villages of the circle, where the party could reach votes of without exception over 90 percent soon. Only in Lauterbach with a bigger share at industry-workers and in the catholic Herbstein, there were not yet influenced voter-layers until finally from the NSDAP. Also in Crainfeld, the NSDAP had a majority with the elections from 1930. With the last free elections at the 6. November 1932 it got 236 of 297 valid votes.

In what way the appearance of the National socialists already made worse the relationship of the christian population-majority before 1933 to the Jewish community in Crainfeld, is still unsolved. Possibly the fact is however, that two jewish families already moved end of the 1920er years from Grebenhain to Crainfeld to attribute this circumstance. In the evening of the 30. January 1933 finally celebrated the NSDAP-group Crainfeld the Election of Adolf Hitler to the chancellor: 

After the takeover the NSDAP 1933 saw exposed the native Jewish families to itself reprisals through local National socialists as well as economic boycott-measures more and more strongly, so that they left the place little by little and especially migrated to Frankfurt on the Main or emigrated. The Lauterbacher Anzeiger reported end of September 1934 from Crainfeld, that "the the property of third estate of Jewish inhabitants has already become in these days new owners by purchase”.

There are no hints, in what way already shortly after the takeover the NSDAP the life of the Jewish families in Crainfeld was impaired through riots, as were reported from the village Lichenroth (today part of Birstein). This changed in Crainfeld with The by the NSDAP announced federal-widens boycott of all Jewish businesses at the 1. April 1933. On this day, the admittance was stopped also in the villages Crainfeld, Grebenhain and Bermuthshain to the businesses of Jewish inhabitants of SA-Männern of the storm 25/254 as well as rearranges these houses downright. In the consequence-time, the jewish families were excluded from the village-community and were avoided by most. Also within the Christian village-population, an ever stronger mistrust stretched concerning the position of the other to the NSDAP. Essentially taken shattered the entire time-honored village-community in the twelve years of the Nationalsozialismus in a climate of mistrust and denunciation gradually. Even narrow friends dared soon only secretely to talk to their Jewish neighbors. In the Jewish stores became only secretely and through the back door shopped. Already 1933, also the pane of a business was smashed in at least a case. Local that nevertheless dared it, the accustomed relationships to Jewish families to held, was denounced partially publicly.

In the year 1935, all communities of the circle Lauterbach also prohibited their citizens the trade with Jews and the purchase in Jewish businesses officially little by little. With offense, the exclusion of all works and entitlements threatened within the community. So named "stormer-boxes", showcases for the notice of the antisemitic newspaper "Thet stormer", were installed in each place.

Already shortly after the boycott of the 1. April 1933 decided some Jewish families to move away from Crainfeld, according to the families Stein, Feistjes, Koppels, Mattese, that emigrated to South Africa. Probably also from despair over the political circumstances committed the dealer Hermann Lind (Itzigs) 1933 suicides in May through hanging. The "Lauterbacher Anzeiger" reported at the 30. September 1933: "Crainfeld. these days skipped yet the third estate of Jewish inhabitants at new owners by purchase!”

Also in the year 1934, some Jewish families Crainfeld left, under it the butcher-family Sommer (Girschels). some emigrated into the foreign countries, others sought their salvation in the secures anonymity of the city Frankfurt and other places. Later on, in the years 1936-1938, they were not able to sell their property according to the value before /their end-hike as well as the move into other parts of Germany. The price fell more and more heavily moving away.

Whether really - as claims from Müller in his book - them the gotten money was forwarded after a promise of the mayor Johannes Meinhardt IV. " is to be marked legend-formation as well as "justification" in view of the political reality in the "third Reich”. The numerous processes, that had to be led after 1945 because of the property of the Jewish families, alone already speak against it. Already on the basis of the massive political and social pressure, the sale of most estates actually came under force and above all often far under the actual material value about. Therefore, an additional payment, that added up, come on the basis of the Restitution-laws after 1945 in most cases near.necessary the actual purchase-price, that would have been paid under normal circumstances for the houses. 

In some cases, the buyers came from Crainfeld itself (neighbors), often it was however also foreigners, which the political circumstances exploited in cold blood and acquired in Crain­feld house and property to downright slingshot-prices this way. The last Jewish families Bermuthshain and Grebenhain had left in the years 1936 and 1937.

 

From Crainfeld and the two other villages, numerous reprisals are passed on, that against Jewish inhabitants and against persons, that still looked after contact with Jewish families, was directional. A hardly conceivable hate filled atmosphere prevailed against everything Jewish. Local SA-men from Crainfeld, Grebenhain and Bermuthshain frequent from the villages in uniform or civilian clothes were the perpetrators. So, some SA-men were in debt with a Crainfelder livestock-dealer. One of the three men held the family with a pistol in chess, during the other both the house searched the whole bills and burned.

The storm-leader of the SA Bermuthshain should have stolen a radio with the family Weinberg (Sally) in Crainfeld once. Inhabitants of the village were allowed to meet Jewish neighbors in Crainfeld no longer, however nevertheless did it, in that they gathered with a gentile family. As a woman was observed in Crainfeld of SA-men once, as she had lifted with Jew contact, she was threatened with the death and was rushed through the village. Other villagers locked up her before the SA-men in the baking house. 

Even children were instigated by National socialists, to throw in the panes at Jewish houses. Children, who still played with friendly Jewish children, were partially insulted by same age. In a case, neighbors helped the Jews with the escape and drove their possessions with one wheelbarrows over the field from the village at night, in another case, they hid them from the SA in htheir barn.

 

At the 14. February 1936 took place the last re-election of the executive of the Jewish community, that consisted from Moses Sommer (Affremjes), Abraham Soummer (Abraham), Joseph Bärr (Kadaljes) and Seligmann Lind (Sandersch). In November 1936, the Jewish community was so strongly melted down, that it had the necessary number of 10 adult men no longer. Only seven families into Crainfeld and one in Grebenhain with 20 souls (8 adult men) still belonged to her. The community-property still consisted leased agricultural property of 200 cubic meters of the synagogue with a fire-land-register-value of 3.500 RMS, the graveyard and one. At the 11. October 1937 had the community another credit balance of 415,29 RMS with the caisse Herbstein.

The dissolution of the community took place through decision of the 11. Octobers 1937. The transfer of the property at the Landesverband of Israelite communities in Mainz was approved finally only in the May 1940, the community-books had to be submitted also after application of the dissolution until November 1938 the circle-office Lauterbach, however each " further-treatment came no longer in question on the part of the circle-office after the Jew-action of the 9 until 11. November 1938 ". Before and surroundings of the later, so named "Federal-crystal-night" as well as pogrom-night increased the pressure on the families Jewish still remained and the antisemitic propaganda in the public-press once again:  

The "Lauterbacher Anzeiger” writes to the 18. November 1938: "Crainfeld. The last here not yet sold Jew-house, in which the Jew Sally Weinberg lived with his not quite normal family since then,t had become so decrepit during the night, that it had to be torn off order because of danger of the momentary, particularly neighbours. The local fire brigade procured this exemplarily. It is assumed all-awfully, that also the days of the local synagogue are consi­dered one of the general satisfaction!”

 

During the Federal-pogrom-night on November 9, 1938, the synagogue was devastated by SA-men, and the two still remained residences of Jewish families were plundered. As a result, the last Jewish inhabitants left Crainfeld and start of 1939, the place became publicly explained for “Jew-freely”. At the 13. January 1939 reported the "success" of almost six years the "Lauterbacher Anzeiger" anti-Jewish rush increasing on and on and discrimination in the style of the national-socialistic propaganda completely: "Crainfeld is judenfrei"!

The synagogue sold at a private-man survived the war inviolate, was torn off in the year 1951 however. At least 25 members the Jewish community Crainfeld were during the World War II in concentration-camps carries off and murders. A plaque shall appropriate become through the club “country-Jews in the Vogelsberg".

 

Occurred during the November-pogrom also in Crainfeld on November 9/10, 1938 heavy riots. It is traditional that the SA-men met in Bermuthshain at the evening of the November 9, 1938 in a local inn, about after the words of the storm-leader "the Jew fully to cut" the eats in Crainfeld. The panes of the Crainfelder synagogue was thrown in that broken in door and devastates the inside. Originally, the SA had intended to be also the Crainfelder synagogue like other-place in fire. Only the immediate proximity to the neighbor-house "Jeckels " had them refrained from their plan. 

At the 10. November 1938s attacked in Crainfeld with the roofing with "Michelhennerjes" active room-people from Salz the house "Itzigs", that was only lived in at this time by Auguste Lind alone. These plundered the house and beat in an unbelievable orgy of the force of everything in the house short and small. Auguste Lind could still flee to neighbors and could hide. Already previously, the alone standing widow had in panic-stricken fear before raids fanatisierter National socialists har slept several times at gentile neighbors. Since shet didn't want to endanger her helpers, she slept in the stall. Neighbors helped he later also, the village secretely too abandoned. 

Also Sally's house was invaded in the pogrom-night of SA-menn, which shattered the panes. To this time, the family Weinberg still lived there. Sally Weinberg, that had been a soldier in the World War I, was forced to stand still before the house. At the 17. November 1938 the house was teared off through the local fire-weir obligatorily. The last Jewish inhabitant left the village beforte the end of the year, so that at the 13. January 1939 the "Lauterbacher anzeiger" reported completely "in the style of the time": "Crainfeld is Jew-freely"!

 

Who of the Jewish families from Crainfeld not already until outbreak of the second world-war on September 1, 1939 from Germany had emigrated, that felled from 1941 incipient physical exterminations the Jews to the victim. Some, that had gone into the neighboring European country, were caught up with because of the German cast by the nationalsocialistic regime again. Altogether, at least 25 were murdered member Jewish families from Crainfeld in the holocaust, still three Jewish Bermuthshainers.

Although the "final solution of the Jew-question was officially secret, several rumors and details spread in the population on the basis of that for any observable evacuation from the cities and through soldiers, stationed in the busy areas however. This way, the harrowing fate of the Jews was some inhabitants of the villages and Crainfeld at least, even if not in the whole size, already before end of war known. 

Where there were Jewish communities reminds today in Crainfeld and in most other Vogelsberg-villages, apart from the Jewish graveyard nothing more at the age-long existence of the country-Jew-communities and the peaceful living together of Jews and Christians in the villages.  

  

 

Hanau

Geschichte:

Die deutschen Landesherren legten an sich Wert auf die Juden, um Bankgeschäfte mit ihnen machen zu können. Dennoch kam es ab und zu Verfolgungen. In Hanau wurden die Juden um 1590 vertrieben. Doch Graf Philipp Ludwig II. (der auch die Niederländer und Wallonen nach Hanau holte) stellte im Jahre 1603 die Judengemeinde wieder her. Auch er hatte dafür finanzielle Gründe, denn die Einwohner sollten nicht nach Frankfurt gehen, wenn sie Bankgeschäfte tätigen wollten.

Am 18. Dezember 1603 erlaubte Graf Philipp Ludwig von Hanau, der Gründer der Hanauer Neustadt, den Juden die Niederlassung in Hanau. Nicht die Juden schlechthin, sondern reiche Juden, die Handel und Finanzwesen in Hanau befördern könnten, sollten nach Hanau kommen.

Der Graf schickte Werbeschriften durch ganz Europa, um Juden anzulocken. Sie wurden dann in der Altstadt angesiedelt, indem man den alten Stadtgraben überwölbte. Die Keller der Häuser lagen unter der Straße. Auch wurden Judenbäder für rituelle Waschungen eingerichtet. Die Häuser aber mußten immer höher gebaut werden, weil es ja keine zusätzliche Fläche für sie gab. An Feiertagen wurde die Judengasse zugesperrt (samstags wegen der Juden, Sonntag wegen der Christen). Man wollte die Bevölkerungsteile auseinanderhalten, sie sollten sich nicht gegenseitig stören. Nachts wurde die Stadt sowieso verschlossen. Die räumliche Trennung ermöglichte das Zusammenleben.

Für die damalige Zeit des beginnenden 17. Jahrhunderts mag das Privileg der Errichtung einer Judengemeinde durch den jungen Grafen Philipp Ludwig II. als Zeichen von Toleranz gewertet werden, auch wenn dieser vorwiegend wirtschaftliche Hoffnungen damit verband und nur wohlhabenden Familien den Zuzug gestatten wollte. Hatten doch 1591 noch die Vormünder des dann noch unmündigen Grafen die Ausweisung aller Juden aus dem Hanauer Land verfügt. Trotz einiger Gewaltexzesse konnten sich Juden in Hanau ab 1603 sicher fühlen und boten sogar immer wieder Frankfurter Juden Asyl.

Das Wohnrecht und die danach fortschreitende Erleichterung der Lebensbedingungen waren nur eine vordergründige tolerante Haltung in der Stadt. Die neu angesiedelten Juden mußten in einer streng abgesonderten Judengasse wohnen. Viele Berufe blieben ihnen verwehrt. Zur Unterscheidung von den Christen, mußten sie einen gelben Ring auf ihrem Gewand tragen. Bot auf der einen Seite das Ghetto Schutz, war es gleichzeitig Repressalie. An Sonn- und Feiertagen hatten Juden in ihrer Gasse zu bleiben. Die Tore wurden auf Druck der Geistlichkeit ab 1626 versperrt und erst um 1790 konnten sie mit gewissen Einschränkungen offen gehalten werden. Es mußte wie beim Vieh ein „Leibzoll” entrichtet werden. Auf solchem Boden konnte Schlimmeres gedeihen.

 

Die Verwaltung der jüdischen Gemeinde erfolgte durch den Amtmann des Büchertals. Die Beamten nahmen die Juden in Schutz. Ende des 18. Jahrhunderts durften die Juden nach dem Gottesdienst draußen spazierengehen. Zur Zeit Napoleons wurde die Rechtsgleichheit eingeführt und Religion wurde zur Privatsache.

Die Juden haben über die Jahrhunderte in Hanau, vor allem nach der Auflösung des Ghettos in napoleonischer Zeit, eine Rolle in der Stadt gespielt. Mit dem deutschen Nationalstaat wurde auch Rechtsgleichheit für sie geschaffen. „Die Han­auer Juden wollten Deutsche sein, Deut­sche jüdischer Konfession”.

 

Es kam zur Emanzipation der Juden. Aber sie mußten auch einen Nachnamen annehmen, der vererbt wurde. Aber in Deutschland konnten die Juden ihren Namen frei wählen, die „typisch jüdischen“ Namen wurden nur von österreichisch-ungarischen Beamten den Juden aufgezwungen.

Die Lebensbedingungen im Hanauer Getto waren gut und angenehm, weil die Zahl seiner Bewohner über Generationen hinweg stabil blieb: Vom Ende des 17. bis in die Mitte des 19. Jahr­hunderts stellten die Juden unverändert. rund fünf Prozent der Bevölkerung. In den Jahren 1819/20 gab es bei einer Einwohnerzahl von etwa 20.000 Menschen auch etwa fünf Prozent Juden.

Ab 1866 galten sie mit wenigen Ausnahmen als gleichgestellt. Mit der rechtlichen Gleichstellung war aber noch lange nicht die gesellschaftliche Emanzipation erreicht. Wenige Jahre später prägte Wilhelm Marr den Begriff „Antisemitismus” und antisemitische Parteien kamen auf.

Er Emanzipation zogen viele in eine Wohnung außerhalb der Judengasse und richteten sich Geschäfte in der Stadt ein. Dabei lösten sie sich auch von der Religion der Väter. Viele hatten nun auch am Samstag das Geschäft offen. Bei einer Beerdigung im Jahre 1891 wurden erstmals Blumen verwandt (vorher nur Steine).

Rassenunterschiede aber hat erst der moderne Antisemitismus feststellen wollen. Den Glauben konnte man ja wechseln, die Rasse nicht. So kam es zur furchtbaren Verfolgung der Juden, die mit der Vernichtung der jüdischen Gemeinde in Hanau endete. Heute wird der Friedhof von der Frankfurter Gemeinde betreut.

 

Leopold Bruchfeld war ein angesehener Hanauer Geschäftsmann, der zunächst in der Hammerstraße 1, später in der Hammerstraße 6, ein Geschäft betrieb. Er ist als Teilnehmer des Ersten Weltkriegs ausgezeichnet worden und hat immer geglaubt, ihm könne nichts passieren. Doch dann hat auch er in Hanau Schmach erfahren und ist nach Frankfurt gezogen. Am 10. November 1938 ist sein Geschäft ohne Vorwarnung verwüstet worden. Als alter Mann ist er dann 1942 nach Theresienstadt deportiert worden.

 

Bereits im 14. Jahrhundert existierte in Hanau eine kleine jüdische Gemeinde. Ab 1603 bemühte sich Graf Philipp Ludwig II. aus wirtschaftlichen Erwägungen um die Ansiedlung einer jüdischen Gemeinde in Hanau. In der sogenannten „Judenstättigkeit“ gewährte er alle Bedingungen zur freien Ausübung der jüdischen Religion. Die jüdische Gemeinde hatte das Recht, eine Synagoge und eine Mikwe zu errichten, einen Rabbiner zu haben, Schulen für religiöse Erziehung zu unterhalten und einen Friedhof anzulegen

Ein eigener jüdischer Wohnbezirk, die Judengasse (heute: Nordstraße) wurde auf dem zugeschütteten Stadtgraben angeklagt. Im Scheitelpunkt der Judengasse wurde 1608 die Synagoge errichtet, 1845 und 1922 wurde sie erweitert. Sie war für 330 Jahre das Zentrum jüdischen Lebens in Hanau.

Die Judengasse war bis zur Besetzung Hanaus durch französische Truppen ein Ghetto mit abschließbaren Toren. Zu dieser Zeit lebten 540 Menschen in 80 Häusern der Judengasse. Mit der rechtlichen Gleichstellung der Juden im 19. Jahrhundert löste sich allmählich die eigenständige jüdische Lebenswelt der Judengasse auf.

Im Jahre 1898 wurde die Judengasse in Nordstraße umbenannt. Zu dieser Zeit war ein neues jüdisches Gemeindehaus mit moderner Mikwe in der Nürnberger Straße 3 entstanden. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur nationalsozialistischen Diktatur wirkten Hanauer Juden am wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Leben der Stadt mit. Auch in zahlreichen Vereinen engagierten sie sich. Sie waren Soldaten in mehreren Kriegen. Im Ersten Weltkrieg gab es zehn jüdische Gefallene. Im Jahre 1932 hatte Hanau 630 jüdische Einwohner.

Während der nationalsozialistischen Diktatur wurden jüdische Bürger diskriminiert, entrechtet und verfolgt. Ihrer Existenzgrundlage beraubt, verließen viele ihre Heimat und flüchteten ins Ausland. Andere suchten Zuflucht in der Großstadt Frankfurt oder in anderen Städten. Im Mai 1938 wurden die Eingänge der Synagoge in einer gezielten antisemitischen „Aktion“ zugemauert. In den Mittagsstunden des 10. November 1938 entweihten Hanauer Nazifunktionäre und ihre Helfer die Synagoge, demolierten die Inneneinrichtung und setzten das Gebäude in Brand. Die Synagoge wurde bis auf die Außenmauern zerstört. Mehrere Hundert Schaulustige waren anwesend. Anschließend richtete sich die Zerstörungswut gegen den jüdischen Friedhof in der Mühltorstraße, der durch das Niederbrennen der Leichenhalle und das Umstürzen von Grabsteinen geschändet wurde.

Während des Novemberpogroms wurden jüdische Familien in ihren Wohnungen überfallen und mißhandelt. Lehrer Sulzbacher aus der Nürnbergerstraße 3 starb an seine Verletzungen. Zahlreiche jüdische Männer wurden verhaftet und für mehrere Wochen in das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar verschleppt. Auch zahlreiche Geschäfte jüdischer Inhaber wurden zerstört.

Ab September 1941 waren jüdische Menschen, auch Kinder ab sechs Jahren, gezwungen, einen Stern zu tragen. Viele wurden auch zur Zwangsarbeit eingesetzt. Jüdische Familien wurden ab etwa 1940 in „Ghettohäusern“ in der Nürnbergerstraße 3, in der Langstraße 53 und in der Marktstraße 28 zusammengepfercht.

Von dort aus wurden 29 Personen am 30. Mai 1942 und weitere 21 am 5. September 1942 vom Hanauer Hauptbahnhof gewaltsam verschleppt. Auch nach Frankfurt Verzogene wurden 1941/42 in Ghettos und Vernichtungslager im Osten verschleppt und ermordet. Insgesamt wurden mehr als 200 jüdische Hanauer ermordet (Informationstafel am Gedenkstein für die Synagoge).

 

Neue Gemeinde:

Durch den Zuzug aus der ehemaligen Sowjetunion leben in der 88.000-Einwohner-Stadt Hanau mittlerweile 150 bis 200 Menschen jüdischen Glaubens. Die werden bisher von den Gemeinden in Offenbach und Frankfurt betreut. Anläßlich des 100. Jahrestags der Synagogen-Einweihung in Hanaus südmainischem Stadtteil Steinheim im November 2000 äußerte Moritz Neumann als Vorsitzender des Landesverbands der jüdischen Gemeinden in Hessen den Wunsch nach einer eigenen Hanauer Gemeinde. Da kaum finanzielle Mittel vorhanden seien, bedürfe es der städtischen Hilfe. Hanaus Oberbürgermeisterin Margret Härtel (CDU) sagte diese im Grundsatz bereits zu.

Bevor die Gottesdienste beginnen könnten, bedürfe es allerdings erst einmal der Glaubensunterweisung. Denn die aus der ehemaligen Sowjetunion Gekommenen hätten in einem „religionsfeindlichen” Land gelebt. Insofern gebe es jetzt „viel nachzuholen”, sagte Neumann. Der Landesverband der jüdischen Gemeinden will einen Wanderlehrer und in bestimmten Abständen einen Rabbiner nach Hanau schicken, um Kindern und Erwachsenen den jüdischen Glauben näher zu bringen.

In Hessen gab es vor der Zeit der Nationalsozialisten insgesamt 400 jüdische Gemeinden. Heutzutage sind es nur noch zehn. In Hanau spielt das Pflegen jüdischer Tradition auch in anderer Hinsicht derzeit eine große Rolle: Die Außenmauern des innerstädtischen jüdischen Friedhofs an der Kinzig sollen saniert werden.

 

Initiatorin der Neugründung ist die frühere Hanauer Oberbürgermeisterin Margret Härtel (CDU), die im Jahr 2000 zusammen mit dem damaligen Stadtverordnetenvorsteher Ronald Battenhausen (SPD) für die entscheidende Weichenstellung sorgte. Im Januar 2001 beschlossen die Hanauer Stadtverordneten einstimmig, den jüdischen Mitbürgern in Hanau ein Dach über den Kopf zu geben, sprich: ein Gemeindezentrum zu errichten, und damit wieder jüdisches Leben in Hanau zu ermöglichen. Der Beschluß erging damals einstimmig.

 

Auf den Tag 400 Jahre nach der Ansiedlung der Juden beging Hanau im am 18. Dezember 2003 das Jubiläum „400 Jahre Judenstättigkeit” in Hanau mit einer Feier im Weißen Saal von Schloß Philippsruhe. Bürgermeister Kaminsky sprach über die neuen Gemeinderäume und sagte auch, man werde beispielsweise nicht locker lassen, wenn es um ein würdiges Gedenken am Gleis 9 des Hanauer Hauptbahnhofes gehe. Von dort wurden 1942 die letzten Hanauer Juden deportiert. Der Ehrenvorsitzende des Hanauer Ge­schichtsvereins, Dr. Eckhard Meise, un­terstrich das politische und gesellschaftli­che Engagement der Hanauer Juden vor allem im 19. Jahrhundert

Die deutschjüdische Geschichte Teil der Han­auer Geschichte, nicht davon abtrennbar. Und wenn man das verstanden habe, dann wisse man, daß sich „das deutsche Volk nach 1933 mit grauenhaften Mitteln selbst amputiert” habe.

Die Dekanin der Hanauer Kirchengemeinden, Claudia Brinkmann-Weiß, unterstrich die Bemühungen der Kirchen in Hanau um den christlich-jüdischen Dialog. wie er seit 1986 im Arbeitskreis Christen und Juden erfolgreich geführt werde.

Ein überaus eindrucksvoller Beitrag war die Rede von Andree Fischer-Marum, der Enkelin des letzten Rabbiners von Hanau, Dr. Hirsch-Gradenwitz. Sie sprach anstelle ihrer im Programm angekündigten Mut­ter, die in der letzten Woche 93jährig ver­storben ist. Ihre Mutter habe die Absicht gehabt, nach Hanau zu kommen, erklärte sie, in die Stadt. die ihr und ihrer Familie nach dem Ersten Weltkrieg Zuflucht aber auch Heimat geworden sei.

Sie verlas den Text, den ihre Mutter hatte vortragen wollen, eine lebhafte Schilde­rung des jüdisch-bürgerlichen Lebens in Hanau in den 1920-er Jahren, ihre Schulzeit an der Hohen Landesschule und am Lyzeum, ihre Freunde Bekannten, all da, was mit den Nazis brutal beendet wurde. Die bewegend und bewegt vorgetragene Schilderung schließt mit dem Wunsch. die nun zur Gründung anstehende jüdische Gemeinde möge nie mehr untergehen.

Mit seinem Vortrag „Hanau - Stadt es heiligen Handwerks” griff Dr. Johannes Wachten vom Jüdischen Museum in Frankfurt ein jüngst auch von der Märteswein-Vereini­gung thematisiertes Stück Stadtgeschichte auf: die hebräischen Druckereien des 17. und 18. Jahrhundert.

 

Pfarrer Heinz Daum, der Vorsitzende des Arbeitskreises Christen und Juden“, schrieb in der Zeitung: Als es darauf ankam, fehlte der Widerstand, der religiösen Minderheit, Hanauern jüdischen Glaubens, wirklichen Schutz zu gewähren und das Wohnrecht zu verteidigen. Wir können in der Stadt dieses Jubiläum nur begehen, wenn wir den schmerzlichen Bruch in der Kontinuität und auch den Weg dahin offen legen. Nur im Wissen um die wechselvolle Geschichte des Miteinanders und seines Abbruchs ist Versöhnung und neue Gemeinschaft möglich. Hanau hat sich der dunklen Seite des Jubiläums in diesem Jahr gestellt. Für den Ort der zerstörten Synagoge in der Nordstraße wurden Informationstafeln angefertigt. Die politisch Verantwortlichen setzten und setzen sich im Streit mit der Deutschen Bahn AG vehement für ein Denkmal am Hauptbahnhof ein.

Zahlreiche Beiträge unterstrichen die Notwendigkeit, daß ein Altstadtjubiläum nicht ohne die Erinnerung an die frühere jüdische Gemeinde gefeiert werden kann und auch die Schattenseiten zu benennen sind. Die Kirchengemeinden Hanaus beteiligten sich mit einer Konzertreihe „Christen und Juden“ und unterstrichen die Mitverantwortung der Kirche an der Diskriminierung und Verfolgung der Juden über die Jahrhunderte. Die Volkshochschule bot Vorträge und Exkursionen, die Interessengemeinschaft Hanauer Altstadt hat das Doppeljubiläum kräftig unterstützt. Und nicht zuletzt hat der Hanauer Geschichtsverein 1844 in besonderer Weise dazu beigetragen, die Lebensumstände jüdischer Menschen in Hanau über die Jahrhunderte im Detail offen zu legen. Das Historische Museum bietet Gelegenheit, sich in einer Ausstellung von der Verbundenheit Hanauer Juden mit ihrer Stadt zu überzeugen.

 

Eine jüdische Gemeinde in Hanau ist ein hoffnungsvolles Zeichen für Toleranz. Es wird an allen gesellschaftlichen Kräften und den Bürgerinnen und Bürgern dieser Stadt liegen, damit der Gemeinde die Existenz nicht nur wie einst „gestattet”, sondern sie im Wissen um die verhängnisvolle Geschichte willkommen geheißen wird (Pfarrer Heinz Daume).

 

 

Ab 2004 wurden dann die ehemaligen Räume der Verwaltung der ehemaligen Zahnrad- und Maschinenfabrik Schwan und später der Frankfurter Rundschau in der Wilhelmstraße zu einem Zentrum mit Gebetsraum umgebaut.      Die Baugesellschaft ließ Wände herausreißen, um einen großen Gebetsraum zu schaffen. Das Gesetz schreibt für jüdische Gemeindezentren schußsichere Fenster vor. Für diese Sicherheitsmaßnahmen fallen Kosten in Höhe von 75.000 Euro an. Die Stadt hofft, daß das Land Hessen sie übernehmen wird. Die Kommune selbst wird ab 2005 die Mietkosten für die Räume bezahlen.

Etwas Kopfzerbrechen bereitet ihm nur noch die Parksituation: Lediglich vereinzelte Stellplätze sind mit Glück im angrenzenden kleinen Wohngebiet zu finden. Moritz Neumann indes sieht darin kein großes Problem: Er glaubt ohnehin nicht, daß viele Gemeindemitglieder mit dem Auto angefahren kommen:

Moritz Neumann freut sich. Lange schon hat der Landesverband jüdischer Gemeinden, deren Vorsitzender er ist, für die 300 jüdischen Bürger aus Hanau und Umgebung ein Domizil gesucht. Bereits vor drei Jahren liefen die ersten Gespräche mit der Stadt, die sich von Anfang an sehr interessiert an der Neugründung einer jüdischen Gemeinde zeigte. Doch es war schwierig, einen geeigneten Standort zu finden.

Neumann lobte in diesem Zusammenhang ausdrücklich das Engagement der früheren Oberbürgermeisterin Margret Härtel, die sich spontan und engagiert für die Neugründung eingesetzt habe. Es seien wohl die besonderen politischen Umstände in Hanau gewesen, die dann diesen Prozeß ins Stocken gebracht hätten. Man sei schon lange im Gespräch über die Gemeindegründung gewesen, doch nun sei man dank der Hilfe von Oberbürgermeister Kaminsky und Stadtrat Frodl kurz vor dem Ziel, innerhalb der rund 300 in Hanau lebenden Juden eine Gemeinde nicht nur formal-rechtlich zu konstituieren, sondern es werde auch seitens der Stadt eine für ein Gemeindezentrum geeignete Immobilie bereitgestellt.

Neumann betonte, die in Hanau lebenden Juden seien engagierte, gut ausgebildete und kulturell interessierte Menschen. Es handle sich um Zuwanderer aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, denen einst Helmut Kohl die Tür geöffnet habe. In einer „Entscheidung von geschichtlicher Dimension” habe er die Zuwanderung von Juden aus dem Osten nach Deutschland ermöglicht. Er habe so im Prozeß der Wiedervereinigung Deutschlands Befürchtungen um ein Erstarken Deutschlands in Erinnerung an die deutsche Vergangenheit die Spitze genommen.

Nachdem jüdisches Leben in der Stadt am 30. Mai 1942 endgültig ausgelöscht wurde, als auch die letzten Gemeindemitglieder von den Nationalsozialisten in Konzentrationslager deportiert wurden, hat es keine jüdische Gemeinde mehr in Hanau gegeben. Von den früher hier ansässigen Familien leben bis heute keine Nachkommen in der Stadt; die meisten starben, die Überlebenden, die rechtzeitig geflohen sind, kamen nicht mehr zurück.

Die Juden, die jetzt in Hanau und Umgebung wohnen, stammen durchweg aus der ehemaligen Sowjetunion und sind nach dem Abkommen zwischen beiden Ländern aus dem Jahr 1989 als Zuwanderer nach Deutschland gekommen. Sie mußten bislang in die Synagogen nach Offenbach oder Frankfurt fahren, um am Gottesdienst teilnehmen zu können.

 

Dieser unbefriedigende Zustand soll nun ein Ende haben. Dabei richtet sich das Augenmerk durchaus nicht nur auf die räumliche Situation: Auch „inhaltlich” laufen die Vorbereitungen für ein „funktionierendes Gemeindeleben” bereits, erzählt Moritz Neumann. Was darunter zu verstehen ist? Künftige Mitglieder der Gemeinde werden von der Zentralen Wohlfahrtsstätte der Juden in Deutschland - eine Art Pendant zur Caritas – „angelernt“. Ihnen werden dort in mehreren Unterrichtsstunden die Traditionen jüdischen Lebens vermittelt, die sie in der ehemaligen Sowjetunion nicht ausüben konnten - und deshalb oft überhaupt nicht kennen.

Einmal in der Woche soll künftig der Offenbacher Rabbiner in das Hanauer Gemeindezentrum kommen, ebenfalls einmal in der Woche wird ein Lehrer zu Gast sein, der Kindern Religionsunterricht erteilt. Nach Worten von Moritz Neumann sind aber auch kulturelle Veranstaltungen wie Konzerte und Vorträge geplant. So wird sich das Gemeindezentrum schon bald „mit Leben füllen“, hofft der Landesverbandsvorsitzende. Er kann sich überdies vorstellen, daß sogar noch mehr als die gemeldeten 300 Juden in Hanau leben. Und wenn die Gemeinde wächst, überlegt er, werde sich vielleicht auch eines Tages wieder „die Frage nach einer Synagoge stellen“.

Moritz Neumann prophezeite der Stadt Hanau durch die jüdische Gemeinde eine enorme Bereicherung. Zwar sein die Hanauer Juden gegenwärtig durchweg Sozialhilfeempfänger, „jedoch fiebern sie darauf, ihren Teil zum deutschen Bruttosozialprodukt beizutragen”, wie Neumann bei der Feier erklärte.

 

Im April 2005 wurde im Hindemith-Saal des Congress Parks ein neues Kapitel Hanauer Stadtgeschichte aufgeschlagen: Die Neugründung einer jüdischen Gemeinde in Hanau wurde mit dem Festakt zur Schlüsselübergabe für das neue Gemeindezentrum in der Wilhelmstraße abgeschlossen. Künftig wird es in Hanau eine eigenständige jüdische Gemeinde geben, die sich hauptsächlich aus Neubürgern aus der ehemaligen Sowjetunion zusammensetzt. Sie kann auf eine ins frühe 17. Jahrhundert zurückreichende Tradition jüdischen Lebens in dieser Stadt zurückblicken, die jedoch seit 63 Jahren durch die Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten und den Völkermord an den Juden unterbrochen war.

 

Mit der Feierstunde ist aus der in diesem Beschluß manifestierten historischen Verantwortung Hanauer Wirklichkeit geworden, ein Signal, nicht nur aus dem Blickwinkel der Geschichte, sondern auch der politischen Gegenwart in diesem Land, die ja nicht frei ist von Radikalismus und Antisemitismus. Mit der Schlüsselübergabe kann die erst vor einer Woche auch formaljuristisch gegründete Jüdische Gemeinde Hanau ihr Domizil in Besitz nehmen.

Ein Zeichen der Hoffnung sah denn auch Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) in dem Unternehmen. 1948 habe es der Jüdische Weltkongreß als unvorstellbar erklärt, daß auf dem mit jüdischem Blut getränkten deutschen Boden jemals wieder jüdisches Leben sprießen werde. In der Vita des Moritz Neumann, Angehöriger der ersten Nachkriegsgeneration deutscher Juden, den Kaminsky als Vorsitzenden des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen begrüßte, und aus dessen Buch „Im Zweifel für Deutschland” der Oberbürgermeister zitierte, zeige sich deren selbstverständliches Recht, hier zu leben und an der Gestaltung einer neuen, freiheitlichen Gesellschaft mitzuwirken.

Auch in Hanau, so Kaminsky, habe es schon sehr bald nach dem Kriege und bis in die jüngste Zeit Bestrebungen gegeben, die Geschichte der Hanauer Juden nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und Kontakte zu den Überlebenden des Völkermordes zu knüpfen. Geschichtsverein, Arbeitskreis Christen und Juden oder der Verein „Graf Philipp Ludwig von Hanau“ hätten dazu beigetragen. Doch bis zum heutigen Tag sei „die entscheidende Frage für die Stärke und die Stabilität unserer Demokratie, wie sicher und vielleicht auch wie zuhause sich deutsche Juden und ihre Gemeinden in unserem Land fühlen”, stellte Kaminsky fest. Mit der Gründung einer neuen jüdischen Gemeinde in Hanau sei man diesem Ziel ein Stück näher gekommen, „aber wir haben es noch längst nicht erreicht”.

Der Oberbürgermeister: „Wie es uns gelingt, das Wachsen der jüdischen Gemeinde bei uns zu fördern und zu unterstützen, ist ein Gradmesser für unsere Fähigkeit, eine offene und tolerante Gesellschaft zu schaffen. Wir sind, dessen können Sie gewiß sein, entschlossen, diese 'zweite Chance' zu nutzen - auch wenn es nicht einfach wird: Rechtsextreme Gewalt und Anschläge auf jüdische Einrichtungen stellen das neue jüdische Leben immer wieder in Frage. Weite Teile des jüdischen Lebens finden unter Polizeischutz statt.” In der Tat, auch am Sonntag war die Polizeipräsenz um die Stadthalle herum unübersehbar.

Als Vertreter des Hessischen Ministerpräsidenten sprach Regierungspräsident Gerold Dieke ein Grußwort. Nach Meinung vieler Anwesender hätte die Präsenz der Landesregierung bei diesem doch weit über den lokalen Rahmen hinaus bedeutsamen Ereignis durchaus etwas hochkarätiger sein können. Dieke versicherte dem Landesverband mit seinen elf aktiven Gemeinden auch für die Zukunft die Unterstützung des Landes Hessen, und unterstrich, daß sich das Land auch weiterhin der jüdischen Friedhöfe annähme, hinter denen keine Gemeinde mehr stünde.

„Wann, wenn nicht jetzt?” Mit dieser Frage eröffnete Moritz Neumann seine Rede, in welcher er einige Hintergründe der Gemeindegründung erläuterte. Nach dem Zerfall der Sowjetunion vor anderthalb Jahrzehnten habe die Bundesrepublik ihre Grenzen für jüdische Einwanderer aus Osteuropa geöffnet, um einerseits zu demonstrieren, daß Juden heute ein Deutschland sicher leben können, zum andern aber auch um die bestehenden Gemeinden zu stärken.

So seien auch nach Hanau Bürger aus der ehemaligen Sowjetunion gekommen, die erstmals ein ihrem Leben erfahren hätten, was Freizügigkeit bedeute und daß man hier auch frei seinen jüdischen Glauben leben könne. Manche Gepflogenheiten im Zusammenleben müßten jedoch auch sie erst lernen. Neumann nutzte die Gelegenheit nicht nur, um auf den engen Finanzrahmen seines Landesverbandes hinzuweisen, der ein weiteres Engagement von Land und Stadt unumgänglich mache. Die Innenministerkonferenz warnte Neumann davor, die Einreisebestimmungen für Juden aus Osteuropa künftig wieder restriktiver zu handhaben: „Meint man etwa, 10.000 jüdische Einwanderer seien schon genug?”, fragte er.

Ein Grußwort der christlichen Kirchen sprach in ökumenischer Funktion die stellvertretende Bischöfin Roswitha Alterhoff. „Hanau hat eine gute Tat vollbracht”, sagte sie namens der beiden Bischöfe und wollte die auch ihrem Auftritt praktizierte Ökumene alsbald in Richtung der jüdischen Gemeinde erweitert sehen. Der Architekt des neuen Hauses, Professor Alfred Jacoby, übergab sodann den Schlüssel des Gemeindezentrums an die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Hanau, Raja Grise. Diese bezog sich in ihren Worten auf die auf Graf Philipp Ludwig II zurückgehende Geschichte der Juden in Hanau und gab ihrer Hoffnung Ausdruck, daß die Mitglieder der neuen Gemeinde alsbald als Lehrer, Computerspezialisten oder Krankenschwestern zum wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Leben in dieser Stadt beitrügen.

Die Eintragung ins Goldene Buch besiegelte diese Worte, ehe eine Thora-Rolle durch den Schloßgarten in das nahe gelegene Gemeindezentrum getragen wurde. Damit wurde das Haus endgültig zu einem heiligen Ort, der sich gleichwohl, wie Raja Grise vorher unterstrichen hatten, als Ort für alle Hanauer verstünde. Mit einem Gottesdienst und einem Empfang, bei dem Speisen nach den jüdischen Speisegeboten offeriert wurden, feierte dann die Gemeinde mit zahlreichen Hanauern die Eröffnung des Gemeindezentrums.

 

Eine Ausstellung in Philippsruhe im Jahr 2005 erinnert an „400 Jahre Judenstättigkeit”. Der Gegensatz könne kaum größer und grausamer sein: Dort die beschaulichen Bilder altjüdischen Familienlebens von Moritz Daniel Oppenheim aus den Jahren um 1860, einer Zeit der Emanzipation und Integration der Juden in die bürgerliche Gesellschaft. Moritz Daniel Oppenheim (1800-1882), einer der bedeutendsten Hanauer Maler, hat solche Szenen jüdischen Lebens in schwarz-weißen Grisaillegemälden festgehalten, die als Vorlage für eine Fotoserie dienten, die in ihrer Zeit ein richtiger Verkaufsschlager war. Daneben zeigt die Ausstellung etliche weitere Arbeiten des Künstlers aus der Sammlung des Hanauer Museums, mittlerweile die größte mit seinen Werken.

Und wenige Meter weiter die bedrückenden Fotografien Franz Webers, der mit seiner Kamera am Hauptbahnhof die Deportation der Hanauer Juden dokumentiert hat. Die Bilder des damaligen Stadtfotografen sind die letzten Zeugnisse der gewaltsamen Verschleppungen der letzten Hanauer Jüdinnen und Juden am 30. Mai und am 5. September 1942 auf dem Hanauer Hauptbahnhof. Die Ausstellung präsentiert die Bilder der der Deportation übergroß und in einem eigenen Raum: Bilder, die eine erschreckende Alltäglichkeit des Ungeheuerlichen belegen. Neben den jüdischen Bürgern mit ihren voll gepackten Koffern, hasten andere Hanauer zu ihren Zügen, normale Schutzpolizisten als Wache; sie alle haben die Schlange in den Tod gesehen. Aus dem früheren Stadtgebiet wurden 50 Menschen, Männer, Frauen und Kinder deportiert. Sie alle wurden in Konzentrationslagern ermordet. Von zirka 600 Gemeindegliedern um 1933 erlitten über 200 dieses gleiche Schicksal.

Die Schau vermag einen, wenn nicht umfassenden, so doch anschaulichen Eindruck jüdischen Lebens in Hanau zu vermitteln. Das fängt an mit der Urkunde zur Judenstättigkeit vom 28. Dezember 1603, mit der Graf Philipp Ludwig den Juden die Gründung einer Gemeinde gestattete - womit er nach der Aufnahme niederländischer und wallonischer Glaubensflüchtlingen einmal mehr Toleranz und Weitsicht bewies: Denn so wie die neuen Siedler trugen auch die Juden zum Aufschwung Hanaus bei. Auch die alten Pläne zur Baugeschichte der Synagoge in der Nordstraße sind noch erhalten. 1603 errichtet, bekam sie 1845 einen Anbau mit neoromanischer Fassade und wurde 1901 und in den 20er Jahren erweitert, nachdem die Gemeinde stetig gewachsen war bis auf die 600 Mitglieder, die sie vor ihrer Auslöschung hatte. Interessant auch der Plan des Frauenbades, wo sich die Jüdinnen tief unter der Erde im Grundwasser wuschen. Gemälde zeigen heutigen Betrachtern zudem, wie eng die Menschen in der Judengasse gelebt haben müssen.

Der zweite Raum birgt besondere Kostbarkeiten: Publikationen der hebräischen Druckereien in Hanau und alte jüdische Pergamenthandschriften - Kommentare zur Bibel oder Teile von Gebetbüchern - aus dem 11. bis 17. Jahrhundert. Überlebt haben sie zweckentfremdet als Einbände für Rechnungsbücher; Buchbinder hatten sie im Gros eigens für diesen Zweck aufgekauft. Ein Wer­mutstropfen: Bislang hat sich noch niemand gefunden, der die wertvollen Schriftstücke übersetzen kann.

Nicht nur für den Buchdruck, ebenso für die Produktion von Silbergerät war Hanau einst eine Hoch­burg. Dort wurden auch Leuchter, Schalen und andere Gefäße hergestellt, die jüdische Familien bei ihren Glaubensriten verwendeten. In Philippsruhe ist eine Auswahl von Produktionen nach Originalmodeln zu sehen, darunter aufwendige Leuchter mit Löwenköpfen für das Channukkahfest oder Duft verströmende Besanimtürmchen für den Sabbat.

 

Arbeitskreis „Christen und Juden“:

 „Mit einem „symbolischen Schneeschippen“ haben im Januar 2003 vor dem Goldschmiedehaus mehrere Menschen der Opfer des Nationalsozialismus in Hanau gedacht. Aufgerufen zu dem von dem damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog im Jahre 1995 proklamierten Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus - am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrationslager Auschwitz vom Nazi-Terror befreit - hatte der evangelische Arbeitskreis „Christen-Juden“ in Hanau. Zuvor hatte das Hanauer Parlament für die Opfer des Schreckensregimes eine Schweigeminute eingelegt.

Mit dem „Schneeschippen“ wollten die etwa 30 Teilnehmer der Gedenkveranstaltung vor dem Goldschmiedehaus auf die Zwangsarbeiten aufmerksam machen, die jüdische Hanauer Bürger, egal welchen Alters, in der Zeit vor der Deportation in die Konzentrationslager leisten mußten. Einige Teilnehmer der Veranstaltung hatten sich Judensterne angeheftet, um zu zeigen, daß die jüdischen Mitbürger damals in aller Öffentlichkeit und für jeden, der nicht seine Augen verschloß, sichtbar ausgegrenzt wurden.

Im weiteren Verlauf der Gedenk-Veranstaltung warb der Großkrotzenburger Pfarrer Heinz Daume für sein im November vergangenes Jahres ins Leben gerufenen Projekt „Gedenksteine“, unterstützt von der Autorin der Dokumentation „Juden in Hanau“, Monica Kingreen.

Mit diesen Gedenksteinen, die mit dem Namen eines der am 30. Mai und am 5. September 1942 vom Hanauer Hauptbahnhof aus deportierten 50 jüdischen Mitbürgern versehen sein sollen, will Daume die Erinnerungen an die später in den Lagen umgebrachten Menschen wach halten. Er selbst hat sich den Namen des damals fünfjährigen Jungen Heinz Eisenstätt ausgesucht und seinen eigenen Name hinzugefügt. Schon mehrere Hanauer hätten signalisiert, sich an dieser Aktion zu beteiligen, so Daume.

Insgesamt 50 Gedenksteine sollen an die Deportation erinnern. Die Namen der Opfer kann man vom Arbeitskreis unter der Rufnummer 06186 / 900607 erfahren. Kriterien für die Auswahl des persönlichen Steins könnten sein: selbes Geschlecht oder Alter, ähnlicher Beruf oder ähnliche Lebenssituation. Der Arbeitskreis wird dann ein Dokument anlegen, das Auskunft gibt über die Familie, die frühere Wohnung oder über Besonderheiten und den Todesort (soweit bekannt) des Opfers und eventuell über die Gründe, warum der Stifter gerade diesen Stein für dieses Opfer beschriftet hat.

Die Steine sollen zunächst im Neustädter Rathaus ausgestellt werden. Später kann die Sammlung an andere öffentliche Orte wandern. Die letzte Station soll der Hanauer Hauptbahnhof sein, um auf die Rolle der Reichsbahn während der Naziherrschaft aufmerksam zu machen.

 

Elisabeth Schmitz:                                                    

„Sie war ihrer Kirche theologisch und menschlich weit voraus”, urteilte ein Kirchenhistoriker über die Autorin der im September 1935 verfaßten Denkschrift „Zur Lage der deutschen Nichtarier”. Den richtigen Namen der Autorin kannte bis vor wenigen Jahren kaum jemand. Erst seit 1999 ist Elisabeth Schmitz (1893-1977) als die Protestantin bekannt, die die Bekennende Kirche im Dritten Reich aus Schweigen und Tatenlosigkeit angesichts der Judenverfolgung aufrütteln wollte.

Elisabeth Schmitz wurde am 23. August 1893 in Hanau geboren. Seit 1933 hatte sie, damals Studienrätin in Berlin, Fakten und Berichte über Diskriminierungen und Benachteiligungen von Juden gesammelt und die Erfahrungen ihrer persönlichen Freunde notiert, darunter viele Juden und Christen jüdischer Herkunft. Sie erlebte, wie „christliche Nichtarier” aus der Kirche austraten, weil sie sich von ihr verraten und im Stich gelassen fühlten.

„Die Kirche macht es einem bitter schwer, sie zu verteidigen”, schrieb sie in der 25 Seiten umfassenden Denkschrift. Die unzähligen von ihr darin berichteten Beispiele von Judendiskriminierung ließen sie zu dem Urteil kommen, „daß es keine Übertreibung ist, wenn von dem Versuch der Ausrottung des Judentums in Deutschland gesprochen wird”. Die Denkschrift ist ein erschütternder Bericht, der alle Lügen straft, die später von nichts gewußt haben wollten.

Jahrzehnte wurde das Dokument jedoch der damals ebenfalls in Berlin lebenden Wohlfahrtspflegerin Marga Meusel zugeschrieben. Diese hatte im Mai 1935 eine erste Denkschrift mit dem Titel „Über die Aufgaben der Bekennenden Kirche an den evangelischen Nichtariern” verfaßt. Trotz deutlicher Unterschiede zwischen beiden Denkschriften galt sie als Verfasserin auch der zweiten.

Die wahre Urheberschaft blieb im Dunkeln, bis die Kasseler Pfarrerin Dietgard Meyer vor vier Jahren Dokumente zur Autorenschaft von Schmitz vorlegte. Die heute 80-jährige, im Ruhestand lebende Pfarrerin, in Berlin Schülerin von Elisabeth Schmitz, war in den 80er Jahren in den Besitz deren Nachlasses gekommen. Darin fand sie zu ihrer Überraschung die Denkschrift sowie eine Bescheinigung aus dem Jahr 1947, in der der damalige Langendiebacher Propst die Verfasserschaft der Autorin bestätigte.

Meyer, die in den 50er und 60er Jahren als Pfarrerin in Hanau wirkte und damals oft mit ihrer einstigen nun ebenfalls in Hanau lebenden Lehrerin zusammenkam, reichte der Fund noch nicht aus für eine Veröffentlichung. Erst nach jahrelanger Suche nach weiteren Belegen wurde sie im Wiesbadener Staatsarchiv fündig. Dort entdeckte sie ein mit dem 5. März 1947 da­tiertes „Gesuch um Anerkennung als Wie­dergutmachungsfall und um Übernahme in den Schuldienst Groß-Hessens”. Ihrem Gesuch hatte Schmitz Beweise ihres akti­ven Widerstandes gegen den Nationalso­zialismus beigelegt, darunter die Denk­schrift.

Eigenhändig in 200 Exemplaren habe sie die Denkschrift abgezogen und Leitun­gen und Persönlichkeiten der Bekennenden Kirche (BK) zugestellt, berichtete Schmitz in dem Gesuch. „Ich wollte mit dieser Schrift aufklären über die Lage der Nichtarier (1935/1938) und dadurch die Bekennende Kirche rufen zu ihrem Amt und zum Widerstand gegen die antichristlichen Maßnahmen des Staates.” Bekanntlich waren diese Versuche vergebens.

Elisabeth Schmitz, deren Vater Professor am Hanauer Gymnasium Hohe Landesschule war, besuchte das Realgymnasium Schillerschule in Frankfurt am Main bis zum Abitur 1914. Danach studierte sie Religion, Geschichte und Deutsch in Bonn und Berlin, wo sie 1920 bei Friedrich Meinecke promovierte. 1929 wurde sie am Oberlyceum Luisenschule in Berlin-Mitte als Studienrätin angestellt. Wegen ihrer „radikalen Ablehnung des Nationalsozialismus” wurde sie 1935 an die Auguste-Sprengel-Schule in Berlin-Lankwitz versetzt. Nach der Pogromnacht 1938 gab sie den Schuldienst auf, weil sie „nicht länger Beamtin einer Regierung sein will, die Synagogen anstecken läßt”. Nachdem sie ihren Schuldienst quittiert hatte, arbeitete Elisabeth Schmitz ehrenamtlich für die Bekennende Kirche; unter anderem erteilte sie Religionsunterricht für Juden, die sich taufen lassen wollten.

Bei einem Bombenangriff brannte ihre Wohnung in Berlin vollständig aus. Seit 1943 lebte sie wieder in Hanau. Nach dem Krieg sei sie noch eine Zeit bei der niederländisch-reformierten Gemeinde aktiv gewesen, weiß Dietgard Meyer. Nach der Pensionierung 1958 engagierte sie sich im Hanauer Geschichtsverein und veröffentlichte zahlreiche heimatgeschichtliche Beiträge. Sie starb im Jahr 1977.

 

Steinheim

Nach fünf Jahren intensiver Recherche prä­sentierten Vertreter des Geschichtsvereins Steinheim und Stadtrat Rolf Frodl das umfas­sende Buch über die Geschichte der Juden in Steinheim – ein Buch voller Erinnerungen an eine Zeit, die viele längst vergessen ha­ben. Spuren lassen sich nicht verwischen. Wer genau hinschaut, findet sie. Ernst Henke hat genau hingeschaut und mit seinem Buch über die Geschichte der Ju­den in Steinheim ein Werk geschaffen, daß bis ins Detail von den Menschen erzählt, die immer mehr in Vergessenheit geraten sind. Für Henke war diese Suche nicht nur eine Auseinandersetzung mit der deutschen Ge­schichte, sondern auch mit der eigenen Ver­gangenheit.

Der Hanauer Kulturdezernent Rolf Frodl dankte bei der Vorstellung des Buches im Steinheimer Schloß den Autoren für ihre „mühevolle Arbeit” und ihre „Lust am For­schen nach dieser spannenden und zugleich wichtigen Geschichte.” Frodl: „Wenn dieses Buch eine neue Spur der Zukunft zeigt, wäre das schön.”

Diese Spurensuche trage einen wesentli­chen Teil zum Erhellen der jüdischen Ge­schichte bei, betonte der Politiker. Auf 408 Seiten werde auch deutlich aufgezeigt, daß Antisemitismus nicht erst während der Nazi­herrschaft zum Begriff geworden sei, son­dern bereits zuvor eine jahrzehntelange Vor­geschichte hatte.

Für Henke hat das Buch „viele Väter und Mütter”. Für ihn und seine Mitautoren Leo Mayer und Willi Walther sei es eine objektive und persönliche Auseinandersetzung mit der Geschichte gewesen. Henke: „Die Recherchearbeiten haben mir gezeigt, wie wenig ich von der deutschen Geschichte gewußt habe, obwohl ich Geschichte studiert habe”.

Das Buch habe vieles zurechtgerückt, was er vorher geglaubt habe. Besonders die Beschäftigung mit der Zeit des Leidens der Juden im Dritten Reich sei ihm sehr nahe gegangen. Betroffenheit, die sich auch bei seiner Erläuterung zum Buch zeigte: „Ich mußte die Bearbeitung immer wieder unterbrechen und konnte sie nur in größeren Abständen wieder aufnehmen.”

Die Idee zum Buch kam, als Enrique Oppenheimer bei einem Besuch in Steinheim vorgeschlagen hatte, die Geschichte der Juden einmal aufzuschreiben. Enrique (Heinrich) Oppenheimer war der Sohn des Religionslehrers Leopold Oppenheimer, der 1897 als Volksschullehrer, Vorbeter und Religionslehrer nach Groß-Steinheim kam. Er wurde vor allem von den Kindern „Rabbi” genannt. Erst Enrique Oppenheimer machte die Autoren schließlich darauf aufmerksam, daß sein Vater gar kein Rabbi war.

Willi Walther griff die Idee von Oppenheimer auf und fing damit an, unterschiedliche Quellen zusammen zu fassen. Die Vielfalt der chronischen Ereignisse kann Enrique Oppenheimer, der Initiator dieser Chronik, nicht mehr nachlesen, er starb vor drei Jahren.

Als die ehemalige jüdische Bürgerin Ruth Aufseeser, geborene Selig, zu Besuch war, spürten die Geschichtsforscher, daß sich hinter dem, was sie gesammelt hatten, viel mehr verbirgt. So wurde aus einem anfangs kleinen Büchlein eine umfassende Chronik. Jahreslanges Stöbern in unterschiedlichen Archiven, Kontaktaufnahme zu ehemaligen jüdischen Mitbürgern und gezielte Befragungen von Steinheimern folgten.

Die Geschichte der Juden in Steinheim begann 1335, 15 Jahre nachdem der König und spätere Kaiser Ludwig der Bayer Gottfried V. von Eppstein dem Ort Steinheim die Stadtrechte verliehen hatte. Die Juden standen damals vielfach als Einzelpersonen unter dem Schutz des Königs.

1938 endete die Geschichte der Juden in Steinheim gewaltsam. Namentlich bekannt sind 31 Steinheimer Juden, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden.

Relikte der jüdischen Geschichte gibt es nur wenige. Wer die Darmstädter Straße entlang Richtung Südfriedhof läuft, erkennt auf der rechten Seite an einer Grünfläche ein Hinweisschild auf den früheren jüdischen Friedhof. Heute ein Platz, der vor allem von Hunden frequentiert wird, wenn sie Gassi geführt werden.

Wie sehr die Geschichte der Juden verdrängt wurde, zeigt sich nicht nur dadurch, daß Gebäude niedergebrannt und beseitigt wurden, auch die Umbenennung von Straßen trug dazu bei, daß kaum jemand noch an das Schicksal dieser Menschen denkt. So heißt die einstige „ Judengasse” heute „Harmoniestraße”. Nur ein Beispiel dafür, wie unsensibel mit menschlichen Tragödien umgegangen wurde. Das Buch aus dem Jahr 2003 ist zum Preis von 19,80 Euro im Buchhandel erhältlich.

 

Ein Gesicht für jüdische Tradition                                                                            14.04.07

Förderkreis plant Denkmal für Hanauer Maler Moritz Daniel Oppenheim

Der Förderkreis „Denkmal Moritz Daniel Oppenheim“ lädt zu einem Treffen ein, das am Donnerstag, 19. April, 19 Uhr, im Jüdischen Gemeindezentrum, Wilhelmstraße 11a, stattfindet. Der Maler Moritz Daniel Oppenheim ist einer der großen Söhne Hanaus, die Weltberühmtheit erlangt haben. Er wurde im Jahre 1800 in der Judengasse, heutige Nordstraße, geboren und verbrachte seine Kindheits- und Jugendjahre in Hanau. Ab 1806 besuchte er die Hohe Landesschule und mit 14 Jahren die Staatliche Zeichenakademie.

Von 1817 bis 1819 absolvierte er ein Studium an der Kunstakademie in München. Zwischen 1820 bis 1825 begab er sich auf Studien nach Paris, Rom, Florenz und Neapel und ließ sich anschließend in Frankfurt nieder. Dort starb er 1882.

Durch seine Arbeiten wurde die jüdische Welt des 19. Jahrhunderts in einzigartiger Weise in Bildern bewahrt, so Pfarrer Heinz Daume vom Förderkreis. „Wir möchten sein Lebenswerk in Hanau würdigen. Wir können damit einen Beitrag leisten, die Persönlichkeit dieses Mannes und mit ihm die Geschichte der jüdischen Gemeinde als Teil der Geschichte Hanaus stärker und nachhaltig für kommende Generationen ins Bewußtsein der Öffentlichkeit zu bringen.” Deshalb habe man am 28. November einen überparteilichen Förderkreis mit dem Zweck gegründet, dem Maler in der Nähe seines einstigen Geburtshauses ein Denkmal (Statue, Gedenktafel, Bild oder ähnliches) zu errichten. In der heutigen Zeit sei das zudem ein wichtiges, politisches Zeichen gegenüber den jüdischen Menschen in Stadt und Land.“ Daume weiter: „Darüber hinaus gilt es unserer Meinung nach, der jüdischen Tradition in der Nordstraße ein Gesicht zurück zu geben, das auf die über 400-jährige Geschichte dieser Straße weist.”

Der Förderkreis möchte viele Menschen in Hanau und Umgebung, die zur Umsetzung beitragen können, für diese Idee gewinnen. Sie hat eine Bedeutung weit über die Stadt hinaus. Zur Verwirklichung des Vorhabens möchten die Initiatoren eine Spenden- und Sponsorensammlung anregen, hoffen aber auch auf die Unterstützung aus der Politik. Initiiert wurde der Förderkreis von der Jüdischen Gemeinde Hanau, der Hanauer Nordstraßengemeinschaft, dem Hanauer Geschichtsverein 1844 und dem evangelischen Arbeitskreis Christen - Juden Hanau.

 

Hanau

Bereits im 14. Jahrhundert existierte in Hanau ein kleine jüdische Gemeinde. Ab 1603 bemühte sich Graf Philipp Ludwig II. aus wirtschaftlichen Erwägungen um die Ansiedlung einer jüdischen Gemeinde in Hanau. In der sogenannten „Judenstättigkeit“ gewährte er alle Bedingungen zur freien Ausübung der jüdischen Religion. Die jüdische Gemeinde hatte das Recht, eine Synagoge und eine Mikwe zu errichten, einen Rabbiner zu haben, Schulen für religiöse Erziehung zu unterhalten und einen Friedhof anzulegen

Ein eigener jüdischer Wohnbezirk, die Judengasse (heute: Nordstraße) wurde auf dem zugeschütteten Stadtgraben angeklagt. Im Scheitelpunkt der Judengasse wurde 1608 die Synagoge errichtet, 1845 und 1922 wurde sie erweitert. Sie war für 330 Jahre das Zentrum jüdischen Lebens in Hanau.

Die Judengasse war bis zur Besetzung Hanaus durch französische Truppen ein Ghetto mit abschließbaren Toren. Zu dieser Zeit lebten 540 Menschen in 80 Häusern der Judengasse. Mit der rechtlichen Gleichstellung der Juden im 19. Jahrhundert löste sich allmählich die eigenständige jüdische Lebenswelt der Judengasse auf.

Im Jahre 1898 wurde die Judengasse in Nordstraße umbenannt. Zu dieser Zeit war ein neues jüdisches Gemeindehaus mit moderner Mikwe in der Nürnberger Straße 3 entstanden. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur nationalsozialistischen Diktatur wirkten Hanauer Juden am wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Leben der Stadt mit. Auch in zahlreichen Vereinen engagierten sie sich. Sie waren Soldaten in mehreren Kriegen. Im Ersten Weltkrieg gab es zehn jüdische Gefallene. Im Jahre 1932 hatte Hanau 630 jüdische Einwohner.

 

Während der nationalsozialistischen Diktatur wurden jüdische Bürger diskriminiert, entrechtet und verfolgt. Ihrer Existenzgrundlage beraubt, verließen viele ihre Heimat und flüchteten ins Ausland. Andere suchten Zuflucht in der Großstadt Frankfurt oder in anderen Städten. Im Mai 1938 wurden die Eingänge der Synagoge in einer gezielten antisemitischen „Aktion“ zugemauert. In den Mittagsstunden des 10. November 1938 entweihten Hanauer Nazifunktionäre und ihre Helfer die Synagoge, demolierten die Inneneinrichtung und setzten das Gebäude in Brand. Die Synagoge wurde bis auf die Außenmauern zerstört. Mehrere Hundert Schaulustige waren anwesend. Anschließend richtete sich die Zerstörungswut gegen den jüdischen Friedhof in der Mühltorstraße, der durch das Niederbrennen der Leichenhalle und das Umstürzen von Grabsteinen geschändet wurde.

Während des Novemberpogroms wurden jüdische Familien in ihren Wohnungen überfallen und mißhandelt. Lehrer Sulzbacher aus der Nürnbergerstraße 3 starb an seine Verletzungen. Zahlreiche jüdische Männer wurden verhaftet und für mehrere Wochen in das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar verschleppt. Auch zahlreiche Geschäfte jüdischer Inhaber wurden zerstört.

Ab -september 1941 waren jüdische Menschen, auch Kinder ab sechs Jahren, gezwungen, einen Stern zu tragen. Viele wurden auch zur Zwangsarbeit eingesetzt. Jüdische Familien wurden ab etwa 1940 in „Ghettohäusern“ in der Nürnbergerstraße 3, in der Langstraße 53 und in der Marktstraße 28 zusammengepfercht.

Von dort aus wurden 29 Personen am 30. Mai 1942 und weitere 21 am 5. September 1942 vom Hanauer Hauptbahnhof gewaltsam verschleppt. Auch nach Frankfurt Verzogene wurden 1941/42 in Ghettos und Vernichtungslager im Osten verschleppt und ermordet. Insgesamt wurden mehr als 200 jüdische Hanauer ermordet (Informationstafel am Gedenkstein für die Synagoge).

 

 

 

 

Großkrotzenburg

Synagoge:

Die ehemalige Synagoge in der Steingasse 10 hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Im Jahr 1820 stellte die „israelitische Gemeinde Großkrotzenburg am Main“ ein Baugesuch für eine Synagoge, das allerdings zunächst abgelehnt wurde, so daß das Projekt erst 1826 realisiert werden konnte. In den folgenden Jahrzehnten wurde die Synagoge mehrmals erweitert: Im Jahr 1864 ließ die Gemeinde die Empore - den für die Frauen zugänglichen Bereich - vergrößern; 1900 wurde das Gebäude verlängert und auf seinen jetzigen Grundriß gebracht.

Nach der Pogromnacht am 9. November 1938 fand auch die Großkrotzenburger Synagoge ihr Ende als jüdisches Gotteshaus. Zwar wurde das Gebäude wegen des vehementen Protestes einer Nachbarin nicht angezündet. „Am folgenden Tag jedoch kam der Dorfschullehrer und schlug mit seiner Klasse alles kurz und klein“, erzählt Daume.

Im März 1939 kaufte der Landwirt Joseph Vogt das Gebäude. Sein Bruder errichtete dort eine Maschinenstrickerei, die bis Dezember 1947 bestand. Im Mai 1952 verkaufte Vogt die ehemalige Synagoge an die evangelische Kirchengemeinde, die sie in eine Kapelle umwandelte. „Nach dem Krieg waren viele Protestanten zugezogen und suchten nun nach einem Ort für ihre Gottesdienste“, erklärt Daume. Die „Immanuel Kapelle“ wurde genau 14 Jahre nach der Pogromnacht, am 9. November 1952, eingeweiht und war bis zur Fertigstellung des Gemeindezentrums 1974 die evangelische Kirche.

Im Jahr 1977 nahm die Gemeinde Großkrotzenburg das Gebäude in Pacht, womit dessen Zweckentfremdung allerdings mitnichten beendet war: Die Aquarien- und Terrarienfreunde zogen ein und nannten die ehemalige Synagoge fortan ihr Vereinsheim. Erst in den 80er Jahren begann die Diskussion um eine alternative Nutzung.

Im September 1986 faßte das Großkrotzenburger Parlament den Beschluß, die ehemalige Synagoge in eine Kultur- und Gedenkstätte umzugestalten. Die Gemeinde kaufte das Gebäude 1988 und ließ es sanieren; die jüdische Architektin Dr. Thea Altaras, Autorin einer Dokumentation über hessische Synagogen, wurde als Beraterin engagiert. „Man sollte sehen, daß es eine Landsynagoge war“, erinnert sich Pfarrer Daume an den Umbau, bei dem der Innenraum dem vorhandenen Baustil entsprechend gestaltet, eine kleine Bühne und eine Ausstellungsfläche auf der Empore geschaffen wurde. Die Künstlerin Dina Kunze - von der auch das Denkmal vor der Synagoge stammt - schuf eine bronzene Tafel mit den Namen der ermordeten Großkrotzenburger Juden.

„Als die Arbeiten beendet waren, kam die Frage auf, wie man das Gebäude sei­ner Bedeutung als Gedenk- und Begeg­nungsstätte zuführen kann und zwar so, daß es von der Bevölkerung angenommen wird“, berichtet Daume, der auch Vorsit­zender des „Evangelischen Arbeitskreises Christen – Juden“ ist - und der Mei­nung, daß es die Aufgabe ersterer sei, „das Gedenken zu organisieren“. „Das kann nicht Sache der Juden sein“, sagt der Pfarrer auch im Hinblick darauf, daß in der Diskussion um das Denkmal der Vorschlag aufkam, die jüdische Gemeinde in Frankfurt um eine Spende zu bitten.

„Es war schnell klar, daß das Konzept nur umzusetzen sein würde mit einem fe­sten, ständigen Kreis“, erinnert sich der Pfarrer. Nach der Gründungsversamm­lung 1992 kristallisierte sich ein laut Dau­me „bunt gemischter“ Stamm von 15 Mitgliedern heraus, die im Jahr zehn bis zwölf Veranstaltungen organisieren und der Gemeinde damit auch ein Stück Kul­turarbeit abnehmen, wie der Vorsitzende des Kreises sagt. Regelmäßig auf dem Programm stehen Lesungen, jüdische Folklore und Musik, Filme, Vorträge und Exkursionen - etwa zu den Synagogen in Darmstadt oder Frankfurt - sowie die alljährliche Holocaust-Gedenkfeier am 9. November; dauerhaft sind außerdem eine Ausstellung mit Dokumenten aus der jüdischen Gemeinde und rituelle Gegenstände zu sehen. In der Regel werden die Veranstaltungen gut besucht - wenngleich es einige gibt, „die sich überhaupt nicht für unsere Arbeit interessieren, wie Daume nüchtern feststellt. Dafür reicht der Publikumsstamm aber auch über die Ortsgrenzen hinaus, sogar bis nach Frankfurt.

„Das ist unser Beitrag, Geschichte aufzuarbeiten, denn die Zeitzeugen fallen langsam aus. Wenn Menschen nicht mehr da sind, müssen uns die Steine helfen“, sagt Heinz Daume über sein Verständnis von dem, was der Arbeitskreis „Ehemalige Synagoge“ zu leisten hat. Der Arbeitskreis, dessen Vorsitzender der evangelische Pfarrer ist, gründete sich 1992, um „Veranstaltungen zu ermöglichen, die das Verständnis vom Judentum und Israel fördern“, wie es in einem Informationsblatt heißt. Dazu gehören Themen wie die Großkrotzenburger Ortsgeschichte, jüdische Religion und Kultur, das Verhältnis zwischen Christen und Juden, deren Leben in Deutschland und Israel sowie der Holocaust.

Ein wichtiger Eckpfeiler ist die Zusammenarbeit mit den Schulen, wobei die Kinder und Jugendlichen nicht nur passiv durch Informationsveranstaltungen, sondern auch aktiv an die Geschichte der Juden herangeführt werden sollen. Als einen wesentlichen Aspekt dabei bezeichnet Heinz Daume die „Spurensuche“ So beteiligen sich Schüler der Kreuzburg unter der Leitung der Religions- und Geschichtslehrerin Monika Pfeifer, die ebenfalls Mitglied im Arbeitskreis ist, an dem, was Daume „das Friedhofsprojekt“ nennt. So haben die jungen Leute Abraham Frank aus Jerusalem zugearbeitet, der die Inschriften auf den Gräbern übersetzt hat, indem sie die Grabmäler aus Sandstein gesäubert haben: „Wenn wir Glück haben, kriegen wir eine Dokumentation zusammen“, hofft Monika Pfeifer. Das wäre das nächste große Ziel des Arbeitskreises: ein Bildband über den Friedhof mit Fotografien und den Übersetzungen der Grabsteine, der außerdem auch ein Stück Ortsgeschichte nachlesbar aufbereitet

 

Vorplatz:

Kein Grün ziert den Platz und graue Waschbetonplatten bedecken den Boden. Die rund 60 Quadratmeter vor der ehemaligen Synagoge in Großkrotzenburg sind mehr Autoabstellplatz, denn würdiger Aufgang für eine Gedenkstätte. „Es ist nötig, daß die Synagoge auch außen eine inhaltliche Aussage erhält”. Heinz Daume, evangelischer Pfarrer und Mitglied des Großkrotzenburger Arbeitskreises „Ehemalige Synagoge”, ist die Enttäuschung anzumerken. Auch drei Jahre nach der Renovierung der Gedenkstätte 1992 ist bei der Gestaltung des Vorplatzes keine greifbare Lösung in Sicht. Der Bauausschuß hat in seiner jüngsten Sitzung eine Entscheidung vertagt.

Diskussionsgrundlage des jüngsten Treffens war ein Gestaltungsvorschlag, den Pfarrer Daume gemeinsam erarbeitet hat mit der Künstlerin Dina Kunze, die auch schon den Innenraum der Synagoge mit der Thoraschriftrolle ausstattete. Dieser sieht eine Art Denkmal in der Mitte des Vorplatzes vor. Texttafeln mit Erklärungen zu der Geschichte der Synagoge sollen aus dem Boden herauswachsen. Der Platz selbst könnte gepflastert und mit einem Baum oder hohem Gras bepflanzt werden. Eine Bank soll nach den Wünschen des Pfarrers zum Verweilen einladen. Daume stellt sich einen „Ort der Ruhe und des Friedens“ vor - keinen Parkplatz.

„Der Innenraum der Synagoge wurde schön gestaltet, aber außen herrscht einfach eine entwürdigende Situation“, meint Heinz Daume. Für den Pfarrer hat die Gedenkstätte in der Gemeinde auch überregionale Bedeutung. Hier werden nicht nur Konzerte veranstaltet, Lesungen und Vorträge etwa über jüdische Kultur gehalten, auch Geschichtsinteressierte Besucher finden sich ein. Sie treffen auf einen Platz, der in keiner Beziehung zur Synagoge steht. Wenn sie überhaupt dorthin gelangen, denn, so kritisiert Daume auch, „noch immer gibt es kein Hinweisschild im Ort auf die ehemalige Synagoge“.

Rund 80.000 Mark würde die Gestaltung des Platzes nach den Vorstellungen von Pfarrer und Künstlerin kosten. Davon entfallen allein 50.000 Mark auf das Denkmal. Eine Summe, die bei den örtlichen Kommunalpolitikern „Zurückhaltung“ auslöst angesichts leerer Haushaltskassen. Der Pfarrer drückt sich vorsichtig aus: „Ich glaube, die Notwendigkeit wird nicht gesehen. Das finde ich enttäuschend angesichts des gerade erst verstrichenen Gedenktages 8. Mai“.

Uwe Bretthauer, SPD-Fraktionschef, bezeichnet die Haltung seiner Partei und der übrigen Fraktionen als „abwartend“. Er plädiert für eine „preiswertere“ Lösung. „Wir knausern um jede Mark im Haushalt“. Bretthauer schlägt vor, eine Gedenktafel an der Synagoge anzubringen den Vorplatz zu pflastern und mit einer Versöhnungseiche zu bepflanzen.

„Damit käme man beiden Belangen entgegen“, glaubt er. Für Pfarrer Daume sind jedoch ein „paar Platten und Sträucher“ nicht ausreichend. Innen- und Außengestaltung der Synagoge sollten korrespondieren, meint er.

Bürgermeister Klaus Reuter bezeichnet den „Daume-Kunze-Vorschlag“ grundsätzlich als „vernünftig“, wenngleich auch er den Kostenfaktor sieht. Der Rathauschef schlug vor, die Künstlerin zu einer der nächsten Sitzungen des Bauausschusses einzuladen und erneut das Konzept zu diskutieren. Problematisch sind nicht nur die Kosten sondern auch das Nachbarschaftsrecht. Ein Anlieger der Gedenkstätte hat Sicherheitsbedenken geäußert, die Zufahrt zu seinem Haus über den Vorplatz anders als bislang zu gestalten.

 

„Es müssen neue Gespräche geführt werden“, regt auch Pfarrer Daume an. Er hofft nur, daß die Gestaltung des Platzes nicht auf den „Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben wird“. Ein Baubeginn noch in diesem Jahr scheint jedoch bereits illusorisch. Daß die Mittel für eine Gestaltung, wie sie auch immer aussehen wird, noch 1995 locker gemacht werden können, glauben weder der Bürgermeister noch die Fraktionen.

 

Friedhof:

Der Großkrotzenburger Arbeitskreis „Ehemalige Synagoge“ möchte einen Gedenkband über den jüdischen Friedhof der Gemeinde herausgeben. Unterstützung erhalten die Großkrotzenburger da-bei von Abraham Frank aus Tel Aviv. Der jüdische Familienforscher will die Inschriften der 126 Grabsteine übersetzen. Wären nicht die Grauen der jüngsten Geschichte - der stille Ort im Großkrotzenburger Wald würde nichts von seiner Idylle verlieren. Umgeben von einer Sandsteinmauer und schattenspendenden Bäumen liegt der Friedhof friedlich hinter der Kreuzburg. Gewissenhaft gepflegt, überwuchert kein Gras die hebräischen Schriftzeichen auf den Grabplatten.

Spaziergänger konnten Abraham Frank beobachten. Mit einem Klappstuhl und Notizblock in der Hand zog der Israeli von Inschrift zu Inschrift. Zwei Tage lang wollte er jeden Grabstein dokumentieren. Er brauchte nur einen. „Ich war so in die Arbeit vertieft, daß ich Stunden im Wald zubrachte“ erzählt der 72jährige.

Abraham Frank stieß dort auf die Berberichs, die Schmidts, die Goldschmidts, die Wallers und auch die Hirschmanns -seine eigene Familie. Der einzige Überlebende der Großkrotzenburger Hirschmann-Juden, Henry, lebt heute in North-Carolina in den USA. Er ist Franks Großvetter. Seine Familie starb in Auschwitz.

Auf der Spur, die zertrennten Familienbande zu verknüpfen, kam der Familienforscher Frank schon vor Jahren nach Großkrotzenburg - nach Kontakten mit Henry Hirschmann und den Großkrotzenburgern Willi Euler und Heinz Daume.

Frank war es auch, der dem „Arbeitskreis Synagoge“ nun seine Unterstützung bei der Dokumentation des jüdischen Friedhofes anbot. Der engagierte Arbeitskreis möchte die Geschichte der jüdischen Ruhestätte aufarbeiten und veröffentlichen.

Vieles liegt noch im Dunkeln. Wann genau die Ruhestätte angelegt und in welchem Jahr dort die ersten Großkrotzenburger Juden begraben wurden, läßt sich nicht genau beziffern. Das älteste Datum auf den Grabplatten weist auf das Jahr 1716. hin, wie der prominentestes der Großkrotzenburger Juden, Professor Josef Berberich, 1926 zur Jahrhundertfeier des Synagogenbaus festhielt. Juden gab es vermutlich jedoch schon seit 1614 in der kleinen Gemeinde. Der letzte Grabstein im Großkrotzenburger Wald trägt ein Datum aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Viele starben danach. Keiner der Ermordeten hat dort Erwähnung oder letzte Ruhe gefunden. Ihre Namen finden sich in Auschwitz, Treblinka oder Dachau.

 Genau 126 Grabsteine hat Abraham Frank dokumentiert. „Es müssen einmal über 200 gewesen sein“, glaubt der 72jährige. Während der Nazi-Zeit blieb auch der Friedhof im Wald nicht verschont. Viele Steine, denkt Frank, sind dabei verlorengegangen, wohl auch die Sandstein-Inschrift, von der Professor Berberich damals sprach. Abraham Frank stieß auf das früheste Datum 1780. In den frühen Jahren überwogen rein hebräische Schriftzeichen auf rotem Sandstein. Ab 1880 vergrößert sich die Zahl der in deutsch verfaßten Gedenkschriften.

Doch gerade das alte Hebräisch war es, was die Übersetzung für die Lokalhistoriker so schwierig machte. Hinzu kamen unbekannte Abkürzungen und auch der hebräische Kalender, der andere Monate, Jahre oder Tage kennt. Abraham Frank ist in diesen Arbeiten firm. Er hat Vorträge verfaßt, an Gedenkschriften über die untergegangenen jüdischen Gemeinden in Hessen mitgearbeitet und bereits geholfen, einige jüdische Friedhöfe in Süddeutschland zu dokumentieren. Für ihn ist der Großkrotzenburger Friedhof zwar von Alter und Größe kein so bedeutender wie .etwa der in Frankfurt. „Er ist jedoch liebevoll gepflegt“, lobt er die Gemeinde. Und er liegt außergewöhnlich weit vom alten Ortskern entfernt, rund eineinhalb Kilometer. „Ein weiter Weg, da die Juden ihre Toten zu Grabe tragen.“

Frank würde gerne auch die Männer, Frauen und Kinder in die Dokumentation aufnehmen, die dort beerdigt wurden, deren Namen aber nicht mehr in Stein gemeißelt zu finden sind. Mitglieder des Arbeitskreises wollen nun in Sterberegistern und Archiven nachforschen. Bei vollständigen Informationen ließe sich ein kompletter Stammbaum der Familien erarbeiten.

Der 72jährige aus Tel Aviv arbeitet in seiner Heimatstadt für das Leo Baeck Kuratorium, wo er sich der Erforschung der Geschichte der deutschen Juden widmet. Er arbeitet für die Einwanderungshilfe der zionistischen Weltorganisation und ist aktiv in der deutsch-israelischen Freundschaftsgesellschaft. Mit seiner Frau t eilte er jetzt zwei Wochen in Deutschland und besuchte unter anderem auch auf Einladung des Magistrats seine frühere Heimatstadt Stuttgart. Die hat er bereits 1936 verlassen. Seine Familie floh auf dem Seeweg nach Palästina: „Mein Vater hatte die Zeichen der Zeit früh genug erkannt. Er hat viele Verwandte von der Auswanderung überzeugen können, aber doch nicht alle“.

 Nicht mehr genutzt wird beispielsweise der jüdische Friedhof in Großkrotzenburg, ganz vergessen ist aber auch dieser nicht. „Er wird immer mal besichtigt“, sagte Judith Ramme (46) von der Gemeindeverwaltung. „Es kommen Schulklassen, auch Einzelpersonen.“ Einer der ältesten Grabsteine hat die Jahreszahl 5479 (=1719). Der Friedhof wurde 1938 geschändet, im Mai 1939 für Beisetzungen geschlossen. Es sind noch 150 Grabsteine vorhanden.

Mitunter kümmern sich auch Schulen oder Heimatvereine, um die mitunter auch abseits liegenden Friedhöfe vor dem Vergessen zu bewahren und die Erinnerung an Juden in Hessen wachzuhalten. „Wir sehen das positiv“, meinte Werner.

 

Seit 2002 liegt ein Buch vor, in dem nicht nur jeder einzelne Grabstein abgelichtet ist (Fotograf Hans Dambruch aus Großkrotzenburg), sondern in ihnen auch die dazu gehörende Grabinschrift im hebräischen Original samt deutscher Übersetzung zur Seite gestellt ist. Eine Arbeit, die der 78 Jahre alte Abraham Frank aus Jerusalem übernommen hat. Doch damit nicht genug: Monika Ilona Pfeifer hat dies noch ergänzt mit Angaben über die jeweiligen Personen, die sie in den Sterberegistern gefunden hat.

Ende der 80er Jahre ist die Geschichtslehrerin des Franziskanergymnasiums auf die jüdische Geschichte der Gemeinde gestoßen und hat sich dann in den vergangenen Jahren richtig hineingekniet, sagt sie. Und forschte - anfangs noch zusammen mit dem Großkrotzenburger Heimatforscher Heinz Klab, der inzwischen verstorben ist - in den Archiven in Marburg, Wiesbaden und Hanau. Übrigens nicht zum ersten Mal: Zusammen mit der Lokalhistorikerin Monica Kingreen hat sie schon vor einiger Zeit die Geschichte der Hanauer Juden zwischen 1933 bis 1945 beleuchtet und auch veröffentlicht.

Die Dokumentation über die 140 Grabsteine inklusive Lageplan ergänzt Pfeifer mit einem Abriß der Entwicklung der jüdischen Gemeinde von deren Anfängen bis zu ihrem Untergang, gespickt mit Original-Schriftstücken. Weitere Kapitel beschäftigen sich mit dem Novemberpogrom, der Zerstörung der Synagoge und der Zwangsarbeit. Auch die heutigen Schändungen des Friedhofs werden in dem Werk erwähnt.

„Mit diesem Buch kann ein jeder auf Spurensuche gehen“, faßte Pfarrer Daume zusammen. Doch will er das Werk ebenso wie Mitautor Abraham Frank nicht nur als Blick zurück einstufen, sondern hofft, daß es auch Brücken zu den Nachkommen und zur Gegenwart schlage.

Überschrieben ist das Buch mit „Ihre Seele ist eingebunden in das Bündel des Lebens“. Mit diesem Satz ende jede hebräische Grabinschrift, erklärte Pfarrer Daume, weshalb diese Botschaft zum Titel erkoren worden sei.

 Rund 14.000 Euro hat das Verlegen der 700 Exemplare gekostet, sagt Pfarrer Daume. Die Landeszentrale für politische Bildung sowie die evangelische Kirche hätten das Projekt bezuschußt, die Gemeinde habe garantiert, 200 Stück abzunehmen. Außerdem habe sie eine Liste der Überleben-den erstellt und will ihnen ein Exemplar zukommen lassen. Die Großkrotzenburger scheinen an der Vergangenheit übrigens brennend interessiert zu sein: Über 50 Bücher wechselten noch am Abend der Präsentation den Besitzer.

Das Buch „Ihre Seele sei eingebunden in das Bündel des Lebens - Die jüdische Gemeinde und der jüdische Friedhof zu Großkrotzenburg” von Abraham Frank, Monika Ilona Pfeifer und Heinz Klab (postum) ist im Hanauer CoCon-Verlag erschienen und kann für 17 Euro beim Arbeitskreis Ehemalige Synagoge (' 06186/900607) oder unter der ISBN-Nummer 3-928100-70-X bezogen werden.

 

 

 

Büdesheim

Lediglich ein kleines Schild am Rathaus, angebracht vor zehn Jahren zum 50. Jahrestag der Pogrome. erinnert an die NS-Greuel. Auf den jüdischen Friedhof weist gar nichts hin, von der Synagoge ist nichts übrig und Schöneck erinnert mit keiner Veranstaltung an den Holocaust. Allein der Büdesheimer Manfred Geisler beschäftigt sich seit Jahren mit der lokalen Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Er wertete Akten der Gießener Staatsanwaltschaft aus der Zeit nach dem Krieg aus und zeichnete in groben Zügen nach, was damals geschah. Noch eindringlicher sind die Interviews mit Zeitzeugen. die Geisler erstmals vor zehn Jahren sowie in diesen Wochen und Monaten führte. Die Zeitzeugen wollen anonym bleiben.

Eher ein Minimalkonsens denn ein großer Wurf ist der gemeinsame Antrag aller Fraktionen des Gemeindeparlaments, die Geschichte des Nationalsozialismus und der Judenverfolgung in Schöneck aufarbeiten zu lassen. Über zehn Jahre hatten die Grünen dies gefordert - was stets von den anderen Fraktionen abgeschmettert worden war. Im Oktober 1999 wurde der Antrag am Donnerstagabend einstimmig beschlossen, doch wirkte angesichts der früheren, teils heftigen Auseinandersetzungen das große Schweigen - es gab keinen einzigen Redebeitrag dazu - befremdlich. Gemeindevertretervorsitzender Jürgen Hendrian trug die ungewöhnlich lange und detaillierte Beschlußvorlage vor.

Danach soll die Aufgabe an Manfred Geisler, „der sich durch Forschungen in seiner Freizeit zu diesem Thema als sachkundig erwiesen“ habe, übertragen werden. Um die Geschichte der Juden von 1933 bis 1945 aufzuarbeiten, kann er beantragen, Experten hinzuzuziehen. Der Bankkaufmann soll den Gemeindevorstand und das Präsidium einmal jährlich über den Stand des Projektes unterrichten. Er erhält Amtshilfe bei „Behördenhindernissen“, Auslagenerstattungen und kann bis zu 500 Mark für Einzelaktionen beantragen. Wie schwer die „Geburt“ dieses Antrages gewesen sein muß für einige Gemeindevertreter/innen zeigt sich vor allem im Passus 6. Da wird Geisler angehalten, die „notwendige Sensibilität des Themas zu wahren und Belange des Datenschutzes zu beachten“.

An die unrühmliche Auseinandersetzung zwischen Landrat Karl Eyerkaufer (SPD) und Historikerin Christine Wittrock wegen ihrer Forschungsergebnisse über den Langenselbolder Nazi-Gewinnler und Unternehmer Kaus erinnert die Forderung: „Auf Namensnennung wird verzichtet“ und „im Rahmen der Recherchen sind die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen ... zu achten“. Weitere Einschränkung: Will Geisler Projektergebnisse veröffentlichen, muß er sie zuerst der Gemeinde anbieten. Geisler ist denn auch nicht gerade begeistert, obwohl es positiv sei, daß sich die Gemeinde endlich dazu durchgerungen habe. Mit dem Verzicht auf Namensnennung sei er "nicht einverstanden, habe dies nur akzeptiert wegen der Gesamtbedeutung. Er habe Hendrian auch ausdrücklich gesagt, daß sich die Gemeinde „nicht auf diesem Kissen ausruhen“ dürfe, sondern weitere Experten suchen müsse. „Ich stehe unter Zeitdruck - mir sterben die Zeitzeugen weg“.

 

Aus den Forschungen von Manfred Geißler:

Der Höhepunkt der jüdischen Gemeinde Büdesheim dürfte in der Zeit um die Jahrhundertwende gelegen haben. In den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts war es nicht unüblich, daß die jüngeren Juden in die nahe Stadt Frankfurt umsiedelten. Das Leben erschien dort problemloser. Die Stadt war groß, es war alles anonymer. Den im vorauseilenden Gehorsam häufiger werdenden Belästigungen war man hier nicht so direkt ausgeliefert. Außerdem galt es als schick, in der Stadt zu wohnen.

In den Unterlagen der Gemeinde Büdesheim finden sich in der Zeit von 1876 bis 1942 (bisher untersuchter Zeitraum) 80 Geburten und 38 Sterbefälle aus dem Kreise der israelitischen Büdesheimer. Unter den Trauzeugen gab es auch christliche Nachbarn. Gerade dies unterstreicht auch die folgende Aussage von Ricka Strauß: „Fast alle trieben ein ehrliches, solides Geschäft und waren mit den christlichen Leuten in guten Einvernehmen. Größtenteils der Geschäfte wurden auf Abschlagszahlung abgeschlossen..... Es war eine Selbstverständlichkeit, daß auch jüdische Mitbürger am Vereinsleben teilnahmen. So gab es der Erinnerung nach im Gesangverein „Frohsinn“ jüdische Mitglieder. Ferner war auch die freiwillige Feuerwehr, gegründet am 18. Januar 1894, eine Sache aller Büdesheimer. Zu den Männern der ersten Stunde gehörten unter anderen die Juden Leopold Strauß (1863—1933) und Sussmann Strauß (Daten unbekannt). Auch in der Spritzenmannschaft waren ab 1920 Juden vertreten. So sind hier Leo Strauß (1900-1975), Max Strauß (1904-1943) und Berthold Strauß (1905-1942) zu nennen.

Im Ersten Weltkrieg sind zehn jüdische Männer eingerückt. Einer davon war Fritz (Friedrich) Strauß, geboren 1899, Sohn von Jenny und Isidor Strauß. Er wurde im Gefecht in Frankreich so schwer verletzt, daß er am 4. April 1918 im Kriegslazarett in Guise (120 Kilometer nordwestlich von Paris) starb. Auch der jüdischen Opfer der letzten Kriege wird am Ehrenmal des gefallenen Soldaten an der evangelischen Kirche Büdesheim gedacht.

Die Nazis hielten spätestens ab 1924 Einzug in Büdesheim. Die Vorläuferpartei NSFP mit ihrem Kern um den damaligen Schloßgärtner und mehrere Saisonarbeiter auf dem Hofgut legte den Grundstein für die spätere Ortsgruppe der NSDAP in Büdesheim. Zur Entwicklung der Ortsgruppe liegen bisher nur wenige Dokumente vor. Nach dem Studium der vorliegenden Aussagen und Dokumente gab es zum 1. Mai 1933 62 Mitglieder in der Ortsgruppe der NSDAP. Im vorauseilenden Gehorsam wurden anonym jüdische Büdesheimer und Büdesheimerinnen. die anderen Parteien angehörten, schikaniert und geschädigt.

Das friedliche Miteinander wurde spätestens ab der Machtübergabe an Hitler am 23. März 1933 dauerhaft und empfindlich gestört. Die Repressalien und Schikanen gegen Juden. Behinderte und politisch Andersdenkende nahmen zu. wurden öffentlich. Und die Untersten auf der Parteiebene, als auch mancher nicht organisierte Einwohner fühlten sich zum Mitmachen ermuntert und eingeladen. Juden wurden zu einer Art Freiwild für alle. Was an Aktionen gegen die Juden nicht kraft Gesetz oder Verordnung aus Berlin oder sonstigen Schaltzentren gedeckt war, wurde weitestgehend auf unterster Ebene gedeckt und toleriert.

Ab 1. April 1933 wurden die Reisepässe der Juden eingezogen. Als Beleg hierzu dient ein unter diesem Datum eingegangenes Schreiben des Kreisamtes Friedberg in der Bürgermeisterei Büdesheim. Demnach durften auch keine neuen Pässe ausgestellt werden. Als Juden im Sinne dieser Verfügung galten Personen jüdischer Abstammung ohne Rücksicht auf ihr Glaubensbekenntnis. Wegen ihrer Entrechtung konnten beziehungsweise wollten viele Juden, die in Büdesheim oder von da aus ihren Geschäften nachgingen, nicht länger bleiben. Widerliche Schmierereien an den Fenstern und Schilder mit der Aufschrift Kauft nicht bei Juden an den jüdischen Geschäften ließen die Umsatzzahlen rapide sinken. Ein Auskommen war selten noch möglich.

Damit entschlossen sich einige Familien bis 1939 zur Auswanderung. Sofern sie es sich leisten konnten und vor allem den Mut hatten, ihr Heimatland zu verlassen, in dem sie geboren und aufgewachsen waren, ihre Vorfahren begraben hatten, in dem sie trotz aller Mühe, die sich die Nazis gaben, auch nichtjüdische Freunde hatten, wußten sie: Es würde nicht leicht sein. Weltweit herrschten Rezession, Arbeitslosigkeit und politische Instabilität.

Sie stellten entsprechende Anträge und verließen Deutschland in Richtung Argentinien, Südafrika, USA oder Kuba. Angekommen, mußten sie sich erst in den neuen Kulturen zurechtfinden, eine neue Sprache erlernen und eine neue Existenz aufbauen (verfolgte man aufmerksam das politische Geschehen, gehörte natürlich auch Mut dazu zu bleiben).

Einen Höhepunkt der antijüdischen Hetzerei stellten die in der Geschichtsschreibung als „Reichskristallnacht“ eingegangenen Pogrome gegen alle Juden am 9./10. November 1938 dar. Die NS-Schergen und ihre Helfer schlugen auch in Büdesheim zu. Es kam dazu, daß die Juden in das Rathaus getrieben und eingesperrt wurden (verharmlosend auch „Schutzhaft“ genannt). Das Demolieren und Plündern von jüdischen Geschäften und Wohnungen war angeordnet. Die Synagoge brannte auch in Büdesheim.

Nichts war mehr wie es vorher war. Die jüdische Gemeinde wurde immer kleiner. Wiederum in der Anonymität der Städte suchten die Juden entweder Schutz oder Ruhe. Oder die Stadt sollte als Ausgangspunkt für die geplante Auswanderung dienen. Wie sich zeigte, war dies ein Trugschluß. Das Regime hatte alles zur Zerschlagung jeder jüdischen Gemeinde und die Vernichtung der Juden vorbereitet.

Der jüdische Friedhof wurde wahrscheinlich im Jahre 1939 geschändet. Grabsteine wurden zum Teil umgeworfen und zerstört. Andere konnten im Rathaus käuflich erworben werden. Nach Aussage wurden diese abgeschliffen und für christliche Gräber neu beschriftet.

Fast ein Waldfriedhof ist heute der ehemalige jüdische Friedhof am Waldrand von Schöneck-Büdesheim. Am 29. September 1859 kaufte die jüdische Gemeinde das einst 713 Quadratmeter große Grundstück, um es als Friedhof zu nutzen. Es lag damals weit außerhalb des Dorfes am Kilianstädter Wald in Richtung Windecken. Heute grenzt es direkt an ein Neubaugebiet. Vor dem Kauf beerdigten die Juden ihre Angehörigen auf dem jüdischen Friedhof in Groß-Karben.

Nach der Deportation der Büdesheimer Juden durch Nazi-Schergen am 15. September 1942 verwüstete ein SA-Trupp den Judenfriedhof Die letzte Beerdigung dort hatte am 14. August 1942 stattgefunden. Anfang 1943 verkaufte die Gemeinde die Grabsteine offiziell im Auftrag des Finanzamtes Friedberg. Die Steine - gereinigt, abgeschliffen und neu beschriftet - dienten als „neue“ Grabdenkmäler.

Heute sind nach Angaben des Büdesheimer Hobby-Historikers Manfred Geisler noch 19 Original-Grabsteine vorhanden, die nicht wiederaufgestellt wurden nach der Zerstörung. Sie liegen zu beiden Seiten eines Gedenksteines, der zur Mahnung an das Judenpogrom aufgestellt wurde. Der älteste vorhandene Grabstein stammt von 1888, der jüngste von 1943. Die Gemeinde pflegt das Areal, leider jedoch in nur unregelmäßigen Abständen. Im Sommer stehen die Brennesseln oft mannshoch.

 

Die Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion der Ereignisse in Büdesheim am 9. November 1938 beginnen schon bei der Frage, an welchem Tag das Judenpogrom dort stattfand: am 9. oder 10. November 1938. Beide Daten tauchen immer wieder in Protokollen auf. Ein Zeuge berichtet. daß der Tag des Pogroms jener sei, an dem die Heldenbergener Synagoge zerstört wurde; das geschah am 10. November. Andererseits liegt eine Bescheinigung vom Vertrauensmann der Juden. Sigmund Strauß, vor, in der der 9. November 1938 genannt wird.

Als ehemalige Funktionäre der NSDAP wurden der Ortgruppenleiter und der SA-Truppführer, der gleichzeitig auch Feuerwehrhauptmann war, befragt, als Vertreter der Verwaltung der Bürgermeister und der Polizeidiener sowie der Polizeimeister aus Heldenbergen.

Ortsgruppenleiter Rudolf Theidel sagte am 12. Juni 1947 aus: Am 9. November 1938 wurde ich gegen 9 Uhr auf meiner Dienststelle von dem damaligen Kreisleiter Backhaus aus Gießen fernmündlich in Kenntnis gesetzt, daß ich mich sofort nach Hause begeben solle, um die jüdischen Geschäfte zu demolieren und die Synagoge anzustecken. Diese Aufforderung lehnte ich mit der Begründung ab: Bin hier an der Kasse beschäftigt. Fährt kein Zug nach Hause und den Weg von etwa drei Stunden kann ich zu Fuß nicht zurücklegen. Es ist keine gesetzliche Bestimmung. Diese Zerstörung sei von unmoralischen Menschen angeordnet. Backhaus erklärte, daß, wenn ich diese Anordnung nicht sachgemäß durchführte, Gefängnisstrafe drohe. Ich begab mich zu meinem Vorgesetzten, teilte ihm den Anruf mit. Mein Chef gab mich dann erst nach Beendigung meines Dienstes frei. Kurz nach 16 Uhr kam ich in meine Wohnung, wo mir meine Frau mitteilte, daß im Dorf ein großes Durcheinander wegen der Juden sei. Auf dem Weg zum Rathaus hörte ich das Klirren von Fensterscheiben. Ich ging der Ursache nach und merkte, daß es sich um die Scheiben der Synagoge handelte. Soviel ich mich heute noch entsinnen kann, gab ich damals einem SA-Reservisten den Befehl, sich als Posten vor die Synagoge zu stellen und niemanden hineinzulassen. Ich forderte aus Heldenbergen Verstärkung an (Wachtmeister Krug), um die gesamte Judenaktion in Büdesheim zu stoppen. Inzwischen war in dem Manufakturwarengeschäft Ehrlich (gemeint ist hier wohl Erich Leopold) eine Scheibe eingeschlagen worden. Ich beauftragte den Polizeibeamten Mörschel, die Waren sicherzustellen und auf das Rathaus zu bringen. Wachtmeister Krug forderte nun sämtliche Juden auf. zum Rathaus zu kommen, um ihnen Verhaltensmaßregeln zu erteilen. Ich ging in meine Wohnung zurück.

Als ich am folgenden Tag von Frankfurt kam, empfing mich der damalige Feuerwehrhauptmann Karl Weyland und bat mich, abends zum Rathaus zu kommen. In Gegenwart des damaligen Bürgermeisters Hermann Nanz wollten wir die Judensache bereinigen. Weiland (Weyland) sagte mir gleich, daß sich die Feuerlöschpolizei nicht korrekt benommen hätte. Es wären Verschiedene in die jüdischen Häuser eingedrungen und hätten sich Lebens-mittel und andere Sachen angeeignet, was nicht sein dürfe. Ich habe damals einen Bericht an Kreisleiter Backhaus persönlich abgegeben.

 Da er hörte, daß viele Parteigenossen daran beteiligt waren, verließ er das Büro und ich blieb mit Geschäftsführer Wagner allein. Wagner sagte, was machen wir, darauf sagte ich ihm, daß er ein gerichtliches Verfahren gegen die schuldigen Personen einleiten möchte. Daraufhin nahm er meinen Bericht, zerriß ihn vor meinen Augen und warf ihn in den Papierkorb. Dann sagte er mir, die Angelegenheit sei für uns erledigt.“

Der SA-Truppführer und Feuerwehrhauptmann Karl Weyland gab 1947 zu Protokoll: „An diesem Tage war ich nachmittags mit dem Monatsabschluß für die Gemeinde beschäftigt, ich war Gemeinderechner. Gegen 16 Uhr wurde mir erzählt, daß im Dorf bei den Juden die Fensterscheiben eingeworfen würden. Vor den Häusern der Juden, die fast ziemlich zusammen wohnten - es handelte sich um die Familien Leopold, Strauß, Simon und Frau Kahn. Abraham Jacob -. befand sich eine größere Menschenmenge, vorwiegend Kinder und Frauen. Von diesen, insbesondere den Kindern. wurden mit Steinen die Fenster eingeworfen. Ich selbst habe diese Ausschreitungen abgelehnt und war nur aus Neugierde dort. Ich bin dann wieder nach Hause und habe zu Abend gegessen, da ertönte plötzlich das Feuerhorn. Es kann so gegen sieben Uhr abends gewesen sein. Ich ging sofort zum Sammelplatz am Rathaus und traf dort den Zeugen Krug Wachtmeister aus Heldenbergen, den Schriftführer der Feuerwehr Button und andere, an die ich mich nicht mehr erinnern kann. Von diesen waren bereits Leute eingeteilt worden, die als Wachen vor die jüdischen Häuser gestellt wurden, um weitere Zerstörungen zu vermeiden. Ich war Mitglied der NSDAP und der SA seit August 1932 und Truppführer der Büdesheimer SA seit 1937. Wer die Synagoge zerstört hat, weiß ich ebenfalls nicht.“

Der damalige Bürgermeister Hermann Nanz sagte 1946 aus: „An dem fraglichen Tag war ich nicht im Ort, sondern auf dem Feld. Als ich nach Hause kam, war die ganze Aktion schon vorbei. Ich habe mich an nichts beteiligt und habe auch keine Befehle noch sonst etwas gegeben, kann auch nicht sagen, wer an der ganzen Sache beteiligt war. Das Warenlager des jüdischen Einwohners Leopold (Erich) habe ich sichergestellt, damit hier nichts vorkommt, dasselbe wurde dem Eigentümer nach ein paar Tagen wieder zurück gegeben.“ Zwei Säcke mit Kleidungsstücken, Wäsche und ähnlichem wurden abgegeben. Ferner gibt Nanz an, daß er das restliche Lager das Erich Leopold (Manufakturwarengeschäft) sicherstellen ließ. Das Gut sei zurückgegeben worden.

Polizeidiener Friedrich Wilhelm Mörschel erklärte 1947: „Am Tage des Judenpogroms war ich auf der Bürgermeisterei und erledigte Arbeiten für Nanz. Im Laufe des Nachmittags kam der Ortsgruppenleiter der NSDAP, Theidel, mit mehreren Juden aus Büdesheim auf die Bürgermeisterei und sagte: ‚Diese Juden bleiben hier in Schutzhaft, bis die Gendarmerie aus Heldenbergen kommt’. Er schloß sie im Rathaussaal ein, übergab mir den Schlüssel und ging. Später kam die Gendarmerie aus Heldenbergen. Ich übergab sofort Krug die Schlüssel. Für mich war die Sache erledigt.“

Aussage von Polizeimeister Ludwig Krug 1947: „Am 10. November 1938 wurde ich gegen 16 Uhr telefonisch nach Büdesheim gerufen mit dem Hinweis. daß im Laufe des Tages Ausschreitungen gegen die dort wohnenden Juden vorgekommen seien, Bewohner seien in die Judenhäuser eingedrungen und hätten Zerstörungen vorgenommen. Die Juden seien in Schutzhaft genommen worden. Vor ihren Häusern hätte sich eine große Menschenmenge versammelt gehabt. Mit dem Ortsdiener Mörschel begab ich mich zu den Juden. Um weitere Ausschreitungen zu verhüten, habe ich die Freiwillige Feuerwehr Büdesheim alarmieren lassen. Bis zur Versammlung der Feuerwehr habe ich die Juden aus der Schutzhaft in ihre Wohnungen entlassen. Die Feuerwehr wurde von mir auf die Pflichten aufmerksam gemacht, insbesondere, daß weitere Ausschreitungen verhütet werden müßten. Sie wurden von mir als Doppelposten vor jedem einzelnen Judenhaus aufgestellt und zwar mit zweistündiger Ablösung. Nachdem in Büdesheim wieder Ruhe war und die Posten vor den Judenhäusern standen, begab ich mich gegen 19 Uhr zurück zum Standort Heldenbergen.“

Ablauf-Interpretation Geislers anhand dieser Protokolle: Als unbestritten gelten dürfte, daß es zu Plünderungen durch die Wachposten und SA-Leute - auch des SA-Truppführers - in der Nacht (des 9. November) gekommen ist. Dem Aufruf nach Rückgabe des Diebesgutes kamen offensichtlich nur wenige Plünderer nach. Ganze zwei Säcke Wäsche wurden anonym abgegeben. Wie es Rudolf Theidel geschafft hat, vom Vertrauensmann der Juden, Sigmund Strauß, einen „Persilschein“ zu er-halten, gibt Rätsel auf. Es ist davon auszugehen, daß ihm (Strauß) Versprechungen gemacht wurden, daß den Juden kein weiteres Unheil angetan wird. Weit gefehlt, wie die Geschichte zeigt.

Den Ermittlungen kann eine gewisse Einseitigkeit angelastet werden. Immerzu ist von Vernehmungen des Bürgermeisters sowie sonstiger Köpfe der NSDAP und deren Gruppierungen zu lesen. Wieso wurden keine Bürger/innen befragt? Nur von einer Ausnahme ist zu lesen. Heinrich Westphal sagte 1948: „Ich kann mich sehr gut erinnern, daß (...) Wilhelm Wiesenbach aus Büdesheim der Wortführer war.“ Dieser Aussage (die sich auf die Plünderungen des Hauses von Simon Strauß bezieht) wurde nicht nachgegangen.

Am 13. August 1947 verfaßt das Gendarmerie-Kreiskommissariat Friedberg, Polizeistation Heldenbergen, folgenden Bericht: „Die Ermittlungen in der Strafsache Nanz wurden (...) eingehend geführt, ohne zu dem erwünschten Erfolg zu kommen. Keine der Beteiligten und auch keiner der befragten unbenannten Personen will von der Durchführung der Zerstörungen oder von dem Veranlasser etwas wissen und auch nichts gesehen haben. Alle wollen erst dazu gekommen sein, nachdem die Tat vollbracht war. Jeder Einzelne will dann aber bestrebt gewesen sein, ein weiteres Ausmaß der Katastrophe zu verhindern. Eines haben die Ermittlungen ergeben: Daß den beschuldigten Bürgermeister Nanz die wenigste Schuld treffen dürfte. Die Hauptschuld müßte bei dem beschuldigten Ortsgruppenleiter Rudolf Theidel zu suchen sein. Nanz war nur Bürgermeister und soll sich um nichts weiter gekümmert haben. Der NSDAP und dem damaligen politischen Geschehen soll er sehr abseits gestanden haben. Das Hauptwort soll Theidel geführt und alles andere sich diesem gefügt haben. Diese Aussage erscheint als glaubhaft“.

 

Erster Augenzeugenbericht: „Wir waren damals kleine Buben. Wir spielten im Wingert (unterhalb der heutigen B 521 Richtung Heidenbergen). Es begann langsam zu dämmern und muß etwa 16 Uhr gewesen sein. als die Schulglocke läutete. Das hatte nichts Gutes zu heißen. Wir sind ins Dorf gegangen. Am Rathaus trafen wir eine große Menschenmenge an. Bei Erich Leopold, er hatte ein Bekleidungsgeschäft, wurden Waren. Geschäftsbücher und diverse andere Papiere aus dem Geschäft getragen. Vor dem Haus brannte bereits Feuer. Darin wurden Papiere verbrannt. Im Rathaus wurden alle Juden im Saal eingesperrt. Vor der Tür wurden SA-Wachen postiert. Es mag wohl 16.30 Uhr gewesen sein. da ging eines der zwei rechten Fenster im Obergeschoß des Rathauses auf und Ortsgruppenleiter Theidel rief sinngemäß, daß auf Anordnung der Kreisleitung sofort sämtliche Aktivitäten zu beenden seien. Dem wurde Folge geleistet. Ich ging nach Hause und erzählte das Gesehene. Meine Mutter weinte. Sie sagte, wie schrecklich dies alles sei und die Juden würden das nicht vergessen. Ein Jude vergißt nie. Was werden wir noch alles erleben?

Die Neugierde plagte mich und meinen Bruder und wir gingen gegen 18 oder 19 Uhr nochmals zum Rathaus. Dort beobachteten wir, daß SA-Männer (vereinzelt in Uniform, der Rest in Zivil) die Synagoge ausräumten. Die Thorarolle aus Pergament warfen sie auf den Boden. Da sie erst nicht in Flammen aufgehen wollte, holten sie Benzin. Dadurch fing sie explosionsartig Feuer. Mit Feuerhaken wurden die Fenster eingedrückt. Ob die Synagoge in Flammen aufging, kann ich nicht sagen. Ich glaube nicht. Die Synagoge war völlig verwüstet. Die Männer haben uns weggeschickt. Zum ersten Aufenthalt am Rathaus muß ich hinzufügen. daß Heinrich Bott. völlig in Rage das Dorf verließ. Er ging, um Moses Strauß. ein damals alter buckeliger Jude. aus seinem Krautgarten zu holen. Bott war ein kleiner durchtrainierter Typ. Er kam zurück, hielt Moses Strauß am Genick. Strauß war völlig außer Atem. Bott schrie immerzu: ‚Dich kriegen wir doch. wolltest dich wohl verdrücken’. Am späten Abend soll eine krebskranke Jüdin von einem SA-Mann vergewaltigt worden sein, der aus dem Krieg wohlbehalten zurückkam“.

Zweiter Augenzeugenbericht: „Gegen 10 Uhr erschien Ortsgruppenleiter Theidel in der Schule. Wir mußten antreten zum Appell und anschließend war schulfrei. Der Bürgermeister war an diesem Tag nicht im Ort. Es lag alles in der Hand des Ortsgruppenleiters und der SA. Bei der Verbrennung der Geschäftsbücher der jüdischen Kaufleute wurde genau darauf geachtet, daß alle Seiten verbrannten und kein Umstehender einen Blick hineinwerfen konnte. Es hieß, daß die Beteiligten alle bei den Geplünderten verschuldet waren. Ob weitere außer in unmittelbarer Nähe des Rathauses ansässige Geschäfte geplündert wurden, weiß ich nicht. Wir hatten uns nicht weiter gewagt. Auf alle Fälle begannen die Ausschreitungen bereits in der Mittagszeit. Am frühen Nachmittag wurde die Synagoge bereits durch SA und weitere Parteigenossen verwüstet. Gebrannt hat sie nicht.“

Dritter Augenzeugenbericht: „Im Hof des Adolf Simon wurden dessen Papiere und Geschäftsbücher verbrannt. Ferner sollte der ganze Besitz niedergebrannt werden, was wegen des Einspruchs des Heinrich Westphal (direkter Nachbar im Sinne der Grenzbebauung) unterblieb.“

Vierter Augenzeugenbericht: „Ich war damals ein Junge und gezwungen, wie alle anderen. Mitglied der Hitlerjugend zu sein. Ich kann mich sehr genau erinnern. daß gegen 10 Uhr Theidel in die Schule kam. Er befahl. daß sich alle zu Hause die Uniform anziehen und dann am Rathaus erscheinen sollen. Die Judenhäuser sollen geplündert werden. Der Befehl wurde ausgeführt. Im Halbkreis mußten wir uns vor die Häuser steilen. Aus dem Fenstern flogen allerlei Haushaltsgegenstände. Wäsche und ähnliches. Hinter uns standen Büdesheimer. die die Sache sehr genau beobachteten. Heinrich Bott holte aus der Metzgerei des Moses Strauß das Beil. hackte damit das Firmenschild ab und schrie wütend. Heinrich Wiesenbach war ebenfalls an den Ausschreitungen beteiligt. Auch vor der Synagoge standen wir, die, obwohl bereits geschändet. immer weiter demoliert wurde. Gebrannt hat sie meines Wissens nicht. Die Geschäftsbücher und andere Papiere wurden auf der Hauptstraße vor dem Haus Adolf-Hitler-Straße (heute Südliche Hauptstraße) alle verbrannt. Es wurde darauf geachtet, daß alle Bücher, jedes einzelne Blatt. verbrennte: Beaufsichtigt wurde dies in erster Linie von den Schuldnern der Juden. Bürgermeister Nanz war weder an diesem Tag noch am Tag des Abtransportes der Juden in Dorf. Meines Wissens war er immer in Darmstadt. Der Verdacht liegt nahe, daß er jeweils genau wußte, was vorfallen wird. Die Thorarollen sollten verbrannt werden. Da diese je-och aus Pergamentpapier sind, war dies nicht so einfach. Die Tochter von Moses und Kathinka Strauß, Jenny, wurde noch in der Nacht von einem SA-Mann vergewaltigt. Was ab 18 Uhr vorfiel, kann ich nicht sagen, da ich immer um 18 Uhr zu Hause sein mußte. Ausdrücklich sage ich, daß Theidel und Wiesenbach im Ort waren und mit der SA die Schändungen und Plünderungen durchführten.“

Eine Todesanzeige aus einer in den USA erscheinenden israelischen Zeitung.

Erst jetzt erhielten wir die erschütternde Nachricht von unserem lieben Neffen-Erich, daß seine liebe Mutter, unsere liebe Schwägerin, Tante

MARTHA FLOERSHEIMER geb. Loeb

im Alter von 48 Jahren am 24. Juli 1942 in Minsk in Polen von den Nazi-Banditen erschossen wurde.

Dasselbe Schicksal erlitt sein lieber Vater. unser lieber Bruder, Schwager, Onkel und Vetter, Herr

JOSEPH FLOERSHEIMIER im Alter von 52 Jahren (fr. Buedesheirn, Oberhessen). In tiefer Trauer: Erich Floersheimer, Frankfurta. Main, Bäckerweg 43, Julius Kahn & Frau Frieda, geb. Floersheimer

716 N. Haskins Avenue Chicago 26 (fr. Gross-Gerau, Hessen), nebst Neffen, Nichten und Cousinen.

 

Rekapitulation nach den Zeugenaussagen: Nach 60 Jahren werden interessante Einzelheiten zum Hergang bekannt. Die Vermutung liegt nahe, daß die Ermittlungen der Kriminalpolizei sehr einseitig und somit unvollkommen waren. Hat es am notwendigen Ernst gelegen? Waren sie eventuell selbst zu jener Zeit in Amt und Würden und daher nicht sonderlich erpicht darauf, die Wahrheit zu erfahren? Die Aussagen der Zeitzeugen malen ein völlig anderes Bild über den Hergang der Übergriffe der SA auf die Juden. Wesentlich erscheint, daß Theidel und Wiesenbach doch im Ort waren. Somit sind deren Alibis widerlegt.

Über Erich Julius Flörsheimer, einstiger jüdischer Bürger Büdesheims: Der am 9. Juni 1927 geborene Erich Julius Flörsheimer hinterließ Aufzeichnungen auf Papier und Video. Er ist in Büdesheim, damals Kreis Friedberg, geboren. Seine Eltern waren Martha und Joseph Flörsheimer. Er hatte seine Kindheit als sehr schwierig in Erinnerung. Ab 1933 wurde er mit „Judenjunge“ und anderen Worten beschimpft. Sein Vater war Geschäftsmann und führte in der heutigen Südlichen Hauptstraße ein Manufakturwarengeschäft. Erich erinnert sich an uniformierte Wachen an den Eingängen der jüdischen Geschäfte nach 1933. Daraufhin ging kein Nichtjude mehr hinein.

In Büdesheim wohnten 14 bis 15 jüdische Familien. Nach 1933 wanderten einige nach Argentinien oder Amerika aus. Die meisten haben es nicht geschafft. aus Deutschland zu fliehen und sind in Büdesheim oder später im Konzentrationslager gestorben. Ab 1937 mußte Erich, so wie alle anderen jüdischen Kinder aus dem Kreis Friedberg, nach Bad Nauheim in die Schule gehen. Sein Vater war gezwungen. Haus und Geschäft zu verkaufen. Die Familie zog nach Frankfurt in den Bäckerweg 48. Der Vater fand Arbeit in einer Backsteinfabrik. Erich nahm eine Praktikantenstellung in einer jüdischen Polsterei an. In der sogenannten Reichkristallnacht wurde sein Vater verhaftet, er verlor seine Praktikanten anstelle.

Die Eltern schickten Erich in die Nähe Berlins, um sich auf Palästina vorzubereiten. Alle jüngeren Juden unter 18 Jahren sollten dorthin gehen. Einige schafften es. nach Schweden und dann nach Palästina auszureisen. Anfang November 1941 bekam Erich ein Telegramm. Er sollte nach Frankfurt, seine Eltern sehen. Die Deportation begann. Erich überlebte das Grauen der polnischen Konzentrationslagers, seine Eltern nicht. Beide wurden erschossen.

Erich heiratete 1947 und verließ mit seiner Frau Deutschland. In seiner Wahlheimat USA, wo er einen anderen Namen führte, starb er im Januar 1997 an Herzversagen. Seinen Wunsch, Büdesheim noch einmal zu sehen, konnte er sich nicht mehr erfüllen.

(Der Autor, Bankkaufmann Manfred Geister, 1960 in Büdesheim geboren, wuchs dort auf und wurde durch Schule und Elternhaus für das Thema sensibilisiert. Anläßlich der 1175-Jahr-Feier hat er an der Chronik ton Rüdesheim mitgearbeitet. Neuerliche Motivation erhielt er durch die zufällige Begegnung im Sommer mit der Witwe von Flörsheimer sowie dessen zwei Töchtern. Politisch war er in der Großgemeinde Schöneck als Gründungsmitglied der Grünen und Mitglied des Ortsbeirats Büdesheim aktiv).

 

Windecken

Synagoge:

„Die Windecker Juden waren immer stolz auf ihre Synagoge gewesen, weil sie eine der ältesten von Deutschland sein sollte. Diesen Stolz gab auch schon ein Reisebericht über Windecken aus dem Jahre 1783 wieder: „Ihre Synagoge soll nächst der zu Metz die allerälteste in Deutschland seyn“.

Den Synagogeninnenraum betraten die Männer durch einen Vorraum, in dem sich die Garderobe und ein Waschbecken befanden, in dem vor dem Gottesdienst die Hände zu waschen waren. Der Raum war bis Schulterhöhe mit Holz verkleidet, fünf Seitenleuchten an jeder Seite beleuchteten den Innenraum. An jeder Seite befanden sich sechs Holzbänke. Die hintere Reihe hatte auch in der Mitte noch eine Bank. Hier hatte jedes Gemeindemitglied seinen festen Platz, den ein Namensschild markierte. Vor den Bänken, an der Rückwand der davorliegenden Bankreihe befanden sich pulsartige Fächer für die Gebetbücher, den Gebetsschal und die Gebetsriemen. Die Synagoge hatte 66 Männergebetsplätze.

Vorne nach Osten, in der Richtung Jerusalems, befand sich der Thoraschrein - Aron Hakodesch -, in diesem befanden sich in einer nach außen gebauten Nische die Thorarollen. Der Schrein wurde durch ein Gitter verschlossen, über das ein reich bestickter großer Samtvorhang - Parochet –

hing. Drei halbrund in den Raum hineinragende Treppen aus Sandstein führten zum Aron Hakodesch. Der eigentliche Schrein war von einem hohen Säulenaufbau, einem aus Holz geschnitzten Aufbau umgeben, mit den beiden Tafeln der zehn Gebote als Bekrönung. Der gesamte Thoraschrein war schon einige hundert Jahre alt. Links und rechts des Thoraschreins befand sich ein Leuchter. Der Stolz einer jeden jüdischen Gemeinde ist die Anzahl ihrer Thorarollen. Die jüdische Gemeinde Windecken hatte zwölf sehr alte Thorarollen und sechs neuere. Dazu besaß sie vier antike Thorakronen aus schwerem Silber. Dazu gehörten acht Paar antike Thoraaufsätze mit Schellen. ebenfalls aus Silber mit reicher Filigran. arbeit verziert.

Zwölf Thoraschilder, alle aus Silber und reich verziert, ebenfalls alt und wertvoll gehörten zur reichhaltigen Ausstattung für die Thorarollen. Die Thorarollen waren mit den Thoramänteln bedeckt, die aus Samt und goldbestickt waren, davon gab es in der Windecker Synagoge 30 alte Thoramäntel und zwölf neuere. Vor dem Schrein und den zu ihm führenden Stufen hing das ewige Licht - Ner Tamid -, eine aus Messing gefertigte Lampe zur Erinnerung an das ewige Licht im Tempel an einer Kette von der Decke herunter. Vor den Stufen des Aron Hakodesch leitete der Kantor den Gottesdienst.

In der Mitte des Synagogenraumes befand sich auf einem viereckigen Podium der Almemor. Darauf stand das Vorlesepult, zu dem man eine Treppenstufe hinaufsteigen mußte. Umrandet war der Almemor mit einer hölzernen Brüstung, die an den beiden Eingangsseiten geöffnet war. An jeder Ecke befand sich ein Leuchter. Auf der westlichen Seite dieser Estrade befand sich eine Bank, die auch Kultgegenstände enthielt wie Silberkronen und Schellen für die Thorarollen, auch das Priesterwaschbecken mit Kanne aus Silber hatte hier seinen Platz.

Zum Thoraschrein gerichtet stand das Vorlesepult, bedeckt mit einer zum Vorhang des Thoraschreins passenden Samtdecke mit Goldstickerei. Von diesen Samtvorhängen und Deckengarnituren gab es in der Windecker Synagoge zehn, von denen einige noch aus dem Mittelalter stammen. Auf diesem Pult fand der Höhepunkt des jüdischen Gottesdienstes statt: die Lesung aus der Thorarolle. Zu dieser Lesung wurden die einzelnen Gemeindemitglieder aufgerufen, die Thora wurde enthüllt. Gelesen wurde mit Hilfe des Jad, eines Lesefingers, dies waren wertvolle Kultgegenstände, oft aus Silber gefertigt. Davon besaß die Gemeinde 15 Stück, die allesamt aus alter Zeit stammten.

Über dem Almemor im Zentrum der Synagoge hing ein vielflammiger, sehr alter Kronleuchter, der auf elektrisches Licht umgearbeitet war. Zwei weitere auch sehr alte Hängeleuchter sorgten für die Beleuchtung. Im hinteren Teil hing eine achtbuchtige Schabbatlampe. Zum Chanukkafest stand vorne rechts neben dem Thoraschrein der große und alte Chanukka-Leuchter aus Messing. An der nördlichen Seite befanden sich etwa in der Mitte zwei Schränke mit verglasten Türen, in denen Kultgegenstände für besondere Feiertage aufbewahrt wurden: So besaß die Gemeinde zwei Trauhimmel für Hochzeiten aus den frühen Zeiten, die mit reicher Goldstickerei verziert waren, ebenfalls drei mehrere 100 Jahre alte Schofarhörner, ein Widderhorn, das zum jüdischen Neujahrsfest geblasen wurde. Ebenfalls zwei Eurogbüchsen aus Silber für den Gebrauch beim Laubhüttenfest. Der gesamte Synagogenraum war hoch oben mit einer trapezförmigen Holzdecke überspannt, die blau angestrichen war mit gelben Sternen darauf und an den Sternenhimmel erinnerte.

Die Frauen der jüdischen Gemeinde Windecken nahmen von der dem Thoraschrein gegenüberliegenden Westseite am Gottesdienst in zuhörender Weise und in Einzelgebeten teil. Die Frauen erreichten die Frauenempore über den Eingang des Gemeindehauses über eine nach rechts heraufführende Holztreppe, an deren Ende sie von einem Treppenvorplatz rechter Hand in die Frauenabteilung der Synagoge eintraten. Dort befanden sich, durch einen Mittelgang getrennt, an jeder Seite drei Reihen Holzbänke, insgesamt gab es 34 Frauenplätze. Zwei kleine Rundbogenfenster auf der Südseite gaben Licht.

Die Frauen besuchten üblicherweise nur an den hohen Feiertagen den Gottesdienst, einige ältere Frauen auch zum Schabbat. Ein bedeutender Kenner der hessischen jüdischen Gemeinden, der Lehrer Ludwig Horrwitz, stellte in den 20er Jahren fest, daß „die Synagoge in Windecken mit ihrer gesamten Einrichtung wie ein Museum des hessischen Judentums sei und das Spezifische der hessischen Synagogen darstelle“

Entnommen aus dem Buch von Monica Kingreen: Jüdisches Landleben in Windecken, Ostheim und Heldenbergen, Co-Con-Verlag Hanau, 536 Seiten Großformat, 630 Fotos, 34,80 DM. Erhältlich im Buchhandel.

 

Eine heute in den USA lebende Nachfahrin der Rindsmetzgerei Willi Wolf erinnert sich an das damalige Leben in Windecken: Die Rindsmetzgerei Willi Wolf befand sich in der Friedrich-Ebert-Straße 1. Heute unterhält die Sparkasse Hanau in diesem Haus eine Zweigstelle. Besondere Spezialität dieser Metzgerei war die Rindswurst, an deren Geschmack sich auch heute noch zahlreiche Windecker erinnern.

Im Jahr 1926 starb der Metzger Willi Wolf, seine Frau Emma Wolf und die Tochter Recha führten mit dem Angestellten die Metzgerei weiter. Frau Wolf war sehr beliebt in Windecken, vielen Windeckern ist sie noch in besonders guter Erinnerung, da sie den ärmeren Familien, die schon lange unter der Arbeitslosigkeit litten, gerne noch etwas hinzulegte, Nierchen oder sonstiges. Am 1. April 1933 wurde die Metzgerei Wolf von Windecker SA-Leuten boykottiert. Bis 1935 ging der Umsatz um die Hälfte zurück, im Jahre 1936 kam das Geschäft völlig zum Erliegen und mußte auf-gegeben werden.

Die Adresse von Emma und Recha Wolf lautete nun „Hindenburgstraße 1“ Im Hause vermieteten sie dann einige Zimmer, um etwas Geld zu bekommen. Das Haus wurde unter Druck verkauft und ein großer Teil der Möbel zu Schleuderpreisen weggegeben. Im April 1936 wanderte Frau Emma Wolf gemeinsam mit ihrer Tochter Recha nach Amerika aus, wo die Tochter Flora seit 1923 schon lebte. Bei einem Besuch von Monica Kingreen in USA 1985 erzählte die 1901 in Windecken geborene Recha Wolf aus ihrem Leben:

„Die Wolfs waren in Windecken sehr angesehen. Wir fühlten uns nie als Außenseiter, wir gehörten dazu. Wir waren so deutsch. Noch heute, wenn ich im Fernsehen etwas von Deutschland höre, kommen mir die Tränen. Mein Vater hat immer gesagt, die Zentrumspartei, die Katholischen, ist gut für die Juden, die beschützt die Juden. Meine Freundin Greta Walter sang im Kirchenchor, so ging ich auch manchmal mit in die Kirche, um zuzuhören. Die Tochter des Amtsrichters ging zum jüdischen Neujahrsfest mit in die Synagoge, sie interessierte das alles sehr. Weihnachten ging ich mit zu Gretas Familie, ihre Mutter buk extra koschere Plätzchen für uns. Ich konnte alle Weihnachtslieder singen. Zum Sederabend des Pessachfestes kam Greta mit zu uns nach Hause.

In Windecken war es gut, wir hatten keine Nationalsozialisten. Es waren alles Sozialdemokraten. Als Hitler die Märzwahl 1933 gewonnen hatte, war noch nicht einmal eine Hakenkreuzfahne in Windecken aufzutreiben gewesen, die mußte erst woanders beschafft werden.

Meine Cousine und ich waren so patriotisch und wollten auch zeigen, wie begeistert wir sind, und hängten die Fahne - natürlich kein Hakenkreuz, heraus. Da kam der SA-Führer von Windecken und gab uns Bescheid: „Ihr müßt die Fahne reinhängen, ihr seid keine Deutschen, ihr könnt hier keine Fahnen heraushängen“. Ein Freund hatte mir auch mal Hitlers Buch „Mein Kampf“ geliehen. Ich habe auch einiges darin gelesen, schleuderte es dann aber doch in die Ecke. Ich konnte das gar nicht glauben, was darin stand. Einmal mußten wir auch für Hitler wählen, es wurde uns befohlen. Mit unseren Nachbarn standen wir sehr gut, sie gehörten dann aber zu den ersten Nazis in Windecken.

Angst habe ich bekommen, als Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde. Ich fühlte mich so deutsch, und dann kriegte ich auf einmal gesagt: „Du bist nicht mehr deutsch“. Meine Freundin Lottchen hat immer zu mir gehalten. Meine andere Freundin Gretchen, die war schon zu sehr Nazi, da war dann nicht mehr so viel Kontakt. Ich habe es kommen sehen, wie es sich mit Hitler in Deutschland weiterentwickeln würde. So haben meine Mutter und ich uns zur Auswanderung nach Amerika zu meiner Schwester Flora entschlossen. Nach der Aufgabe des Geschäftes bis zur Auswanderung arbeitete ich in Offenbach bei der Firma Lorsch. Unsere Möbel und das Haus haben wir dann unter Druck verkauft. Einen Teil der Möbel nahmen wir mit nach Amerika, in denen lebe ich noch heute.

 Als ich das letzte Mal durch Windecken ging, war es sehr, sehr schwer für mich denn ich wußte, daß es ein Abschied für immer von meiner Heimat war. Es war fürchterlich, ich wünsche niemandem dieses Gefühl. Ich liebte Windecken, ich habe es sehr gerne gehabt. Wir gingen zurr Kleinen Bahnhof, es war ein schwerer Abschied, als wir dort wegfuhren. Von Frankfurt ging es dann mit dem Zug nach Bremerhaven und von dort mit dem Schiff „Deutschland“ nach New York im April 1936.

Auf Hitlers Geburtstag waren wir auf einem deutschen Schiff, aber auch viele Deutsche. Ich war fürchterlich seekrank während der Reise. In New York am Hafen holte uns meine Schwester Flora ab gemeinsam mit Verwandten der Familie Stiehl, denen die Mühle in Windecken gehörte. Auch ein Freund von unserem Onkel Theodor, Herr Rotärmel und seine Frau, eine Schwester von Karl Stiehl, dem Mühlenbesitzer in Windecken, holten uns ab. Sie hatten auch einmal eine Zeitlang in Windecken gelebt.

Die erste Woche in Amerika war schrecklich. Wir haben nur geweint und geweint. Ich bin ganz bedrückt durch New York gegangen. Frau Rotärmel hat mich überall herumgeführt in New York. Als ich das erste Mal diese Wolkenkratzer gesehen habe, konnte ich es überhaupt nicht fassen nach unseren kleinen Häuschen in Windecken.

Herr Rotärmel sagte immer „Kopf hoch, Mädchen. So geht es nicht!“ Ich habe mich so geschämt, weil ich Jüdin bin. Ja, in Amerika habe ich mich deswegen geschämt. Es brauchte seine Zeit, bis ich mein Selbstbewußtsein wiedergewonnen hatte, bis ich den aufrechten Gang eines freien Menschen wieder gelernt hatte. Dies ist ja das Schlimmste, wenn Menschen unterdrückt werden. Ich war natürlich sehr froh, daß ich endlich aus Deutschland heraus war. Meine Freundin Lottchen habe ich sehr vermißt. Quillmanns, die bei uns in Windecken zur Miete gewohnt hatten, schrieben noch, bis Amerika Ende 1941 in den Krieg eintrat“.

 

Friedhof:

„Die zivilisierte Menschheit, ganz gleich, welcher Nation oder Konfession, kann es nicht fassen, daß ein Regime systematisch selbst die Ruheplätze der Toten zerstört und verwüstet hat, und ihre Wiederherstellung ist im Ausland als Gradmesser gewertet worden für die Verhältnisse in Deutschland und für die deutsche Demokratie“. Der ehemalige Hanauer Bundestagsabgeordnete Jakob Altmaier, selbst ein jüdischer Überlebender, mußte dies auch viele Jahre nach dem Krieg noch dem Windecker Bürgermeister ins Stammbuch schreiben. Die Nidderauer Vorgängergemeinden taten sich sehr schwer damit, ihre teils jahrhundertealten jüdischen Friedhöfe nach dem Dritten Reich wieder instandzusetzen.

Stellen wir uns einfach einmal vor, die Geschichte hätte sich nicht so ereignet, wie sie sich ereignet hat: In Windecken fänden wir einen wunderbaren, mehr als 500 Jahre alten jüdischen Friedhof mit all seinen versunkenen und sichtbaren Grabsteinen vor.  Doch leider hat es die nationalsozialistischen Pogrome gegeben. Im öffentlichen Bewußtsein steht für diese Tage und Nächte im November 1938 vor allem die Zerstörung von mehr als 2000 Synagogen und Betstuben, weniger bekannt sind die Überfälle auf und Plünderungen bei jüdischen Familien.

Fast überhaupt nicht ins Bewußtsein getreten sind jedoch die Entweihungen, Schändung und Zerstörungen jüdischer Friedhöfe. Die Terrortrupps taten ihr Vernichtungswerk meist ohne Zu-schau­er, da die Friedhöfe vielfach außerhalb der Ortschaften lagen. In den Nachkriegsprozessen wurden diese Zerstörungen kaum erwähnt, da dabei keine Menschen zu Tode gekommen oder verletzt worden waren. So sind die meisten Zerstörungsakte selbst nicht bekannt geworden, lediglich ihre Folgen wurden nach dem Krieg beseitigt.

Zum Verständnis: Für Juden hat der Friedhof eine andere Bedeutung als für Christen. „Der gute Ort“ oder „Haus des ewigen Lebens“ heißt er auf Hebräisch. Diese Bezeichnungen weisen auf seinen ewigen Ruhecharakter hin. Eine Abräumung von Gräbern, wie es für uns nach 30 Jahren normal erscheint, ist für jüdische religiöse Vorstellungen absolut undenkbar.

Seit der Stadtgründung 1288 lebten auch Juden in Windecken. Ihre Toten beerdigten sie bis zum Jahre 1497 auf dem jüdischen Friedhof in Frankfurt. Nach einigen Auseinandersetzungen um dieses Beerdigungsrecht gestattete im Jahre 1497 Graf Philipp von Hanau der Windecker Judenschaft die Anlage eines Begräbnisplatzes. Sie durfte die „doden corper“ in der Windecker Terminei begraben und erhielt dazu einen Garten vor dem „Steder Thore“. Der Graf sichert den Juden zu, daß er und seine Erben den Flecken, da der Judenfriedhof entstehen soll, nicht „zürnen“, das heißt der Gemeinde erhalten werde, und sprach für die Toten „unter trostenge und sicherheit“ zu.

Auf dem Friedhof wurden nicht nur die Juden aus Windecken beerdigt, sondern aus der ganzen Region, er war als Zentralfriedhof für die gesamte Grafschaft Hanau angelegt worden. So fanden sich dort bis zum Jahre 1714 Gräber der Juden aus Bockenheim, bis Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts aus Bergen, aus Marköbel und bis 1818 auch aus Heldenbergen. Die Juden von Marköbel wurden bis 1824 auf dem Windecker Friedhof bestattet.

Danach war es einer neuen Rechtslage entsprechend möglich, in Marköbel einen eigenen jüdischen Friedhof anzulegen. Eines der Argumente war, es „wolle im Sommer bei warmen Tagen niemand sich dazu verstehen, die Leiche anderthalb Stunden Wegs weit nach Windecken zu fahren, des Gestanks und der zu befürchtenden Krankheiten halber“ Ostheimer Juden wurden dagegen immer    in Windecken beerdigt.

Im Laufe der Jahrhunderte hatte das Gelände des jüdischen Friedhofes in Windecken mehrfacherweitert werden müssen. Bis zum November 1938 war er ein Platz der Ruhe für die Verstorbenen. „Solange der Tote noch im Hause war, wurde Tag und Nacht Totenwache gehalten“ erinnert sich Recha Wolf an den Dezember1926, als ihr Vater plötzlich starb. „Am Tage der Beerdigung kam der Leichenwagen - er war übrigens für Christen und Juden derselbe -, darauf wurde der einfache Holzsarg gestellt, der mit einer schweren schwarzen Samtdecke mit einem goldgestickten Davidsstern bedeckt war. Viele Windecker gaben meinem Vater die letzte Ehre“.

Das Bild seines Grabsteins ist eines der wenigen Fotos zum jüdischen Friedhof in Windecken. Die Nachbarn der Wolfs nahmen das Bild für ein Erinnerungsalbum auf, als sie 1937 nach Amerika flüchteten. „Aus jahrzehntelanger treuer Nachbarschaft und in bleibender Erinnerung gewidmet von Eurer Familie Alexander Walter, Windecken“ schrieben sie als Widmung hinein.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten änderte sich dieses Miteinander von Christen und Juden im Ort. Bei der vorletzten Beerdigung im August 1935, als der Kaufmann Julius Kahn aus der Glockenstraße starb, kam es zu massiven Einschüchterungen durch die örtliche SA, die die Teilnahme an der Beerdigung größtenteils verhinderte. Im April 1937 fand die letzte Beerdigung auf dem Friedhof statt, der 440 Jahre lang den Juden als Begräbnisstätte gedient hatte. Er lag nun übrigens an der Adolf-Hitler Straße.

Im November 1938, als die Synagoge, das jüdische Gemeindehaus und die jüdische Schule von Windecker Nationalsozialisten zerstört wurden, ist auch der jüdische Friedhof entweiht und geschändet worden. Grabsteine wurden umgeworfen und zerstört. Die schwere Samtdecke mit dem goldenen Davidsstern für die Särge der verstorbenen Juden - so hatte man Recha Wolf nach dem Krieg nach Amerika geschrieben - hatte eine Windecker Frau bei der Zerstörung der Synagoge gestohlen. Die eiserne Einfriedung des Friedhofes wurde im März 1939 verschrottet.

Salli Reichenberg als Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Windecken hatte im Jahr darauf die schwere Aufgabe, das Gelände, das nun schon 443 Jahre lang in der Verfügung der jüdischen Gemeinde gewesen war, unter Druck und unter Preis zu verkaufen. Fast 3500 Quadratmeter Friedhof; daneben auch noch der gesamte Grundbesitz der jüdischen Gemeinde mit Synagoge, Schulhaus und Synagogengarten, konnte der Bürgermeister für lediglich 10 Pfennig pro Quadratmeter erwerben.

Dieser Kaufpreis stand aber nicht den Mitgliedern der jüdischen Gemeinde zur Verfügung, zum Beispiel, um die seit Jahren ihrer Lebensgrundlage beraubten, verarmten Menschen zu unterstützen, sondern die Stadtverwaltung hatte den Kaufpreis an die sogenannte Reichsvereinigung der Juden in Deutschland zu zahlen, „zu treuen Händen für die Synagogengemeinde Windecken“, wie es im Kaufvertrag hieß. Diese Zwangsorganisation wurde von der Gestapo kontrolliert und so flossen die Gelder an sie.

Nach dem erzwungenen Verkauf an die Stadt blieb der zerstörte Friedhof unverändert liegen, bis im Februar 1943 Windecken einen neuen Bürgermeister erhielt, der „den früheren Judenfriedhof als eine Stätte der Verwüstung“ in einem Tätigkeitsbericht beschrieb, denn „sämtliche Grabsteine lagen um und kreuz und quer umher. Hier fand eine Aufräumung statt“ Die verbliebenen Steine verkaufte er für 100 Reichsmark an einen Bruchköbeler Steinmetz, der sie vermutlich zu anderen Grabsteinen umarbeitete. Außerdem wurde 1942 im Windecker Rathaus „die verschmutzte und verfallene Wendeltreppe hergerichtet (und wurde zu einem) Rathausaufgang, (der) einen freundlichen und sauberen Eindruck“ mache - so Bürgermeister Strack. Von diesen Treppenstufen berichtete nach einem Besuch seiner früheren Heimat Windecken im Jahre 1950 Max Sommer seinen Verwandten, völlig entsetzt darüber, daß Grabsteine von jüdischen Gräbern dazu verarbeitet worden seien. Auch sollen weitere Grabsteine von Windecker Privatleuten als Baumaterial abgeholt und beispielsweise als Eingangsschwellen genutzt worden sein.

Der Friedhof wurde der Nationalsozialistischen Volksfürsorge (NSV) zur Verfügung gestellt. „Es ist eine schöne gärtnerische Anlage entstanden, und ein N.S.V. Kinderheim ist zur Zeit im Bau“ vermerkte der Bürgermeister. Der Hanauer Anzeiger meldete im Sommer 1943 die Eröffnung „auf dem Gelände des früheren Judenfriedhofs2. Nach dem Bombenangriff auf Hanau im März 1945 wurden in diesem Kindergarten ausgebombte Familien einquartiert. Bis weit in die 50er Jahre blieb dies so.

Als die in Amerika lebenden Windecker Juden von dem Zustand und der Bebauung ihres Friedhofes erfuhren, waren sie schockiert, da das nach den jüdischen Religionsvorstellungen für einen Friedhof unmöglich ist. So entwickelte sich eine langwierige Auseinandersetzung, an deren En‑

de der Friedhof annähernd „wieder hergestellt“ wurde, allerdings ohne Grabsteine, so wie er auch heute zu sehen ist.

Im Folgenden nun einige Stationen des schwierigen Weges dieser sogenannten Wiederherstellung, soweit sie sich aus den Akten ersehen läßt: Nach dem Krieg mußten dem Gesetz Nr. 59 der amerikanischen Militärregierung entsprechend auch die Grundstücke der früheren jüdischen Gemeinde Windecken rückerstattet werden und zwar an die Nachfolgeorganisation „Jewish Restitution Successor Organisation” (JRSO). Durch einen Vergleich, in dem die Stadt Windecken sich verpflichtete, „den Friedhof der früheren israelitischen Synagogengemeinde dauernd aufrecht zu erhalten“ erhielt sie im Sommer 1950 die Areale, die sie bereits zehn Jahre zuvor unter Druck und unter Preis erworben hatte, in ihren rechtmäßigen Besitz.

Im folgenden Jahr hatte Siegfried Speier, 1885 in Windecken geboren, erfahren, daß die Gräber seiner Eltern nicht mehr auf dem Friedhof vorhanden waren. Er wandte sich an den Landesverband der jüdischen Gemeinden, um nähere Auskünfte zu erhalten. Von besonderem Interesse für ihn war, „ob die auf dem jüdischen Friedhof Beerdigten in dem neuen Ehrenfriedhof irgendwie erscheinen“. Die Stadt Windecken plante, „etwa in einer Gedenkplatte die Namen der auf dem Friedhof Beerdigten festzuhalten“. Bei einem Besuch 1952 war Siegfried Speier über den Zustand des Friedhofes entsetzt. Ihm reichten die vagen Versprechungen der Stadt vermutlich nicht, denn Ende 1952 führte er über den amerikanischen High Commissionar eine Beschwerde. In New York hatte er viele Unterredungen mit früheren Windecker und Ostheimer Juden; in deren Namen wies er darauf hin, daß „es von herausragender Bedeutung“ sei, die Ruhestätte ihrer Toten wiederherzustellen. Die abhanden gekommenen Grabsteine schmerzten sehr. Insbesondere störe die auf dem Friedhof errichtete Baracke und das Loch in der Friedhofsmauer.

Die Stadt Windecken stand dieser Beschwerde mit völligem Unverständnis gegenüber und in Unkenntnis der jüdischen religiösen Vorschriften über die ewige Ruhe der Toten antwortete sie: „An der Stelle, wo heute die Baracke ist (waren) weniger Gräber, die schon sehr alt waren und für welche die Belegungsfrist nach den für Friedhöfe geltenden Bestimmungen längst abgelaufen war“. Die Angaben von Siegfried Speier wurden angezweifelt. Und man unterstellte ihm, daß „durch derartige Machenschaften (!) dem Gedanken der Verständigung, der von uns immer wieder gepredigt und gepflegt wird, erheblich Abbruch getan wurde“.

Dieses Wort „Machenschaften“ verdrehte nun Ursache und Wirkung. „Gemacht“ war doch die Zerstörung und Schändung des Friedhofes und nicht die Beschwerde zur Wiederherstellung der Ruhe für die Toten. Die gesamten Akten über Jahre hinweg lassen seitens der Stadtverwaltung keinerlei Unrechtsgefühl zu der Tatsache erkennen, daß der jüdische Friedhof von Windeckern zerstört worden war.

Von 1952 bis 1954 kam es zwischen der jüdischen Treuhandorganisation JRSO und der Stadt zu harten Auseinandersetzungen, die dazu führten, daß im Frühjahr 1954 in einem Prozeß der Friedhof von der Stadt an diese Organisation zurückerstattet werden mußte, weil kein Ehrenmal errichtet und die Belegung mit Gräbern falsch angegeben worden war und auch die Baracke immer noch stand.

In dieser Situation wandte sich Bürgermeister Reul an den Bundestagsabgeordneten Jakob Altmaier, einem Parteifreund, von dem er sich in der verfahrenen Situation Verständnis und Hilfe erhoffte.

„Die Beseitigung der Baracken (ist) bei der Wohnungsnot ein Ding der Unmöglichkeit“ teilte er Altmaier mit und bat ihn, an die IRSO zu schreiben, „und einmal die Schwierigkeiten aufzuzeichnen, mit denen heute noch die kleineren Gemeinden und Verwaltungen zu kämpfen haben“. Der Abgeordnete schrieb aber nicht, wie in Windecken erwartet, einen unterstützenden Brief an die JRSO, sondern stellte in klaren eindeutigen Worten die Aufgabe der Stadt Windecken in ihrer Verantwortung der Geschichte gegenüber dar: „Zur Sache selbst muß ich offen und ehrlich sagen: Sie ist sehr peinlich.  Erstens ist es mir unverständlich, warum jemand ohne Ermächtigung einen Friedhof verkauft. Daß der in Amerika lebende frühere Windecker Einwohner dagegen protestiert und die IRSO gezwungen hat, den Verkauf rückgängig zu machen, ist sehr verständlich. Ich hätte es auch getan.

Zweitens: Es war eine der großen Schandstreiche der Nazis, Friedhöfe zu zerstören und selbst den Toten die Ruhe nicht zu gönnen. Daß sie dann in zartsinniger Weise ausgerechnet einen Kindergarten auf dem Todesacker errichtet haben, und dann noch Wohnungen, spricht für sich selbst. Das ist ja das, was den deutschen Namen in der Welt so verächtlich und verhaßt gemacht hat. Seit dem Ende der Naziherrschaft bemühen wir uns und vor allem unsere Partei unablässig, diese Schandtaten vergessen zu machen und den guten deutschen Namen wiederherzustellen. Der Zustand und die Wiederherstellung der zerstörten Friedhöfe spielt dabei eine große Rolle. Die zivilisierte Menschheit, ganz gleich, welcher Nation oder Konfession, kann es nicht fassen, daß ein Regime systematisch selbst die Ruheplätze der Toten zerstört und verwüstet hat, und ihre Wiederherstellung ist im Ausland als Gradmesser gewertet für die Verhältnisse in Deutschland und für die deutsche Demokratie.

Drittens: So sehr ich die Zwangs- und Notlage der Stadt Windecken verstehe, sehe ich nur die Möglichkeit einer angemessenen Fristverlängerung für die Räumung und Beseitigung der Baracken.

Viertens: Ich selbst würde es als eine Ehrenpflicht halten, den Schandfleck, für Windecken Baracken auf einem Friedhof zu errichten, den Euch die Nazis hinterlassen haben, so bald wie möglich zu beseitigen, koste es, was es wolle. Es würde der Stadt Windecken nur zur Ehre gereichen, diesen Rest des Nazitums auszutilgen. Ich bin überzeugt, der in Amerika wohnende ehemalige Windecker, dessen Eltern dort begraben liegen, wird für Euch zeugen, statt sich an amerikanische Behörden oder Besatzungsbehörden zu wenden, was er sicher getan hat und wozu ihm auch das Recht zusteht.

Ich bin also gerne bereit, wegen einer Fristverlängerung mit den betreffenden Herren zu reden. Wie es auch sei, von der Räumung des jüdischen Friedhofes kann Euch niemand befreien“ Von den Reaktionen auf diesen klaren Brief ist mir nichts bekannt.

Nachdem sich die Stadt Windecken verpflichtet hatte, die auf dem Friedhofsgrundstück errichtete Baracke räumen und das Gelände einebnen zu lassen, kam es im Juni 1955 zu einem Vergleich. Endlich konnte Siegfried Speier von der Stadt Windecken eineinhalb Jahre später mitgeteilt werden, daß mit dem Abbruch der Baracke begonnen worden war.

Die schon Jahre zuvor angekündigte „Errichtung der Ehrentafel dagegen war „noch nicht möglich”, weil sich die Stadt wegen der „Kosten für die Herstellung von Kanalisation und Straßen“ sich nicht in der Lage sah, „Mittel für das Ehrenmal bereit zu stellen“. Das dürfte eher eine bequeme Ausrede gewesen sein.

Auch der folgende Vorschlag „als Anregung aus der Stadtverordnetenversammlung, sich doch mit ihnen in Verbindung zu setzen und Sie uni einen evtl. Zuschuß zur Bestreitung der Kosten zu bitten“, wurde in keiner Weise als peinlich empfunden. Abschließend aber betonte man: „Wir sind fest entschlossen, alles zu tun, daß der Friedhof wieder würdevoll hergerichtet wird“.

Erst Ende der 50er Jahre war die Stadt in der Lage, auf dem „wiederhergestellten” Friedhof einen Stein aufstellen zu lassen mit den Worten „Zum Gedenken der Toten der Jüdischen Gemeinden Windecken und Ostheim“ mit einem Davidsstern darüber. Die Namen der Beerdigten sucht man vergebens. Anregen mußte die Errichtung eines Gedenksteines allerdings der frühere jüdische Bewohner Hermann Levi bei einem Besuch in Windecken. Bei Umgrabungsarbeiten wurden noch vier Grabsteine gefunden. Drei Grabsteine sind um den vierten herum ohne Fundamente einfach in die Erde gesetzt. Sie stehen nach Süden und nicht wie nach den jüdischen Religionsvorschriften nach Osten in Richtung Jerusalem. Ein sehr stark verwitterter Sandsteingrabstein steht am Rande und ist nicht mehr zu entziffern.

Schaut man sich heute den jüdischen Friedhof Windecken an, so sollte man sich vor Augen halten, daß dieses Gelände nur die Hälfte der Fläche darstellt, die Salli Reichenberg 1940 an die Stadt Windecken verkauft hatte

 

 

Heldenbergen

Die Familie Eckstein aus Heldenbergen konnte ihr Leben durch Flucht aus Heldenbergen in das mehr als 10.000 Kilometer entfernte Swaziland retten. Die im Jahre 1921 geborene Tochter Lilli Eckstein erzählte bei ihrem Besuch in Heldenbergen vor sechs Jahren:

„Wir haben eine wunderschöne Kindheit in Heldenbergen gehabt, es hat uns an nichts gefehlt, wir waren verwöhnt. Wir waren fröhlich, haben gerne mit meinem Vater gesungen. Wir waren alle sehr beliebt in Heldenbergen, wir sind draußen in der Umgebung umhergefahren, hatten unsere Fahrräder.

Ein Bekannter meiner Eltern hatte in Heldenbergen eine Allee mit Walnußbäumen und hatte uns gesagt, daß wir Nüsse schütteln gehen dürften. Wir haben noch Freunde mitgenommen. Auf einmal kam der Feldschütz. Alle liefen weg, nur mein Bruder Ernst und ich, wir standen da wie die Säulen und sagten zu ihm: „Ich heiße I.illi Eckstein, und ich heiße Ernst Eckstein. Wir haben die Genehmigung vom Besitzer, die Nüsse aufzuheben“. Mein Vater hatte uns immer eingeschärft: „Unsere Familie hat einen guten Namen. Ihr braucht euch nicht zu schämen, wenn ihr gefragt seid. Nennt eure Namen, dann wird euch geholfen“' Der Feldschütz hat uns dann das richtige Grundstück gezeigt, wir waren auf dem falschen.

Dann kam Hitler an die Macht. Solange wir in der Schule waren. war es noch nicht so schlimm, aber manche waren dabei. Wenn einer „Dreckjud“ zu mir gesagt hat, das habe ich mir nicht gefallen lassen, da habe ich ihn geschlagen. Die Mädchen konnte ich an den Zöpfen ziehen, ich hatte ja immer kurze Haare. Ich habe mich gewehrt.

Im Jahr 1936 wurde uns gesagt, daß wir nicht weiter zur Schule gehen können. Unsere Freunde kamen nicht mehr, hatten Angst, als hätten wir die Pest. Wenn die Mama nicht gewesen wäre, wären wir alle nicht mehr da. Meine Mutter hat darauf gedrungen, daß wir weggehen aus Deutschland. Sie hat gedrängt, und sie hat es auch geschafft mit dem Mann, der sich nicht von seiner Heimat losmachen konnte. Meine Mutter war eine sehr kluge Frau, sie hat gesehen, was sich da tut.

Im März 1937 hatten wir unser Haus verkauft, das Geld, das wir bekommen hatten, war beschlagnahmt auf einem Konto, an das wir nicht herankamen. In Frankfurt lebten wir in der Nähe vom Zoo in einer Wohnung Am Schützenbrunnen 13. Wir hatten eine kleine Wohnung. Tante Paula, die Schwester meiner Mutter und ich haben in einem Zimmer geschlafen, Ernst im Wohnzimmer und die Eltern im Schlafzimmer.

Man hat uns in dieser Zeit von unserem Konto 600 RM zugebilligt, von unserem eigenen Geld, davon mußten wir Miete bezahlen und alle Lebensmittel. Wenn wir zum Beispiel eine Sonderausgabe gebraucht haben von 300 RM, dann sind von unserem Konto 600 RM genommen worden, der Rest war Judensteuer. Alles haben wir doppelt bezahlt und haben es am Ende doch nicht bekommen.

In dieser Zeit im Schützenbrunnen war es für uns wichtig, daß unsere Eltern abends einfach öfter mal weggingen. Meine Mutter hat Kuchen gebacken und uns gesagt: „Bringt nur all eure Freunde her und amüsiert euch“. Meine Eltern wollten nicht, daß wir im Kino oder sonstwo den Nazis ausgeliefert waren. In den Cafés oder Kinos haben sie „Juden raus“ gerufen.

 Meine Eltern haben gesagt: „Wir gehen in kein Land. wo wir die Paula nicht mitnehmen können, das war meine taubstumme Tante“. Die Taubstummen hätten sie hier doch gleich umgebracht. So waren uns viele Länder verschlossen.

Schlimm war, als der Mann unserer Nachbarin am Schützenbrunnen verhaftet wurde, er war Jude, sie eine Christin. Der Mann war schon längere Zeit fort. Eines Tages schellte es bei ihr, ein Mann stand vor der Tür, hielt ihr einen Behälter hin mit den Worten: „Hier ist die Asche ihres Mannes!“ Die Frau brach zusammen. Das war sehr traurig.

Meine Mutter und ich haben die ganzen Papiere für die Auswanderung besorgt. Mit dem Nachtzug mußte ich mit noch einem Mädchen nach Hamburg fahren. Ich hatte 17 Pässe dabei, um für Mozambique ein Visum zu bekommen. Im Nachtzug waren zwei Soldaten, die waren anständig, sie haben ihre Mäntel ins Abteil gehängt, daß es besetzt aussah und haben die ganze Nacht draußen auf dem Gang gestanden und uns allein gelassen.

Für eine Erlaubnis zur Einreise nach Swaziland mußte ich zum englischen Konsul. Dann brauchten wir noch einen besonderen Ausweis, das hat etwas länger gedauert, aber dann sagte er: „Wer zu mir kommt, bekommt ein Visum, ich stempel all eure Pässe, damit ihr heraus könnt“.

Im November 1938, als die Synagogen brannten, sind in der Nacht fünf Männer in die Wohnungen gekommen, wir mußten mitten in der Nacht aufmachen. Sie hatten Revolver. Meine Mutter mußte im Bett liegen mit Händen hoch, einer hat mit dem Revolver vor ihr gestanden. Mei­nem Vater hatten sie inzwischen gesagt, er solle sich anziehen. Einer von den Männern tastete meinen Körper ab und fragte, ob ich Waffen habe. „Ich kam doch aus dem Bett. Im Bett liegen und Waffen haben?“

Das war ein Vorwand, sie suchten überall nach Waffen. Alle Türen mußten wir aufmachen, sogar die Toilette. „Mach den Stinkkasten zu, du Saujud!“ hieß es. Mein Vater wurde mitgenommen, in Schutzhaft, wie es hieß.

Ein Mann war dabei, der hat gesagt, es tut mir schrecklich leid, daß er uns so be­handeln muß. Er gab mir den Namen von einem Kommandanten von der Polizei. „Geh gleich früh hin, vielleicht ist dein Vater noch dort“. Leider waren die Män­ner schon weggebracht worden, als wir kamen. Wir erfuhren, daß sie zur Festhal­le in Frankfurt gebracht worden waren. Dort hat man uns richtiggehend rausge­worfen. „Wir haben Papiere zur Auswan­derung nach Swaziland. Wir können am 20. Dezember fahren“, riefen wir. Endlich hat es einer aufgenommen. Das war alles, was wir tun konnten.

Mein Vater ist dann am nächsten Tag heimgekommen. Er hat sich dann einge­schlossen, er konnte überhaupt nicht ein Wort sprechen. Er hatte die ganze Nacht in der Festhalle marschieren müssen. Sie durften sich nicht setzen, das alles hat er erst viel später uns erzählt. Die, die hingefallen sind, haben sie aufgehoben und mitgeschleppt. Es muß eine furchtba­re Nacht gewesen sein. Dann mußte er sich jeden Tag um 12 Uhr bei der Polizei melden. Am 20. Dezember 1938 fuhren wir nach Südafrika ab, meine Eltern, meine Tante Paula und ich. Genau einen Monat später kamen wir in Kapstadt an.

 

 „Am 10. November bin ich mit dem Fahrrad irgendwo gewesen. Ich kam an die Haustüre unseres Hauses in der Burggasse 7 und sah, daß hinten am Hof unsere Türe offen war. Da habe ich den Gendarmen gesehen und meine Mutter gefragt: „Was tut der bei der Nachbarin?“ Es war ungewöhnlich, daß er da war. In meiner Neugierde bin ich in den Hof gegangen und er fragte mich: „Wie alt bist du?“ Ich antwortete: „Ich bin 18 Jahre“. „Dann komm her und geh zu den anderen“, sagte er.

Dann haben sie uns neben der Schule in das Kittchen, das Gefängnis, gesteckt. Manche von den jüdischen Männern waren schon dort, außer meinem Vater noch drei oder vier Männer. Verhaftet hatte uns unser Dorfpolizist, sein Name war Gerbothe, er konnte nichts machen, er hatte den Auftrag gehabt und mußte ihn erfüllen. Das war ein anständiger Polizist, aber zur selben Zeit haben wir noch einen jüngeren Polizisten gehabt, der war etwa 25 oder 26 Jahre alt. Er hat gesagt: „Wir schlachten allen den Hals ab!“ Der Polizist Gerbothe hat ihm geantwortet: „Solange ich hier zuständig bin, wird so etwas nicht geschehen“.'

Wir sind verhaftet worden, bevor die Synagoge zerstört wurde. Alle jüdischen Männer von Heldenbergen waren verhaftet worden, die zu der Zeit noch in Heldenbergen waren. Die Kinder nicht, die Frauen auch nicht, nur die Männer. Es waren mein Vater Josef Rothschild und ich, mein Onkel Theo Rothschild, mein Onkel Ludwig Rothschild, mein Onkel Hugo Rothschild, Manuel Scheuer und sein Bruder Sally Scheuer, Julius Rothschild, David Haas, Martin Speier, Isaac Haas, Julius Seligmann und sein Vater Robert Seligmann.

Wir waren in einem vergitterten Raum neben der Schule. Ich habe gedacht, etwas Schlimmes wird losgehen, daß sie uns totschlagen oder so etwas. Wir waren einen Tag und eine Nacht da. Die einzelnen Frauen sind gekommen und haben uns etwas zum Essen gebracht. Wir haben keine Panik gehabt, wir haben alle gewußt: entweder ..... oder ….entweder werden wir getötet oder . ... Ich habe es noch leichter genommen als die Älteren, aber je mehr man darüber nachdenkt, umso schlimmer wird es.

Es war dunkel, als wir wegkamen. Freitagabend sind wir weggefahren, als der Schabbat anfing. Ein Bus kam, und wir wurden abgefahren. Ein streng religiöser Jude darf nicht fahren am Schabbat, das war für manche schlimm“.

Die Heldenberger Juden wurden nach Weimar in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht. Im Konzentrationslager Buchenwald waren in aller Eile fünf große Baracken für etwa 12.000 Häftlinge der sogenannten „Judenaktion“ im November 1938 gebaut worden.

„In Buchenwald sind wir alle aus Heldenbergen zusammengeblieben in der Baracke, mein Vater, meine Onkels waren bei mir. Später habe ich auch Freunde aus unseren Nachbarorten wiedergesehen, mit denen ich früher Fußball gespielt habe. Am ersten Tag haben sie uns auf dem Appellplatz vom Morgen bis zum Abend stehen lassen.

Am zweiten Tag mußten wir vom Morgen bis zum Abend sitzen. Wir sind alle kurzgeschoren worden, ganze Glatze wie ein Häftling. Zur Erinnerung habe ich noch ein Foto davon - ein scheußlicher Anblick. Unsere Kleidung war die, die wir bei der Verhaftung an hatten, keine Häftlingskleidung. Nachts hat sich keiner getraut, zur Notdurft hinauszugehen. Von denen, die herausgegangen sind, ist niemand zurückgekommen. Da hat man die Schreie gehört, das war das Ende. Wir mußten jeden Morgen zum Appell antreten auf dem Appellplatz, die Kapos haben dann gezählt, ob alle da sind. Zu arbeiten haben wir gar nichts gehabt, wir mußten die Baracke in Ordnung halten. Zu essen haben wir etwas mehr als nichts bekommen: Suppe, etwas Flüssiges, keine richtige Suppe. In den Baracken haben wir auf Brettern gelegen. Tagsüber haben sie uns in Ruhe gelassen, aber nachts hat man Schreie gehört. In manche Baracken sind sie hineingegangen und haben Leute herausgeholt. Man hat Schüsse gehört. Das ist auch in unserer Baracke vorgekommen.

 Ich habe ein Gedicht, das ich mir von Buchenwald gemerkt habe. Einer hat das Lied in Buchenwald gemacht, es hat mich mein Leben lang begleitet, es liegt so viel Wahres darinnen:

 O Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen,

weil du mein Schicksal bist,

 wer dich verließ, der kann es erst ermessen,

wie wunderbar die Freiheit ist.

 O Buchenwald, wir jammern nicht und klagen

und was auch unsere Zukunft sei.

 Wir wollen trotzdem ja zum Leben sagen,

 denn einmal kommt der Tag, dann sind wir frei.

 

Nach zwei oder drei Wochen konnten sich alle melden, die das Eiserne Kreuz als Auszeichnung aus dem Krieg hatten, mein Vater und mein Onkel wurden entlassen. Die anderen von Heldenbergen sind herausgekommen, weil sie eine Einwanderung hatten irgendwohin. Bei meinen Onkels war es fiktiv, von Heldenbergen aus haben die Verwandten nach Amerika geschrieben, und die haben geantwortet, daß die Papiere eingereicht sind. Von Heldenbergen war ich der letzte, der entlassen wurde: „Wann komm ich raus? Was soll aus mir werden?“ dachte ich mir so oft, als ich nur allein von uns aus Heldenbergen in Buchenwald war. Dann haben meine Eltern die Nachricht bekommen, daß ich auswandern kann, das haben sie dann irgendwo vorzeigen müssen. Über den Lautsprecher sind die Namen ausgerufen worden, einmal bin ich endlich dabei gewesen. Weihnachten bin ich entlassen worden, am 1. Weihnachtstag 1938. Am selben Tag kam ich noch raus aus Buchenwald. Zurück bin ich mit dem Zug von Weimar, in Heldenbergen am Bahnhof stand ich dann wieder, keiner hat mich abgeholt“.

Von diesen grauenhaften Erlebnissen der Heldenberger Juden im Konzentrationslager Buchenwald ist der Bevölkerung - bis heute - nichts bekannt. Die in Buchenwald Entlassenen mußten unter Androhung ihrer Rückkehr in das Konzentrationslager versprechen, nicht mit einem Wort über ihre Erlebnisse zu sprechen“.

 

Friedhof:

Die sogenannte Wiederherstellung des jüdischen Friedhofes nach dem Krieg ist ein jahrelanges Trauerspiel. Liest man die im Stadtarchiv vorhandenen Akten, so drängt sich die Frage auf, warum diese langwierigen Auseinandersetzungen nötig waren, in denen es im Wesentlichen darum zu gehen schien, eine möglichst billige Lösung zu finden. Der Wille, das Friedhofgelände in einen würdigen Zustand zurück zu versetzen, wurde nur mit Worten bekräftigt, es fehlten Jahr um Jahr die Taten. Besonders peinlich scheint mir daran, daß die eindeutigen Stellungnahmen der überlebenden Heldenberger Juden, „der Friedhof muß so wiederhergestellt werden, wie er war“ so wenig ernst genommen wurden. Noch bis in die 60er Jahre rief der Zustand des Geländes bei jüdischen ehemaligen Heldenbergern, die als Besucher aus dem Ausland gekommen waren, Trauer und Ärger hervor.

Im folgenden einige Stationen dieses Trauerspiels nach Akten aus dem Heldenberger Gemeindearchiv: Bürgermeister Adam Böhm berichtete im März 1946: „Die dortige SA (Kaichen) hat hier (Heldenbergen) im allgemeinen die Aufpeitschungsarbeiten gegen die Andersdenkenden geführt und so dürfte es sein, daß die Grabdenkmäler im israelitischen Friedhof zerstört worden sind. Auch wurden die Ringmauern des Friedhofes selbst durch Entfernung der Abdeckungsplatten zerstört. Nachdem nun der Krieg sein bedeutendes Ausmaß annahm, hat der Bürgermeister von Heldenbergen den Bahndurchlaß zur Hintermühle als Bunker herrichten lassen. Nachdem aber das notwendige Baustoffmaterial fehlte, wurde von dieser Seite die Mauersteine vom israelitischen Friedhof entfernt und zu diesem Bunkerbau benutzt“.

Über das Schicksal des Friedhofes nach dem Krieg gab Bürgermeister Böhm weiter Auskunft: „Nachdem nun der Krieg sein Ende gefunden hatte, und ich als Bürgermeister von der Militär-Regierung eingesetzt war, habe ich diese Bunkermauer wieder entfernen lassen und die Steine an dieser Stelle seitlich gelagert“.

Nathan Sichel hatte das Ghetto Theresienstadt überlebt und schrieb im März 1946 an den Bürgermeister von Heldenbergen: „Im Jahre 1942 wurde ich, weil ich Jude bin, durch die Gestapo in das Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt. Zurückgekehrt aus diesem Konzentrationslager hatte ich den selbstverständlichen Wunsch, die Gräber meiner Eltern aufzusuchen und dort zu beten. Ich war vor einigen Wochen dort und fand zu meinem großen Schrecken den Friedhof nicht mehr vor. Wie Ihnen bekannt, sind die massiven Mauern abgebrochen, sämtliche Grabsteine geraubt, die Grabhügel sind dem Erdboden gleich gemacht, so daß es kein Friedhof mehr ist, sondern wie links und rechts daneben liegende Flächen ein wüstes Ackerland ist. Es war mir deshalb nicht möglich, an diesen Gräbern zu weilen und konnte ich nur im Stillen meiner Eltern gedenken, aber mich entsetzen vor dem, was geschehen war. In Heldenbergen selbst, wo die Leute mir nur zaghaft antworteten, konnte ich nichts Richtiges erfahren und wende mich deshalb an Sie, mir doch- baldigst Auskunft zu geben, was mit diesem früheren, ehrwürdigen Friedhof geschehen ist“.

Bürgermeister Böhm antwortete 1946 Nathan Sichel deutlich und klar und bekundete den Willen zur Neu-Gestaltung des zerstörten Friedhofes: „Ich sowie die gesamte Gemeinde sind bestrebt, diesen Ort wieder als Gottesacker herzustellen und zwar beabsichtige ich, einen lebenden Zaun an der Stelle, wo früher das Mauerwerk stand, zu erstellen. Die beiden Torpfosten (massive Sandsteine) sollen wieder dazu benutzt werden, um die Türe dort befestigen zu können. In der Mitte des Friedhofes soll ein Rondell angelegt werden mit einem großen Grabmal mit der Aufschrift israelitischer Friedhof und vielleicht noch eine Widmung, die ich der jüdischen Bevölkerung noch anheimstelle, wie diese Aufschrift und Inhalt lauten möge. Zu gleicher Zeit sollen an diesem Grabmal zwei Trauerbäume angepflanzt werden“.

Einige Monate später - Bürgermeister war nun Philipp Fuhr - schrieb dieser an den Referenten für jüdische Angelegenheiten beim Großhessischen Staatsministerium, über die „Wiederherrichtung (des jüdischen Friedhofes) ... besteht kein Zweifel. Fraglich ist - und da ist es bisher zu keiner Einigung gekommen - die Form seiner Wiederherstellung. Es dreht sich um die Aufstellung einer Mauer oder um die Anpflanzung eines lebenden Zaunes aus Buxbaum. Ich halte es für richtig, mich für einen lebenden Zaun zu entschließen. Die Beschaffung von Baumaterial ist mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Sie würde den Haushaltsplan der Gemeinde derart belasten, daß ich mich nicht entschließen kann, die Errichtung einer Mauer aus Gemeindekassenbeständen zu finanzieren ... Die noch größtenteils gut erhaltenen Grabmäler könnten, wenn nicht die Errichtung einer gemeinsamen Gedenktafel erwogen wird, ungeachtet der Art der Umzäunung aufgestellt werden .. . der Friedhof auf alle Fälle wieder so hergerichtet wird, wie es zur Wiedergutmachung für begangenes Unrecht erforderlich ist“. Die Antwort des Ministeriums lautete: „Der Jüdische Friedhof (ist) sofort in einen menschenwürdigen Zustand zu versetzen. Diese Kulturstätte muß wieder so hergestellt werden wie sie war. Die Kosten muß die Gemeinde übernehmen“.

Im April 1947 liegt ein Architektenentwurf vor zum „Wiederaufbau des Judenfriedhofs in der Gemeinde Heldenbergen“. Eine 70 Zentimeter hohe Bruchsteinmauer, die sich zu den Eingangssäulen hin auf deren Höhe ansteigt, sollte den Friedhof umfassen, innen umgeben von einer 1,20 Meter hohen Hecke. Ein etwa zwei Meter hohes Ehrenmal sollte im Mittelpunkt stehen.

Nachdem im September 1947 von einem Bauingenieurbüro die Menge der benötigten Baumaterialien errechnet worden war, wurden völlig überraschend und unvermittelt im September und Oktober 1947 die Steine der im Krieg abgebrochenen Mauer des jüdischen Friedhofs, die zum Bunker‑

bau unter der Eisenbahnbrücke abgefahren und nach Abbruch des Bunkers 1945 dort am Viadukt gelagert worden waren, von der Gemeinde Heldenbergen verkauft.

Heldenberger Bürger hatten sich an die Gemeinde gewandt: „Die Steine des früheren Judenfriedhofes sollen verkauft werden. So bitte ich, mir eine Unterstützung teil werden zu lassen, indem ich die Steine bekomme“. „Ich bitte mir die zur Zumauerung des ehemaligen Bunkers (Viadukt) benutzten Steine zuzuteilen!“

Wenige Monate später, im Februar 1948, hatte der Regierungspräsident in Darmstadt der Wiederherstellung der Einfriedungsmauer am jüdischen Friedhof in Heldenbergen als Bruchsteinmauer zugestimmt. Im März 1948 bat das Hessische Staatsbauamt in Friedberg, die Gemeinde Heldenbergen „zu veranlassen, daß sofort mit der Anfuhr der Bruchsteine begonnen wird“. Nun schien dem Beginn der Wiederherstellung nichts mehr im Wege zu stehen. Das Staatsbauamt berichtete an den Minister für politische Befreiung in Wiesbaden einige Monate später, daß „mit den Bauarbeiten in den nächsten Tagen begonnen werden kann“, und fragt, da „die Gemeinde nach der Währungsumstellung über Geldmittel nicht mehr verfügen kann“, ob „aus dem Wiedergutmachungsfonds oder einer anderen Quelle Geld zur Erstattung der notwendigen Arbeitslöhne zugewiesen werden kann“. Der Minister verneint, denn es habe „die Gemeinde, in der die Friedhofsschändung sich ereignet hat, für die Mittel aufzukommen“.

Inzwischen hatte sich auch die Jüdische Betreuungsstelle für Stadt- und Landkreis Gießen, die vom Ministerium als Treuhänder über die jüdischen Friedhöfe eingesetzt war, eingeschaltet, mit dem dringenden Hinweis, „daß dieser Schandfleck endlich einmal beseitigt wird“. Aber in Heldenbergen geschieht nichts in dieser Richtung, den ständigen Absichtserklärungen schien der Wille zur Umsetzung zu fehlen.

Im Januar 1949 fragt das Staatsbauamt Friedberg wegen der Einfriedung am jüdischen Friedhof in Heldenbergen nach dem Stand der Sache an. Damit endlich die Angelegenheit zum Abschluß kommt, bitten wir, das Erforderliche in die Wege zu leiten“. Auch die Jüdische Betreuungsstelle mußte im Februar 1949 erneut nachfragen, „ob der dortige jüdische Friedhof wieder in Ordnung geschafft worden ist“. Im folgenden Monat wurde die Baugenehmigung für die Erstellung einer Einfriedungsmauer bis zum Sommer 1949 erteilt.

Aber wieder geschah nichts. Erneut wurden Versuche unternommen, doch noch Geld zu sparen und sich an der Erstellung der Steinmauer vorbei zu entscheiden. Mehr als ein Jahr nach seinem erneuten Amtsantritt als Bürgermeister wandte sich Adam Böhm an Max Rothschild in Frankfurt, um das Einverständnis dieses überlebenden Juden aus Heldenbergen für die neuen billigen Ideen zu bekommen: „Mein Vorgänger hat bis jetzt zur Instandsetzung des Friedhofes trotz mehrfachen Versprechens noch nichts unternommen. Ich kann Ihnen versichern, daß die Angelegenheit im besten Sinne geregelt wird. Nur möchte ich Ihnen vorschlagen, nicht auf einer Einfriedungsmauer zu bestehen. Ich möchte im Herbst eine lebende Hecke anpflanzen, die dem Landschaftsbild doch besser angepaßt ist und einen gefälligeren Eindruck dem Auge bietet. Ein Denkmal werde ich zur Erinnerung setzen lassen. Ich bitte um ihr freundliches Einverständnis“.

Dieses Einverständnis gab aber Max Rothschild nicht, sondern schrieb: „Ihre bestimmte Zusage habe ich vermißt. Mir ist natürlich bekannt, daß ein Bürgermeisterwechsel stattfand, aber Sie waren ja schon 1945 Bürgermeister und haben auch veranlaßt, daß der Bunker entfernt wurde, für Sie wäre es damals doch bestimmt auch sehr leicht gewesen, die Steine auf den jüdischen Friedhof bringen zu lassen. Auch mit Ihnen habe ich schon damals über die Wiederherstellung des Friedhofes mich öfter unterhalten. Wir brauchen daher keine weiteren Versprechungen mehr. Der Friedhof muß so wiederhergestellt werden, wie er war! Da Sie mir keine bestimmte Zusage gemacht haben und mir keine Stellungnahme des Gemeinderates vorliegt, bin ich gezwungen, weitere Schritte zu unternehmen“

So forderte im Oktober 1950 der Landrat den Bürgermeister auf, „zur Beseitigung etwa bestehender Mißstände auf dem jüdischen Friedhof sofort das Notwendige zu veranlassen“. Doch der Bürgermeister entwickelte noch eine „bessere“ und vor allem billigere Idee, die er mit der Sorge einer möglichen Friedhofsschändung begründete. Auf dem alten Friedhof sollte mit der „Aufstellung eines steinernen Males mit Inschrift und Grünumrandung für den ... geschändeten Friedhof eine Erinnerungsstätte geschaffen werden“. So wäre „der Würde des Falles am besten entsprochen ... unter Berücksichtigung der Finanzkraft der Gemeinde“.

Max Rothschild war zwei Tage zuvor an den Folgen der jahrelangen Verfolgung gestorben. Sein Wunsch, um den er sich in den letzten Lebensjahren so intensiv bemüht hatte, war nicht realisiert worden: daß der Friedhof so wiederhergestellt würde wie er vor der nationalsozialistischen Zerstörung gewesen war.

Das Jahr 1951 begann, der Friedhof lag nun im sechsten Jahr als wüstes Land, allerdings inzwischen mit Gras bewachsen, außer diversen Korrespondenzen war konkret nichts geschehen, das Gelände war ja schon vor August 1946 eingeebnet und die Sandsteinsäulen wieder aufgerichtet worden.

Nachdem sich der Landrat nochmals an den Bürgermeister gewandt hatte, beschloß der Gemeinderat einstimmig, daß er bereit sei, den jüdischen Friedhof wieder instandsetzen zu lassen.  Doch die Gemeinde Heldenbergen fand erneut weitere Wege, um die Wiederherstellung des zerstörten Friedhofes zu vermeiden. Es fand sich tatsächlich noch eine neue Idee, natürlich noch kostengünstiger. Dem hessischen Landesrabbiner von Hessen Dr. Weinberg wurde die „Ausgrabung der sterblichen Überreste“ vorgeschlagen, die dann auf dem alten Friedhof „wieder beigesetzt“ werden sollten. Diese Geschmacklosigkeit und Ignoranz ist nun kaum zu übertreffen. Und wieder ging ein Jahr zu Ende.

Im Mai 1952 wartete der Landrat dann mit einem neuen noch unglaublicheren Vorschlag auf: „Eigentümer des jüdischen Friedhofes ist die jüdische Kultusgemeinde ... somit wäre die jüdische Kultusgemeinde verpflichtet, die Kosten für die Instandsetzung ... des Friedhofes zu tragen“. Aber diesem Vorschlag - bar jeder Anerkenntnis der nationalsozialistischen Schändung und Zerstörung - konnte sich die Gemeinde nicht anschließen, ist doch im Mai 1952 „die Bereitwilligkeit der Gemeinde versichert, den jüdischen Friedhof wieder in einen ansehbaren Zustand zu bringen“. Dazu will sie einen Drahtzaun und vor allem auch eine Gedenktafel, umgeben von einer Hecke, errichten.

Im Juli 1952 schaltet sich die „Jewish Restitution Successor Organisation” (JRSO) ein - dieser Treuhandorganisation war der Friedhof zurückerstattet worden - und schrieb dem Landrat deutliche Worte: „Der Friedhof, der am nördlichen Ortsausgang liegt, ist in der Nazizeit geschändet und

 sämtliche Grabsteine wurden vom Steinmetz May abgefahren.

Während nun fast alle anderen Gemeinden entsprechend den von der Militärregierung kurz nach der Beset­zung erlassenen Gesetzen sich bemüht ha­ben, diese Ausschreitungen wieder gutzu­machen, das heißt in diesem Falle die Stei­ne (die noch beim Steinmetz liegen) rückführen zu lassen und die entfernte Einfrie­dung des Friedhofes wiederherstellen zu lassen, ist in Heldenbergen nichts gesche­hen“.

Dann endlich wurden die Grabsteine dann auf den Friedhof gebracht, nachdem sie etwa 15 Jahre auf einem Haufen gele­gen hatten. Von den ehemals mehr als 100 Steinen waren jetzt nur noch 27 da. Beim Aufstellen hatte sich niemand die Mühe gemacht, sich mit dem jüdischen Beerdi­gungs­gewohnheiten zu beschäftigen oder ältere Bewohner nach der Anordnung der Grabsteine vor der Zerstörung des Friedho­fes zu fragen. Völlig unverständlich ist, wie es geschehen konnte, daß sämtliche Grabsteine in die falsche Himmelsrich­tung zeigen und nicht, wie auf allen jüdi­schen Friedhöfen der Welt üblich, Rich­tung Jerusalem, also von Deutschland aus nach Osten. Das so häufig erwähnte Denkmal oder eine Gedenktafel, die die Gemeinde Heldenbergen zur Erinnerung an die Schändung und Zerstörung des jüdischen Friedhofes errichten wollte, fiel dem allge­meinen Vergessen und Verdrängen zum Opfer.

Während der Einladung der früheren jü­dischen Bürger im Sommer 1988 gingen al­le Besucher zum Friedhof, um das Kad­disch für die Toten zu beten. Es war ein banges Suchen, ob noch Grabsteine von Angehörigen gefunden werden konnten. Kurt Grünewald entdeckte den Grabstein seines Großvaters - allerdings an einer ganz anderen Stelle. Heute befindet sich der Friedhof in einem gepflegten Zustand, die Spuren der Zerstörung sind erst bei nä­herem Hinsehen zu bemerken.

 

Mit leiser jüdischer Musik und Paul Celans Todesfuge („der Tod ist ein Meister aus Deutschland....“), vorgetragen vom Nidderauer SPD-Vorsitzenden Frank Eisermann, begann am frühen Samstagabend auf dem jüdischen Friedhof am Kellerberg in Heldenbergen die Feier zum Gedenken an die Opfer der Novemberpogrome. Etwa 30 Menschen hatten sich auf dem gepflegten Areal, auf dem Lichter an den einzelnen Grabsteinen entzündet worden waren, versammelt, um der vielen von den Nazis umgebrachten jüdischen Mitbürger in den einst selbständigen Kommunen Heldenbergen, Windecken und Ostheim zu gedenken.

Nicht zuletzt durch die wissenschaftlichen Arbeiten von Monica Kingreen, in denen sie zahlreichen Schicksalen jüdischer Menschen und in der Umgebung nachging, hat die Aufarbeitung der Nazi-Greuel in Nidderau einen besonders hohen Stellenwert. Nidderaus verstorbener Altbürgermeister Willi Salzmann hatte die „Woche der Begegnung“ im Jahre 1988 damals als den Höhepunkt seiner Dienstzeit bezeichnet. Und seit jenem Zusammensein von Nidderauern mit Überlebenden der Juden-Verfolgung gibt es in der Stadt eine Tradition des Gedenkens, sagt heute Bürgermeister Gerhard Schultheiß (SPD.)

Schultheiß wiederholte am Samstagabend sein Bekenntnis zum vollständigen Aufarbeiten der jüdischen Geschichte und sein Bekenntnis dazu, entschlossen gegen jegliche Form des Antisemitismus vorzugehen. „Wir dürfen nicht aufhören, hinzusehen, hinzuhören und einzuschreiten“, sagte der Bürgermeister. Die Tatsache, daß es in Heldenbergen zwei jüdische Friedhöfe gibt, unterstreiche die frühere Bedeutung der jüdischen Gemeinden im heutigen Nidderau. Neben dem alten jüdischen Friedhof am Kellerberg, den selbst viele Einheimische nicht kennen, gibt es in Heldenbergen den „neuen“ an der Straße nach Kaichen. Erst 1818 hatte die jüdische Gemeinde Heldenbergen einen eigenen Begräbnisplatz am Kellerberg, der nur bis 1882 genutzt wurde - seine Kapazität war durch das rasche Anwachsen der Gemeinde schon nach wenigen Jahrzehnten erschöpft. Die Sterberegister verzeichnen für diese Zeit 243 Namen jüdischer Heldenberger. Im Jahr 1879 legte die jüdische Gemeinde am Kellerberg am Ortsrand Heldenbergens einen neuen Friedhof an.

Nach der Zerstörung beider Friedhöfe durch die Nazis dauerte es bis in die Mitte der achtziger Jahre, bis man in der Stadt begann, die Friedhöfe wieder herzurichten und den Schicksalen der früher in Windecken, Ostheim und Heldenbergen beheimateten jüdischen Menschen nachzuforschen. Im Jahr 1985 war es dann auch, daß die beiden zerstörten jüdischen Gemeinden Heldenbergen und Windecken Gedenktafeln angebracht wurden.

 

 

Ostheim

Mathilde Katz ist 1890 von Ostheim nach Amerika ausgewandert. Sie erzählte Monica Kingreen vom Leben ihrer Familie in Ostheim um die Jahrhundertwende: Die jüdischen Hochzeiten waren immer in Hanau in einem Hotel. Vor einer Heirat kamen die Eltern der Braut und des zukünftigen Bräutigams in Hanau in einem Hotel zusammen und besprachen alles. Sie besprachen, was die Braut an Geld hat, was es zu erben gab, Auszahlungen usw. Und dann wurde die Verlobung bestellt. Natürlich gab es auch Mädchen, die den ausgesuchten Mann nicht haben wollten. Wenn ihnen einer nicht gefiel, sagten sie: „Der ist nichts für mich“ und reisten wieder ab. Das Mädchen wurde nicht zu einer Heirat gezwungen, soviel ich davon gehört habe jedenfalls.

Die jüdischen Mädchen mußten ja bezahlen, wenn sie verheiratet wurden. Von Tante Regine Katz weiß ich, daß sie ein ganzes Säckchen Goldmünzen geben mußte. Auch als Adolf Wolf nach Ostheim kam, um Mathilde Kaufmann zu heiraten (im Jahre 1897), das weiß ich noch. Das zu bezahlende Geld wurde durch die gesamte Verwandtschaft des Mädchens aufgebracht. Wenn die Mädchen häßlich waren, wollten die Männer mehr Geld. Auch meine Schwester Klara ist „geschadchet“ worden, ihre Heirat kam durch das „Schadchen“, den jüdischen Heiratsvermittler, zustande. Ich habe damals dazu noch Geld aus Amerika geschickt. Von dem Heiratsgeld konnte sich dann der Mann geschäftlich selbständig machen. Die Brauteltern mußten auch die Hochzeit und die Aussteuer bezahlen. Der Bräutigam brauchte sich nur selber mitzubringen und ein Bett. So war das früher. Manche Mädchen heirateten dann auch Christen, weil für die Heirat mit einem Juden kein Geld da war.

Alle paar Wochen kam eine Frau mit Namen Fanny zu uns, wir nannten sie nur „die Fromme“. Sie trug einen großen Korb auf dem Rücken und verkaufte uns koschere Seife und die geflochtenen Schabbeskerzen. Auch die Gebetsriemen und alles, was man sonst noch für die jüdische Religion brauchte, verkaufte diese Frau. Sie war eine arme Witwe, am Schabbes haben wir sie gerne bei uns gehabt. Am Sonntag zog sie dann mit dem Korb wieder weiter in andere Dörfer, wo Juden wohnten. Jede Woche kam der Schochet zu uns nach Hause zum Schächten, das war der Lehrer Katz, er kam mit dem Rad aus Windecken. Meine Mutter stellte eine große Schüssel mit Wasser hin. Dann nahm der Schochet sein langes Messer aus dem Futteral, das Messer war enorm scharf. Dann befeuchtete er das Messer mit Wasser. Er hat dabei mit der Hand die Messerschneide entlang gestri­chen. Dreimal hat er das gemacht. Dabei hat er gebetet. Mit einem Wetzstein wur­de das Messer geschärft. Dann wurde der Ochse oder die Kuh mit einem Schnitt ge­schächtet.

Wenn eine Kuh einmal einen rostigen Nagel oder irgendetwas mit gefressen hat­te, dann konnte das Fleisch nicht mehr koscher gemacht werden. An christliche Leute konnte es verkauft werden. Das ko­schere Fleisch hat eine Plombe bekom­men. Der Schochet bekam für das Schäch­ten 1 Mark und 50 Pfennige. Von der jüdischen Gemeinde hat er kein große Gehalt bekommen, er war ja gleichzeitig auch der Lehrer und Vorbeter. Für ein Huhn be­kam er 50 Pfennige. Das Huhn wurde aber mit einem kleinen Messer geschäch­tet. Wenn er fertig war, trank er eine Tasse Kaffee und fuhr dann mit dem Rad weiter zu anderen Leuten, um dort zu schächten. Auf dem Bild aus dem Jahre 1903 steht links mein Vater, der Metzger Anselm Katz, daneben der Schochet Sally Katz - der übrigens nicht mit uns ver­wandt war - mein Bruder Siegfried hält die Schüssel, worin das Blut aufgefangen wurde, der Bruder meines Vaters Salomons hält den Ochsen, der ein Seil durch die Nasenlöcher hat, fest.

Der Schochet und Lehrer Kratz hatte zwei Kinder, einen Jungen und ein Mäd­chen, die waren so alt wie ich. An einem Schabbes im Sommer, wenn sich alle jüdi­schen Familien trafen, hatte ich einen Sonnenschirm und zog bei der Tochter des Lehrer Katz Jenny die Schlaufen der Schnürsenkel auf, um sie zu necken. Ich hatte aber völlig vergessen, daß sie ja am Schabbes keine Arbeit tun durfte, also auch kein Schnürsenkel binden durfte. Jenny war tieftraurig über ihre aufgelö­sten Schnürsenkel. Und als ich gemerkt hatte, daß ich die religiösen Gesetze ver­gessen hatte, war ich auch bedrückt. Wir nahmen es mit der Religion nicht so streng zu Hause. Aber die Familie des Lehrer Katz war streng religiös, das Ta­schentuch war am Schabbes an ihrem Kleid angesteckt, weil doch die religiöse Vorschrift sagt, daß am Schabbes nichts getragen werden darf“.

 

Heiligabend 1997 hat er in Nidderau noch Gott und die Welt angerufen - putzmunter, wie man hört. Vorletzte Nacht nun ist der ehemalige Ostheimer Willi Katz in einer Klinik in Haifa gestorben. Der 92jährige war eine Schlüsselfigur bei der Wiederannäherung Nidderaus an seine ehemalige jüdischen Einwohner(inne)n. Willi Katz hinterläßt im heutigen Nidderau einen großen Freundeskreis; manche durften ihn wie einst die Mitkicker beim FC „Sportfreunde“ Ostheim liebevoll „es Kätzi“ nennen.

Katz war Mitgründer des Clubs und muß auch ein begehrter Tänzer gewesen sein. Charme hatte er bis ans Ende. Seine Leichtigkeit im Umgang mit Menschen brach das Eis zwischen Nidderauer (inne)n und den vertriebenen, mit dem Tod bedrohten und nach Jahrzehnten wieder eingeladenen Juden und Jüdinnen.

Willi Katz und Ehefrau Lotte standen im Zentrum eines Treffens. das sich am 9. November 1986 im kleinen Kreis ergeben hatte. Im offenen Gespräch über schone wie traurige Erinnerungen. doch auch bei Witzen aus dem Mund des begnadeten Erzählers Willi Katz schwanden Berührungsängste. Katz ergriff schließlich auch 1988 zur „Woche der Begegnung“ offiziell das Wort namens der jüdischen Gäste.

 Der erste Kontakt zu ihm ergab sich, als Monica Kingreen auf der Suche nach den ehemaligen jüdischen Einwohner(inne)n Mitte der 80er Jahre in Israel eine Suchannonce aufgab. Wie sich her-ausstellte, lebte der Gesuchte damals aber gewissermaßen vor der Haustür: in Frankfurt. Ende der 70er Jahre hatte er zufällig wieder beruflich dort zu tun. Als Kingreen ihn ausfindig machte, hatte er dort noch ein berufliches Standbein, überwinterte aber stets in Haifa. Auf seine alten Tage war Katz wieder bei der Firma, in der er schon vor der unfreiwilligen Auswanderung arbeitete.

In mehreren Gesprächen schilderte der lebhafte Alte der Nidderauer Lokalforscherin Schicksale jüdischer Familien aus Ostheim, Windecken und Heldenbergen. Als Sohn des Ostheimer Schusters - der Vater war zugleich Kantor in Windeckens Judengemeinde - konnte Katz mancherlei beitragen. So lieferte er einen Grundstock für das umfangreiche Buch „Jüdisches Landleben“, das 1994 mit Unterstützung der Stadt erschien.

Willi Katz ist 1937 nur knapp seiner Verhaftung in Frankfurt entkommen, seine Eltern wurden später in Auschwitz vergast. In seiner neuen Heimat Israel, so erzählte er, hat er klein angefangen, etwa Brötchen ausgefahren. Lebensmut und Fröhlichkeit hat er allen schweren Schlägen zum Trotz gerettet.

Ende der 80er Jahre, nun wirklich in Pension, wurde es dem Ehepaar Katz liebe Gewohnheit, alle Jahre ein paar Wochen in einem Orber Hotel „Hof zu halten“. Freunde aus Nidderau gingen da ein und aus, daß es eine Freude war. Kontakt nach Deutschland hielt Katz auch das übrige Jahr - nicht zuletzt, wenn er Sabbat für Sabbat über Deutsche Welle oder jordanisches Fernsehen die Spiele seiner „Eintracht“ verfolgte. „Fanatisch“, wie Lotte Katz mal augenzwinkernd einem befreundeten FR-Kollegen erzählte.

Das letzte Mal kam Willi Katz 1997 ohne sie nach Nidderau; er lud alle, die ihn kannten, noch einmal in die „Hochmühle“. Da kamen auch Menschen zusammen, die sonst wenig miteinander zu tun haben. Begleitet wurde Katz damals von seinem Freund Heinz Oliven; Ehefrau Lotte, die ihn nun überlebt, war das Reisen damals aus Gesundheitsgründen bereits zuviel. Es scheint nicht übertrieben zu behaupten: Nidderau trauert um den „Juden zum Anfassen“”, wie ihn Kingreen nennt.

 

 

Ronneburg

Seit 1711 lebten und wohnten auf der Ronneburg für etwa 170 Jahre Juden, die auf der Burg eine eigene jü­dische Gemeinde bildeten. Als Ronne­burger „Schutzjuden“ hatten sie auf der Burg Heimatrecht. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ließen sich viele der alteingesessenen jüdischen Familien in den umliegenden Dörfern nieder. Ihre Nachkommen lebten dort, bis die Nationalsozialisten sie in die Emigration oder in die Vernichtungs­lager trieben. Heute noch gibt es in USA, Israel, Argentinien, Brasilien Juden, die stolz auf ihre Herkunft vom „Schloß Ronneburg bei Altwiedermus“.

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde die Ronneburg an einen Burgverwalter verpachtet, und damit diese Verpachtung einen Gewinn abwarf, mußte die Burg in irgendeiner Weise genutzt werden. Dieser Umstand führte, zusammen mit der liberalen Glaubenspolitik des Grafen Ernst Casimir I. von Ysenburg und Büdingen am Beginn des 18. Jahrhunderts zur Aufnahme von Glaubensflüchtlingen auch auf der Burg, obwohl sie noch bis ins Jahr 1734 Grafensitz war.

Im Jahr 1712 hatte Ernst Casimir I. ein Edikt erlassen, das in der Literatur häufig als Toleranzedikt bezeichnet wird. In der Tat wird darin Glaubensflüchtlingen, die oftmals gruppenweise aus anderen deutschen Ländern ausgewiesen wurden, die Aufnahme im Büdinger Land gestattet. Neben der Gewissensfreiheit wurden ihnen weitgehende Erleichterungen beim Bau von Häusern, Befreiung vom Zunftzwang und weitere Befreiungen von Abgaben aller Art zugesichert. Im Kern handelte es sich um eine wirtschaftliche Fördermaßnahme für das Land, in dem Handel und Gewerbe noch sehr unterentwickelt waren. Von der Tatkraft, den handwerklichen Fähigkeiten und den modernen Produktionsmethoden der Einwanderer erwartete man sich eine Verbesserung der allgemeinen Wohlfahrt.

Juden waren mit diesem Edikt nicht gemeint gewesen, sondern die vielen separatistischen Gruppen, die sich in den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts herauszubilden begonnen hatten. Von solchen Glaubensflüchtlingen wurde zum Beispiel nach 1712 die Büdinger Vorstadt gegründet, und auch die leeren Räume der Ronneburg wurden schon vor der Geltung des Patents ab 1706 an Separatisten vermietet.

 Die Ursachen dafür, daß sich mit den Glaubensflüchtlingen auch Juden auf der Burg niederließen, sind darin zu suchen. daß die kurzfristige wirtschaftliche Blüte und die liberalen Ansätze, die mit der Ansiedelungspolitik verbunden waren, auch ihnen günstige Voraussetzungen zur wirtschaftlichen Betätigung boten.

 Denn da ihnen der Zugang zum zünftigen Handwerk und der Erwerb von Grundbesitz traditionell verboten war, waren sie gezwungen gewesen, sich andere wirtschaftliche Betätigungsfelder zu suchen. Diese Betätigung war vor allem der Handel. In dem zurückliegenden halben Jahrhundert nach dem Ende des 30jährigen Krieges hatte sich auf dem Lande arbeitsteilige Struktur auszuprägen begonnen.

Als Viehhändler und Aufkäufer von Ackerfrüchten waren die Juden eng mit der Agrarwirtschaft verbunden. Vom Hausierhandel in den Dörfern über der. Frucht- und Viehhandel, mit dem sie für die Vermarktung der landwirtschaftlichen Produkte und die Bestückung der Märkte sorgten, bis zu der Belieferung der Höfe mit Artikeln des gehobenen Lebensstandes waren sie in allen Sparten des Handels zu finden.

So ist es auch zu erklären, daß die jüdischen Händler für die wohlhabende Inspirantengemeinde, die sich auf der Ronneburg niedergelassen und eine Wollmanufaktur im sogenannten Rittersaal des Pallasgebäudes eingerichtet hatte, wichtige Aufgaben übernehmen konnten. Sie verfügten über die Erfahrungen und die Handelsverbindungen, um die benötigten Rohstoffe überall im Lande aufzukaufen und herbeizuschaffen. Auch für den Absatz der Waren waren sie unentbehrlich.

 

Ein kurzer Rückblick: Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges hatte der Anteil der Juden an der Bevölkerung in ganz Deutschland zugenommen. Dies gilt auch für die Ysenburgischen Grafschaften, wo wir nach 1650 reichliche Quellen über Juden finden, die mit Handelsbriefen aus gestattet die Grafschaft durchziehen oder sich auf der Basis eines Schutzbriefes in den Ysenburger Ortschaften ansiedelten.

Der Schutz war ein zeitlich begrenztes Recht sich niederzulassen, das gewährt werden, aber auch entzogen werden konnte. Im Normalfall war der Erhalt eines Schutzbriefes mit der Zahlung eines jährlichen Schutzgeldes - in der Regel um 12 Gulden - verbunden. In manchen Ysenburgischen Ortschaften betrug es aber auch 26 Gulden.

Zu dieser Abgabe kamen noch viele andere: der Leibzoll, das Heiratsgeld, Handelsaccise, andere Abgaben wie Gänsegeld oder die Zungen der geschlachteten Rinder, Unschlittlieferungen, Begräbnisgeld und 12 Gulden für das Recht, den Gottesdienst zu besuchen. Im Turnus von drei Jahren mußte der Schutzbrief erneuert - in der Sprache der damaligen Zeit - renoviert werden.

Die Menschen, die sich nun in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts auf der Ronneburg niederließen, waren nicht die Angepaßten der ständischen Gesellschaft. Es waren Handwerker, die nicht mehr in die bornierte Struktur der Zünfte paßten, Bürger, die sich von sensualistischen religiösen Erfahrungen einen Ausbruch aus der Enge ihrer reglementierten Welt und neue Betätigungsfelder erhofften. Viele waren Flüchtlinge, darunter auch von Maria Theresia ausgewiesene böhmische Juden.

 

Sogar Teile des Adels, der in den entstehenden zentralen Ordnungen seine Bedeutung einbüßte, waren von der Bewegung erfaßt. Frauen, deren Wirkungskreis seit der Reformation von der Öffentlichkeit abgeschnitten war, spielten eine herausragende Rolle. Das politische oppositionelle Denken der Zeit schärfte sich zwar an den Fragen der Theologie, aber dahinter lagen Fragen, die die Verfaßtheit der gesamten Gesellschaft betrafen.

Der Sog dieser Bewegung zog sicherlich auch jene an, die in den schlechten Zeitumständen hier hoffen konnten, von obrigkeitlichen Nachstellungen halbwegs verschont zu bleiben und für eine gewisse Weile einen Unterschlupf zu finden. Darunter wohl auch viele Arme.

Damit mag es zu erklären sein, daß nach allen Überlieferungen die Lebensverhältnisse auf der Burg, trotz der wohlhabenden Inspirantengemeinde, ziemlich elend gewesen sein müssen. Von Graf Zinzendorf, dessen kurzfristiger Aufenthalt in seiner Brüdergemeinde einen tiefen Eindruck hinterlassen hat, wird folgende Anekdote erzählt: Er hatte seinen Zimmermann Christian David vorgeschickt, um die Situation zu recherchieren. Dessen häufig zitiertes Resumèe war, „die Gesellschaft, die in den Räumen hause, die könne ihm nicht gefallen“. Graf Zinsendorf gab zu bedenken, er sei doch schon in Grönland gewesen, schlimmer könne es doch auch auf der Ronneburg nicht sein, aber er antwortet: „Wenn es noch wie in Grönland wäre!“.

 

Die wirtschaftlichen Maßnahmen der Herrschaft waren sehr uneinheitlich. Die liberale Ansiedlungs- und Förderpolitik wechselte mit Preisbindungen und Exportverboten, mit denen man versuchte, immer wieder auftretende Versorgungskrisen in den Griff zu bekommen. Diese Polizeiverordnungen werfen ein interessantes Licht auf die Bedeutung, die die Juden im Güteraustausch zu dieser Zeit bereits innehatten.

Zum Beispiel bahnt sich im Jahre 1731 wieder einmal eine Versorgungskrise an, und die Büdinger Kanzlei betraut ausdrücklich den Stadtschreiber, einige Ratsglieder, den Büdinger Bäcker, Ackerleute, aber auch Juden mit der Aufgabe, Scheuern und Böden zu visitieren, um aufzuschreiben, was sich dort noch an Gerste und Korn befindet. Offenbar wurden die Juden in ihrer Profession als vertrauenswürdige Fachleute zu Rate gezogen.

Handelsbeschränkungen, sogenannte „Sperren“ waren der Not der Bevölkerung geschuldet. Denn zur Mitte des 18. Jahrhunderts hin stieg die Verschuldung der Landbevölkerung rapide an und zur „Abwendung des vor der Thür stehenden Verderbens“, wie es hieß, sieht sich die Herrschaft „gemüßiget „Kraft Landes Vätterlicher Macht und Obrigkeit“ Verordnungen zu erlassen, um die Bezahlung der Frohnden zu sichern, ohne den sich abzeichnenden „Ruin ganzer Dorfschaften“ in Kauf zu nehmen. Durch häufige Erbteilungen nämlich, war der Ertrag der Höfe bedrohlich gesunken. Dazu kamen Mißernten. Der Mangel an Geld, der in den damaligen Agrarwirtschaften herrschte, machte Verschuldungen unausweichlich, zumal hohe Abgaben und die Monatsgelder die Bauern drückten.

Interessant ist, daß die Herrschaft zwar das Ausborgen und Handeln ihrer Untertanen mit Juden als unbesonnen und leichtfertig kritisiert und damit Strukturprobleme psychologiert, aber gleichzeitig euphorisch den Kredit als „die Seele des Landes“ bezeichnet. Dieser Kredit solle „in gutem, aufrechtem Stand erhalten und von Zeit zu Zeit erhöhet und gebeßert werden“ (Gustav Friedrich 1757).

Der Blick auf die Juden als einer nicht im Agrarbesitz verankerten Minderheit ist entsprechend ambivalent. Ihre wirtschaftliche Potenz wird weidlich ausgeschöpft, aber die negativen Begleiterscheinungen in dem - vor allem in Deutschland sich nur langsam vollziehenden - Wandel von der Agrar- zur Geldwirtschaft werden zunehmend dieser selbst ums Überleben kämpfenden Minderheit angelastet.

Leider ist die Quellenlage für das Leben der Juden auf der Ronneburg für das 18. Jahrhundert nicht sehr ergiebig, aber einige Unterlagen über Rechtsstreitigkeiten in den Jahren 1734 bis 1736 gaben uns doch einige interessante Einblicke. Hieraus erfahren wir, daß in dieser Zeit Schutzjuden auf der Burg wohnten. Mit zweien von ihnen, Martyr und Mardochai, war der Burgverwalter Zinn aneinander geraten, weil er seine „creditores“ nicht mehr zufriedenstellen konnte. Martyr erstellt nun eine Liste von 23 Forderungen, die uns Auskunft über seine geschäftlichen Bestätigungen gibt. Allem Anschein nach war Martyr darauf angewiesen, sich bietende Gelegenheiten zu nutzen. Denn er listet Botendienste auf, darunter auch ein Ritt in der Nacht „von der Ronneburg biß auff Ortenburg“, natürlich auch Fleisch- und Viehlieferungen und andere Waren, aber er leistete auch zum Beispiel Maklerdienste beim Pferdekauf.

Auch bei einem Büdinger Juden, Aaron Lorsch, steht Zinn in der Kreide und behauptet, dieser habe ihm den Hausrat während seiner Abwesenheit weggeschleppt, aber Aaron Lorsch bringt Zeugen herbei, daß Zinns Frau ihm zur Bezahlung der Schulden, die „Meubles“ übergeben habe. Wir sind noch im Barock und man spricht französisch.

Es ist nicht ersichtlich, wie der Streit letztendlich entschieden wird. Für eine Vorladung zur Wächtersbacher Kanzlei entschuldigt Aaron Lorsch sich recht selbstbewußt, er müsse dringend eine Reise tun, und außerdem sei momentan viel im Land zu importieren.

Ein Licht auf die Zeitumstände wirft, noch während die Verhöre andauern. die Ankunft eines Mannes aus dem nahegelegenen Dorf Vonhausen, der „an den au dem Schloß wohnenden Juden Moses 10 loth altes geldt in lauter großen Heller von gutem Silber, (...) so er gefunden zu haben vorgegeben vor 7 Fl verkaufet“” (F meint Gulden, abgeleitet von Florentiner). Es soll ein in Büdingen gefundener Schatz sein und „dießes alte verschimmelte geldt” wird mit Arrest beschlagen und ad depositum gebracht.

Es war nicht nur die Zeit der Hoffnungen, sondern auch der Falschmünzer und der Schatzgräbereien. Sogar der Burggraf hatte sich schon an einem solchen Abenteuer versucht und in Langenselbold wurde der Müller ein Jahr später wegen Falschmünzerei außer Landes gewiesen.

Im Jahr 1760 beschäftigt die kirchlichen und weltlichen Beamten der Fall eines jung Juden Affrom aus Stockheim, der zum Christentum konvertieren will: Er wird genau nach seinen Motiven und seinem Werdegang befragt, und wir erfahren, auch jüdische Gaukler auf der Burg wohnten, bei einem von ihnen war Affrom nach dem Willen seiner Mutter in die Lehre gegangen. Doch der junge Affrom, glaubt, einen christlichen Vater zu haben und berichtet, daß ihn dieses Milieu abgestoßen habe.

Für das Ende des 18. Jahrhunderts sind die Eindrücke des Seifensieders Friedrich Benjamin Geller überliefert, der von Gelnhausen zur Ronneburg wanderte. „Es besteht dieses alte Bergschloß“, so schreibt er, „aus beträchtlichen großen Gebäuden, die freylich zum Theil ziemlich verfallen aussehn, aber doch noch von ungefähr 60 Familien, wovon 2 drittel Juden und 1 drittel Christen sind, bewohnt werden.“

Das Leben der Juden auf der Burg: Ist. es heute noch möglich herauszufinden, in welchen Teilen der Burg die Juden lebten? Tatsächlich gibt es in den Judenregistern über Geburts-, Todesfälle und Heiraten der Juden (heute im Zentralarchiv Jerusalems), also den sogenannten Judenmatrikeln, Angaben über die Räumlichkeiten, in denen Geburten stattfanden und gestorben wurde.

Demnach bewohnten sie nicht nur die Vorburg, wie es meistens heißt, sondern auch Teile der Kernburg. Wenn wir zum ersten Tor hineinkommen, liegt rechts der Zingel, ein kleiner Hof unterhalb des Wehrgangs. An diesem Wehrgang waren Holzbehausungen angebaut. Auf manchen Abbildungen sieht es auch so aus, als habe dort ein Haus gestanden.

Auch die Gebäude links des Tores, waren bewohnt. Dort lag auch das Schlachthaus. Hier und „auf dem dohr“ wohnten mindestens 30 Personen. Nachdem wir durch das erste Tor gegangen sind, kommen wir zum 2. Tor, wo sich heute die Kasse befindet.

Dahinter liegt, gewissermaßen als drittes Tor, das Brunnenhaus, das schon zu der Kernburg gehört. Hier in den ehemaligen Räumen des Burggrafen, „obig dem Brunnen“ wie es immer heißt, wohnte der Judenvorsteher Salomon Stern mit seiner großen Familie.

 Im nachfolgenden „Höfgen“ muß ein Haus oder Anbau gestanden haben, das ehemals dem Bruder des Judenvorstehers gehörte. In diesem Höfgen werden die unehelichen Kinder von Fanni Schwarzschild geboren, von der wir noch hören werden.

Eine der für uns interessantesten Angaben lautet, „Wohnung unter der Synagogen-Treppe“ (Familie Hecht), „Haus neben der Judenschul“, „Wohnung bei der Judenschul“. „Haus bei der Synagoge“ (Familie Grünebaum und Goldstücker), denn hieraus und aus einer Inventarliste von 1767 erfahren wir, daß die Juden auf der Ronneburg eine eigene Synagoge, eine „Juddeschul“, wie es im Volksmund hieß, besaßen. Doch davon später.

Frühes 19. Jahrhundert, die Ronneburg als eigene politische Gemeinde: Die französische Revolution hatte am Ausgang des 18. Jahrhunderts in einigen europäischen Ländern den Juden die Gleichstellung gebracht. Der Begriff „Juden“ wurde nun als Diskriminierung empfunden und durch den Begriff „Israeliten“ oder „Mosaische Glaubensgenossen“ ersetzt.

Diese Emanzipation war die Folgeerscheinung eines allgemeineren, tiefgreifenden Wandlungs- und Modernisierungsprozesses, in dem die Hemmnisse für eine sich entwickelnde bürgerlich-kapita­li­stische und nationalstaatliche Gesellschaft beseitigt wurden.

Widerstand gab es nicht nur bei den kleinen Leuten, sondern auch bei den Eliten, dem Adel, dem Klerus, den Gebildeten, daneben bei Zünften und Gilden. Die Gegner sahen ihre eigene soziale Position mit der Auflösung des ständisch-christlichen Staates gefährdet.

Unter Führung des Birsteinischen Fürsten werden die Ysenburgischen Gebiete 1806 dem Rheinbund eingegliedert, für die Juden dieses Gebietes bringt das wenigstens die Abschaffung des Leibzolls.

 Im Jahr 1816, nach dem Wiener Kongreß, verliert die Ysenburger Grafschaft ihre Souveränität und wird zwischen Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt aufgeteilt. Die Juden müssen sich nun, wie die christlichen Untertanen schon lange, Familiennamen zulegen.

 Die Ronneburg kommt bei der Teilung der Grafschaft an das Groß-Herzogtum und liegt nun haarscharf an der Grenze zu Kurhessen, wo die Juden 1833 weitgehende Gleichstellung erlangt hatten. Nach 1866, als Kurhessen preußisch geworden ist, liegt sie unmittelbar an der Grenze zwischen dem Groß-Herzogtum-Darmstadt und dem preußischen Königreich. In Altwiedermus war eine Nebenzollstelle, die bei den Zollunruhen 1830 auch geschleift wurde, und Neuwiedermuß lag schon im Ausland, erst im Kurfürstentum Hanau und seit 1866 in Preußen.

 

Im Jahr 1821 wurde die Enklave Ronneburg, durch die besonderen Verhältnisse mit einer ganzen Portion Eigenmächtigkeit ausgestattet, zu einer selbstständigen Gemeinde erklärt. Sie umfaßt zu dieser Zeit etwa 200 Einwohner, wovon ein Drittel Juden sind, hat also tatsächlich die Größe eines kleinen Dorfes.

Der Fabrikant Philipp Mörschel, Führer der Inspiranten, wird Bürgermeister, und er beginnt seine Amtszeit tatkräftig mit der Einrichtung eines Gefängnisses. Denn nach der Anordnung des Büdinger Landrats Hoffmann soll in jeder Bürgermeisterei ein Gefängnis - allerdings nicht für die schweren Verbrechen - eingerichtet werden. „Auf dem Schlosse“, so fügt Mörschel den Handwerksrechnungen für Türbeschläge, Bodendielen und das Setzen eines Ofens hinzu, „wo viele ungesittete Menschen wohnen (wird es) von erheblichem Nutzen sein“”

Allerdings überdauert die selbständige Gemeinde Ronneburg nicht lange, und 1829 verfügt das Darmstädter Ministerium, daß sie in den Status einer Gemarkung zurückversetzt wird, deren Eigentümer der Graf von Wächtersbach ist. In diesem Falle liegt die Sache so, daß der Graf als Eigentümer auch Fürsorgepflichten hat. Dies wird umso prekärer, als in die Verarmung in Oberhessen einem neuen Höhepunkt zustrebt und auch Ronneburger Einwohner zunehmend in Armut geraten.

Nun beginnen die Auseinandersetzungen, die fast das ganze 19. Jahrhundert durchziehen. Die Ronneburg ist in schlechtem baulichen Zustand und das Wächtersbacher Grafenhaus, in dessen Besitz sie ist, hat weder die Mittel noch das Interesse, sie für hohe Kosten instand zu setzen.

Da aber - solange einige Zimmer in Ordnung und bewohnbar sind - es schlecht wäre, sie leer stehen zu lassen, zumal der Pächter für den entgangenen Zins entschädigt werden müßte, sollten doch Bewohner aufgenommen werden - so erfahren wir bei der Aufnahme des Juden Grünebaum. Der Graf versucht, die Lasten von sich abzuwälzen, indem er den „Temporalschutz“ einführt. Das bedeutet, daß jeder, der als Einwohner neu aufgenommen werden will, zuvor nachweisen muß, daß er einen Heimatort hat, an den er jederzeit mit seiner- Familie zurückkehren kann. Damit möchte man eine gewisse Zeit von den Aufnahmen profitieren, ohne sich die Verantwortung für die Menschen für immer aufzuhalsen.

Vielleicht verwundert es, daß trotz der mehrfachen bezeugten schlechten Lebensverhältnisse soviel Interesse bestand, sich auf der Burg niederzulassen. Welches sind die Hintergründe? Insgesamt war der Wohnraum bei wachsenden Bevölkerungszahlen ein knappes Gut. Auf der Burg dagegen gab es eine Vielzahl von Räumen - Unterschlupfe und Behausungen, die allerdings mit der Zeit immer baufälliger wurden. Als vorübergehende Notlösung gedacht, gab es im allgemein herrschenden Mangel keine Möglichkeit mehr, sie aufzugeben.

 Besonders traf das die Juden, denn in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehörten die Landjuden, denen der Erwerb eigener Grundstücke lange verboten war, noch weitgehend zu der grundbesitzlosen Einwohnerschicht der Dörfer.

Aber es gibt noch weitere Gründe: Das Industriezeitalter mit der Aufhebung des Zunftzwangs läuft in Oberhessen mit seiner vorwiegend agrarischen Struktur nur sehr mühsam an, aber die Ronneburg ist eine liberale Enklave in der noch vom Zunftzwang beherrschten Wirtschaft: Dort oben herrscht Zunftfreiheit.

Für die Juden gab es weitere gewichtige Gründe, sich der relativ großen Gemeinde auf der Burg anzuschließen. Generell waren sie als Minderheit gezwungen, überlebensfähige Gruppen zu bilden, zumal schon ihr religiöser Ritus erfordert, daß zum Gottesdienst mindestens zehn Männer über dreizehn Jahren anwesend sind.

Praktisch setzt auch die Unterrichtung der Kinder - ein religiöses Gebot - die Nähe anderer jüdischer Familien voraus. So bittet 1834 Jakob Stiefel von der Michelau um die Erlaubnis, auf der Burg zu wohnen:„Erlauchter Graf, Gnädigster Graf und Herr!“ schreibt er, „Mittelst einer Devotesten Vorstellung vom 27. Juni 1834, bate ich Ew. Hochgräfl. Erlaucht unterthänigst um die huldreiche Erlaubniß meines Abziehens von der Michelau zu der Ronneburg, wegen meinem Religons­stand als Jude, wo ich mit einer Strafe verbunden bin, wegen meinem Kinde ihm unsere Religiösen lernen zu lassen ... in dem aber auf der Michelau, wo mein Schutz und Besitzsstand ist ... keine Schul von meiner Religion sich befindet, und ich auch zu arm bin, mir einen Privat-Lehrer zu müthen so möchte ich mit hochgräfl. Genehmigung von der Michelau zu der Ronneburg abziehen“.

 

Die Aufnahmen dieser Jahre kommen zumindest dem Pächter Koch um so gelegener, als im Jahre 1832 die letzten Inspiranten die Burg verlassen und deshalb wie Koch schreibt, viele „Loschis“ frei geworden sind und er in einen „bedeutender Schaden gekommen“ ist.

Ein 1833 von Koch erstellter Mietvertrag charakterisiert den baulichen Zustand der Ronneburg:

„Auf Verlangen bescheinige ich Mayer Münz jetzt in Eckartshausen, daß Er ein Loschis auf dem Schloß Ronneburg vor mir gezinst hat. Und wenn er seinen Heimatschein bringt, mit seiner Familie so lange da wohnen kann als er sich gut beträgt. Sollte aber doch Unklücksfälle oder auch das Alder, das Schloß Ronneburg so. beschädigen werden, das nicht mehr Loschis bleiben als vor diejenigen, welcher ihren Schutz haben und hochkräflich, Rentkammer nicht mehr gesonnen sein solches aufzubauen, so hört natürlich de Zins und alle meine Verbindlichkeit auf.

Ronneburg, d. 24. Juni 1833.“

 

Während über Jahrhunderte den Juden der Zugang zum zünftig verfaßten Handwerk verboten war und ihnen neben der Betätigung als Metzger, als Bäcker, vielleicht auch als Glasmacher, als Hauptbetätigungsfeld der Handel geblieben war, wird im Großherzogtum in dieser Zeit unter dem Schlagwort der „bürgerlichen Verbesserung der Israeliten“ versucht, die Juden zum Erlernen des Ackerbaus, eines Handwerks oder einer Kunst zu bewegen und ihnen z. B. Aufnahmen als Ortsbürger nur zu gestatten, wenn sie sich in einer dieser drei Sparten ausweisen können. Der Verleih von Handelspatenten dagegen soll eingeschränkt werden.       

In der Tat haben wir auch auf der Ronneburg erste Ansätze bei der jüngeren Generation, eine Handwerksprofession zu erlernen. Im in der Nähe gelegenen Himbach lernen einige Juden das Schneider- und Schusterhandwerk und werden als Meister sogar in die Zunft aufgenommen. Allerdings ist damit beim Verarmungsgrad der Bevölkerung nicht viel zu verdienen.

Es ist deshalb unvermeidlich, daß neben der Flickschusterei oder der Schneiderei auch der Handel als Hausierhandel, als Handel mit altem Eisen, Lumpen oder Vieh wieder aufgenommen wird. Gerade aber dieser mindere Handel der kleinen Leute wird als Schacherei übel angesehen und wird im Großherzogtum verfolgt. Er ist auch ein Grund, die Aufnahme als Ortsbürger verweigert zu bekommen.

Mit der staatlichen Etablierung des Großherzogtums gehen vielfältige neue Gesetze einher, die die Kommunalaufsicht stärken und Verelendungstendenzen stoppen sollen. Obwohl diese Gesetze im Einzelnen durchaus sinnvoll sind, laufen sie in der Praxis häufig auf eine Verdrängung der ärmsten Schichten hinaus. Das wird sichtbar an der ungeheuer ansteigenden Zahl der Auswanderer aus Hessen.

Das neue Gesetz zur ärztlichen Überwachung der Heildiener (1846) bringt Aaron Ehrmann ( Jahrgang 1798), Sohn des Schutzjuden Ruben von der Ronneburg, der schon seit 30 Jahren mit Schröpfen, Aderlassen, Barbieren und so weiter ein spärliches Auskommen verdient hat, in Bedrängnis.

Er sei nun 48 Jahre alt, und es sei „in neuerer Zeit höheren Orts verordnet worden, daß das Aderlassen und Schröpfen nur noch auf Weisung eines Arztes von mir angewandt werden dürfe“. Faktisch läuft die Auflage „auf Anordnung eines Arztes“ darauf hinaus, daß er nicht mehr praktizieren kann. Die Tätigkeit als Heildiener wurde zwar nicht ausschließlich, aber sehr häufig von Juden ausgeübt. Die hier genannten sind alle Juden.

Aaron wäre, wie er sagt, zu allem bereit, wenn es ihm nur gelänge, nach Nordamerika zu kommen. Dazu bräuchte er aber 120 Gulden Reisekosten. Da der Anspruch auf Heimat ein einklagbares Rechtsverhältnis darstellt, ist es durchaus logisch, daß der Verzicht auf dieses Recht bei der Auswanderung auch in Geld abgegolten wird.

Pächter Koch schreibt in der Sache Ehrmann an die Rentkammer: „Da ich von Ehrmann immer geplagt werde, ich solde ihm doch helfen, daß er ford könne, so wolde ich hohes Colleg doch hiedurch gebeden haben, wen es möglich wäre, ihm doch baldigst ford zu helfen, den er klagt sehr, daß er sich beina nicht mehr ernähren könne. Er mag nichts duhn, und kann sich mit Harschneiden gewis nicht lange mehr emehren ... und daher klaube ich, es wäre gut, wenn er weg kan, dan hette man doch keine Umstende mehr mit ihm.“

Die Rentkammer billigt schließlich 50 Gulden zu. Eine besondere Pointe bekommt dieses Schicksal, wenn man weiß, daß ein Nachfahre dieses Aaron Ehrmann - der Professor Dr. Rudolf Ehrmann, in den 30er Jahren unter die 50 berühmtesten Deutschen gezählt und mit bahnbrechenden Forschungen auf dem Gebiet der Magen-Darm-Erkrankungen befaßt - im Jahre 1939 seinem armen Vorfahren auf der Ronneburg nach Amerika folgte, in seinen mit einem „J“ gestempelten Paß den diskriminierenden Namen „Israel“ eingetragen. Zu seinen bekanntesten Patienten hatten Fritz Kreisler und Albert Einstein gehört.

In den Jahren 1841 bis 1846 wanderten etwa 16.500 Frauen, Männer und Kinder allein aus Hessen, vor allem den oberhessischen Armutsgebieten, zumeist nach Nordamerika aus. Mehr als zehn Familien auf der Ronneburg sind von der Auswanderung ihrer Mitglieder in nur zwei Jahren betroffen. Sie holen ihre Auswanderungspapiere beim Bürgermeister ab, betreiben ihre Entlassung aus dem hessischen Untertanenverband, einige nehmen die Hilfe eines Gelnhäuser Kaufmanns in Anspruch. Manche reisen vom französischen Le Havre ab, manche von Bremerhaven, die meisten aber schiffen sich bei Mainz ein.

Der Kaufmann macht eine Rechnungsaufstellung: 2 Erwachsene 100 Gulden, ein Kind bis 6 Jahre 38 Gulden und commutation money (Umtauschgeld) 12 Gulden. Plötzlich tauchen Umrechnungen in Dollars auf in dieser winzigen, von vielen Grenzen durchkreuzten Welt, im benachbarten Eckartshausen berechnen manche herrschaftlichen Pächter ihr Geld nun in Dollars neben Gulden, Kreuzern und Talern.

 

Mit dem Abzug vor allem der jüngeren Bewohner beginnt die eigentliche Verelendung auf der Burg, denn zurück bleiben die Ärmsten, die kein Dorf aufnehmen will, und die Alten. Sozial- und Arbeitsformen, die bisher auf der Burg bestanden, zerbröckeln. Die Armut war aber kein Problem, das vor allem die Juden betraf. Obwohl ihre Einwohnerzahl höher ist als die der Christen, sind sie nur in gleicher Zahl auf Hilfen angewiesen. Im Gegenteil: aus den Aufgaben, die dem Judenvorsteher Salomon Stern zugeteilt werden, erhält man eher den Eindruck, daß die auf der Burg lebenden Juden noch am ehesten in der Lage waren, halbwegs funktionierende Sozialformen zu erhalten. In Sterns Büro wurde zum Beispiel das Register über die Kosten für die Polizeiverwaltung und die Unterstützung der Armen in Ronneburg für das Jahr 1839 ausgelegt. In diesem Register werden 20 Einwohner mit ihrem Steuerkapital aufgeführt, einschließlich des Pächters Koch und des Grafen von Wächtersbach.

Insgesamt beläuft sich bei den 20 aufgeführten Personen das Steuerkapital auf 1 611 Gulden und drei Kreuzer, wovon allerdings das des Grafen - am Schluß aufgeführt – 1.199 Gulden und 3 Kreuzer ausmacht. Dann folgt in weitem Abstand der Pächter Koch mit 88 Gulden. Der Rest von 3 23 Gulden und einigen Kreuzern verteilt sich auf die restlichen 18 Einwohner - 14 Juden und 4 Christen.

Eine eigentümliche Angelegenheit der Armenpflege ist die Versteigerung, die Veraccordierung, eines Pflegebedürftigen an den „Wenigstnehmenden“. Dies geschieht auf Verfügung des Kreisrates im März 1839 mit der Witwe Alch Sundheimer, einer Jüdin, die arbeitsunfähig wegen blinden Gesichts und taub ist. Simon Goldschmidt und Susman Goldstücker finden sich zur Versteigerung ein.

Der kreisrätliche Beamte liest zuerst die Bedingungen vor, die von dem zu erfüllen sind, der den Zuschlag bekommen wird: Er muß die alte kranke Frau „bei sich in die Wohnung aufnehmen, sie ordentlich standesgemäß verpflegen und überhaupt behandeln wie sich bei einem kranken Menschen gehört“. Er muß auch die Feiertags- und sonstigen Kleidungsstücke anschaffen... „überhaupt alles dasjenige was zur standesgemäßen Bekleidung gehört (...)“. Simon Goldschmidt gibt das erste Gebot: 8 Gulden pro Monat. Susman Goldstücker unterbietet ihn um 70 Kreuzer. Schließlich erhält Susman Goldstücker den Zuschlag für 5 Gulden und 50 Kreuzer.

Ein Schreiben des ebenfalls pflegebedürftigen „veraccordierten“ Raphael Sundheimer an die Rentkammer im Oktober 1840 zeigt allerdings, daß die Übernahme einer Pflegschaft noch keineswegs die Versorgung garantiert. So schreibt Raphael Sundheimer wenige Monate vor seinem Tod (19. Februar 1841), „da ich mich Unterzeichneter in meiner Krankheit sehr beleidigt verhalte, indem mein Verpfleger Mayer Hecht keine Zahlung erhält... So möchte ich nochmals eine Erinnerung und unterthänigste Bitte an hochgräfliche Rentkammer zusenden, wie sich das Logie und Kostgeld befindet, wo es ausbezahlet werden soll, auf hochgräfliche Rentkammer Befehl. So möchte ich Gefühlvoll meiner Bitte und Genehmigung der Zahlung die Anweisung gesendet erhalten, daß meine Pflegung ferner fort gestattet wird.“

Knappe vier Wochen vor dem Tod Raphaels schreibt der Beamte des Kreisrates verärgert an die Rentkammer „So höchst unangenehm und verdrießlich es auch ist, beinahe bei allen Geschäften, mit welchen man mit dieser hohen Behörde in Berührung kommt 1, 2, 3, 4 mal monieren zu müssen, so bin ich doch abermahls genötigt, dieses wegen des rubricierten Gegenstandes wiederholt zu thun... denn der Accordant, dem monatlich 6 Gulden 50 Kreuzer zugesichert worden sind, will doch nun bezahlt sein.“.

Wir brauchen nicht viel Phantasie, um uns vorzustellen, daß es in all diesen angebauten, halbbaufälligen Räumlichkeiten der Burg im Winter bitterkalt gewesen sein muß. Der Holzmangel, der überall im Land herrschte, machte sich hier besonders schlimm bemerkbar. .. Der Kreisrat schreibt an die Rentkammer: „Bei der nunmehr eingetretenen Kälte, treten auch wieder die Klagen der Alten auf der Ronneburg wegen Holzmangel ein und die Leute sind um so mehr zu bedauern, da sie alt und arm sind und sich dasselbe weder in den nahegelegenen Waldungen auflesen noch kaufen können. Sie können sich noch nicht einmal eine warm Mahlzeit bereiten, da ihnen das Holz

fehlt.“ Im Jahre 1841 bekommen die fünf Unterstützung bedürfenden Personen je 30 Kreuzer pro Woche. Vier Pfund Roggenbrot kosten 11 Kreuzer 2 Pfennige, ein Pfund ungemästetes Kuhfleisch 9 Kreuzer.

 

Bild: Ruth Brück, hier auf dem jüdischen Friedhof am Fuß des Ronneburg-Berges mit ihrer Enkelin Clara Brück stehend, ist die Ururenkelin von Salomon Stein, seinerzeit. Judenvorsteher auf der Ronneburg. Salomon Steins Enkelin Bertha Stein - Ruth Brücks Großmutter - wurde 1872 auf der Ronneburg geboren. Bezeugt ist dieses Ereignis mit der letzten Geburtsurkunde der Ronneburger Juden, aufbewahrt im Zentralarchiv in Jerusalem. Bertha Stein konnte in die Vereinigten Staaten von Amerika emigrieren. Ihre Enkelin Ruth Brück überlebte mit knapper Not dank hilfreicher Menschen, die sie und ihre Mutter vor den Nazis versteckten. (pom/Bild: Gisela Lorenzen)

 

Im Februar 1841 stirbt Raphael Suntheimer und Mayer Hecht, der ihn pflegte, stellt eine Rechnung über die Kosten auf, die uns einen, wenn auch nur unzureichenden Einblick in ein jüdisches Armenbegräbnis erlauben. Zwei Nächte saß der Totenwächter bei der Leiche, die wahrscheinlich auf den Boden gebettet und bloß mit einem weißen Leintuch bedeckt war. Raphael Suntheimer starb an einem Blutsturz und deshalb wurde sehr viel Leintuch, nämlich 10 Ellen benötigt.

Nach der rituellen Waschung wird der Tote in das Totenkleid gehüllt. Der einfache Sarg aus fünf Dielen und zwei Latten, die nach der Aufstellung von 60 Nägeln zusammengehalten wurden, stand schon bereit. Ein Bote hatte das Holz aus Altwiedermus geholt. Im Sarg wird der Gebetsmantel, der Tallit ausgebreitet. Dieser Tallit wurde, so merkt Mayer Hecht an, in unserer Gegend, auch „Decke Moses“ genannt. Er kostete ihn zwei Gulden und 30 Kreuzer.

Es ist üblich, in den Sarg feierlich Erde aus Eretz Israel zu streuen. Tatsächlich wurde ein Säckchen mit dieser Erde oder Sand in allen jüdischen Gemeinden aufbewahrt, aber da alle Unterlagen zerstört sind oder verloren gingen, können wir nur vermuten, daß auch die Juden auf der Ronneburg diesen Sand besaßen. Vielleicht hat dieser Brauch zu einer seltsamen Vorstellung der Christen geführt, denn es hieß, die Juden würden dem Toten Steine in den Sarg legen, damit er damit werfen könne, wenn er auf seiner Reise ins Jenseits Christus begegne.

Auch Nähzeug und eine Schere wurden bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts dem Toten mitgegeben, denn leicht konnte sein Gewand auf dem beschwerlichen Weg zerrissen werden.

Der Tallit (Talles) mit den Gebetsfäden, die nun gelöst werden, darf nicht die nackte Haut berühren, also wurde der Leichnam vorher in das Totenhemd gekleidet. Zusammen acht Gulden 30 Kreuzer. Der Platz auf dem Friedhof und das Ausheben machte zwei Gulden. Die bekam der Pächter Koch.

Gleich nach dem Sterben wird ein Licht angezündet, das nach dem Einsargen auf das Kopfende gestellt wird und nach der Beerdigung im Hause weiterbrennt. Dieses Licht sollte bei dem Tod des Vaters oder der Mutter zwölf Monate lange brennen, bei einem weniger nahe stehenden Menschen wenigstens 30 Tage. Für Raphael Suntheimer brannte die Öllampe nur neun Tage lang und verbrauchte in dieser Zeit „5 1/2 Schoppen Ehl“. Das machte einen Gulden und 39 Kreuzer. Die Rentkammer nahm viele Streichungen vor, der Posten für das Lampenöl wurde ganz gestrichen.

 

Ein anderer Konfliktpunkt, den die Armut heraufbeschwört, ist der Schulbesuch der Kinder. 1845 sind die jüdischen Kinder generell den Kindern von Nichtortsbürgern - das sind Ortsangehörige ohne Grundbesitz - gleichgestellt, wie aus einer Verordnung du Thils zu entnehmen ist. (Freiherr Carl Wilhelm Heinrich du Bos du Thiel war unter anderem großherzoglich-hessischer Finanz- und Staatsminister und bis 1848 Regierungs-Chef).

Die Eltern der Ronneburger Schulkinder sind zu arm, das Schulgeld zu entrichten. Deshalb bewilligt der Graf, in diesem Falle großzügig, 25 Gulden jährlich an die Schule in Altwiedermus zu zahlen. Nach zehn Jahren hat sich die Anzahl der Kinder vermindert und es werden neue Verhandlungen geführt.

Die Verhandlungen mit dem Lehrer in Diebach am Haag zeigen, wie man sich eine kleine Dorf-Volksschule vor 150 Jahren vorzustellen hat. Lehrer Lenz hat so wenige Kinder zu unterrichten, daß die Kosten für jedes Kind, das ja unmittelbar zur Ernährung des Lehrers und seiner Familie beitragen muß, ziemlich hoch ausfallen. Die Einschulung der Ronneburger Kinder würde diese Lage verbessern. Deshalb macht der Lehrer ein günstiges Angebot und ist bereit, selbst für „Räume, Sitz, Brennholz, Dinte etc.“ zu sorgen.

Bald ist der Graf mit Zahlungen wieder im Rückstand. Der Gemeindeinnehmer Habermann verfaßt einen Mahnzettel für den „Herrn Grafen“ und fordert bei der Gelegenheit auch noch sechs Kreuzer Schulstrafe für die Versäumnisse der Tochter von Täubchen Schwarzschild. Gegen diese Zahlung erhebt der Graf allerdings heftigsten Einspruch. Schließlich geht die Sache nach Darmstadt ans Ministerium des Innern und der Justiz, und dort schlägt man zugunsten von Täubchen Schwarzschild und dem Grafen Ferdinand Maximillian III. zu Wächtersbach die Zahlung der sechs Kreuzer nieder.

Aber vor dieser Schulstrafe lag die Revolution. Die Teuerungs- und Hungerkrise hat sich seit 1846 (Mißernte) noch verschärft. Der Winter 1848 ist bitterkalt. Kämpfe in Italien und der Schweiz ermutigen auch die revolutionäre Stimmung in Deutschland. Volksbewaffnung, Presse- und Religionsfreiheit, die endgültige Aufhebung der Feudallasten und die Gleichstellung aller Bürger, auch der Juden, steht auf der Tagesordnung. Die Abdankung des französischen Königs weckt bis nach Deutschland Begeisterung.

Aus Vorhängen, Schnupf- und Handtüchern werden in Eile deutsche Fahnen gemacht. Die Paulskirchenverfassung verspricht die Wahrung staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten unabhängig vom Glaubensbekenntnis. Aber nach dem Scheitern der Revolution gibt es Rückschläge auch für die Juden. Die Emanzipationsgesetzgebung wird vielerorts, auch in Hessen-Darmstadt, nicht konsequent durchgeführt. Zumindest das diskriminierende Schutzjudentum ist abgeschafft.

Jedoch bezeichnen die Bürgermeister der Dörfer am Fuße der Ronneburg noch bis in die ersten Jahre des Kaiserreichs die Ronneburger Juden als Schutzjuden, als handele es sich um einen Ehrentitel.

 

Daß es auf der Ronneburg eine Synagoge gab, wissen wir schon. Wo sie lag ist mit letzter Sicherheit noch nicht zu sagen. Die Beschreibung der Inventarliste von 1767 lautet, „...von dem Vorplatz...durch die Tür...befindet sich das sogenannte Gewölb am dicken Turm, über dem gewölbten Gemach ist die Judenschule... hat eine Tür. Neben der Judenschule ist die Tür über den dicken Turm.“

Vielleicht ist es der Raum, der unter dem langgestreckten Dach zwischen Bergfried und Zinzendorfbau liegt, zumal auch andere Merkmale zutreffen, wie zum Beispiel die Wohnung unter der Treppe zur Synagoge, in deren kleinem Raum die große Familie Hecht lebte. Die Sandsteintreppe, die zum Turm führt, teilt sich an dieser Stelle, und ein Bogen führt zu diesem großen, im Halbdunkel hinter einer Bretterwand verborgenen Raum.

Bei Aufräumungsarbeiten in den beiden Sommern 1972 und '73 wurde an der Nordwand des Kapellensaales im Pallasgebäude eine Fensternische entdeckt, die mit aufrecht stehenden Backsteinen zugemauert war. Als man die Backsteine wegnahm, quollen aus der Nische neben dem Bauschutt auch bemalte Scherben, Reste von Büchern in hebräischer Schrift, Gebetsriemen und Reste von Schuhen hervor. Dieser Fund wurde angeblich inventarisiert und die Ledersachen zur Untersuchung ins Offenbacher Ledermuseum gebracht. Die Papierfetzen wurden im Ysenburgischen Archiv aufbewahrt.

Allerdings maß man dem Fund damals offenbar keine große Bedeutung bei. Bisher liegen keine Ergebnisse vor. Man kann davon ausgehen, daß der Fund zerstreut ist, auch die Inventarliste ist nicht mehr auffindbar.

Das ist sehr bedauerlich, denn Forschungen der letzten Jahre legen nahe, daß es sich bei diesem Fund um eine „Genisa“ handelte. In einer Genisa (hebräisch, ursprünglich ein Abstellraum in der Synagoge) wurden unbrauchbar gewordene Schriften und andere Gegenstände aufbewahrt, weil sie - wenn auch oftmals nur im weitesten Sinne - sakrale Bedeutung hatten. Zum Beispiel auch solche bescheidenen Dinge wie die Weidenringe, mit denen die Blumensträuße beim Laubhüttenfest zusammengebunden waren. Deshalb ist es oft nicht leicht zu erkennen, um welch wertvolle Funde es sich bei einer solchen Genisa handeln könnte. Die Frage, wo sich die Mikwe, das Bad für die rituelle Reinigung befand, ist am schwersten zu beantworten. Es mußte lebendiges Wasser, Grund-, Fluß- oder Regenwasser sein. Jedoch ist eine Mikwe in keiner Weise bezeugt. Vielleicht hilft eine andere Spur weiter.

Im Jahr 1873 wird in Altwiedermus, dem Dorf, das der Ronneburg am nächsten liegt, eine winzige Fachwerksynagoge erbaut. Es ist der Zeitpunkt, wo die jüdische Gemeinde auf der Ronneburg sich durch Wegzug der Einwohner fast ganz aufgelöst hat. Diese kleine Synagoge enthält im Kellerraum ein Mikwe, die heute zubetoniert ist. Da das Häuschen nahe dem Bach und in einem Gebiet mit hohem Grundwasserstand liegt, war die Einrichtung einer Mikwe kein Problem. Der Fachwerkbau befindet sich auf einem Grundstück, auf dessen einer Hälfte 1842 ein Wohnhaus erbaut wurde, das einem Juden gehörte.

Dieses Haus wurde in der Folge an Christen verkauft, aber die Hälfte, auf der später die Synagoge errichtet wurde, blieb im Besitz der jüdischen Gemeinde. Es ist nun denkbar, daß das Bad vielleicht viel älter als die Synagoge ist und schon lange auch von den Juden auf der Burg benutzt wurde, und daß an dieser Stelle, nachdem die jüdische Gemeinde auf der Ronneburg aufgehört hatte, zu existieren, eine neue Synagoge über der alten Mikwe oder in der Nähe errichtet wurde.

 

Am Fuße der Ronneburg, im Burgstrauch, liegt der jüdische Friedhof, der vielleicht sehr alt ist. Genaues weiß man nicht. Der älteste der heute noch erhaltenen 15 Grabsteine stammt aus dem Jahre 1774. Die Inschrift eines anderen Grabsteines aus dem Jahre 1751 ist teilweise überliefert, der Stein selbst heute verschwunden.

Auch der Grabstein des schon erwähnten Judenvorstehers Salomon Stern ist erhalten. Obwohl 1861 gestorben, zu einer Zeit, als die Juden sich schon lange Familiennamen zugelegt hatten, lautet die hebräische Inschrift: „Hier ruht ein Mann, der rechtschaffene und geachtete Salomon, Sohn des Naftali ha-Levi aus Ronneburg. Gestorben mit gutem Ruf am Freitag, dem 15. Elul... Seine Seele sei eingebunden im Bunde des Lebens. Amen.“ Und dann kurz und bündig: „Sela“ = fertig, abgemacht! Eine Ururenkelin dieses Salomon Stern, deren Großmutter 1941 den Nazis mit knapper Not entkam, hat dieses Grab besucht..

Die Beerdigungen auf dem Friedhof im Burgstrauch wurden 1877 vom Grafen untersagt, aber die beiden Schwestern Fanni und Dina Schwarzschild wurden mit besonderer Erlaubnis 1877 und 1884 dort beerdigt. Nachdem Fanni Schwarzschild lange Jahre mit ihrem Mann um die Aufnahme in einer Gemeinde gekämpft hatte, war die Familie schließlich in Mittel-Gründau aufgenommen worden. Fanni wahrscheinlich von Geburten und schwerer Arbeit geschwächt - sie zog mit einem Handkarren durch die Gegend, den sie jahrelang Tag für Tag den steilen Berg zur Ronneburg hinaufschieben mußte - blieben nur noch zehn Jahre in ihrer neuen Heimatgemeinde.

Nachdem die Lebende endlich einen Ort gefunden hatte, wurde die Tote nachmals abgewiesen. Der Eckartshäuser Friedhofsverband verweigerte ihr die Beerdigung. So wurde sie schließlich doch am Orte ihres Ursprungs beerdigt. Warum ihre Schwester auch noch die Erlaubnis bekam, auf dem alten jüdischen Friedhof unterhalb der Ronneburg beerdigt zu werden, wissen wir nicht. Jedenfalls steht ihr Grabstein neben dem ihrer Schwester, und es ist der einzige, der neben der hebräischen Inschrift auch eine deutsche besitzt. Sie wurde „Täubgen“ genannt, obwohl ihr eigentlicher amtlicher Name „Dina“ war. Beide Namen stehen auch auf ihrem Grabstein: In Hebräisch „Täubgen“, in Deutsch „Dina“.

Leider ist von den vormaligen Quellen über die Juden auf der Ronneburg heute ein Teil nicht aufzufinden, so daß wir wenig über die letzte Phase der jüdischen Gemeinde auf der Burg berichten können. Im Jahre 1870 lebten noch etwa 27 Personen, die auf der Ronneburg heimatberechtigt waren, aber zum Teil schon in anderen Ortschaften wohnten_

Im Jahr 1880 gibt es noch sechs Unterstützungsempfänger. Um diese Zeit sind kaum noch Bewohner auf der Burg. Um 1885 kann die Burg wohl als leerstehend gelten. Im Jahre 1886 soll die letzte Person, die noch Heimatrechte auf der Burg besaß, Betti Goldstücker, im Büdinger Mathildenhospital gestorben sein.

 

 

Altwiedermus

Die ehemalige Synagoge in der Diebacher Straße - rechts neben dem Haus Nummer 45 - hat heute kein Gesicht mehr. Angeblich schaute sie einst mit zwei Fenstern auf die Straße herab. Aber das stimmt gar nicht. Beim Blick aus dem vorbeifahrenden Auto sieht die Giebelwand wie die einer normalen Scheune aus, vielleicht etwas unregelmäßig. Ein Gefach ist beschädigt. Lehmverputz und Weidenflechtwerk sind zu erkennen. Neben dem knallgelben Briefkasten hängt neuerdings ein schreiend roter Bonbon-Automat.

Aus der Nähe und in Ruhe betrachtet ist zu erkennen, daß im Zentrum der Wand gar kein Fachwerk existiert: Da ist es nur aufgemalt. Und genau hier war früher das Fenster, wie gesagt, nur eins, das irgendwann einmal zugemauert wurde. Der Eingang zu dem etwa eineinhalb Meter erhaben stehenden Gebäude befindet sich in der Rückseite und ist vom Hof über eine Treppe zu erreichen. Die kürzlich 90 Jahre alt gewordene Marie Heister schließt auf. Schon ihre Großmutter hatte die Synagoge betreut, später dann ihre Mutter. Daß dieses unscheinbare Gebäude ein Gotteshaus war, wüßten nur noch die alten Leute im Ort.

Und so klein sei das Haus auch gar nicht, etwa im Vergleich zum Wohnhaus der Familie Heister in seinem früheren Zustand. Zum Beweis schlägt Gisela Lorenzen in einem der prall gefüllten Ordner nach, zieht die Kopie einer technischen Bauzeichnung aus einer Klarsichthülle. Und in der Tat war die Synagoge sowohl höher als auch breiter als das Wohnhaus von Heisters. Unter der Synagoge war eine Mikwe, das rituelle Bad für Frauen.

Im Jahr 1873 wird in Altwiedermus, dem Dorf, das der Ronneburg am nächsten liegt, eine winzige Fachwerksynagoge erbaut. Es ist der Zeitpunkt, wo die jüdische Gemeinde auf der Ronneburg sich durch Wegzug der Einwohner fast ganz aufgelöst hat. Diese kleine Synagoge enthält im Kellerraum ein Mikwe, die heute zubetoniert ist. Da das Häuschen nahe dem Bach und in einem Gebiet mit hohem Grundwasserstand liegt, war die Einrichtung einer Mikwe kein Problem. Der Fachwerkbau befindet sich auf einem Grundstück, auf dessen einer Hälfte 1842 ein Wohnhaus erbaut wurde, das einem Juden gehörte.

Dieses Haus wurde in der Folge an Christen verkauft, aber die Hälfte, auf der später die Synagoge errichtet wurde, blieb im Besitz der jüdischen Gemeinde. Es ist nun denkbar, daß das Bad vielleicht viel älter als die Synagoge ist und schon lange auch von den Juden auf der Burg benutzt wurde, und daß an dieser Stelle, nachdem die jüdische Gemeinde auf der Ronneburg aufgehört hatte, zu existieren, eine neue Synagoge über der alten Mikwe oder in der Nähe errichtet wurde.

 

Wie viele Juden in früheren Zeiten in Altwiedermus gelebt haben, weiß Gisela Lorenzen (noch) nicht. Das wird sie bestimmt auch noch rauskriegen: „1938 waren es noch 27 Leute, also etwa zehn Prozent der Bevölkerung. Das Dorf hatte knapp 300 Einwohner davon 27 Juden. 15 sind ermordet worden.“ Und was ist aus den anderen geworden? Gisela Lorenzen wird wohl nicht alle Schicksale lückenlos nachvollziehen können. Der Name einer Jüdin beispielsweise, die 1938 noch in Altwiedermus lebte, steht auf einem Denkmal für ermordete Juden in Hannover.

Etwa 1980 ist das Lehrerehepaar Gisela und Volker Lorenzen nach Altwiedermus gezogen, hat sich ein Haus gebaut und etabliert. „Ich wußte, daß es in Oberhessen eine große jüdische Bevölkerung gab. Und irgendwann wollte ich mal wissen, wie das hier am Ort war. Ich habe also in Altwiedermus angefangen, dann kamen Eckartshausen, Himbach, Hainchen und Langenbergheim dazu ...“. Der Zusammenhang ergab sich über einen Friedhofsverbund. Zum jüdischen Friedhof in Eckartshausen (am Weg nach Marienborngelegen) gehörten auch die anderen genannten Orte mit Ausnahme von Hainchen.

Sie würde gern nach Amerika fliegen, unter anderem, weil Dr. Mayer demnächst 90 wird. Die Geschichte des jüdischen Arztes Dr. Ludwig Mayer, am 23 10.05 in Himbach geboren, schrieb sie für die Gemeinde Himbach in der Hoffnung, daß die etwas für ihn tut.

 

Die Fraktion der Wählergemeinschaft in Ronneburg (WiR) hat im Dezember 1995 beantragt, der Gemeindevorstand sollte sich für den Erhalt der Synagoge verwenden und dafür sorgen, „daß es auf keinen Fall zu einem widerrechtlichen Abriß kommt“. Aber ihrer weiteren Forderung, daß der Ausschuß für Jugend, Sport und Kultur solle sich der Angelegenheit annehmen und im Einvernehmen mit dem Ronneburger Geschichtsverein „denkmalpflegerische Vorschläge” erarbeiten, wurde nicht zugestimmt. Zudem wurden Stellungnahmen unter verschiedenen Aspekten gefordert: Unterhaltungs- und gegebenenfalls Sanierungsaufwand, Ankauf durch die Gemeinde, Möglichkeiten der Förderung aus Landesmitteln, künftiges Nutzungskonzept, und schließlich „heimatkundliche Öffentlichkeitsarbeit”.

Die Synagoge sei zwar - wie alle derartigen Gebäude - nach dem Denkmalschutzgesetz des Landes Hessen generell anerkannt, aber die gesetzliche Erhaltungspflicht der Eigentümer sei in der Praxis und auf Dauer oft nur sehr schwer durchzusetzen. Im konkreten Fall sei auch das hohe Alter der Besitzerin zu berücksichtigen. Deshalb sollte die Gemeinde selbst die Verantwortung übernehmen, womit auch eine sinnvolle Nutzung möglich wäre, für. die der Geschichtsverein schon Vorschläge hätte.

Dennoch herrsche Unsicherheit in der SPD-Fraktion, ob man Kontakt mit Marie Heister, der Eigentümerin der Synagoge. Das Haus sei geschützt, auch bei Verkauf: „Da kann nichts passieren. Ehe die Gemeinde eventuell weitreichende Verpflichtungen eingehe, sollte man die Fachbehörde zu einem Termin bitten, um sich „die ganze Problemlage“ mal gründlich erläutern zu lassen. „Ich will das Ding auf andere Füße stellen“, umschrieb Netscher die Ablehnung des WiR-Antrages und machte im weiteren Verlauf der Debatte mehrfach deutlich, daß er dieses Thema keinesfalls auf die parlamentarische Schiene gehoben wissen will.

Die Historikerin Gisela Lorenzen ist mit dem ersten Ergebnis der öffentlichen Debatte im Gemeindeparlament über den Umgang mit der Synagoge von Altwiedermus sehr zufrieden. Der erste und wichtigste Schritt sei gemacht worden, indem man in ein Gespräch über das Thema eingestiegen ist. Schließlich hat man auch ihren Bedenken Rechnung getragen. In einem Schreiben an die Fraktionen, das sie ihren Rechercheergebnissen über die Synagoge vorangestellt hatte, hieß es wörtlich: „Auch wenn Frau Heister schon 90 Jahre alt ist, sollten keine vorschnellen Schritte über ihren Kopf hinweg gemacht werden. Immerhin haben sie, ihre Mutter und Großmutter die Synagoge mit Heizen, Kehren und vielem anderen vom Beginn ihres Bestehens bis zum Ende betreut. Viele Kenntnisse, die wir haben, verdanken wir der Erinnerung von Frau Heister und ihrer Bereitschaft zu erzählen.“

 

Am Fuße der Ronneburg, im Burgstrauch, nördlich der Burg, rechts von der Auffahrt, liegt der jüdische Friedhof, der vielleicht sehr alt ist. Genaues weiß man nicht. Der älteste der heute noch erhaltenen 15 Grabsteine stammt aus dem Jahre 1774. Die Inschrift eines anderen Grabsteines aus dem Jahre 1751 ist teilweise überliefert, der Stein selbst heute verschwunden.

Auch der Grabstein des schon erwähnten Judenvorstehers Salomon Stern ist erhalten. Obwohl 1861 gestorben, zu einer Zeit, als die Juden sich schon lange Familiennamen zugelegt hatten, lautet die hebräische Inschrift: „Hier ruht ein Mann, der rechtschaffene und geachtete Salomon, Sohn des Naftali ha-Levi aus Ronneburg. Gestorben mit gutem Ruf am Freitag, dem 15. Elul. Seine Seele sei eingebunden im Bunde des Lebens. Amen.“ Und dann kurz und bündig: „Sela“ = fertig, abgemacht! Eine Ururenkelin dieses Salomon Stern, deren Großmutter 1941 den Nazis mit knapper Not entkam, hat dieses Grab besucht.

Die Beerdigungen auf dem Friedhof im Burgstrauch wurden 1877 vom Grafen untersagt, aber die beiden Schwestern Fanni und Dina Schwarzschild wurden mit besonderer Erlaubnis 1877 und 1884 dort beerdigt. Nachdem Fanni Schwarzschild lange Jahre mit ihrem Mann um die Aufnahme in einer Gemeinde gekämpft hatte, war die Familie schließlich in Mittel-Gründau aufgenommen worden. Fanni wahrscheinlich von Geburten und schwerer Arbeit geschwächt - sie zog mit einem Handkarren durch die Gegend, den sie jahrelang Tag für Tag den steilen Berg zur Ronneburg hinaufschieben mußte - blieben nur noch zehn Jahre in ihrer neuen Heimatgemeinde.

 

 

Langenselbold

Die im Rahmen des Forschungsprojektes „Das Schicksal der Juden im Main-Kinzig-Kreis“ entstandene 88-seitige ausstellungsbegleitende Dokumentation „Das Schicksal der Juden in Langenselbold“ (Hg. von einer Arbeitsgemeinschaft der Käthe-Kollwitz-Schule, Betreuung: Karin Hausch. Langenselbold 1988) beschäftigt sich mit folgenden Themen:

* Juden in Langenselbold vor 1933 (Handwerk und Gewerbe, Integration der Juden im Ort, in Vereinen)

* Machtergreifung 1933 (Wahlergebnisse im Landkreis Hanau)

* Nach 1933 (Boykottanordnungen. Gesetze gegen Juden. Kundgebungen der Nazis, Hetze gegen Juden in den Zeitungen, „Reichskristallnacht“, Familienschicksale)

* 1939 bis 1942 (Schicksal der Familie Katz.,Liquidierung jüdischer Geschäfte, Auswanderung und Deportation der Langenselbolder Juden)

* Nach 1942

 

 

Gelnhausen

Geschichte:

Schon bald nach der Stadtgründung im Jahre 1170 lebten Juden in Gelnhausen. Wegen ihrer Finanzkraft aufgrund der ih­nen zugeschobenen Zinsgeschäfte standen sie unter dem Schutz des Kaisers, dem sie dafür Schutzgeld zahlen mußten.

Seit 1265 wurden sie verpflichtet, als „Judenab­zeichen“ einen gelben spitzen Hut zu tragen; später markierte sie ein „runder gel­ber Ring in der Weite eines Talers“, wie es die „Judenordnung” der Stadt von 1672 vorschrieb. Zum ersten Pogrom kam es während der großen Pestepidemien 1348 /1349. Wie im gesamten Reichsgebiet wurden auch in Gelnhau­sen die Juden als „Brunnenvergifter“ ver­brannt. Gelnhausen war zum ersten Mal in seiner Geschichte „judenfrei“, die Chris­ten schuldenfrei.

Bald darauf existierte wieder eine Gemeinde - 1425 lebten 61 Ju­den in der Stadt, die jedoch bald wieder verfolgt wurden. 1576 war die Stadt dann zum zweiten Mal „judenfrei“. Erneut sie­delten sich in der Folgezeit Juden in der Stadt an. Im Jahr 1601 wurde mit einem Synago­genneubau begonnen, dem Vorgänger der noch heute als kulturelle Begegnungsstät­te genutzten Synagoge in der Judengasse (Brentanostraße). Es ist anzunehmen, daß der Verlauf der Judengasse mit dem des mittelalterlichen Ghettos identisch ist, das durch Tore vom Untermarkt und der Kuhgasse abgetrennt war. Durch das Tor zur Kuhgasse trug man die Toten hinaus zum jüdischen Friedhof am Kinzig­ufer.

Für den bis heute erhaltenen Friedhof hatte 1696 die Stadt den Juden die Erlaub­nis erteilt, ihn mit einer Mauer zu umge­ben. Der älteste datierte Grabstein trägt die Jahreszahl 1616. Auf dem „Ehrenhü­gel“ wurden auch für das hessische Landju­dentum bedeutende Rabbiner wie Rabbi Chanoch Henoch (1700 - 1741) und auch der „Wundertäter“ Rabbi Samuel Warburg (verstorben 1848) bestattet.

In vielen Bereichen gelang den Juden in der Folgezeit eine Assimilation an ihre christliche Umgebung, bis sie im 19. Jahrhundert in das städtische Leben integriert erscheinen. Jedoch gewährte ihnen erst 1833 die Kurhessische Judengesetzge­bung die staatsbürgerliche Gleichberechti­gung, Wahlrecht sowie freie Berufswahl. Ihren Gemeindevorsteher durften sie jedoch nicht von der Obrigkeit unkontrol­liert einsetzen

Im Jahr 1835 lebten in der Stadt mit 3595 Einwohnern 3292 Protestanten, 261 Juden und 42 Katholiken. Bald entwickelten die Gemeindemitglieder ein reges Handel- und Gewerbetreiben, das in einem Bericht des Landrates von 1936 an die Gestapo beschrieben wird: „Vor der Machtübernahme haben die Juden auf das Geschäftsleben im Kreis Gelnhausen einen nicht unbedeutenden Einfluß ausgeübt, der aber seit 1933 merklich zurückgegangen ist und heute vollständig lahm liegt. Sie trieben Handel mit Vieh, besaßen Konfektions-, Weiß-, Woll-, Kurzwaren- und Schuhgeschäfte, Lebensmittel- und Landesproduktengroßhandlungen. Auch im Handwerk waren sie vertreten, wie Bäckerei, Fleischerei, Schuhmacherei.

 

Nazizeit:

Zur Zeit der Machtergreifung lebten in Gelnhausen 218 Juden. Bereits im März 1935 hatte sich die Zahl halbiert; im März 1938 waren es nur noch 40 Juden - Anfang November hatte man das Ziel, „judenfrei“ zu sein, erreicht. Wegen des „Radau-Antisemitismus“ (Scheuer) hatten viele Juden vor 1938 Gelnhausen verlassen müssen; zur Finanzierung ihrer Flucht waren sie oftmals gezwungen, ihren Besitz zu verschleudern. Am 9. Mai 1926 wurde die NSDAP-Orts­gruppe Gelnhausen gegründet. Bei der Reichstagswahl am März 1933 erhielt die NSDAP in Gelnhausen 57,1 Pro­zent (auf Reichsgebiet 42,9 %).

Der Terror gegen die jüdischen Geschäftsleute begann in Gelnhausen bereits vor der Machtergreifung an drei verkaufsoffenen Sonntagen vor Weihnachten 1932, indem ihre Geschäfte von Männern in SA-Uniformen blockiert wurden. Auf diese Weise nahm man den „reichsweiten Boykott jüdischer Geschäfte“ vom 1. April 1933 vorweg.

Es kam zu „wilden Arisierungen“ wie im Fall des Autohändlers Joseph Blumenbach: Am 23. März 1933 suchten örtliche SA-Männer in per Armbinde ausgewiesener Eigenschaft als Hilfspolizisten Haus und Geschäft heim. Anschließend waren unter anderem die Geschäftsbücher, Geld und eine antike Waffensammlung verschwunden. Er selbst wurde ohne Haftbefehl abgeführt und erst am 17. Juni 1933 wieder aus der Haftanstalt Preungesheim entlassen. Er durfte seine Heimatstadt nicht mehr betreten.

Generelle Boykottmaßnah­men gegen Juden sind in Gelnhausen schon vor 1933 organisiert worden: an drei ver­kaufsoffenen Sonntagen vor Weihnachten 1932 blockieren Männer in SA-Uniformen die Eingänge jüdischer Geschäfte. In einem Interview 50 Jahre später erinnerte sich eine der wenigen überlebenden, Astrid Hey­mann, genannt Asta: „Es ging gleich mit der Machtergreifung richtig los - die hatten doch hier schon geübt!“

Es trifft zunächst das erste Gelnhäuser „Autohaus“, welches vom Juden Joseph Blu­menbach betrieben wird. Dieser war den Na­zis seit langem ein Dorn im Auge; hatte er es doch gewagt, in roter Badehose mit je einem Hakenkreuz auf den Pobacken öffentlich in der Kinzig zu baden und den Roten Front­kämpfer Bund (RFB) mit Schlagstöcken für eine Anti-Naziaktion auszustatten.

Am 23. März 1933 durchsuchten örtliche SA-Männer Werkstatt und Tankstelle in der Hailerer Straße 1 sowie Geschäftssitz und Wohnhaus in der Roether Gasse 10. Anschlie­ßend sind Geschäftsbücher, Benzingeld (400 RM), die antike Waffensammlung und Blumenbachs Armee-Revolver verschwun­den, die Bankkonten gesperrt. Blumenbach selbst wird ohne Haftbefehl abgeführt und erst am 17. Juni 1933 unter der Bedingung aus der Haftanstalt Preungesheim nach Mannheim entlassen, nie wieder seine Hei­matstadt Gelnhausen zu betreten.

Am 3. April 1933 erfolgte die Umbenennung der „Neuen Straße“ in „Adolf-Hitler-Straße“. Am 31. Mai 1933wurde die Tageszeitung „Geln­häuser Nachrichten“ des jüdischen Verle­gers Marcus Linick wird von SA-Männern beschlagnahmt und eingestellt.

Im Juni 1935 wird in Gelnhausen der Roh­produktenhändler Ludwig Scheuer fast tot ge­schlagen. Mit dem väterlichen Betrieb hat­ten große Firmen längst die Geschäftskon­takte abgebrochen. NSDAP-Mitglieder ver­prellten einst treue Kundschaft, in dem sie den Zugang zum Betrieb versperrten.

„Als ich von einem Besuch bei meinem Freund Siegfried Goldschmidt in der Seestra­ße zurückkehrte, wurde ich etwa 300 Meter vor meiner Wohnung (Burgstraße 34) vor dem Sägewerk Geiss plötzlich von zwei Män­nern rückwärts überfallen und mit aller Kraft mehrmals mit dem Gesicht auf den Rand der das Werk umgebenen Mauer mit aller Wucht aufgeschlagen, so daß mir fast alle Zähne ausgeschlagen und Kiefer, Lippen und Nase schwer verletzt wurden”, notierte Scheuer.

»Durch diese schweren Verletzungen verlor ich so viel Blut, daß der Weg von der Über­fallstelle bis zu meiner Wohnung mit Blutge­zeichnet war. Eine halbe Stunde später erschien eine Rotte von etwa 50 SA-Männern vor meiner Wohnung. Sie erbrachen Tor und Türen meines Hauses und der Lagerräu­me und plünderten. Ich flüchtete in die Bo­denkammer. Mit eisernen Stangen, Gummiknüppeln, Fußtritten und was man sich nur denken kann schlug man auf mich ein. In dieser verbrecherischen Art wurde ich, nachdem ich nicht mehr gehen konnte, bis ins Ge­fängnis geschleift. Mein Körper und Gesicht waren eine blutige Masse.“

Auch Ludwig Scheuer wird „unter der Be­dingung, innerhalb einer halben Stunde Gelnhausen zu verlassen und das Stadtge­biet niemals mehr zu betreten”, aus der „Schutzhaft” entlassen. Schwer gezeichnet für sein weiteres Leben und ohne Hab und Gut flüchtet er nach Frankfurt. Als seine El­tern Augusta und Samuel hier 1935 kurz hin­ter einander sterben, fehlt selbst das Geld für die Grabsteine. Am 13. August 1938 ge­lingt es Ludwig Scheuer frisch vermählt mit Hedwig nach Argentinien auszureisen, wo bereits sein Bruder Moritz seit 1936 lebt. Moritz wird sich nie eingewöhnen und Frieden finden - er tötet sich 1945 selbst. Am 3. No­vember 1938 wird Tochter Anita geboren. Bis zu seinem Tod im Alter von 68 Jahren bleibt Ludwig Scheuer ein gebrochener Mann, von seinen Verletzungen gezeichnet, arbeitsun­fähig und mittellos. Seine Frau Hedwig nimmt sich im Oktober 1975 das Leben.

Bei der Errichtung des „Ehrenmals“ im Stadtgarten1936 wird der jüdischen Gefallenen des

1. Weltkrieges nicht gedacht Beim Herbst­manöver vom 22.-26. September 1936 fahren Hitler, Göring und Blomberg im offenen Wagen durch die Stadt

Im Mai 1938 wurden jüdische Ge­schäfte in Gelnhausen mit dem Davidstern markiert. So wie der Boykott der jüdischen Geschäfte früh erfolgt war, hatte Gelnhausen seine „Kristallnacht“ bereits im Juni 1938. Sämtliche Fensterscheiben des Gotteshauses und jüdischer Wohnungen wurde zertrümmert. Man kann das Gefühl haben, .dies wären Tests gewesen. Am 9. November 1938 lebte bereits kein Jude mehr in Gelnhausen, den man hätte terrorisieren können. Auch war das Synagogengebäude selbst seit Sommer 1938 längst „arisiert“; in dem stattlichen Steinbau lagerten die Waren eines Gemüsehändlers.

 

In der Nacht vom 3. zum 4. Juni 1938 wurden die beiden Synagogentore von städtischen Bediensteten zugemauert. Als couragierte Gemeindemitglieder versuchten, das frische Mauerwerk einzureißen, wurden sie auf das Schlimmste angegriffen, wie der betroffene Manfred Meyer berichtet „Kaum war die Arbeit getan, versammelten sich Hunderte von schreienden Menschen auf dem Hof und bombardierten mit Steinwürfen den Hof, zerstörten alle Fenster der Synagoge und in dem Gemeindehaus“.

Am 26. November 1938 gab es eine Attacke auf den ka­tholischen Pfarrer Engels als „Juden­knecht“

Als die im Dezember 1916 in Gelnhausen geborene Kaufmannstochter Asta Hey­mann im November 1988 in die Geburts­stadt zurückkehrt, schreibt sie ihre Eindrü­cke nieder. „Ich komme hier her, ich sehe die Stadt und die ist schön. Die Menschen, die älteren Menschen, die sehe ich überhaupt nicht. Die kenne ich nicht, die sehe ich nicht, die will ich nicht kennen. Wie ich zum ersten mal zurückkam, kam einer an mir vor bei und sagte: ,Ach, bist Du auch wieder da?’ ,Ja, gell, da ärgerst Du Dich, daß der Hitler mich nicht erwischt hat!“

Zum Sinn von Gedenkveranstaltungen meint sie: „Die Menschen, die damals wirk­lich mitgemacht haben, die würden da nicht hingehen. Die würden sich das nicht anse­hen. Vielleicht fühlen sie sich schuldig.” Die zähe kleine Frau verstarb am 28.April 2001 in London im Alter von 84 Jahren.

Eine Woche vor der Pogromnacht hatten mit dem Ehepaar Selma und Siegfried Weiß sowie deren Tochter Hilga die letzten Ju­den Gelnhausen verlassen.

Am 10. März 1938 fand auch die letzte Beerdigung auf dem jüdischen Friedhof statt, die Beerdigungen von Caroline Hecht. Der Gemeindevorsteher Richard Scheuer erinnert sich: „Selbst die Toten ließ man nicht in Ruhe und störte ihren Frieden. Die Stadtbehörde verbot, den Totenwagen zu benutzen. So mußte der Sarg von dem Totenhaus zum Friedhof getragen werden. Das war ein Fest für die Jugend, die die Träger und die wenigen Menschen, die dem Sarg folgten, beschimpften. Auf dem Totenhof angelangt, sprachen wir nach uraltem Brauch bestimmte Totengebete. Der damit Beauftragte und die wenigen Gemeindemitglieder wurden von allen Seiten mit Steinen beworfen“.

Viele zogen nach Frankfurt ins Ghetto, wo sie sich Schutz vor dem alltäglichen Terror erhofften. Leider stellte sich dies als fataler Irrtum heraus. Viele ehemalige Gelnhäuser wurden von Frankfurt aus oder über andere Orte in die Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert. Wenigen gelang es durch Emigration oder Flucht der Ermordung zu entkommen. Mindestens 75 Gelnhäuser Juden wurden in den Konzentrationslagern und Ghettos umgebracht. Für 48 läßt sich ihr Todesort weit entfernt von ihrer Heimatgemeinde nachweisen: in Auschwitz, Izbica, Theresienstadt, Litzmannstadt, Majdanek, Minsk, Riga, und Sobibor. Sie haben kein Grab.

Am 1. November 1938 meldete die Kin­zig-Wacht triumphierend: „Gelnhausen endlich judenfrei - Gestern hat sich der letzte Vertreter der Krummnasen abgemel­det“. Damit war das Ende einer über 700 Jahre währenden Geschichte jüdischen Le­bens in Gelnhausen erreicht; die Stadt konnte sich als erste in Hessen „judenfrei“ nennen - eine Woche später folgten Bad Orb und Wächtersbach. Die trium­phierenden Nazis stellten sogar ein Schild am Bahnhof auf: „Gelnhausen ist judenrein“. Nach den Recherchen der Gelnhäuser Hi­storischen Gesellschaft (GHG) war die Stadt die erste in Hessen, die sich dieses Etikett anheftete.

 

Rundgang:

Wider das Vergessen und Verschweigen dieses dunklen, leidvollen und peinlichen Kapitels der Stadtge­schichte veröffentlicht die Gelnhäuser Hi­storische Gesellschaft jetzt einen besonde­ren Stadtführer.

Wenn Franz Coy gelegentlich die Gruppen auf einen Stadtrundgang auf Spuren der Juden in Gelnhausen führt, erlebt er ein gängiges Mißverständnis: Die gut erhalten scheinende prachtvoll restaurierte Synagoge erweckt den Eindruck, daß „hier wohl nicht so viel passiert ist“. Das Gegenteil ist der Fall: Das G­ebetshaus an der Brentanostraße, die einst Judengasse hieß, ward in der Reichspogromnacht bloß deshalb nicht angetastet, weil es zu diesem Zeitpunkt längst im Besitz eines „Ariers” war

50 Jahre nach der Zumauerung der Synagoge hatte die GHG ihren ersten Rundgang zu historischen Stätten organisiert. Ihre Forschungsergebnisse zur Zeit zwischen 1933 und 1945 – präsentiert in einer viel beachteten Ausstellung - wollte die Gruppe damit „verorten“. Reinhard Kunze: „Es gibt eine Struktur einer jüdi­schen Gemeinde, die zum Teil wie chirur­gisch entfernt wurde. Aber wenn man auf­merksam durch die Stadt geht, kann man Spuren entdecken.”

Viele Orte dieser Spu­rensuche sind längst nicht so offenkundig, wie die Synagoge, auf die man im Rathaus heute als „gute Stube” und Kunsttempel stolz ist. Den anderen Teil der Geschichte”, bedauert GHG-Mitarbeiterin Dagmar Wieland, „kennen die wenigsten”. Um zumindest Abhilfe auch über ihre gelegentlichen, privat vermittelten Füh­rungen hinaus anzubieten, haben die Freizeit-Historiker ihr Wissen in einer 32seitigen Broschüre mit Bildern und Do­kumenten zusammengefaßt. Das Heft mit dem Titel „Zur Geschichte der Juden in Gelnhausen während der nationalsozialistischen Verfolgung - Ein Stadtrundgang“ erscheint im Hanauer CoCon-Ver­lag zum Preis von sieben Mark. Die Broschüre wurde geschrie­ben, zusammengestellt und redigiert von Franz Coy, Gerhard Loos, Reinhard Kun­ze, Christine Raedler und Dagmar Wie­land.

Das Heft ist in Sprache und Ausstat­tung auf den Zweck hin gestaltet, soll nicht als historische Abhandlung, sondern als praktisch nutzbarer Führer betrachtet werden, der keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Es gibt acht Kapitel, den acht Stationen des Rundgangs entsprechen. Jedes Kapitel beginnt mit einer Abbildung des gemeinten Ortes, so daß auch Ortsfremden die Orientierung leicht fallen dürfte, zumal der Führer einen speziell abgestimmten Stadtplan beinhaltet. Die Texte sind so ausgewählt, daß sie vor Ort gelesen oder auch vorgelesen werden können. So erscheint die Broschüre auch für den Schulunterricht gut nutzbar. Die Wegstrecke beträgt etwa drei Kilometer und läßt sich – je nach Verweildauer und Lesegeschwindigkeit- in ein bis zwei Stunden bewältigen.

Der Rundgang beginnt am Kriegerdenkmal im Stadtgarten, auf dem bis heute die Namen jüdischer Gefallener „ver­gessen“ wurden und es nicht gelingen will, eine Gedenktafel für „das Leiden und

Sterben unserer jüdischen Mitbürger in den Jahren 1939 - 1945 (jetzt: 1933 – 1945) so zu gestalten, daß nicht wieder Teile der Geschichte ausgegrenzt werden. . Die GHG gibt zu bedenken, daß der Antisemitismus lange vor den Nationalsozialisten begann.

Die zweite Station ist die Ecke Schmidtgasse/Untermarkt, wo städtische Mitarbeiter in der Nacht zum 4. Juni 1938 da: Textilgeschäft des Juden Heinrich Scheuer zumauerten. Von dort führt der Weg hinab in die ehemalige Judengasse. Dor steht die Synagoge (4. Station) und dort wohnten etliche der 218 Juden, die zur Zeitpunkt der Machtübernahme noch in Gelnhausen lebten.

Station 5 ist das ehemalige Stadtgefängnis „Am Platz“, wo Gelnhäuser Bürge jüdischen Glaubens und andere unliebsame Personen wie der katholische Pfarrer Engels eingesperrt wurden. Es folgen de hinter einer Mauer versteckt gelegene Judenfriedhof als Ort des Gedenkens an jene mindestens 75 jüdischen Mitbürger, die in den Konzentrationslagern und Gettos von Nationalsozialisten und ihren Helfern ermordet wurden und kein Grab haben.

Siebte Station ist der Bahnhof, für viele der Gelnhäuser Juden Ausgangspunkt der Flucht, aber auch Station an de Hauptstrecke der Reichbahn Richtung Osten. Vorbei an der „judenreinen Stadt“ rollten unzählige Züge mit deportierten Menschen in die Lager. Den Schlußpunkt des Rundgangs bildet das Burgviertel und die Kaiserpfalzruine - ein Ort, an der andere Führer in Gelnhausens mittel­alterlicher Größe als auserwählter Platz im Glanze des großen Barbarossa schwelgen: Neben dem einstigen Domizil des sagenumwobenen Kreuzritters hatte viele Juden ihre Heimstatt. Aber das war schnell vergessen. Fast.

Zeitzeuge Richard Scheuer: „Im September 1938 hatten alle jüdischen Familien Gelnhausen verlassen, bis auf eine jüdische Seele in der Burg, die man zwang, Selbstmord zu begehen.“

 

Neue Gemeinde mit liberalen Grundsätzen:

„Wir Juden gehören in diese deutsche Gesellschaft seit Jahrhunderten hinein“, sagt Gabriel Moeller, „dem Todesurteil von 1938 widerstehen wir mit unserer Lebendigkeit“. Er will in den nächsten Wochen die „Jüdische liberale Gemeinde Gelnhausen-Main-Kinzig“ als Verein gründen und gerichtlich eintragen lassen.

Rund 40 Menschen in Gelnhausen, Hanau und Umgebung unterstützten das Vorhaben aktiv, berichtet der 48 Jahre alte Dozent und Verwaltungsmitarbeiter der Weiterbildungseinrichtung Deutsche Angestellten Akademie (DAA). Moeller lebt seit vier Jahren in Gelnhausen und kann, wie er sagt, nicht länger tatenlos zusehen, daß so genannte Zuwanderer jüdischen Glaubens alleine gelassen bleiben: „Ich fühle mich gefordert, ein Konzept zu machen“.

 Etwa 400 Familien jüdischen Glaubens gibt es laut Moeller im Main-Kinzig-Kreis. Die meisten seien als Kontingent-Flüchtlinge aus dem Osten in die Region gekommen, größtenteils aus der Ukraine und aus Rußland. „Das dringendste Problem liegt im sozialen Bereich“, weiß Moeller. „Unsere Leute sind Sozialhilfeempfänger, sprechen die Sprache nicht. Viele sind jenseits der 40 Jahre, einige sind pflegebedürftig“.

Darüber hinaus hätten sie in der früheren Heimat wenig Möglichkeiten gehabt, ihre Religion zu praktizieren. „Viele sind der Religion entfremdet.” Es gelte nun, diesen Menschen einen Halt zu geben: „Wir haben die Aufgabe, sie wieder einzuwurzeln“.

Die nächsten jüdischen Gemeinden existieren in Offenbach, Frankfurt und Fulda. Aber es ist nicht nur die Entfernung, die den Entschluß zur Neugründung in Gelnhausen reifen ließ. Ziel ist nach Moellers Worten ausdrücklich eine „liberale“ Gemeinde. Dieser Entwurf orientiere sich am progressiven Judentum, im Unterschied zu den heute in Deutschland vorherrschenden eher orthodox ausgerichteten Einheitsgemeinden. Nach den orthodoxen Regeln könnten etwa Juden, die in Mischehen leben, nicht unbedingt Funktionen in einer Gemeinde wahrnehmen.

Moeller selbst und einige Mitstreiter sind mit nichtjüdischen Partnern zusammen. „Hier geht es darum, jene, die aufgrund familiärer Verhältnisse aus den gegenwärtigen Gemeinden ausgegrenzt sind, als Juden zusammen zu führen. Wir wollen nicht Nichtjuden zum Konvertieren treiben, bloß damit ihre Partner oder Kinder in der Gemeinde anerkannt werden“. Auch die Gleichberechtigung von Männern und Frauen in allen religiösen Angelegenheiten sei kennzeichnend für das progressive Judentum.

Gründungshilfe für die Gemeinde in Gelnhausen leiste die seit sieben Jahren aktive liberale jüdische Gemeinde in Gudensberg bei Kassel. Weitere Unterstützung komme von der Jewish Appleseed Foundation, einer Fördereinrichtung für liberale Gemeinden, und ihrer Rabbinerin Jo David. Zudem planten einige nicht jüdische Menschen in Gelnhausen und Umgebung die Gründung eines Fördervereins. Zunächst müssen einige elementare Voraussetzungen für das Gemeindeleben geschaffen werden. So werde man sich auf absehbare Zeit keinen eigenen Rabbiner leisten können. Aber „es gibt Wander-Rabbiner, die die Gemeinden turnusmäßig besuchen. Die religiösen Verrichtungen zu Sabbat, zu den Feiertagen können auch Gemeindemitglieder betreiben“, erläutert Moeller und fügt hinzu: „Unsere große Stärke über Jahrhunderte hinweg war immer Selbstorganisation, Selbstarbeit und Selbstverpflichtung“.

Moeller hofft nicht zuletzt auch auf Hilfe von der Stadt Gelnhausen und dem Main-Kinzig-Kreis. Das gilt vor allem für die Suche nach einem Versammlungsort zum Beten und Lernen, dem Beth ha-Knesseth. „Wir haben alle Berufsgruppen in unseren Reihen, so daß wir auch gut ältere Räumlichkeiten selbst renovieren können“.

 Die im Eigentum der Stadt befindliche ehemalige Synagoge komme als Betraum nicht in Frage, da sie als Kulturhaus gewidmet und der Öffentlichkeit übergeben worden sei. Moeller: „Was möglich sein wird, ist jüdische Feste dort zu feiern und gemeinsam mit anderen Menschen Veranstaltungen zu haben“.

Ein drängendes Problem sei der Friedhof „Ein Rabbiner wird einen Juden nicht auf einem öffentlichen Friedhof beerdigen, sondern nur auf einem jüdischen“. Der alte jüdische Friedhof von Gelnhausen könne nicht reaktiviert werden. Akzeptabel wäre aber, auf dem kommunalen Friedhof ein abgegrenztes Areal einzurichten.

„Ein ganz weites Feld“ sieht Moeller in der Sozialbetreuung eröffnet: „Wir müssen uns um Arbeitsplätze kümmern, um Deutschunterricht für die Erwachsenen, um Nachhilfe für die Kinder und um die religiöse Erziehung der Jugendlichen“. Als „Jobmaschine“ will er gemeinnützige Arbeit nutzen: „Das kann auch bedeuten, für die eigene Gemeinde etwas zu tun“.

 

 

Meerholz

Für die 23-jährige Kerstin Slowik war es „ganz selbstverständlich”, am Sonntag-nachmittag in einem Hinterhof in der Meerholzer Erbsegasse zu stehen. Mit ihr erlebten rund 150 junge und alte Menschen wie Walter Stern, Jude und ehemaliger Bürger aus Meerholz, gemeinsam mit Hagen Maldfeld vom Geschichtsverein die Gedenktafel zur Erinnerung an die örtliche jüdische Gemeinde enthüllte.

Von einem weißen Laken verhüllt, machte zunächst nur eine schlichte Blumenvase am Boden auf die an der weißen Hauswand hängende Gedenktafel aufmerksam. Die rostbraunen Chrysanthemen und gelben Dahlien zogen die Blicke auf die unscheinbare Hofecke, im Halbkreis drängten sich Einheimische und Auswärtige davor. Dort, auf dem heutigen Grundstück der Familie Gustav Honzen, stand früher die Meerholzer Synagoge. Zwar überstand sie die Reichskristallnacht am 9. November 1938 und den Krieg, mußte aber 1963 wegen Baufälligkeit abgerissen werden.

„Ich bin angenehm überrascht, daß hier so viele Menschen Interesse an dieser Gedenktafel zeigen“, meinte Jürgen Richter vom jüdischen Landesverband am Rande der Zeremonie. Sogar in manchen Großstädten hätte er bei ähnlichen Veranstaltungen weniger Publikum erlebt. Er betonte: „Die Tafel ist nicht für uns, sondern sie ist für die Menschen hier wichtig, die sich erinnern wollen“. Und ergänzt: „Wir Juden erinnern uns auch ohne Gedenktafeln oder Mahnmale“.

Die bronzefarbene Tafel, gestaltet von Otto Schmidt aus Haitz, zeigt auf einer Hälfte ein Bild der ehemaligen Synagoge und einen Psalm. Auf der anderen Hälfte stehen die Namen der jüdischen Bürger, die ab 1925 bis zum Ende der dreißiger Jahre in Meerholz lebten und verschollen oder verzogen sind, vertrieben oder ermordet wurden. Auch die Namen von Walter Stern und seiner Familie sind dort verewigt.

Der heute 88-jährige Stern floh 1937 mit seinen Schwestern und Eltern nach Amerika. In New York fand er eine neue Heimat und kehrte anläßlich der Gedenktafel-Zeremonie erstmals nach 65 Jahren in seinen Geburtsort zurück. Gemeinsam mit Hagen Maldfeld, dem Vorsitzenden des Geschichtsvereins zog Stern langsam und sacht das weiße Laken von der Tafel. Ein langer Moment der andächtigen Stille folgte, bis Stern dem Meerholzer Ortsvorsteher Herbert Böhmer die Hand drückte und seiner Rührung Ausdruck verlieh. In einer kleinen Ansprache bedankte sich der 88-jährige bei den Meerholzern für das mahnende Kunstwerk. Er gedachte aller derjenigen, die damals schändlich ums Leben kamen und wünschte allen Menschenkindern eine friedvolle Zukunft. Gemeinsam mit seiner Nichte und seinem Neffen sprach er auf deutsch, englisch und hebräisch das jüdische Seelengebet.

Für Hagen Maldfeld war der Moment der Enthüllung ebenfalls sehr bewegend. Seine Familie lebt seit über 300 Jahren in Meerholz, „Ich bin hier stark verwurzelt“ erzählt der 31Jährige. „Hier gezwungenermaßen fortgehen zu müssen, wäre furchtbar für mich“. Diese Anteilnahme am Schicksal Walter Sterns, der stellvertretend für viele Juden und Nicht-Juden in der Nazizeit steht, bringt den jungen Meerholzer dazu, Geschichte lebendig zu erhalten.

In seiner Rede erinnerte Maldfeld daran, daß Vergangenheit zwar nicht bewältigt werden kann. Jedoch gelte es vor der Vergangenheit nicht die Augen zu verschließen, um nicht blind für die Gegenwart zu werden.

Vor rund zwei Jahren entstand im Geschichtsverein Meerholz-Hailer die Idee, mit einer Gedenktafel an die ehemalige jüdische Gemeinde im Ort zu erinnern. Ein breites Bündnis aller kirchlichen Gemeinden, der Ortsbeiräte Hailer und Meerholz sowie der Stadt Gelnhausen ermöglichte nun nicht nur dies: Auch zwei ökumenische Gesprächsabende zum Thema Heimat werden realisiert. Über den Sinn einer Gedenktafel sagte Ortsvorsteher Böhmer in seiner Rede: „In wenigen Jahren wird es keine Zeitzeugen mehr geben. Wir dürfen den 9. November 1938 und die Schrecken der Nazizeit jedoch nicht vergessen“. Die Tafel solle jetzige und künftige Generationen daran erinnern, nie wieder Minderheiten zu verfolgen. Für Stadtrat Jürgen Degenhardt mahnt die Tafel „mehr Menschlichkeit und Toleranz“ an.

Kerstin Slowik schaute sich am Ende der Zeremonie das Mahnmal über dem Blumenstrauß genau an. „Es ist wichtig, sich zu erinnern, damit derartiges nie wieder geschieht. Wir können das nicht einfach auf unsere Großeltern abschieben“.

 

 

Gelnhausen

Enteignung der Juden

Auf der Suche nach historische Dokumenten

Wanderausstellung „Legalisierter Raub“" macht ab kommenden September im Main-Kinzig-Forum in Gelnhausen Station.

„Legalisierter Raub: Der Fiskus und die Ausplünderung der Juden in Hessen 1933-1945“, dies ist der Titel einer Ausstellung, die sich mit einer der dunkelsten Zeiten der Deutschen Geschichte befaßt. Die 2002 eröffnete Ausstellung des Fritz-Bauer-Instituts und des Hessischen Rundfunks (hr) mit Unterstützung der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen und des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst wird vom 2. September bis 30. November im Main-Kinzig-Forum Gelnhausen zu sehen sein.

Nun stellten Landrat Erich Pipa, Dr. Bettina Leder-Hindemith vom hr, Christine Raedler vom Zentrum für Regionalgeschichte des Kreises sowie die ebenfalls innerhalb des Landkreises im Fachbereich Kultur zuständige Renate Nettner-Reinsel die Ausstellung vor. Die Arbeiten begannen 1998, als der damalige hessische Finanzminister Karl Starzacher erstmals die bis dahin weitgehend unter Verschluß gehaltenen und für die Forschung gesperrten Akten der Finanzbehörden aus den Jahren 1933 bis 1945 freigab.

Starzacher ermöglichte damit einen vollkommen neuen Blick auf die seit Jahren geführte Debatte zum Beitrag der deutschen Beamtenschaft am Holocaust. Bis in die 60er Jahre hinein habe, so Dr. Bettina Leder-Hindemith, die Meinung vorgeherrscht, die damaligen Beamten hätten nur ihre Pflicht getan, indem sie den geltenden Gesetzen gefolgt waren. Zu diesem Zeitpunkt sei nicht bekannt gewesen, in welchem Ausmaß Finanzverwalter tatsächlich in den Holocaust verwickelt gewesen waren.

Die Ausstellung beschäftige sich in zwei Teilen mit den damaligen Geschehnissen. Ausstellungstafeln sollen Gesetze und Verordnungen dokumentieren, die ab 1933 eigens als Rechtsgrundlage zur Ausplünderung jüdischer Bürger geschaffen worden waren. Weiterhin sollen wichtige Personen, die die Gesetze in Kooperation mit den Finanzämtern und weiteren Institutionen umgesetzt haben, vorgestellt werden. Doch geht es bei der Ausstellung nicht nur um Zahlen und Gesetzestexte. Sie sah eine Geschichte erzählen, von den Opfern der Plünderungen, von denen, die sich an ihnen bereicherten und den öffentlich angekündigten Auktionen aus „jüdischem Besitz“.

An jedem neuen Standort bemühen sich die Ausstellungsmacher, einen regionalen Bezug herzustellen. Wie jede Stadt hat auch Gelnhausen eine ganz eigene Geschichte zu erzählen: Da es sich bei Gelnhausen um eine der ersten „judenfreien“ deutschen Städte gehandelt habe, ergebe sich hier eine besondere Situation. Im Gegensatz zu vielen anderen Städten gab es hier weder Auktionen noch fanden Deportationen statt. Jedoch mußten viele jüdische Familien fliehen und somit viele Dinge aus ihrem Besitz zurücklassen, so auch das Ehepaar Sondheimer, das im September 1938 seine langjährige Heimatstadt verlassen mußte. Dr. Elkan Sondheimer, ein Rechtsanwalt und Notar, überlegte vor der Abreise, zusammen mit seiner Frau Gudrun, welche Habseligkeiten sie mitnehmen, welche sie verschenken und welche vorerst in ihrer Villa am Hang oberhalb der Stadt verbleiben sollten. Wichtige notarielle Aufzeichnungen übergab er dem katholischen Pfarrer Wilhelm Engels zur Aufbewahrung.

Nachdem die Familie die Stadt verlassen hatte, begann eine Hetzjagd auf deren Freunde und Bekannte. Die Lokalpresse bezeichnete sie als „Judenknechte“. die Zeitung .,Kinzig-Wacht.. beschrieb das Handeln des katholischen Pfarrers Engels mit den Worten: „mehr als eine bedauerliche Entgleisung“. In Folge solcher Hetzartikel wurde der Pfarrer am Abend des 26. Novembers 1938 von den Nationalsozialisten aus dem Pfarrhaus geholt und unter Schlägen und Tritten der Gelnhäuser Bürger ins Stadtgefängnis gejagt.

Beinahe wäre es dem evangelischen Pfarrer Wilhelm Handwerk genauso ergangen, hätten Widerstandskämpfer ihn nicht vor dem drohenden Unheil bewahren können. „Es gibt vieles, was wir in Archiven finden, aber auch vieles was wir dort nicht finden können“, verdeutlichte Leder-Hindemith. „Was geschah mit dem Besitz der Sondheimers? Was wurde aus den in der Villa verbliebenen Besitztümern? Was ist mit den Hinterlassenschaften anderer jüdischer Familien aus Gelnhausen? Wer kann darüber berichten?“

Mit diesen Fragen und der Bitte, sich an der Gestaltung der Ausstellung zu beteiligen, richten sich Raedler und Leder-Hindemith an alle Menschen aus Gelnhausen und Umgebung. Dreidimensionale Gegenstände erzählten, so Raedler, auf eine ganz besondere Weise, wie es Zahlen und Fakten nie vermögen werden. Gesucht werden Dokumente, Briefe, Fotografien und Objekte aller Art, die von jüdischen Familien zurückgelassen oder Freunden und Nachbarn zur Aufbewahrung übergeben wurden. Ansprechpartner ist Christine Raedler unter (06051) 85112 19 oder per E-Mail: Christine.Raedler@MKK.de .

 

 

Steinau

Im Nationalsozialismus wurde die jüdische Geschäftswelt in Deutschland ausgelöscht. Betriebe mit jüdischen Inhabern sollten reichsweit in „arische Hände“ überführt werden. Das war von Anbeginn erklärtes Ziel nationalsozialistischer Politik. Bevor Juden in Vernichtungslager gebracht wurden, wurden sie ausgeraubt. Ihre Ausgliederung aus der Rechtsordnung geschah zügig und planvoll. Eine regelrechte „Arisierungswelle“ setzt in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre ein, sehr zum Nutzen der Profiteure der Judenverfolgung. Aber schon vorher gab es entschädigungslose Enteignungen jüdischer Eigentümer. Ein einzigartiges Beispiel dafür ist die Geschichte der Enteignung der Seifenfabrik „Dreiturm“ in Steinau (heutiger Main-Kinzig-Kreis), die bereits 1934 erfolgte. Ohne Übertreibung kann man sagen, daß sich hier, im idyllischen Bergwinkelland, ein Wirtschaftskrimi abspielte. Dabei war der Umstand, daß der Dreiturm-Eigentümer Max Wolf als Sozialist bekannt war, von entscheidender Bedeutung.

Noch sind die Nationalsozialisten nicht an der Macht: Im Jahr 1930 zieht die Seifenfabrik Dreiturm, 1825 von der jüdischen Familie Wolf in Schlüchtern gegründet, wegen der Erweiterung des Firmengeländes ins benachbarte Steinau an der Straße. Die „Dreiturm“ entwickelt sich zum größten Arbeitgeber der Region. Sie gilt als fortschrittliches Unternehmen mit mustergültigen Sozialleistungen, übertariflichen Löhnen und der zu dieser Zeit seltenen 40-Stunden-Woche.

Nach den Reichstagswahlen im März 1933 beginnt in Schlüchtern und Steinau der Terror gegen den jüdischen Firmenbesitzer Max Wolf. Die Herrschaft des Faschismus beginnt auch in der Bergwinkelregion - wie überall im Deutschen Reich - mit Verhaftungen und Hausdurchsuchungen. Bei den Reichstagswahlen im März 1933 erhalten die Nationalsozialisten in Schlüchtern und Steinau satte Mehrheiten von über 50 Prozent. Das ist das Fanal für den örtlichen Terror gegen politisch anders Denkende. Max Wolf wird unter Hausarrest gestellt; sein Bruder Arnold, der als promovierter Chemiker ebenfalls im Werk arbeitet, wird mit einer Reihe anderer Dreiturm-Mitarbeiter in Schutzhaft genommen und ins Steinauer Gefängnis im Schloß gebracht.

Der NSDAP-Fraktionsvorsitzende des Kreistages, Oberförster M., avanciert zum Kreispolizeikommissar. Sein Parteifreund Adolf G. wird zum Landrat für den Kreis Schlüchtern gemacht. Ihm zur Seite steht der schnell zum Kreisoberinspektor aufgestiegene SS-Mann August D. Das erklärte Ziel der Nazis ist, die „rote Hochburg“ Dreiturm politisch zu liquidieren.

 

Frühjahr 1933: Max Wolf versucht zu retten, was noch zu retten ist. Sein Steuerberater Karl E., NSDAP-Mitglied seit 1931, schlägt ihm vor, die Firma zu verpachten und „in rein arische Hände“ zu legen, - damit „Sie künftig Ihre Ruhe haben“, wie er sich ausdrückt. Er rät, die Prokuristen Adolf Bell und Bruno Hoppe als Geschäftsführer einer neu zu gründenden Gesellschaft einzusetzen, und bietet sich selbst an, den Vorsitz des Aufsichtsrates zu übernehmen und als Verbindungsmann zur NSDAP zu fungieren. Die Familie Wolf läßt sich schweren Herzens auf diese „Gleichschaltungs“-Ratschläge ein. Das Unternehmen bekommt nun eine so genannte „arische“ Leitung, und Max Wolf hat nur noch durch einen Beratungsvertrag Einfluß auf sein Werk.

 

Aber das genügt der örtlichen Parteiprominenz keinesfalls. Sie will die Enteignung. Dafür setzen Landrat G., sein Adjutant August D. und die Gestapo Kassel mit ihrem obersten Leiter Friedrich P. S. alle Hebel in Bewegung. Allerdings ist man sich in der NSDAP keineswegs einig, wie man gegen Dreiturm und die Familie Wolf vorgehen soll. Die Partei war kein monolithischer Block. In der Folgezeit widersetzen sich einige NSDAP-Funktionäre den Enteignungsbestrebungen, insbesondere der Kreispolizeikommissar Kurt M.

Vorläufig sammelt das Landratsamt Schlüchtern, das wie eine Gestapo-Außenstelle agiert, emsig Material gegen Dreiturm. Behilflich ist ihm dabei ein Chauffeur des Werkes: Nikolaus K., seit Jahren bei Dreiturm beschäftigt und intimer Kenner vieler politischer Details, die für die Gestapo von Interesse sind. Mit der Bitte, seine Denunziation vertraulich zu behandeln, gibt er bereits im April 1933 zu Protokoll, daß er verschiedene Dreiturm-Mitarbeiter jeden Dienstag nach Frankfurt gefahren habe. Nach seinen Beobachtungen hätten diese dann an der Hauptwache linke politische Publikationen verkauft. Auch erfährt die Gestapo, daß im Sommer 1932 bei einer Autofahrt zwischen Max Wolf und anderen die Fortschaffung wichtigen Schriftmaterials erörtert wurde.

Auch andere Denunzianten melden sich zu Wort: Der Dreiturm-Portier Karl B., der Friseur und spätere Tankstelleninhaber Fritz K. und der Dreiturm-Angestellte Waldemar L. tragen allerlei zusammen, was die Gestapo interessiert: Zum Beispiel, daß die Geschäftsleitung im Werk nicht mit „Heil Hitler“ grüßt, wer was über die neue NS-Herrschaft geäußert hat, wer an wen verdächtige Bücher ausgeliehen hat. Der Gelnhäuser SS-Truppführer Albert E. im Verbund mit der Gestapo Kassel und dem Landratsamt Schlüchtern setzt Spitzel auf Personen an, von denen man weiß, daß sie rückhaltlos zu Max Wolf und gegen die geplante Enteignung seines Betriebes stehen werden: Opfer dieser Machenschaften ist in erster Linie Max Wolfs ehemaliger Kriegskamerad Adolf Bell, der seit Jahren in der Leitung der Dreiturm arbeitet. Bell setzt alles daran, die Enteignung zu verhindern.

In den Sommermonaten 1933 wird der Spielraum für die Dreiturm spürbar enger: Die NSDAP, vertreten durch ihren Steinauer Ortsgruppenleiter Fritz F., zwingt die Geschäftsleitung, linke Arbeiter zu entlassen und statt dessen verdiente alte Kämpfer der NSDAP einzustellen.

Max Wolf zieht mit seiner Familie nach Frankfurt, um sich dem Druck der Nazis in der Kleinstadt zu entziehen. Die Gestapo hat schließlich genug Material gegen die Dreiturm zusammengetragen, um zu dem gewünschten Ergebnis zu kommen, daß dieser Betrieb volks- und staatsfeindlichen Bestrebungen gedient hat und folglich enteignet werden muß.

Im März 1934 ist es so weit: Max und Arnold Wolf werden kurzerhand in Schutzhaft genommen. Wenige Tage später beschlagnahmt der Kasseler Regierungspräsident Konrad M. das Dreiturmwerk und setzt einen Wirtschaftskommissar ein, der das Vertrauen der Gestapo genießt: Walther R., Kaufmann aus Kassel. Die ersten Amtshandlungen, die der neue Wirtschaftskommissar vornimmt, sind die Kündigung des Beratungsvertrages mit Max Wolf und die Entlassung von Arnold Wolf.

Nun haben die Nazis freie Hand im Betrieb, wenngleich es sich vorerst nur um eine Beschlag­nahme, nicht um eine Enteignung handelt. Die Geschäftsführer Bell und Hoppe werden massiv unter Druck gesetzt, sich der neuen Firmenleitung zu beugen. Dabei ist die Drohung mit der Einweisung in ein Konzentrationslager durchaus im Bereich des Üblichen. Auf Hoppes Nachfrage, er könne sich nicht vorstellen, daß man jemanden ohne Grund ins Konzentrationslager verbringen kann, antwortet ihm der Kreisoberinspektor D. in unverblümter Offenheit: Es kann jeder in Schutzhaft genommen werden. Eine Begründung findet sich dann schon.

Max Wolf und seinen Freunden wird klar, daß sie auf höherer Ebene agieren müssen. Gegen die provinzielle Partei-Mafia, bestehend aus dem Landratsamt Schlüchtern, dem Regierungspräsidenten und der Gestapo Kassel, haben sie keine Chance. Also wendet man sich an das Reichswirtschaftsministerium. Max Wolf fährt nach Berlin, nimmt Kontakt zu Anwälten auf und trifft sich mit einem alten Bekannten aus Schlüchtern: dem Oberförster Kurt M. M. weilt zu dieser Zeit in einem Forsthaus in Brandenburg, wo auch die Nazi-Prominenz, unter anderen der Reichsjägermeister und Ministerpräsident Hermann Göring, des Öfteren zu Besuch kommt.

M. schreibt von dort aus an seinen Schlüchterner Parteifreund, den Landrat G., und betont, daß er Max Wolf „rein zufällig“ in Berlin getroffen habe: „Als ich neulich nach Besichtigung der Geweihausstellung mit einigen Parteifreunden im Berliner Hofbräuhaus saß, tauchte plötzlich ein alter Bekannter aus politisch sehr bewegter Zeit auf -Max Wolf aus Steinau, seines Zeichens Seifensieder ... Er teilte mir mit, daß beabsichtigt wäre, seine Fabrik zu enteignen, weil sie staatsfeindlichen Zwecken gedient hätte ... Die Behauptung, die Wolf’sche Fabrik hätte vornehmlich oder überhaupt staatsfeindlichen Interessen gedient, ist meines Erachtens vollkommen abwegig. Ein Beweis hierfür wird sich wohl niemals erbringen lassen. Fest steht lediglich eins, daß sich leitende Angestellte vor der Machtergreifung in jetzt staatsfeindlichem Interesse betätigt haben, daß Wolf selbst sich in diesem Sinne betätigt hat ... Eine Mitgliedschaft bei einer der damals links orientierten Parteien ist ihm meines Wissens aber nicht nach zuweisen, ebensowenig wie ein irgendwie loyales Verhalten nach der Machtübernahme“.

Damit stellt sich M. vorsichtig auf die Seite der Wolfs, was ihm allerdings in den nächsten Monaten viele Probleme bereiten wird. Sein Parteifreund D. aus dem Landratsamt antwortet ihm denn auch postwendend: „Lieber Kurt! Durch Herrn Landrat erfahre ich von dem Versuch des Max Wolf, Dich vor seinen Wagen zu spannen. Du siehst die Dinge, von denen Du zeitlich inzwischen stark abgerückt bist, in jeder Beziehung unzutreffend. Zunächst, bitte, rufe Dir in Erinnerung, aus welchen Gründen Dir damals die Kreispolizei übergeben worden ist. Es geschah dies allein zu dem Zwe­cke, um den gefährlichen Wolfschen Be­trieb politisch tot zu machen. Du weißt noch, daß unsere ersten gemeinsamen Maßnahmen nur darauf abgestellt waren ..“.

Aber damit war der ehemalige Polizei­kommissar vom Kreis Schlüchtern offenbar nicht auf Linie zu bringen. Der Drei­turm-Geschäftsführer Adolf Bell fährt ebenfalls nach Berlin. M. verspricht ihm, die Sache seinem obersten Parteifreund Hermann Göring vorzutragen, der demnächst zu Besuch käme.

Aber auch hohe Beamte der Kasseler Gestapo reisen nach Berlin, um zu interve­nieren. Als Adolf Bell Ende Mai 1934 Von seiner letzten Berlin-Reise nach Schlüch­tern zurückkehrt, findet er zwei Briefe vor: In dem einen verbietet ihm der Wirt­schaftskommissar R. das Betreten der Fir­ma Dreiturm, in dem anderen wird ihm vom Gestapochef P. S. mitgeteilt, daß er unter Hausarrest steht. Die Berliner An­wälte erreichen nach einigen Tagen die Aufhebung des Hausarrests.

Bell geht an diesem Abend zum Essen ins Hotel „Deutscher Kaiser“, wo er von eini­gen Schlüchternern verhalten gewarnt wird. Ein SS-Mann spricht ihn an: „Gehen Sie noch nicht weg, bleiben Sie noch etwas hier, das wird besser sein“. Bell spielt noch eine Partie Billard und geht gegen halb elf nach Hause. Eine halbe Stunde später hört er das Klirren der eingeworfenen Fensterscheiben bei seinem etwa 200 Me­ter entfernt wohnenden Kollegen Bruno Hoppe in der Alten Bahnhofstraße. Es fal­len auch Schüsse, und man hört Rufe wie „Judenknecht verrecke“. Ein Anruf dort bestätigt Bell, daß bei Hoppe gerade das Haus demoliert wird.

Hoppe bittet ihn, die Polizei anzurufen; er könne nicht telefonieren. Im gleichen Augenblick werden auch schon im Hause Bell die Fenster zertrümmert. Bell versucht telefonisch die örtliche Polizei zu erreichen - ohne Erfolg. Er meldet beim Postamt ein Ferngespräch an, will seinen Anwalt sprechen - ohne Erfolg.

Inzwischen tragen die Kontakte nach Berlin erste Früchte: Oberförster M. wird als Sonderbeauftragter des Ministerpräsidenten Hermann Göring eingesetzt, um die Vorfälle in Schlüchtern zu untersuchen. Er schlägt sein Hauptquartier im Hotel Löwe auf. Kurt M., alter Kämpfer und erfahren als früherer Kreispolizeikommissar, will in Schlüchtern aufräumen, Er will – wie er sagt – die Staatsautorität wieder herstellen und ist weitgehenden Vollmachten von Hermann Göring ausgestattet. Der Anschlag auf die Häuser von Bell und Hoppe soll nun aufgeklärt, der die Kreisoberinspektor D. entlassen und der von Kassel eingesetzte Wirtschaftskommissar bei Dreiturm, Walther R. abgesetzt werden.

Als Erstes verhaftet M. den Gelnhäuser SS-Sturmführer Albert E., der den Pogrom gegen Bell und Hoppe organisiert hatte. Er nimmt ihn in Schutzhaft ins Schlüchterner Gefängnis. Dann läßt er in einer spektakulären Aktion verschiedene stadtbekannte Nazis öffentlich zum Verhör vorführen, indem er sie wie Angeklagte vorladen und durch die Stadt führen läßt. Auch der Landrat wird verhört. Dieser und die Gestapo Kassel sehen allmählich, ihre Felle davonschwimmen.

Nochmals interveniert der Gestapo-Leiter P. S. in Berlin beim Ministerpräsidenten und droht, von seinem Amt zurückzutreten. Damit hat er schließlich Erfolg: Hermann Göring scheint die Lust verloren zu haben an diesem Fall. Er läßt M. zurückrufen und erklärt seinen Auftrag für beendet.

Nun geht es geradewegs auf die Enteignung zu. Anfang Juli 1934 wird das Dreiturm-Vermö­gen, das bis dahin nur beschlagnahmt war, entschädigungslos eingezogen. Gleichzeitig werden sowohl Max Wolf als auch Adolf Bell verhaftet.

Bei Wolf lautet der Vorwurf, wie meist bei politischen Verfahren gegen Sozialdemokraten und Kommunisten, „Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens2. Bell wirft man vor, durch seine Äußerungen das Ansehen des Staates und der NSDAP schwer geschädigt zu haben. Fast fünf Monate sitzt Max Wolf in Untersuchungshaft in Berlin-Plötzensee. Langfristig kann die Justiz allerdings den Haftbefehl gegen ihn nicht aufrechterhalten. Die Anklage wird fallen gelassen. Der Zweck der Prozedur - die Enteignung der Dreiturm-Werke - war erreicht.

Auch Adolf Bell sitzt mehrere Monate in Untersuchungshaft. Ihn aber will man verurteilen. Natürlich finden sich genügend gesinnungstüchtige Richter und Staatsanwälte, die die volle Härte der Nazi-Gesetzgebung gegen Adolf Bell ins Feld führen. Und es finden sich willfährige Zeugen, die Bell seit geraumer Zeit bespitzelten: der Chauffeur K., der Portier B. und der Friseur K. Im Oktober 1934 verurteilt das Sondergericht Kassel den 43-jährigen Adolf Bell zu einem Jahr und drei Monaten Gefängnis. Damit ist der entschiedenste Kämpfer gegen die Dreiturm-Enteignung hinter Gitter gebracht.

Der Dreiturm-Konzern gehört nun dem Staat. Er wird ein Jahr später von der Konkurrenzfirma Sidol zu einem Spottpreis von rund eineinhalb Millionen Reichsmark aufgekauft. Der Wert des Unternehmens betrug zu diesem Zeitpunkt etwa dreieinhalb bis vier Millionen Reichsmark.

Max Wolf und seine Familie emigrieren nach England, wohin ihm später auch sein Bruder Arnold und der aus dem Gefängnis entlassene Adolf Bell folgen. Mit Hilfe von Freunden gelingt es ihnen, in England ein neues chemisches Werk zu errichten. Die meisten der leitenden Mitarbeiter der Dreiturm und die politischen Freunde Max Wolfs sind in alle Winde zerstreut. Geschäftsführer Hoppe wird entlassen.

Wie viele Betriebe wurde auch die Dreiturm in Steinau auf die Produktion von Rüstungsgütern im Krieg umgestellt. Der Sidol-Konzern, zu dem die Dreiturm seit der „Arisierung“ gehörte, arbeitete an der Rüstungsfertigung auf höchster Dringlichkeitsstufe nach dem „Führernotprogramm“. Der Arbeitskräftebedarf wird mit Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen gedeckt, insbesondere mit russischen Kriegsgefangenen.

Kurz vor Kriegsende, Karfreitag 1945, fällt das Dreiturmwerk einem Tieffliegerangriff zum Opfer. 70 Prozent der Gebäude und 85 Prozent der Maschinen und Einrichtungsgegenstände werden ein Raub der Flammen.

Nach Kriegsende versucht Max Wolf, die Dreiturm wiederzuerlangen. Aber es dauert noch drei Jahre juristischer Auseinandersetzung, bis die Rückgabe durchgesetzt ist. Max Wolf konnte sich darüber nicht mehr lange freuen. Er starb im selben Jahr 1948. Max Wolfs Sohn Gerald Wolf, der heute 82jährig in England lebt, übernahm 1948 die Leitung der Dreiturm, verkaufte 1970 aber 50 Prozent an Rudolf Hedler, der die Unternehmensführung als geschäftsführender Gesellschafter übernahm. Die Hälfte des Unternehmens gehört noch heute der Familie Wolf (Dr. Christine Wittrock).

 

Um die soziale Einstellung des Firmenchefs Max Wolf zu verstehen, muß man wissen, daß er, wie auch sein jüngerer Bruder Arnold, in der Weimarer Republik mit sozialistischen Ideen in Berührung gekommen ist. Max und Arnold Wolf gehörten dem Internationalen Jugend-Bund an, einer Organisation, die links von der SPD im Spektrum der Arbeiterbewegung agierte Für die Sozialdemokratische Partei waren die jungen Leute aus dem Internationalen Jugend-Bund, dem IJB, lästige Parteigenossen, von denen sie immer wieder an ihre eigenen, aber schon in Vergessenheit geratenen sozialistischen Ziele erinnert wurden.

Die SPD entledigte sich schließlich 1925 ihrer linken Kritiker durch einen Unvereinbarkeitsbeschluß. Nun gründete sich aus dem IJB heraus unter Führung des Göttinger Philosophen, Mathematikers und Politikers Professor Leonard Nelson eine neue Partei: der Internationale Sozialistische Kampf-Bund, kurz ISK genannt. Der ISK wollte die Welt verändern. Er wollte mutige und prinzipientreue Menschen heranbilden, wollte sie zu ernsthaften Sozialisten erziehen und eine Brücke zwischen den beiden Arbeiterparteien - der SPD und der KPD - in der Weimarer Republik schlagen.

Der Internationale Sozialistische Kampf-Bund verpflichtete seine Mitglieder zu besonderer Lebensführung: Einhaltung vegetarischer Lebensweise in Achtung vor dem Lebensrecht der Tiere, Austritt aus der Kirche, da ihre Glaubenslehre die Menschen entmündige, Abstinenz von Alkohol, dessen Genuß den Vernunftgebrauch einschränke und Abgabe einer rigorosen „Parteisteuer“. Der ISK legte keinen Wert auf große Mitgliederzahlen; eine straff geführte, gut geschulte sozialistische Elite war ihm wichtiger.

Nach Schätzungen soll er in Deutschland etwa 300 Mitglieder und ein Umfeld von 1.000 Sympathisanten gehabt haben, gab eine eigene Zeitung heraus und war hauptsächlich in Deutschland und England vertreten.

Eines der wichtigsten Projekte, die Max Wolf im Rahmen des ISK mit großem Engagement unterstützte und förderte, war das Landeserziehungsheim Walkemühle bei Melsungen, eine linke Reformschule mit Internatscharakter. Der Dreiturmchef Max Wolf verstand sich als Sozialist. Er wollte seinen Reichtum für sinnvolle Aufgaben verwenden. Er gehörte zu den wenigen Wohlhabenden, deren vorrangiges Ziel nicht Profitmaximierung war, sondern Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse: Abschaffung des Elends, der Massenarbeitslosigkeit und der damit einhergehenden Verrohung und Verdummung der Menschen. Für dieses Ziel arbeitete und kämpfte er, dafür gab er große Summen seines Geldes aus, dafür wurde er letztlich ins Gefängnis gebracht und aus Deutschland vertrieben.

In den unruhigen Jahren zwischen 1918 und 1933 wurde die Dreiturm-Seifenfabrik in Schlüchtern und später in Steinau ein Auffangbecken für Sozialisten aller Schattierungen. Arbeitslose Gewerkschafter, gefeuerte kommunistische Arbeiter, leitende ISK Mitglieder, sozialdemokratische Familienväter - alle fanden Brot und Arbeit in dem vorbildlich geführten Werk; ein Umstand, der wenige Jahre später dazu führt, daß die örtlichen Nationalsozialisten die Dreiturm als „rote Hochburg“ unerbittlich verfolgen (Christine Wittrock).

 

 

Schlüchtern

Geschichte:

Bis ins 12. Jahrhundert läßt sich die Anwesenheit von Juden in Schlüchtern zurückverfolgen, schrieb der in die Vereinigten Staaten emigrierte Victor Reis 1988 in einem Beitrag zur „Geschichte der Israelitischen Gemeinde von Schlüchtern“. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren mehr als ein Zehntel der Bevölkerung in der Bergwinkelstadt jüdischen Glaubens, darunter Vieh- und Textilhändler, Kaufleute, Bäcker, Metzger und Schuhmacher sowie einige wenige Unternehmer, wie Victor Wolf (1855-1916), der Gründer der bekannten Dreiturm-Seifenfabrik.

Unterschiedliche Angaben gibt es über die Zahl der Schlüchterner Juden zu Beginn des Jahres 1933. Die Zahl schwankt bei einer Gesamteinwohnerzahl von rund 3300 zwischen etwa 330 und 400. Monica Kingreen, die sich der Geschichte der jüdischen Gemeinden im Main-Kinzig-Kreis verschrieben hat, bezeichnet die Region Schlüchtern diesbezüglich als einen der „unerforschtesten Bereiche“. Schon in den ersten Monaten der Hitler-Diktatur zog es viele Juden in Großstädte wie Frankfurt und von dort später in die USA sowie nach England und Palästina. Bis zum Mai 1939 hatten 271 jüdische Mitbürger Schlüchtern verlassen.

 

Synagoge:

„Wegen seiner Dimension und des repräsentativen Aussehens“, notiert Thea Altaras in ihrer Dokumentation „Synagogen in Hessen“, gelte das frühere jüdische Gotteshaus in Schlüchtern vielen als „der richtige Begriff schlechthin für eine Synagoge!“ Noch heute gehört das aus roten Sandsteinquadern auf einem fast kreuzförmigen Grundriß symmetrisch errichtete Bethaus mit seinen auffälligen Schildgiebeln zu den markantesten Bauwerken der ehemaligen Kreisstadt im östlichen Main-Kinzig-Kreis.

Bei der feierlichen Einweihung vor 100 Jahren, am 27. August 1898, schwärmte ganz Schlüchtern von einem Glanzstück „auf einem der schönsten Bauplätze der Stadt“. Für die israelitische Gemeinde. die seinerzeit rund 13 Prozent der knapp 3.000 Einwohner ausmachte, drückte die Synagoge vor allem auch deren Integrationswillen aus. Die prunkende Modernität wurzelte weniger in religiösen Motiven ais in politischer und gesellschaftlicher Bedeutung und sollte, so Thea Altaras, „anschaulich das gleichberechtigte Judentum darstellen“.

Die neue Synagoge wurde, schwärmte die Heimatzeitung, „auf einem der schönsten Bauplätze der Stadt“ errichtet. Auch die Gestaltung des Gebäudes, das binnen zwei Jahren an der Ecke Grabenstraße/Weitzelstraße, die früher Kaiserstraße hieß, entstand, erfüll­te nicht nur die jüdische Gemeinde mit Glück und Stolz. Den Prachtbau im neu-romantischen Stil bewunderte die ge­samte Bürgerschaft als „Glanzstück im Stadtbild“, heißt es.

„Beim festlichen Einzug trugen die Äl­testen die Thorarollen strahlend wie jun­ge Mütter ihre Säuglinge bei den Klängen einer Militärkapelle“, ist von der Einwei­hungsfeier am 27. August 1898 überlie­fert, der sich am nächsten Morgen ein mu­sikalischer Frühschoppen auf dem Felsen­keller in der Bahnhofstraße anschloß.

Die Dimension der neuen Synagoge, die ein bis dato armseliges Bethäuschen in einem versteckten Winkel hinter der Stra­ßenfront in der Obergasse ersetzte, erklärt sich nicht ausschließlich aus der Re­ligiosität der ehedem überwiegend streng orthodoxen jüdischen Gemeinde in Schlüchtern. Die hier dem Bau selbst zugeordnete Wichtigkeit ... sollte „an­schaulich das gleichberechtigte Judentum darstellen“, notierte Thea Altaras in ihrer Mitte der 80er Jahre veröffentlichten Do­kumentation „Synagogen in Hessen“. Im­merhin waren nach Angaben der Lehrerin und Forscherin Monica Kingreen im Jah­re 1900 von 2766 Schlüchterner Einwoh­ner 376 jüdischen Glaubens. Seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts strebten diese nach Emanzipation und vor allem Assimilation. Mit der neuen Synagoge wurde deren „jüdisches Bewußtsein bestä­tigt, ihr bürgerliches aber dadurch unge­mein gestärkt“, erinnerte der inzwischen verstorbene Heimatforscher Wilhelm Praesent 1988 in einer Festschrift des Heimat- und Geschichtsvereins.

40 Jahre diente die Synagoge, deren Ar­chitektur die unterschiedlichsten Baustile zusammenfügte, und neben Dreipaß, Rad­fenster, Rundbogenfries, Rundbogenfen­sterreihe, Türmchen, Satteldach mit far­bigen Glanzziegeln auch einen orientali­schen Hauch verbreitete, als Bethaus. In der sogenannten „Reichskristallnacht“”, wurde das Gotteshaus angesteckt und ge­plündert. Das im Inneren verwüstete Ge­bäude diente während des Krieges als La­gerhalle, ehe es auf Geheiß der US-Armee

als Kirche wiederhergestellt wurde.

Im Jahr 1955 gelangte das Haus in Privatbesitz und wurde durch den Einzug einer Betondecke zur zweigeschossigen Textilfabrik umgebaut, in der bis 1969 Hemden und Blusen geschneidert wurden. Im Jahr 1970 zog in den oberen Saal die Weitzelbücherei, im unteren Teil war einige Jahre das städtische Verkehrsbüro untergebracht. Schließlich mietete die Stadt den größtenteils aus roten Sandsteinquadern erstellten Bau an und eröffnete darin im März 1995 das „Kulturzentrum-Syna­goge“, in dem nun regelmäßig Kinovorführungen, Konzerte und Ausstellungen stattfinden.

 

 „In ihrer Lebensweise und ihrem Charakter unterschieden sich die Schlüchterner Juden durch nichts von den übrigen Bürgern - außer daß sie, statt zur Kirche. in die Synagoge gingen“, erinnerte sich nach dem Krieg die nach Israel ausgewanderte Irma Wolf an jene Zeit.

Nur 40 Jahre blieb das Bethaus heilig. Als die Nazis sie in der Pogromnacht vor 60 Jahren in Brand steckten, hatten viele Juden Schlüchtern bereits verlassen, waren teilweise emigriert. Mindestens 130 von ihnen wurden in Konzentrationslagern ermordet. Ihre Namen prangen seit voriger Woche auf einer Pergamenthaut in der ehemaligen Synagoge.

Das im neuromanischen Stil mit Radfenstern, Rundbogenfries, Rundbogenfensterreihe. Türmchen und Satteldach errichtete Gebäude, das auch einen Hauch von Orientalität vermittelte, überstand die Nacht zum 10. November 1938 äußerlich weitgehend unbeschädigt. Das Feuer, das im Inneren Schriften vernichtete und Glasscheiben bersten ließ, wurde dank einiger einsichtsvoller Schlüchterner - darunter dem Löwenwirt Denhard. - rechtzeitig gelöscht. Vermutlich auch wegen der Befürchtung, die Flammen könnten auf eine nahegelegene Tankstelle übergreifen.

Während des Krieges als Lagerhalle genutzt, wurde das Gotteshaus, in dem auch eine Kanzel angebracht war, auf Geheiß der Amerikaner wiederhergestellt. Doch schon Anfang der 50er Jahre wurde es zum Werkhaus und später durch den Einzug einer Betondecke zur Textilfabrik umfunktioniert. Im Jahr 1970 zogen Kreis- und Stadtbücherei und später das Fremdenverkehrsamt ein. Seit 1995 ist sie kommunales Kulturzentrum. Der obere Saal beherbergt Kino und Konzertraum. im unteren Teil sind laufend Ausstellungen zu sehen.

 

Pogromnacht:

Nach der jährlichen Parteifeier in der Turnhalle aus Anlaß der Wiederkehr des Tages von Hitlers Putschversuch 1923 notiert Studienrat Kleeberg: „Als ich allein auf meiner Stube nachher war, hörte ich drei Signale. Ich ahnte sofort, was geschehen war. (Ehefrau) Isel kam gelaufen, sie hatte es auch gehört; aber es konnten auch Lastautos gewesen sein. Was mochte in dieser Nacht vorgehen?“

Es wurden antijüdische „Aktionen“ organisiert. Dazu gehörten auch die Schlüchterner NS-Führer, die seit 1934 mit zahlreichen schweren Übergriffen jüdische Familien drangsaliert hatten. Bis zum Jahre 1933 waren diese überall geachteten Bürger der Stadt Mitglieder in Vereinen, in der Feuerwehr, im Heimatbund, in der Stadtverordnetenversammlung. „Erst im Jahre 1933“, so schrieb Ursula Neuhof, „sind wir zu Aussätzigen geworden, und Schlüchtern hat sich darin hervorgetan“. Bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 hatte die NSDAP doppelt so viele Stimmen wie die Sozialdemokraten und das Zentrum zusammen. Die Stadt Schlächtern hatte zu dieser Zeit einen Anteil von zehn Prozent jüdischer Bürger.

Die Exzesse gegen die jüdischen Burger Schlüchterns sind im Zusammenhang mit der reichsweiten Entwicklung nach dem Attentat auf den Legationsrat Ernst vom Rath in Paris zu sehen. Dazu muß für Schlüchtern allerdings deutlich festgestellt werden, daß es sich um örtlich ge­plante und ausgeführte „Aktionen“ han­delt, die zu den frühen kurhessischen Po­gromen zwischen dein 7. und 9. November gehören und zeitlich vor den reichsweiten liegen. Im nordhessischen und osthes­sischen Raum gingen diese Pogrome mit dem Ausgangspunkt Kassel - so der heu­tige Forschungsstand - zwar auf die In­itiative des Reichspropagandaministeri­ums zurück, wurden dann aber koordi­niert von einem „Komplott der regionalen SS sowie des Kasseler SD und der dorti­gen Gestapo im Zusammenspiel mit sol­chen Kreisleitern und örtlichen SA-Füh­rern. die bereits in den zurückliegenden Jahren militante antijüdische „Aktionen“ organisiert hatten

Am Dienstag, 8. November 1938, schrieb Dr. Kleeberg, Studienrat am Schlüchterner Hutten-Gymnasium, in seinem Tagebuch: „In Paris hat ein junger Jude ein Attentat in der dortigen deutschen Botschaft verübt. Es war vorauszusehen, daß diese Tat zu Repressalien seitens der Nazis führen würde und zu den üblichen Volksentrüstungs-Kundgebungen, die wir zur Genüge kennen. Was wird nun noch mehr geschehen? Es zieht eine Flut von Furcht und Angst herauf“.

In Schlüchtern kam es in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 zu exzessartigen Ausschreitungen gegen die jüdischen Bürger, ihren Besitz. ihr Gotteshaus. ihre Gemeindeeinrichtungen und ihre Friedhöfe.

Schon in der Nacht zum 9. November 1938, so ist aus einer zeitgenössischen Sammlung von Augenzeugenberichten zu lesen. „war die Synagoge heimlich betreten und überall mit Urin besudelt worden. Daher nahmen die Mitglieder der (jüdischen) Gemeinde am Mittwoch (9. November 1938) die Thorarollen heraus und verbrachten sie ins Schulzimmer“ (im benachbarten Gemeindehaus). Es ist anzunehmen, daß die Verantwortlichen der Gemeinde an diesem Tag auch die silbernen Kultgegenstände wie Thorakronen, Thoraschilder und Lesefinger mitgenommen haben. Neben ihren eigenen antiken Ritualgegenständen besaß die Gemeinde auch die aus den aufgelösten Synagogen aus Vollmerz, Oberzell und Altengronau.

In den Ermittlungsakten ist die Rede davon, daß der Brand der Synagoge am Nachmittag des 9. November 1938 von der örtlichen NS-Elite beschlossen, die Befehle an die verschiedenen Stürme gegangen, diese alle an der Synagoge angetreten und am Brande beteiligt gewesen seien. Zur Vorgeschichte notiert Kleeberg: „Die Synagoge in Schlüchtern sollte mit 40 Liter Benzin angezündet werden. Der Löwenwirt als Brandmeister hat es verhindert. In der Nähe befindet sich eine Benzintankstelle, gegenüber der Post, in welcher der Ortsgruppenleiter wohnt. Sonst wären noch mehr Häuser mit angegangen. Das ist eigentlich schade“.

Entgegen den Anweisungen der Verantwortlichen dieses Abends löschte die Feuerwehr unter Leitung des Wehrführers Adam Denhard den gelegten Brand in de Synagoge; nach zwei Stunden soll er unter Kontrolle gewesen sein. Dabei allerdings von „Rettung der Synagoge“ zu sprechen, scheint nicht ganz legitim, da eher di Häuser in der Nachbarschaft geschützt werden sollten.

  Zur Zerstörung des sakralen Raume der Synagoge, ihrer Entweihung und Schändung finden sich in den Ermittlungsakten nur vereinzelte Hinweise wie „. .. sah ich von weitem lebhaftes Treiben an der Synagoge, vor der viele Mensche: versammelt waren. Von draußen hörte ich nur starkes Gepolter. Unter SS-Kameraden habe ich in Erfahrung gebracht, daß der Ortsgruppenleiter bei der Zerstörung der Synagoge der Hitler-Jugend frei Hand gewährt hat. Ich sah nur die zertrümmerten Scheiben, die Straße lag voll Scherben und sonstigem zertrümmerter Zeug; HJ-Jungen, die aus der Synagoge herausgestürmt kamen und dabei die Worte gebrauchten: „So, nun geht’s in dir Schloßstraße!“ Über einen Mann heiß es, daß er „mit einigen goldfarbenes Läppchen herumspielte und sich damit wichtig machte, diese von den Gewänden aus der Synagoge mit den Zähnen heraus gerissen zu haben, weil er kein Messer bei sich gehabt habe.

Ein Bild des folgenden Morgens zeichnet der Tagebucheintrag von Studienrat Kleeberg: „Mein Weg zur Schule führt mich an der Synagoge vorbei, schon wo; weitem bemerkte ich eine Ansammlung von Leuten („Menschen“ darf man nicht sagen). Wie ich ahnte, so war es: Das Innere der Synagoge war in Brand gesteckt, noch lagen die Schläuche der Feuerwehr, das Innere war völlig demoliert. Das Blut erstarrt in den Adern über solchen Anblick. Ein Gotteshaus zerstört durch Mob als Rache für einen getöteten Parteigenossen. Die Hitlerjugend hat es auf den Befehl ihrer Führer unternommen. Jungmädels sind bereits gestern Abend 7 Uhr eingedrungen. Es ist ein Gotteshaus! Und die Menschen, die sich hier vergehen, sind nicht mehr wert, den Namen Menschen zu tragen. Und Gott schweigt - oder hält er die Zeit nicht für gekommen? Und man selbst darf nicht einmal seiner Abscheu Ausdruck geben. Alle anständigen Menschen sind entsetzt über das bestialische Volk. Ich schäme mich, Deutscher und ‚Volksgenosse’ dieser braunen Banden zu sein. Es gab Schüler, die erfreut schienen über das Geschehen; ich konnte sie nicht einmal mit einem Pfui strafen“.

Das neben der Synagoge liegende Gemeindehaus, in dem sich das rituelle Bad, die Mikwe, das Schulzimmer und auch die Wohnung des Lehrers befanden, war das Ziel weiterer massiver Angriffe des Abends gewesen. Die Mikwe wurde zerstört. Der Augenzeugenbericht dazu: Es drangen „die SA-Leute ins Schulzimmer, machten dort ein kleines Feuer, das wenig Schaden anrichtete, rissen die Thorarollen von den Hölzern und zerfetzten das Pergament“.

Die Thorarollen, die die fünf Bücher Moses enthalten, sind als Grundlage des Judentums heilig und deshalb reich mit Samtmänteln und Silberkronen geschmückt. Auf diesem Hintergrund ist die tiefe Verachtung, die diesen Taten zu Grunde lag, zu sehen. In einem Feuer im Hof wurden auch Stoffe, Tücher, Gebetbücher verbrannt. Auch die beiden jüdischen Friedhöfe wurden in dieser Nacht entweiht und geschändet.

„In den jüdischen Häusern haben die Eindringlinge vandalisch gehaust“, überliefert der Augenzeugenbericht. Studienrat Kleeberg notierte einige Tage später: Rektor Stapelfeld erzählte mir von den Plünderungen in den jüdischen Häusern widerwärtige Einzelheiten, die er von einer Augenzeugin gehört hat. Auch ein Schüler der Sexta, dessen Vater Sturmbannführer ist, hat sich an den Zerstörungen beteiligt“.

In dem der Synagoge benachbarten Gemeindehaus war im November 1938 eine Wohnung an den Viehhändler Gabriel Hain vermietet. Der 62Jährige hatte seinen seit 1905 in der Fuldaer Straße geführten Viehhandel wegen der Verfolgung aufgeben müssen. Ein Zeuge dieses Abends: „Am 9. 11. 1938 abends hielt ich mich wie viele andere Leute am Zaun vor der Synagoge auf. Von der Grabenstraße aus hörte ich, wie der Hain laut aufschrie. Um Hain zu Hilfe zu eilen, wollte ich über den Zaun setzen, wurde aber von einem SA-Mann, der in Uniform war, zurechtgewiesen“. Gabriel Hain selbst berichtet 1954: „In dieser Nacht im November bin ich schwer mißhandelt, meine Wohnung demoliert und geplündert worden. Ich bin blutig geschlagen worden und war mehrere Stunden bewußtlos. Fenster und Türen meiner Wohnung wurden eingeschlagen und Gegenstände demoliert und geplündert. Als Folge der Mißhandlung mußte ich das Krankenhaus der jüdischen Gemeinde in Frankfurt aufsuchen, wo ich seit dem 15. November 1938 in stationärer Behandlung war“.

Der Viehhändler Gabriel Hain hatte eine schwere Gehirnerschütterung mit Schädelverletzung, fünf Monate später konnte er noch nicht wieder gehen. Erst im Juli 1939 konnte er entlassen werden. Im Dezember des gleichen Jahres gelang es ihm, nach Brasilien zu entkommen.

Seine Schwägerin, die Frau des Viehhändlers Abraham Hain, die in der Schloßstraße 4 im Haus von Meier Rothschild wohnte, berichtete von dieser Nacht: „Anfang November 1938 war mein Mann für einige Tage nach Frankfurt gefahren. Ich war daher allein in meiner Wohnung, als am Abend des 9. November Hitler-Jungen eindrangen. Sie zertrümmerten die Fenster und Türen meiner Wohnung und schlugen mich im Bett mit Knüppeln blutig. Ein Arzt konnte nicht gerufen werden (da niemand sich traute, die Wohnung zu verlassen). Ich denke noch mit Schrecken an diese Nacht und die folgenden Tage zurück. Durch diesen Überfall habe ich einen Nervenzusammenbruch erlitten“.

Moritz Hubert lebte in der Schmiedsgasse 15, wo er gemeinsam mit seinem Bruder Willi eine Rohproduktengroßhandlung führe, die bereits der Vater Isaak gegründet hatte. Ganz Schlüchtern kannte den Reklamespruch der Firma: „Lumpen, Eisen, Knochen und Papier, sammelt Hubert Schmiedsgasse 4.“ Moritz Hubert war damals 65 Jahre alt, wenige Monate zuvor war seine Frau gestorben. Er berichtete über diese Nacht: „In der Kristallnacht drang eine Horde von vier oder fünf Nazis in meine Wohnung ein und mißhandelte mich dermaßen, daß ich bewußtlos am Boden liegen blieb. Ein Teil meiner Wohnungseinrichtung und meines Hausrates wurde zertrümmert und zerschnitten, Schubladen wurden erbrochen und Silbergegenstände und wertvolle Schmucksachen, Geld usw. gestohlen. Als Waffe respektive Schlagkolben benutzten sie gedrehte Säulen und andere Teile des Treppengeländers der Synagoge. Blutüberströmt kroch ich, nachdem ich das Bewußtsein zurückerlangt hatte, ins Versteck in einem Schweinestall. Als ich am nächsten Morgen in meine Wohnung zurückwollte, wurde ich von meinem Nachbarn mit den Worten begrüßt ‚Du verdammter Jude, Du lebst ja noch. Ich dachte, sie hätten Dich totgeschlagen’. Unter größter Lebensgefahr und körperlich völlig gebrochen flüchtete ich nach Frankfurt, wo ich bei Verwandten Unterkunft fand. Aus Furcht vor weiteren tätlichen Angriffen hielt ich mich in einer Dunkelkammer unter der Treppe etwa vier bis fünf Tage lang verborgen. Als ich, nachdem sich der Aufruhr etwas gelegt hatte, in meine Heimat Schlüchtern zurückkehrte, fand ich an meinem eigenen (!) Hause ein großes Schild mit der Aufschrift ‚Juden ist der Zutritt verboten’. Erst nachdem die Polizei das Schild entfernt hatte, traute ich mich in mein Haus zurück und fand meine Wohnung in vollkommen verwüstetem Zustande vor. Nach diesen Ereignissen konnte ich meines Lebens nicht mehr sicher sein. Es gelang meiner Tochter, für mich die Einreiseerlaubnis nach Südafrika zu erwirken“.

Heute, im Gespräch mit Nachbarn von Moritz Hubert 60 Jahre nach diesem brutalen Akt, ist für mich deren emotionale Erregung noch zu spüren. Sie sind beim Erzählen so aufgebracht, als hörten sie die Schreie noch: „Der ehrlichste Mann wo’s gibt, der kannte nur die Arbeit. Auf einmal war der Teufel los, der Hubert hat’ so furchtbar geschrien, die haben den geschlagen noch und noch, die hauen den tot, hab ich gedacht. Wie ein Stück Viel müssen die den geschlagen haben“. Immer wieder werden diese Worte wieder holt. „Wir sind nicht rausgegangen, haben ihn nur schreien hören, wir hatten selbe Angst, mein Bruder war ja im KZ, ich war SAJ (Sozialistische Arbeiterjugend-) Führer gewesen. Wir haben den Hubert nicht mehr gesehen“.

In der Schmiedsgasse 2 führte die 71jährige Dina Seelig gemeinsam mit der 48jährigen Tochter Rena das kleine Schreibwarengeschäft, wo die Schlüchterner Schulkinder schon seit Jahrzehnten ihre Schulhefte zu kaufen pflegten. Das Bild des folgenden Morgens beschrieb mir ein Nachbar: „Alles haben sie an Papier und Schreibheften aus dem Lädchen rausgeschmissen und auf der Straße vertrampelt, das Geschäft brauchte nicht mehr aufzumachen, da war nichts mehr da“. Ein Zeuge im Ermittlungsverfahren: „Von Frau Seelig erfuhr ich drei oder vier Tage nach dem 9. 11., daß X und seine Frau sie gemeinsam angegriffen hätten. Frau X hätte ihr heißes Wasser ins Gesicht geschüttet und Herr X selbst habe sie mit der Axt vor den Kopf geschlagen. In besinnungslosem Zustand ist sie dann von den beiden in den Keller gesperrt worden. Ich sah im Gesicht dieser alten Frau verschiedene Wunden. Außerdem hat Herr X nach Aussagen der Frau Seelig einige Möbelstücke mit der Axt beschädigt“.

Auch Löb Adler, damals 77 Jahre alt wurde brutal in seinem Haus in der Kirchstraße 4 überfallen. Gerade eine Woche zuvor war seine Frau Hannchen verstorben. Für die jüdische Trauerzeremonie in den sieben Tagen nach dem Tod befanden sich Töchter und Enkel in Haus, um an ihre verstorbene Mutter um Großmutter zu denken. In der Nacht de 9. November brachen drei SA-Leute in das Haus ein, schlugen den alten Löb Adler zusammen, zerrten ihn dann auf die Straße: alle Nachbarn schwiegen dazu.

Grete Windmüller, 29 Jahre alt zu dieser Zeit, berichtet 1961: „Wir bewohnten die erste und zweite Etage des Hause Fuldaer Straße 16. In der Nacht vom 9. zum 10. November versammelte sich vor dem Hause ein lärmender, mit Knüppeln bewaffneter Mob und verlangte Einlaß um meinen Ehemann abzuholen. Er war zufällig in Frankfurt. Ich packte in Panik bei Kerzenlicht die notwendigsten Sache; und fuhr am folgenden Morgen mit der Frühzug zusammen mit unserem fünfjährigen Sohn und unserer Hausangestellten nach Frankfurt, um meinen Ehemann vor der Rückkehr nach Schlüchtern zu warnen. Am 10. November, als niemand in unserer Wohnung zurückgeblieben war wurde die Wohnung erbrochen und zahlreiche Sachen gestohlen.

 In der Schloßstraße 10 kam es zu schweren Plünderungen des Geschäftes von Nathan Oppenheimer, der seit Jahrzehnten in Schlüchtern ein Textilgeschäft mit Stoffen gehobener Qualität führte. In dem anderen Teil des Geschäftes wurden Lebensmittel verkauft. Nathan Oppenheimer wurde in dieser Nacht ebenfalls mißhandelt. Ein Augenzeuge: „Gegen 23 Uhr hörte ich auf einmal lautes Schlagen, was höchstwahrscheinlich durch Äxte verursacht wurde. Wir konnten beobachten, wie das Zeug (Kleidungsstücke und Textilwaren allgemein) aus der vorher kaputtgeschlagenen Tür herausflogen. So wie das Zeug herausgeschmissen wurde, ist es auch verschwunden“.

Eine andere Zeugin: „Nachts wurden mein Mann und ich durch Scheibenklirren und lautes Gepolter geweckt. Wir standen sofort auf und sahen zum Fenster raus. In der Schloßstraße war ein lebhafter Passantenverkehr. Ich weiß nur, daß der Sohn von X sich als erster an der Plünderung bei Oppenheimers beteiligt hat. Ich habe vom Fenster aus gesehen, daß der Junge des Öfteren in das Haus zurückgekehrt ist. Die HJ und die SA haben sich in der Hauptsache an der Plünderung bei Oppenheimer in der Schloßstraße beteiligt“.

 Und eine weitere Aussage: „In der Höhe des Schlößchens stand ein Pkw. Zwei Mann, die zu diesem Pkw gehörten, waren feste dabei und luden Sachen auf, welche sie aus dem Laden Oppenheimer herausgeholt hatten“. Der Augenzeugenbericht notiert zu Oppenheim: Dort „waren sie von 11 Uhr nachts bis 2 Uhr morgens. Die Spezereiwaren wurden aus den Kästen genommen und dann zusammengeschüttet, die Textilwaren auf die Straße geworfen, wo sie teilweise von der beutelustigen Menge gestohlen wurden. Ein christlicher Zuschauer erzählte, daß er einen Mann gesehen habe, der fünf neue Hosen über seine alte angezogen habe“.

Als die Kinder am nächsten Morgen zur Schule gingen, lagen Stoffballen auf der Straße verstreut, so daß sie darüber steigen mußten. Studienrat Kleeberg schrieb zwei Tage später in sein Tagebuch: „Else selbst hat es gesehen. Wie bei Oppenheimer, so ist’s überall gewesen. Es war der Mob, der allerdings unter Führung der Hitler, Streicher usw. den Ton angibt“.

Nach dieser Nacht in Schlüchtern wurden am folgenden Tag. Donnerstag, 10. November 1938, mindestens sieben bis zehn Männer, unter 60 Jahre alt, verhaftet und in den Stunden oder Tagen darauf in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Sie mußten dort mehrere Wochen unter schrecklichsten Bedingungen, die viele seelisch zerbrachen, zubringen.

Nach der „Kristallnacht“ flohen zahlreiche Menschen aus Schlüchtern nach Frankfurt, Kinder konnten mit Kindertransporten ins Ausland gerettet werden, junge Frauen als Haushaltshilfen nach England fliehen. Knapp drei Jahre danach begannen die gewaltsamen Verschleppungen der Juden aus Frankfurt in die Ghettos und Vernichtungslager im Osten, darunter etwa 50 Personen aus Schlüchtern. Wenige jüdische Menschen waren auch in Schlüchtern geblieben, 1942 wurden 26 Personen von dort gewaltsam verschleppt. Keiner überlebte. Nur ihre Namen sind heute in der ehemaligen Synagoge zu lesen.

 Im Mai 1946 erstattete der Bürger­meister von Schlüchtern beim Ober­staatsanwalt in Hanau unter Nen­nung zweier Zeugen „Anzeige gegen die Führer der NSDAP und ihrer Formatio­nen wegen Zerstörung der Synagoge, der jüdischen Friedhöfe, Brandstiftung, Mißhandlung von Personen. Es stehen im Verdacht, die vorbezeichneten Straftaten angestiftet beziehungsweise begangen zu haben: die Führer der NSDAP, Mitglieder der SS. SA, HJ, Zivilpersonen“. Der Wachtmeister Schlüchterns berichtete über seine Ermittlungen: „Als Haupttrei­ber dürfte der ehemalige Kreisleiter Puth, der ehemalige Ortsgruppenleiter Lecher, der ehemalige Stadtbaumeister, ein ehe­maliger Stabsleiter bei der Kreisleitung in Schlächtern und der Molkereibesitzer anzusehen sein“.

„Es hat den Anschein“, so ergänzt er ei­nige Monate später, „daß Personen, die wirklich etwas wissen, nicht als Verräter auftreten wollen. Es dürfte klar sein, daß Personen, die mit der Judenverfolgung nicht einverstanden waren, an dem fragli­chen Abend ihre Wohnung nicht verlassen haben und daß daher keine einwandfreien Zeugnisse zu ermitteln sind“. Die Täter der schweren Ausschreitungen gegen die jüdischen Schlüchterner sind strafrecht­lich nicht belangt worden.

 

Die Verbliebenen mußten mit ansehen. wie in der Pogromnacht zum 10. November 1938 in Schlüchtern Fensterscheiben jüdischer Häuser und Läden zu Bruch gingen, die Geschäfte geplündert und ihre Besitzer geschlagen wurden. Auch das Innere der Synagoge wurde demoliert und in Brand gesteckt. Daß im Gotteshaus vor 60 Jahren Schriften und Thorarollen in Flammen aufgingen, das Gebäude jedoch bis auf beträchtliche Rußschäden und zersprungene Scheiben weitgehend unversehrt blieb, ist einigen einsichtsvollen Männern der Stadt., unter anderen dem Löwenwirt Denhard, zu verdanken, die unverzüglich die Feierwehr alarmierten. notierte Studienrat Ludwig Kleeberg in seinem Tagebuch. Offenbar befürchteten einige auch, daß das Feuer auf die Benzinvorräte einer nahegelegenen Tankstelle übergreifen und eine Explosion hätte auslösen können. Der Brandschaden in der kurz darauf entschädigungslos enteigneten Synagoge wurde auf 30000 Reichmark geschätzt.

Fünf Tage nach den Ereignissen wurde in Vollmerz auch dem letzten jüdischen Kind der Schulbesuch verboten. Die letzten Juden in Schlüchtern wurde 1942 in die Todeslager deportiert, mindestens 130 dort umgebracht. „Diese Schlüchterner, Elmer und Vollmerzer Bürger wurden während der Zeit des Nationalsozialismus diskriminiert, verfolgt, entrechtet und gewaltsam in Vernichtungslager verschleppt und dort ermordet. Und dies nur weil sie jüdisch waren. Wir erinnern uns an Sie und gedenken Ihrer“, heißt es auf der vom Schriftenmaler Michael Pierot gestalteten Gedenktafel, die seit vergangener Woche in der Synagoge angebracht ist. Schon vor knapp 50 Jahren, am 7. August 1949, hatte die Stadt auf dem von den Nazis entehrten Judenfriedhof in der Stadt ein Mahnmal errichten lassen.

 

Friedhof:

Obwohl die beiden jüdischen Friedhöfe in Schlüchtern entgegen den Gepflogenheiten anderer Orte nicht auf dem „Stadtplan und Wanderkarte Luftkurort Schlüchtern“ verzeichnet sind, lassen sie sich doch auffinden: der alte jüdische Friedhof an der Breitenbacherstraße mit dem Straßenschild „Judenfriedhof“ und der neue Jüdische Friedhof angrenzend an den Städtischen Friedhof an der Fuldaer Straße. Besonders der alte Friedhof ist ein ruhiger beschaulicher Ort, der jedoch im Leben der Stadt ein Schattendasein führt. Aber nicht nur, weil man die Ruhe der Toten achtet, sondern weil an dieser Stelle während der NS-Zeit die ewige Ruhe der Toten gestört und der jüdische Friedhof zerstört wurde. Im Judentum wird ein Friedhof „Haus der Ewigkeit“ oder auch „Haus des Lebens“ genannt. Beides weist auf die rituell unbedingt notwendige ewige Totenruhe für Juden hin. Als es keine Erweiterungsmöglichkeit für den Friedhof gab, legte die Jüdische Gemeinde einen neuen Friedhof an der Fuldaer Straße an.

Die jüdische Gemeinde Schlüchtern, die sich im 17. Jahrhundert gründete, erhielt nach dem Hanauer Historiker Zimmermann zu dieser Zeit auch ihren eigenen Totenhof. Hinweise auf einen Friedhof im 13. Jahrhundert sind nicht belegte Vermutungen. Auf dem rechten Pfosten des Eingangstores ist die Jahreszahl 1798 zu lesen.

Eine Vorstellung von Beerdigungen auf diesem Friedhof aus dem Jahre 1890, als die Jüdische Gemeinde mehr als 370 Personen umfaßte, erhalten wir im Bericht einer jüdischen Zeitung: „Am 4. des Monats wurden die sterblichen Reste eines ehrwürdigen Mitgliedes unserer Gemeinde zu Grabe getragen. Rabbi Elias Grünstein, der erst vor drei Jahren mit seinem Schwiegersohn aus Romsthal hierher übersiedelte, war in seiner Jugend 16 Jahre lang Lehrer in Romsthal und ist später zum Geschäftsstande übergetreten. 36 Jahre lang war er der Vorsteher der Gemeinde Romsthal-Eckardroth und widmete sich unter allen Verhältnissen dem Thorastudium bis in sein hohes Alter von 82 Jahren. Rührend war es anzusehen, wie der alte Mann, dem das Augenlicht nur noch mangelhaft zu Gebote stand, stets einer der frühesten Andächtigen in unserer Synagoge war. Sein Bestreben war es stets, auch seine Kinder und Enkel nach den Vorschriften des heiligen Religionsgesetzes zu erziehen, und zeigte sich die allgemeine Verehrung des Verlebten in der zahlreichen Betheiligung bei dem Leichenbegräbnis aus der Nähe und Ferne“.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 wurden in Schlüchtern auch Gräber verstorbener jüdischer Menschen verwüstet. Moritz Hubert, dessen Frau zu Beginn des Jahres 1938 gestorben war, berichtete: „Das Grab meiner lieben Frau wurde von den Nazis mehrere Male heimgesucht und der Grabstein herausgerissen, was mich veranlaßte, denselben zu legen und mit Eisen zu verankern“.

Die Rechtsvertreter der Jüdischen Gemeinde Schlüchtern sahen sich im April 1940 gezwungen, den Grund- und Gebäudebesitz zu verkaufen. Die Stadt konnte die Synagoge an der Grabenstraße, den al ten Friedhof mit 3.500 Quadratmetern sowie den neuen jüdischen Friedhof mit 1730 Quadratmetern „günstig“ erwerben. Der Kaufpreis ging an eine von der Gestapo kontrollierte Zwangsorganisation für Juden. Zum Recht auf ewige Totenruhe hatten die jüdischen Verkäufer gegenüber der Stadt lediglich folgenden Passus erwirken können: „Auf dem Grundstück befinden sich noch eine Anzahl von Judengräbern, bei denen die Liegefrist von 30 Jahren noch nicht abgelaufen ist. Die Stadt wird die Genehmigung zur vorzeitigen Verweltlichung auch dieses Teils des Totenhofes betreiben. Solange diese Genehmigung nicht vorliegt, verpflichtet sich der Käufer, den in Betracht kommenden Teil des Grundstücks vorläufig nur als Lagerplatz zu benutzen und keine Änderungen an und in der Erdoberfläche vorzunehmen“.

Einem staatsanwaltlichen Ermittlungsbericht ist 1946 zum alten Friedhof zu entnehmen: „Im Rahmen der Gewalttaten gegen Synagoge und Juden im November 1938 wurde von unbekannten Tätern auch der jüdische Friedhof in Schlüchtern in Mitleidenschaft gezogen. Die Umfriedung wurde zerstört, einige Grabsteine wurden umgeworfen. Der Friedhof wurde zum Tummelplatz für jedermann. Die Gräber und Grabsteine blieben zu allergrößter Teilen unbeschädigt“.

Die Stadt Schlüchtern verkaufte das Gelände des alten Jüdischen Friedhofes 1941 mit Gewinn weiter an die Seifenfabrik Heinlein, „Ariseur“ der berühmten Schlüchterner Seifenfabrik Viktor Wolf Der jüdische Friedhof wurde vor allem zerstört, als die Firma in der Zeit von Herbst 1943 bis Frühjahr 1944 einen Erweiterungsbau der Wäscherei errichtete, wozu „beschädigte und unbeschädigte Grabsteine des alten Judenfriedhofes verwendet” wurden. „Die Grabsteine wurden mit Brecheisen und Kreuzhacke herausgehoben und wurden dann auf einem Pritschenwagen abgefahren. Steine, die zum Transport zu schwer waren, wurden so an Ort und Stelle zerschlagen. Der größte Teil der Grabsteine hat noch auf den Gräbern gestanden. Wenn sie zerbrochen sind, so geschah dies erst bei dem Herausheben“. Sie wurden zum Bau eines 30 Meter langen Sockels von 30 Zentimeter Höhe verwendet, außerdem zum Bau der zwei Meter langen, 80 Zentimeter hohen und 40 Zentimeter breiten Seitenmauer des Wäschereigebäudes. Außerdem wurde der Bodenbelag des mehr als zwölf Quadratmeter großen Trockenraumes aus den Grabsteinen des Jüdischen Friedhofes hergestellt. „Zwei Arbeiter hatten sich geweigert, Grabsteine zu vermauern“. Für die Bauarbeiten wurden wohl vor allem „die Grabmale aus Sandstein“ verwendet, während Marmor- und Granitgrabmäler für 250 RM an den örtlichen Steinmetzmeister verkauft wurden. „Die Steine sollten umgearbeitet werden und wieder zu Friedhofszwecken verwendet werden“, berichtete er 1947, doch „durch den anhaltenden Krieg blieben die Grabsteine auf meinem Lager stehen“. Nach dem Krieg gingen die amerikanischen Behörden der Schändung der Synagoge und des Friedhofes nach und fanden auch die noch vorhandenen Grabsteine im Lager des Steinmetzs. „Nach Kriegsende mußte ich auf Veranlassung der Militärregierung“, so der Steinmetz, „die Grabsteine wieder an Ort und Stelle aufmontieren“. Das waren wohl die 26 Marmorsteine, die heute auf dem kleinen Reststück des jüdischen Friedhofes zu finden sind. Es ist nicht anzunehmen, daß sie auf den ursprünglichen Gräbern errichtet wurden.

Jedenfalls erstattete der Schlüchterner Bürgermeister Bertram am 25. Mai 1946 beim Oberstaatsanwalt in Hanau Anzeige gegen „Führer der ehemaligen NSDAP und ihrer damaligen Formationen wegen Zerstörung der Synagoge, der jüdischen Friedhöfe, Brandstiftung, Mißhandlung von Personen“. Parallel dazu interessierte sich im August 1946 die amerikanische „Civilian Property Control Agency Landkreis Schlüchtern Exhibit C“ für die gewaltsame Zerstörung des jüdischen Friedhofes und fand heraus: „Die Firma hat sich bemüht, teilweise sogar erst kürzlich, die gravierten Namen und Inschriften der Grabsteine unleserlich zu machen, indem sie die Oberflächen ausmeißelte. Trotzdem können die Steine jenseits allen Zweifels als Grabsteine identifiziert werden, vor allem jene auf der linken Seite des Fundamentes dieser Backstein-Baracke, wo hebräische Schriftzeichen deutlich zu erkennen sind“. Interessant ist übrigens auch der Hinweis auf das Schicksal weiterer Grabsteine: „Grabsteininschriften auf den Kellerstufen eines Kaufhauses, die durch Ausmeißeln ausgemerzt wurden, sind ebenfalls nicht zu übersehen“.

Im November 1946 war die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft gegen den Seifenfabrikanten, dessen Prokuristen und den Steinmetzmeister „wegen Zerstörung von Grabmälern“ erstellt. Vor dem Amtsgericht Schlüchtern kam es im September 1947 zum Prozeß. Die Angeschuldigten gaben im Wesentlichen den ermittelten Sachverhalt zu, bestritten aber, sich dadurch strafbar gemacht zu haben. Das Urteil „wegen Schändung des Friedhofes“ sah für den Fabrikbesitzer und auch den

Prokuristen eine Geldstrafe, für den Steinmetz hingegen Freispruch vor. Beide Seiten waren mit dem Urteil unzufrieden und legten Berufung ein.

Der hessische Justizminister wandte sich im Februar 1948 an den zuständigen Oberstaatsanwalt mit der Bitte, „in der Berufungsverhandlung mit Nachdruck für eine Verurteilung der Angeklagten zu einer höheren, ihrer Straftat angemessenen Strafe einzutreten“. Er begründete: „Selbst wenn durch die damaligen nationalsozialistischen Verwaltungsbehörden eine vorzeitige Verweltlichung des jüdischen Friedhofes in Schlüchtern angeordnet oder genehmigt worden wäre, so widerspräche doch eine solche schon aus Gründen der Pietät dem auch damals gültigen natürlichen Rechtsempfinden und den allgemeine geltenden Rechtsgrundsätzen, so daß ein solcher Verwaltungsakt niemals als rechtens anerkannt werden kann. Dies muß aber den Angeklagten bei Begehung der Tat bewußt gewesen sein“. Weiterhin führte er aus: „Jedenfalls muß der Eindruck verhindert werden, als sanktioniere ein heutiges Gericht derartige, den Charakter der Rassenverfolgung offensichtlich zur Schau tragende Maßnahmen nationalsozialistischer Organe. Über den Ausgang bitte ich zu berichten“. Die Berufung vor dem Landgerichts Hanau im September 1948 hatte „im wesentlichen den gleichen Sachverhalt ergeben“. Für die Urteilsfindung war relevant, daß die Angeklagten „nicht aus nationalsozialistischer und antisemitischer Gesinnung gehandelt haben“. Das Gericht verwarf die Berufungen der Angeklagten und verhängte Geldstrafen.

Nach 1945 mußte der ehemalige Besitz der jüdischen Gemeinde zurückerstattet werden. Die Seifenfabrik erwarb den großen Teil des ehemaligen Geländes des Friedhofes. Nur das kleine Grundstück von 821 Quadratmetern, ein Bruchteil des ehemaligen Friedhofes, blieb als Friedhof erhalten.

Im März 1946 wurde der „Landrat für die Wiedererrichtung verantwortlich“ gemacht, ebenso wurden ihm „die Ermittlungen der Zerstörer des jüdischen Friedhofes zur Auflage“ gemacht. Entsprechend konnte er einen Monat später berichten: „Der Friedhof ist in Ordnung gebracht, die Grabsteine sind aufgestellt, die Wege ausgebessert und ein neues Eingangstor mit einem Kostenaufwand von 900 RM eingebaut worden. Die Gesamtkosten belaufen sich auf 2 475 RM“. Für die auf Anweisung des amerikanischen Stadtkommandanten im Januar 1946 „wiederhergestellte“ Synagoge hatte die Stadt Schlüchtern „Kosten für die Beseitigung der Schäden“ in Höhe von 30.000 RM bezahlt, die „besonders von Naziaktivisten getragen werden“ sollten.

 

Die seltene Tatsache, daß in Schlüchtern auf dem kleinen Stück des „wiederhergestellten“ alten jüdischen Friedhofes im Jahre 1949 ein großes Denkmal mit den Namen ermordeter jüdischer Bürger des Kreises errichtet wurde, ist der jüdischen Familie Kohn zu verdanken.

Alexander Kohn war 1914 als junger Mann nach Schlüchtern gekommen. Dort heiratete er Paula Adler aus Hintersteinau und eröffnete eine Zigaretten- und Zigarrenhandlung in der Obertorstraße. Paula und Alexander Kohn waren Sozialdemokraten und engagierten sich im öffentlichen Leben. Nur wenige Wochen nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde Alexander Kohn gemeinsam mit 20 anderen Männern aus der Region verhaftet und mehrere Wochen im ehemaligen Gerichtsgefängnis Schwarzenfels gefangen gehalten. „Aus dieser Haft wurde ich nur unter der Bedingung entlassen, daß ich sobald wie möglich auswanderte. Bis zu meiner Auswanderung stand ich unter Polizeiaufsicht und mußte mich täglich zweimal auf dem Rathaus melden“. Im September 1933 verließ das Ehepaar mit der 11jährigen Tochter Margret Schlüchtern und ging ins Sudetenland. Im November 1942 wurden die Familie in das Ghetto Theresienstadt verschleppt, Margret von dort nach Auschwitz. Ende des Jahres 1945 kam die Familie Kohn nach Schlüchtern zurück. Sie waren die einzigen, die die Deportation überlebt hatten.

 „Als wir zurück kamen“, erzählt Margret Zentner-Kohn, „waren wir so erbost darüber, was mit dem Friedhof geschehen war. Das tut man einfach nicht als anständiger Mensch, alte Grabsteine verstorbener Menschen wegzuschaffen! Für das Denkmal hat meine Mutter die Initiative ergriffen. Wir waren sozusagen die jüdische Gemeinde Schlüchtern, meine Eltern verstanden sich als stellvertretend für die einst so große jüdische Gemeinde, deren Mitglieder nun ermordet waren“.

Am Sonntag, dem 7. August 1949, fand auf dem „wiederhergestellten“ Jüdischen (Rest) Friedhof auf Einladung der „Jüdischen Kultusgemeinde Schlüchtern i.A. Alexander Kohn“ die „Einweihungsfeier des Gedenksteins für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus aus dem Kreis Schlüchtern“ statt. Fünf große Gedenksteine mit damals 102 Namen der Ermordeten trug die Inschrift „Zum ewigen Gedenken an die Märtyrer der jüdischen Gemeinden im Kreis Schlüchtern 1933-1945“. Neben dem Schlüchterner Bürgermeister Hans Bertram und dem Landrat Jansen nahm als Vertreter des Regierungspräsidenten Oberregierungsrat Ullrich teil, den Alexander Kohn noch aus der Zeit vor 1933 kannte, als dieser Parteisekretär der Landes-SPD gewesen war. Auch Hans Berthold sprach, er war Schulkamerad von Paula Kohn gewesen und hatte selbst die Konzentrationslager Sachsenhausen und Dachau als politisch verfolgter Sozialdemokrat kennengelernt.

Eine wichtige Rolle bei der Errichtung des Denkmals dürfte auch der Lehrer und Heimatforscher Wilhelm Praesent gespielt haben, ein aufrechter christlicher Mann mit klaren antinationalsozialistischen Einstellungen, dessen Heimatbegriff auch immer das Bewußtsein des selbstverständlichen Rechts der jüdischen Bürger einschloß. Als Vertreter des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen nähen der Wiesbadener Jack Matzner teil, selbst ein Überlebender verschiedener NS-Lager, ebenso Kantor Wartenberg. Vom Landesverband der Verfolgten des Naziregimes war Frau Guttmann anwesend. Diese Gedenkfeier war eine Veranstaltung der Verfolgten und antinationalsozialistischer Repräsentanten.

Bereits im Vorfeld muß es zu größeren Unstimmigkeiten gekommen sein, denn Lehrer Praesent fand es notwendig, in der Bergwinkelchronik festzuhalten: „Der evangelische Kirchenchor untersagt seine Mitwirkung“. In der Einladungskarte war der Chor bereits aufgeführt. Seine Ansprache begann Lehrer Praesent mit dem Hinweis: „Ein seltsames und bedeutungsvolles Zusammentreffen: Am gleichen Tage, an dem die liebe alte Stadt Schlüchtern sich fröhlich (sie!) der Wohltat ihres Mitbürgers J. J. Weitzel erinnert, wird auf dem Boden gleicher Stadt der größten Untat dieses Jahrhunderts gedacht, und Menschen versammeln sich zu der unheimlichsten Begräbnisfeier, die je im Kinzigtale begangen wurde, zu einem Begräbnis, bei dem die Toten fehlen“. Der jüdische Kantor sang des Kaddisch-Gebetes zum Gedenken an die Ermordeten in den verschiedenen Vernichtungslagern. Alexander Kohn übergab - so berichtete die Frankfurter Rundschau - „im Auftrage der jüdischen Kultusgemeinde Schlüchtern den Gedenkstein in den Schutz der Stadt Schlüchtern. Der Bürgermeister übernahm das Ehrenmal für die 102 umgekommenen jüdischen Mitbürger aus dem Kreise Schlüchtern mit der Versicherung, daß der Boden, auf dem ... die verstorbenen Mitbürger bestattet wurden, wieder zu Ehren komme“.

Lehrer Praesent ging auf diese Bitte von Alexander Kohn ein: „Die Eingeladenen zu dieser Weihestunde sind ein paar Menschen aus dem Rest der ehemaligen Schlüchterner Judenschaft und einige auswärtige Vertreter der Judenheit. Kommen sie sich zu rächen? Wir haben es gehört, sie kommen mit einer Bitte zu uns: Diese fünf Steine, das einzige Andenken an unsere Lieben, achtet sie, wie alle guten Menschen die Stätte und die Zeichen des Totengedenkens in Ehren halten. Wir geben sie in euren Schutz. Sonst haben wir keine Forderung an euch“.

Seine Rede widmete Lehrer Praesent den Ermordeten: „Nur die Namen sind gegenwärtig, eingemeißelt in den Steinen, die nun vor uns enthüllt wurden. Viele ihrer Träger habe ich gekannt, aber nur von einer der abwesenden Toten treibt es mich zu reden. In einer der vielen Reihen lese ich den Namen Margot Grünfeld (geb. 17. April 1927 in Vollmerz). Wer war Margot Grünfeld? Im Jahr 1938 traf ich eines Tages in dem Schulhof einer Dorfschule des Kreises ein und sah das jüdische Kind zum ersten Mal. Es stand, ein schwarzhaariges, schwarzäugiges Mädchen, 11 bis 12 Jahre alt, sauber gekleidet, die Hände auf den Rücken gelegt, allein und unbeweglich an der Mauer des Schulhauses in jeder Pause, durch Monate hindurch. Ein verfemtes Judenkind, ausgestoßen aus der fröhlich lärmenden Gemeinschaft der spielenden Altersgenossen. Es starrte vor sich hin, ohne daß sein Auge etwas von der Umwelt aufnahm, ohne daß von innen her ein lebendiges Licht aufgetaucht wäre. Eine menschliche Larve. Ich fragte, ob es nicht einen Blumenstrauß am nahen Rain pflücken wolle, ob es nicht ein Frühstück bei sich trage, ob es nicht morgen seinen Ball mitbringen könne zum Zeitvertreib. Es blieb stumm, obwohl es das Wohlwollen in meinen Fragen spüren müßte. Kein Zug in seinem Gesicht veränderte sich. Starr, tot, leer, ausgehöhlt, ohne Beziehung zur Außenwelt, ein lebendiger Leichnam. Am anderen Tag hatte es keinen Ball mitgebracht, wie mir schon meine Kollegen, die sich gleich mir um das Kind bemüht, vorausgesagt hatten. Eine Süßigkeit in die Hand gedrückt, änderte nicht das Geringste. Die Finger schlossen sich ohne Freude um die aufgedrängte Gabe, kein Echo eines Gefühls kam, kein Blick, kein Wort. Es war entsetzlich! Und ebenso entsetzlich war die wirklich totale Gleichgültigkeit seiner Schulkameraden. Sie nahmen kein Ärgernis mehr an dem toten Gehäuse - die Periode der Schmähungen und Peinigungen war vorbei - es war weniger als ein Stein, den sie wenigstens einmal mit dem Fuß stießen, weniger als Straßendreck, dem sie wenigstens bewußt auswichen, es war weniger als Luft, die sie wenigstens an den frischen, warmgetollten Wangen empfanden. Noch nicht einmal mehr als Objekt ihrer nationalsozialistisch geschulten Bosheit kam das Mädchen in Betracht. Es war einfach nicht mehr da! Es waren hier beieinander eine ermordete Kinderseele und die vollendete Unbarmherzigkeit in anderen Kinderseelen. Etwa 1933 war Margot Grünfeld in die Schule gekommen, ihre ganze Kindheit, sonst die glücklichste Zeit des Menschenlebens, hatte unter dem Zeichen des von Monat zu Monat wachsenden Judenhasses gestanden. Die alleinstehende Mutter war arm. Nur noch eine alte Jüdin lebte außer der Mutter und Tochter Grünfeld im Dorfe. Das Mädchen hatte niemals eine freundliche Gemeinschaft, niemals eine glückliche Stunde erlebt. Wen überkommt nicht der Menschheit ganzer Jammer bei der Vorstellung davon, wie dieses Kind in die Stunde des letzten Grauens gestoßen wurde, einerlei, wie es den unschuldigen Opfer(!)-Tod erlitt, bewußt und voller Schmerzen oder unbewußt und schnell? Ein einziges Schicksal von den vielen, die in den 102 Namen beschlossen liegen“.

Die 15jährige Margot und ihre 45jährige Mutter wurden am 30. Mai 1942 aus ihrem Haus in das Vernichtungslager Sobibor im besetzten Polen verschleppt und dort vergast. Viele Namen vor allem aus den Orten des Kreises Schlüchtern fehlten. In den folgenden Jahrzehnten scheint der jüdische (Rest)Friedhof mit seinem Denkmal ebenso in Vergessenheit geraten zu sein wie das gegebene Fürsorge-Versprechen der Stadt.

 

Nach Kriegsende kehrte nur ein einziger Überlebender, Alex Kohn, nach Schlüchtern zurück. Für die Woche der Begegnung hat die Stadt jetzt rund 90000 Mark zur Verfügung gestellt.  

Die Stadt Schlüchtern hatte 1998 ehemalige jüdische Bürger der Stadt eingeladen. Der Friedhof war erstmals wieder Ort des öffentlichen Gedenkens. Der Künstler Ulrich Barnickel hat eine Gedenkstele geschaffen, die an die ermordeten jüdischen Bürger der Stadt erinnert. Sie soll die bereits 1949 aufgestellten Gedenksteine ergänzen, die stark verwittert sind. Das, was heute als „der alte jüdische Friedhof“ bezeichnet wird, ist allerdings lediglich eine Fläche von weniger als einem Viertel des ehemaligen Jüdischen Friedhofes.

Leider hatte die Stadtverwaltung Anregungen im Vorfeld der Besuchsvorbereitung nicht aufgegriffen, den Gedenkstein aus Anlaß dieser Einladung zu säubern und in Stand zu setzen. Entsprechend „enttäuscht waren viele der Besucher über den schlechten Zustand des zentralen Gedenksteines. Der Zahn der Zeit hat daran derart genagt, daß die meisten Namen nur noch schwer zu erkennen sind“, schrieben die Kinzigtal Nachrichten. Da diese Namen nach Auskunft eines Fachmannes angeblich nicht zu erneuern seien, setzten sich ehemalige jüdische Schlüchterner für ein neues Denkmal auf eigene Kosten ein. Auf der drei Meter hohen Stele steht auf hebräisch „Zum ewigen Gedenken“ und „Zum Gedenken aus Schlüchtern deportierten und in den Konzentrationslagern ermordeten jüdischen Bürger Schlüchterns 1933-1945“. Darunter die Namen der Ermordeten: 114 Personen aus Schlüchtern, zehn Menschen aus Vollmerz und drei Personen aus Elm. Diese Namen sind von Monica Kingreen im Auftrag der Stadt Schlüchtern erarbeitet und im Vorraum der ehemaligen Synagoge auf Gedenktafeln festgehalten. Somit existiert nun in Schlüchtern die merkwürdige Situation, daß an drei Stellen die Namen von in der NS-Zeit ermordeten jüdischen Bürgern der Stadt zu lesen sind. Über ihr alltägliches Leben und die Verfolgung indessen besteht keine Möglichkeit, etwas zu erfahren. Auch die Namen der Menschen, deren ewige Totenruhe gestört und deren Grabsteine zertrümmert w erden, sind noch unbekannt.

 

Wertung von Frau Wittrock:

Überzeugte Nazis oder Opportunisten? Die Nationalsozialisten waren in der Regel keine besonderen Bösewichte, aggressiven Schläger, Kriminelle oder Sadisten. Sie waren oft höchst durchschnittliche, auf ihr Fortkommen bedachte Menschen, die gelernt hatten, sich anzupassen. Dr. Christine Wittrock verdeutlichte dies in einem Vortrag am Beispiel von Schlüchtern.

Die Forscherin, die im Auftrag des Main-Kinzig-Kreises die Geschichte des Nationalsozialismus im Kreis untersucht, gestaltete den Auftakt der Schlüchterner Veranstaltungsreihe „60 Jahre danach ... die Pogromnacht vom 9. November 1938“. Der Magistrat setzt damit die Arbeit an einem bisher weitgehend tabuisierten Thema fort, die mit dem Besuch ehemaliger Schlüchterner Bürger jüdischen Glaubens vor wenigen Wochen einen Höhepunkt hatte.

„Brisanz“ war Wittrocks Vortrag schon im Vorfeld bescheinigt worden, da sie Namen nennen würde, Namen von Schlüchterner Bürgern, die belegen, daß die Täter keineswegs nur fremde, anonyme Figuren waren, sondern Nachbarn. Der Auszug aus der „Alltagsgeschichte von gläubigen Anhängern, Opportunisten und Provinzhonoratioren“ stieß auf entsprechendes Interesse. Die rund 90 Teilnehmer im Kulturhaus Synagoge repräsentierten alle Altersstufen zwischen Jugend und Rentner.

Die Forscherin wollte jedoch keine sowieso zu spät kommenden Urteile sprechen. „Verstehen vor Ort, warum der Nationalsozialismus über Jahre für so viele Bürger attraktiv war“, umriß sie ihren Ansatzpunkt. Im Kreis Schlüchtern hatte die NSDAP besonders schnell Fuß gefaßt: über 19 Prozent der Stimmen bereits bei den Reichstagswahlen 1930, in der Stadt drei Jahre später 1271 Stimmen gegenüber 448 SPD, 121 Zentrum und 146 Kampffront schwarzweiß-rot.

Eine Teilerklärung: Der Kreis Schlüchtern galt in den zwanziger Jahren als Notstandsgebiet. Eine andere: Die von Rassismus und Sozialdarwinismus geprägten weltanschaulichen Verhältnisse und „die Bereitschaft zu Unterwerfung, Gehorsam und obrigkeitsstaatlichem Denken“.

Wittrock fand bei den untersuchten Lebenswegen zwei Gemeinsamkeiten: „Das Anpassen, das Sich-Unterwerfen unter die herrschenden Verhältnisse oder das begeisterte Mitmachen, getragen von faschistischer Überzeugung oder gläubiger Anhängerschaft.“

Mancher, der sein Fähnlein in den Wind hängte. ist damit auch nach 1945 gut gefahren. Beispiel Johannes Kress. Kreisoberinspektor: Anfang der dreißiger Jahre sympathisierte der als fleißig und gewissenhaft geschilderte leitende Beamte im Landratsamt Schlüchtern noch mit der SPD. „1933 schwimmt er im großen Strom mit und tut das. was alle seine Kollegen tun: Er schließt sich den Nationalsozialisten an. Im Rahmen seiner Verwaltungstätigkeit muß er auch mit dem Sicherheits-Dienst zusammenarbeiten, zum Beispiel bei der Aufstellung von Listen über Regierungsgegner, die zu bestimmten Zeitpunkten verhaftet wurden.“

Zwar wird Kress 1945 für eineinhalb Jahre in ein Internierungslager gebracht. Aber er kann seine Karriere fortsetzen. Wittrock: „Der Kreistag beschließt Ende der vierziger Jahre sogar, ihm eine Kreisamtmannstelle offen zu halten bis sein Spruchkammerverfahren abgeschlossen ist, obwohl eine solche Verfahrensweise verboten ist. Der Sprung zurück in den Staatsdienst gelingt ihm ohne größere Schwierigkeiten. Dem ‚hochverdienten Beamten’ Johannes Kress wird 1960 das Bundesverdienstkreuz verliehen.“

Aber auch auf andere Weise hat mancher ganz ungeniert profitiert. In der Pogromnacht des 9. November 1938, organisiert von der NS-Elite (laut Wittrock Ortsgruppenleiter Lecher, Kreisleiter Johannes Puth, Molkereibesitzer Alfred Ziegler, Stadtbaumeister Heinrich Stiebeling, Ingenieur Wilhelm Schulz, SA-Führer Heinrich Völler und SS-Führer Max Ritschke) fiel reichlich Beute ab, wie die Forscherin berichtete. Aus den überfallenen jüdischen Häusern stahl der Pöbel ungeniert wasch­körbeweise Hausrat und Kleidung. Zumeist Frauen hätten diese Arbeit erledigt, voran die Frau des Ortsgruppenleiters Heinrich Lecher, eines Postinspektors, der die NSDAP in Schlüchtern mit aufgebaut hatte. Wittrock: „Schneidermeister Manns deckt sich mit Stoffen aus Oppenheimers Laden ein. SA-Mann Heinrich Baist läßt einen Herrenmantel mitgehen und Polizeimeister Lorenz Wolf baut sich aus dem aus der Synagoge herausgerissenen Holz einen Hasenstall.“ In der Berichterstattung der Schlüchterner Zeitung werden sie zu „Demonstranten“, die „mustergültige Disziplin“ bewahrt hätten.

Immer einig waren sich die Machthaber jedoch keineswegs, wie Wittrock herausfand. Selbst Angehörige der Führungsriege gerieten in das Räderwerk der Bespitzelung und Verdächtigungen. So der Gutsbesitzer und Kreistagsabgeordnete Richard Wegmann vom Röhrigshof, ehemals Führer der Deutschnationalen, der sich mit einer flammenden Rede beim Hissen der Hakenkreuzfahne auf dem Rathaus zu den Nazis bekannt hatte. Er wurde im August verhaftet und schließlich mit einem Verweis bestraft, weil er einen seiner Zuchtbullen auf den Namen „Hitler“ getauft hatte, was als Beschmutzung „des heiligsten Gefühls eines jeden Nationalsozialisten“ gewertet wurde.

 

Wiedereinweihung der Synagoge:

Der Antrag der BISS. einen Gedenkstein in Erinnerung an die von den Nazis ermordeten Schlüchterner Juden aufzustellen, entfachte vor dreieinhalb Jahren noch eine scharfe Debatte und stieß vor allem in Reihen der CDU auf Widerstand.

Zum 100. Jahrestag der Einweihung der Synagoge haben sich die kommunal-politischen Vorzeichen zwischenzeitlich verändert. Nach einem Besuch der heute in Jerusalem lebende Ruth Grünspan in ihrer alten Heimat im Juni vergangenen Jahres beschlossen Magistrat und Stadtverordnete einstimmig, der einst großen jüdischen Gemeinde ihre Reverenz zu erweisen. Seit vergangenen Dienstag erinnert eine Gedenktafel in der Synagoge an 130 Schlüchterner Juden, die in den Konzentrationslagern ums Leben kamen.

Unter den Emigranten, die noch rechtzeitig vor Beginn der systematischen Ermordung aus Europa fliehen konnten, haben die städtische Kulturbeauftragte Heidrun Kruse-Krebs und Monica Kingreen aus Nidderau in mühseliger Recherche Überlebende ausfindig gemacht, und auf Kosten der Stadt zu einer „Woche der Begegnung“ eingeladen. Die meisten ehemaligen Schlüchterner spürten

Monica Kingreen in den USA auf: Obwohl sie auch einige schriftliche Absagen von Menschen erhielt, die „noch immer tief verletzt sind“, sei die Resonanz doch „überwiegend positiv gewesen“.

23 Überlebende des Holocaust werden am Donnerstagabend in der Schlüchterner Stadthalle erwartet. Zusammen mit ihren Begleitern verbringen sie eine Woche in ihrer alten Heimat und wohnen

 am Sonntag, 30. August, um 16 Uhr auch den Feierlichkeiten aus Anlaß der Synagogeneinweihung vor 100 Jahren bei.

Am Sonntag, 30. August, um 16 Uhr gedenkt die Stadt in einem Festakt der Einweihung der Synagoge vor 100 Jahren und der jüdischen Gemeinde, die sie erbauen ließ. 23 ehemalige Schlüchterner Juden, die Vertreibung und Vernichtung durch die Nazis überlebt haben, reisen aus diesem Anlaß und in Erinnerung an die „Reichskristallnacht“ vor 60 Jahren auf Einladung des Magistrats zu einer „Woche der Begegnung“ in ihre alte Heimat. Heute Abend werden sie zur Begrüßung in der Stadthalle erwartet.

Die Vergangenheit des Holocaust erhielt im September 1998 eine bedrückende Präsenz während des Festaktes am Sonntag anläßlich des 100.Jubiläums der Einweihung der Schlüchterner Synagoge. Die Anwesenheit von 23 ehemaligen Schlüchterner Bürgern jüdischen Glaubens setzte gleichzeitig ein Zeichen für Hoffnung und Versöhnung.

Die Erinnerung hat 130 Namen, jeder ein Stich in den Herzen der Überlebenden. Es waren beklemmende Minuten des Schmerzes, als die Lehrerin und Geschichtsforscherin Monica Kingreen. selbst den Tränen nahe, die alphabetische Liste der jüdischen Männer. Frauen und Kinder aus Schlächtern, Elm und Vollmerz vorlas, die unter nationalsozialistischer Herrschaft ermordet wurden. Kerzen wurden angezündet, arrangiert zu einem leuchtenden Davidstern, Zeichen des Gedenkens und der Hoffnung zugleich, daß die Schatten der Vergangenheit die Gegenwart begleiten, aber niemals mehr beherrschen mögen.

So wollte auch Ernst Wolf, eines der ehemaligen Mitglieder der jüdischen Gemeinde Schlüchtern. die der Einladung der Stadt gefolgt waren, seine Ansprache über die erlittene Verfolgung und Vertreibung nicht als Anklage verstanden wissen. Es war eine große persönliche Geste in einfachen, aber schwerwiegenden Worten, wie er sich an die Versammelten wandte. „Liebe Freunde“, sagte er und betonte, daß er diese Anrede „von Herzen“ wähle, denn ich habe während dieser Woche erfahren, daß wir hier viele Freunde haben“.

Wolf berichtete von den wenigen, aber starken Erinnerungen an seine Kindheit in Schlächtern. „Ich bin nur ein Jahr von 1934 bis 1935 in die Volksschule gegangen, dann war diese Schule für mich und die anderen Juden geschlossen“. Einem glücklichen Umstand war es zu verdanken, daß er mit seinen Eltern nach Amerika emigrieren konnte. Sein Vater sei den Häschern in Frankfurt entkommen, „indem er sich in der Wohnung einer Witwe versteckte, die nicht durchsucht wurde“. Andere Verwandte überlebten die Verfolgung nicht.

 „Wir dürfen nicht vergessen, was passiert ist“, appellierte Wolf. „aber vor allem müssen wir in die Zukunft blicken“. Er habe bei früheren Besuchen in Deutschland seine Söhne und dieses Mal seine Tochter mitgebracht. denn das Wichtigste sei, daß die Jugend ein Zusammenleben in Frieden und Freundschaft gestalte. „Wir müssen uns verständigen“.

 Dafür hatte auch der Sprecher des hessischen Landesverbandes der jüdischen Gemeinden und Auschwitz-Überlebende Alfred Jachmann in seiner Rede plädiert, nachdem er die Entwicklung jüdischen Lebens in Deutschland. „im Hause des Henkers“ seit 1945 skizziert hatte. Er erinnerte daran, daß jüdische Gemeinden erst in den achtziger Jahren die selbstauferlegte Verpflichtung zur Auswanderung aus ihren Statuten gestrichen und mit dem Bau neuer Synagogen begonnen hätten. Nach Jachmanns Einschätzung ist man in Deutschland von einer Normalisierung des Verhältnisses zwischen den nichtjüdischen und den rund 90.000 jüdischen Bewohnern, von einem Miteinander anstatt eines Nebeneinanders, „noch weit entfernt“.

Bürgermeister Falko Fritzsch (SPD) beleuchtete die Geschichte der Synagoge der einst mit zehn Prozent der Bevölkerung sehr großen jüdischen Gemeinde. Das Gebäude, erst als „Glanzstück im Stadtbild“ gefeiert, dann geschändet und verwüstet und nun renoviert und als städtisches Kulturhaus genutzt, sei ein „Stein gewordenes Zeugnis, daß wir uns täglich bemühen müssen um Toleranz, Verständnis, Respekt und Anerkennung auch des Andersartigen“. Er hoffe, daß auch der Besuch der ehemaligen jüdischen Mitbürger dazu beitragen werde, sagte Fritzsch. „Ich bin optimistisch, nachdem bei vielen Gesprächen wieder eine menschliche Nähe hergestellt worden ist“.

„Für dieses Zeichen der Versöhnung und der Hoffnung“, dankte auch Pfarrer Wilfried Battefeld vom ökumenischen Kirchenkreis Schlüchtern den Besuchern. „Sie kommen mit dem Mut, ihre Erinnerung lebendig werden zu Lassen und den Menschen in Schlüchtern die Hände zu reichen“. Die Synagoge sei auch Mahnmal für den nicht ausreichenden Widerstand der christlichen Kirchen gegen die Nazi-Verbrechen.

Monica Kingreen, die für das Hessische Institut für Lehrerfortbildung sprach, nannte die Einladung der ehemaligen jüdischen Bürger zu einer Woche der Begegnung „eine große Tat für eine kleine Stadt”. Der Besuch eröffne auch Möglichkeiten für eine neue Form der Auseinandersetzung zwischen den Generationen. Die dritte Generation befrage die Großeltern anders, eher Antworten ermöglichend, als es die zweite Generation gekonnt habe. Kingreen: „Gespräche in intensiven Begegnungen ist das, was wir heute tun können“.

Im Anschluß an den Festakt, den der Gremmelsche Männerchor begleitete. wurde im unteren Raum der Synagoge eine Installation mit Bildern von Fred Schierenbeck eröffnet. Der Berliner Künstler hat die düster wirkenden Werke eigens für diesen Anlaß angefertigt. Er will einerseits die Zerstörung des Raumes unterstreichen und andererseits aufzeigen, daß an die Stelle des Verlorenen wieder etwas Neues treten kann. „Das Thema berührt mich“, erklärte der 46jährige sein Engagement. „ich gehöre einer Generation an, für die diese Frage im Zentrum von Lebensüberlegungen steht“.

Heute besuchen jüdische Gäste die Schlüchterner Gymnasien, um mit Schülern zu sprechen. Gelegenheit zur Begegnung besteht auch ab 15.30 Uhr bei einer Kaffeetafel mit Dia-Vortrag im Saal des evangelischen Gemeindezentrums. .“Jugendliche auf den Spuren des Nationalsozialismus“ lautet das Thema der Inszenierung des Stückes „Dünnes Eis“ des Schlüchterner Werkstatt-Theaters ab 18 Uhr in der Synagoge mit anschließender Diskussion.

 

 

Sterbfritz

Basierend auf einem Buch vom Max Dessauer (1893-1962) haben sich Monica Kingreen und Thomas Müller auf die jüdischen Spuren in Sterbfritz begeben. Ihre Forschungsarbeit ist vom Heimat- und Geschichtsverein Bergwinkel in der Broschüre „Beiträge zur Geschichte jüdischer Sterbfritzer“ dokumentiert.

Wie vielfach in der Provinz wütete der Mob in Sterbfritz mit Verzögerung. Erst in den Abendstunden des 10. November zog ein SA-Kommando in die Mittelstraße, um sich an der Zerstörung jüdischen Besitzes zu ereifern. Die Nazi-Schergen stürmten in die Synagoge, randalierten im Betraum und warfen die Kultgegenstände auf die Straße. Augenzeugen des Geschehens berichteten später, wie der heiligste Besitz der Glaubensgemeinde, die Thora-Rollen, auf der Straße ausgerollt wurde.

 Das Geschehen vor 51 Jahren öffnete auch den letzten verbliebenen Juden im Ort die Augen. 29 verließen in den kommenden Monaten ihre Heimat, die meisten davon unmittelbar nach dem Pogrom. Zurück blieben 15 arme und alte Menschen. die keine Möglichkeiten zur Auswanderung hatten. Im Mai 1942 folgte auch für sie der Abschied aus Sterbfritz. Über Schlüchtern wurden sie drei Monate später in die Konzentrationslager und Vernichtungsstätten deportiert.

Heute erinnert in Sterbfritz nichts mehr an die rund 300jährige Geschichte der jüdischen Gemeinde. Die Mittelstraße heißt nun „Im Aspen“. Die einstige Synagoge vermochte auch eine zwischenzeitlich angebrachte Gedenktafel nicht zu retten. Nach dem Krieg als Wohnhaus genutzt, verfiel sie zusehends und wurde Mitte der 70er Jahre abgerissen.

Max Dessauer (Bild) ist es zu verdanken, daß von der jüdische Tradition in Sterbfritz neben dem dunkelsten Kapitel auch freundlichere Bilder überliefert sind. In seinem Buch aus unbeschwerter Zeit“ schildert der. 1962 Verstorbene Geschichten und Episoden aus einer Zeit, in der Christen und Juden an der Kinzigquelle ein gut nachbarliches, häufiger gar freundschaftliches Miteinander pflegten.

Auf 100 Seiten zeichnet der am Grimmelshausen-Gymnasium beschäftigte Referendar Thomas Müller (34) den Lebensweg Dessauers nach, der Kindheit und Jugend in Sterbfritz verbrachte, im ersten Weltkrieg schwer am Arm verwundet wurde, während der Weimarer Republik als Kaufmann in Fulda und Offenbach arbeitete und 1936 vor den Nazis nach Frankreich floh. Dort gelang es ihm nicht nur, mit Frau und Tochter unterzutauchen, sondern über Kontakte zu Widerstandsgruppen auch vielen verfolgten Juden zu helfen.

Mitte der 50iger Jahre war Dessauer maßgeblich am Aufbau eines Altenwohnheims bei Paris für Überlebende des Völkermordes beteiligt. Dabei knüpfte er Kontakte zu namhaften deutschen Politikern, darunter Carlo Schmidt, der ihn drei Jahre nach seiner Rückkehr nach Deutschland 1961 mit dem Bundesverdienstkreuz auszeichnete.

Die Erinnerungen Dessauers vermitteln einen lebendigen Eindruck vom Landjudentum, das in Hessen und speziell im Bergwinkel einen vergleichsweise überdurchschnittlichen Bevölkerungsanteil stellte. Zur Blütezeit 1885 waren in Sterbfritz immerhin 15 Prozent der etwas mehr als 1000 Bewohner jüdischen Glaubens. Der Anfang des 19. Jahrhunderts gebauten Synagoge war sogar eine eigene einklassige Elementarschule angegliedert. Obgleich Juden und Christen auf dem Land im Glauben stark traditionsgeprägt waren, „gab es im Alltag viele Bindungen, die konfessionelle Unterschiede aufhoben“, schrieb Dessauer. Nicht zuletzt auch die Armut, das kärgliche Dorfleben, verband beide Bevölkerungsgruppen. So fanden sich Juden in der Gemeindevertretung, politischen oder geselliger. Vereinsvorständen bis hin zur Feuerwehr. Ein Ort der Geselligkeit war das jüdische Café Schuster, in dem auf einem Grammophon alte Platten liefen und später das erste Radio im Dorf angeschaltet wurde. Juden und Christen spielten hier Karten. sonntags wurde getanzt.

Doch zwischen aller scheinbaren Normalität tat sich auch immer eine Kluft auf. Schon im Kaiserreich sahen sich die Juden gerade in wirtschaftlichen schweren Zeiten auch ob ihrer Handelstätigkeit wiederkehrender Hetze ausgesetzt. Im Jahr 1933 lebten noch 93 Juden in Sterbfritz (7,3 Prozent). In dem protestantischen Ort hatte die NSDAP schon früh überdurchschnittliche Wahlergebnisse erzielt. Schnell schwand der bürgerliche Anstand, schon zehn Wochen vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler wurden dem Bäcker und Cafébesitzer Schuster die ersten Fensterscheiben eingeworfen.

Auf Druck der Nazis zerbrachen nach und nach fast sämtliche Bindungen. Wer weiter Kontakte pflegte, konnte öffentlich verunglimpft werden. „Heinrich hat 2 Kg Wagenfett beim Juden in Sterbfritz gekauft“ stand im Mai 1935 auf einer Anschlagtafel in Weichersbach zu lesen. Nur wenige hatten Zivilcourage wie der Zahnarzt Richard Reinhard und der Tierarzt Walther Bergien, die trotz Verbots weiter jüdische Patienten oder ihr Vieh behandelten.

Bergien versorgte darüber hinaus heimlich den Hausierer Lazarus Hecht mit dem Lebensnotwendigsten.

Das Schicksal des kleinen treuherzigen, im gesamten Kreis Schlüchtern bekannten Originals zeichnet die Nidderauer Geschichtsforscherin und Autorin Monica Kingreen noch einmal gesondert nach. Sie bezeichnet Lazarus Hecht, der sich mit einem kleinen Bauchladen mehr schlecht als recht über Wasser hielt als „prägnante und typische Gestalt des hessisch-jüdischen Landlebens“. Gebückt zog er über die Dörfer, verkaufte Nähnadeln und Fliegenfänger und wurde vor allem als Nachrichtenübermittler geschätzt.

Die Nazis verboten ihm sein Gewerbe und bald darauf den Kontakt mit jeglichen Bauern. Fast ein Jahr mußte er mit dem Judenstern durch Sterbfritz gehen, ehe er am 30. Mai 1942 über Schlüchtern nach Theresienstadt und drei Wochen später nach Treblinka verschleppt wurde. Am 29. September 1942, unmittelbar nach seiner Ankunft, wurde der liebenswürdige Hausierer, 67 Jahre alt, vergast. Lazarus Hecht ist einer von 58 Namen in einer gesonderten Auflistung Monika Kingreens. Darin skizziert sie das Leben aller bekannten Juden aus Sterbfritz, die im Rassenwahn ermordet wurden.

 

 

Wiesbaden

Stellen sich vor: Wiesbaden an einem Sommertag im August des Jahres 1869. Zur Stadtsilhouette gesellt sich am hoch gelegenen Michelsberg die neue Synagoge der jüdischen Gemeinde. Am Abend wird das Haus mit einem großen Fest eröffnet. In den Gassen quirlt das Leben. Der preußische König reist eigens an, auch die Vertreter der evangelischen und katholischen Kirche gehören zu den Festgästen.

Der von Philipp Hoffmann entworfene Bau im maurischen Stil schimmert in hellem Sandstein. Er ist Ausdruck des Selbstbewußtseins der liberalen jüdischen Reformgemeinde. Als die Baugenehmigung 1863 erteilt wurde, finanzierten die 92 jüdischen Familien         (567 Menschen) das Vorhaben. Nun ist der Bau fertig. Über der Stadt leuchtet die blaue Kuppel der Synagoge mit ihren goldenen Sternen in der Sonne. Und wartet darauf; gefeiert zu werden.

Am Morgen des 10. November 1938 stecken Wiesbadener Nazis die Synagoge in Brand. In der Pogromnacht zuvor waren bereits tausende jüdische Läden demoliert, Menschen gedemütigt, geschlagen, ermordet worden. Die Wiesbadener Synagoge steht um 10 Uhr im Feuer. Es brennt und kracht, die blaue Kuppel mit ihren goldenen Sternen stürzt in den Bauch der Synagoge. Nur Reste bleiben stehen, die 1939 vollends abgerissen werden.

Die Synagoge am Michelsberg verschwindet aus der Stadtsilhouette - mehr und mehr auch aus der Erinnerung der Wiesbadener Bevölkerung. Bis eine Gruppe von Studenten des Fachbereichs Gestaltung an der Fachhochschule Wiesbaden 1998 ein Projekt starten: Memo 38, die virtuelle Wiederauferstehung der Synagoge am Michelsberg – um den Menschen die Augen zu öffnen für Bilder und Taten aus der Vergangenheit. Eine aufwendige Recherche beginnt. „Sämtliche Baupläne waren verbrannt oder absichtlich vernichtet worden, es gab nichts mehr“, sagt Dorothee Lottmann-Kaese­ler vom Aktiven Museum Spiegelgasse für Deutsch-Jüdische Geschichte in Wiesbaden. Im Auftrag der Stadt realisierte der Verein das Projekt zusammen mit der, Gruppe Memo 38, um an die Zerstörung der Synagoge vor damals 60 Jahren zu erinnern.

In 12.000 Arbeitsstunden rekonstruieren die Studenten das Gebäude. Gespräche mit Zeitzeugen aus aller Welt helfen dabei. „Ohne ihre Erzählungen und Fotografien, die sie von der Synagoge noch hatten, wäre die Umsetzung nicht möglich gewesen“, sagt Dorothee Lottmann-Kaeseler. Bilder tauchen in Paris, Israel und den USA auf. Die Studenten legen nach ihrer zeitgreifenden Arbeit einen Videofilm vor, der als fotorealistische 3-D-Visualisierung in Form einer Computeranimation die Synagoge von außen und innen zeigt.

Am Anfang gibt eine Zeitreise einen Überblick über das Schicksal des Gebäudes. Dazu hört der Betrachter das Stück Different Trains von Steve Reich. Zu den Außen- und Innenansichten haben die Studenten Synagogengesänge des Berliner Kantors Estrongo Nachama ausgesucht. „Als Yogi Mayer, ein heute in London lebender Jude aus Wiesbaden, das hörte, sagte er: „Woher wußtet ihr, wie der Herr Nußbaum gesungen hat?“, erzählt Lottmann-Kaeseler. Abraham Nußbaum war bis 1933 Kantor in der Wiesbadener Synagoge.

Das Video ist in einem Gedenkraum zur Wiesbadener Geschichte in der NS-Zeit im Rathaus zu sehen. „Informationsraum nenne ich ihn lieber“, sagt Dorothee Lottmann-Kaeseler, „hier soll niemand auf Befehl gedenken, das geht doch nicht“. Der Raum war Teil des etwa 55.000 Euro teuren Auftrages, den die Stadt dem Aktiven Museum erteilt hatte. Wer ihn besuchen will, muß ihn erst suchen. Es verweist im Rathaus kein Schild auf ihn. Der Raum findet sich direkt nach dem Eingang rechts am Ende des Ganges. An den Wänden informieren Tafeln über das Synagogen-Projekt. Es soll aber wechselnde Ausstellungen geben.

„Für Herbst planen wir ein Zeitzeugenprojekt, aber auch Schulklassen könnten hier Unterrichtsprojekte zu einer Ausstellung machen“, sagt und wünscht sich Lottmann-Kaeseler. In dem Raum steht auch ein Beamer, der das zwölfminütige Video der Synagogen-Rekonstruktion an eine Leinwand werfen kann (dienstags und donnerstags, 14 bis 16 Uhr). So nehmen das Gebäude und der Ort, an dem es stand, wieder Raum ein.

Es gibt mehr Orte in Wiesbaden, die an die vernichtete jüdische Kultur erinnern. „ortung“ heißt ein Computerterminal im Informationsraum, das seit kurzem einen interaktiven Zugang zu den Spuren der Stadtgeschichte zwischen 1933 und 1945 bietet. Der Spurensucher kann auf historische Bilder klicken und bekommt Informationen zu dem Ort von damals und wie er heute aussieht: beispielsweise die Gedenkstätte „Unter den Eichen“, eine Außenstelle des Konzentrationslagers Hinzert im Hunsrück und die Schlachthoframpe, von der aus etwa 1.200 Juden aus Wiesbaden deportiert wurden. „Den Verlust bewußt machen, das treibt uns an”, sagt Dorothee Lottmann-Kaeseler.

Der „Gedenkraum” im Rathaus, Schlossplatz 6, ist montags bis freitags von 9 bis 19 Uhr und samstags von 9 bis 14 Uhr geöffnet. Gruppen, die das Video zu anderen Zeiten sehen möchten, können sich an das Aktive Museum wenden, 0611 /305221.

 

 

Main-Taunus-Kreis

„Die schweren und einschneidenden Maßnahmen, die gegen die Juden, besonders in den Kriegsjahren, getroffen wurden, waren mir damals in ihrem Umfange nicht bekannt“ (Franz Brunnträger im Entnazifizierungsverfahren vor der Spruchkammer Hofheim 1948).

Franz Brunnträgers Einsetzung als Landrat im Juni 1939 war insofern ein Novum, als auf der Verwaltungsebene des Main-Taunus-Kreises erstmals ein langjährig erfahrener NSDAP-Funk­tionär an die Verwaltungsspitze des Kreises gestellt wurde. Bereits im September 1930 war Brunnträger in die SA eingetreten, den paramilitärischen Wehrverband der NSDAP. Am ersten Oktober 1930 trat er der NSDAP bei, die bis dahin lediglich 130.000 Mitglieder hatte.

Brunnträger gehörte damit zu den „Alten Parteigenossen“, die noch während der sogenannten Kampfzeit in die Partei eingetreten waren. Kurz darauf avancierte er zum Ortsgruppenleiter in Höchst am Main, wo er als Chemiker bei den IG-Farben Werken tätig war. Auf Vorschlag des NSDAP-Gauleiters Jakob Sprenger ernannte Hitler ihn ein Jahr nach seinem Parteieintritt zum Kreisleiter der NSDAP des damaligen Kreises Höchst, der in der Folgezeit auch für das Gebiet des Main-Taunus-Kreises zuständig wurde. In dieser Eigenschaft war Brunnträger auch verantwortlich für die Organisation des von der NSDAP am 1. April 1933 ausgerufenen und von der SA durchgeführten Boykotts gegen jüdische Geschäftsinhaber, Arzte und Rechtsanwälte.

Sechs Jahre später titelte die Main-Taunus-Zeitung zum Dienstantritt des nationalsozialistischen Landrats „In enger Fühlungnahme mit der Partei“ und berichtete: „Gern erinnert sich heute der neue Landrat des Main-Taunus-Kreises dieser Zeit des Kampfes, der feste Bande der Treue und Kameradschaft um die alten Gefolgsmänner Adolf Hitlers in unserem Heimatgebiet geschlungen hat und er freut sich besonders, diese alten Freundschaftsbande jetzt durch seinen neuen Wirkungskreis wieder aufleben lassen zu können.“ Des weiteren versprach der neue Landrat, der damals den Rang eines SA-Obersturmführers inne hatte, er werde „sich stets rückhaltlos für das Wohl der Kreisbevölkerung einsetzen“. Es sei selbstverständlich, daß „die Verwaltung stets in enger Fühlung mit den Dienststellen der NSDAP“ arbeiten werde.

Die jüdische Bevölkerung dürfte Brunnträger mit diesen Worten wohl kaum gemeint haben. Als er im Juni 1939 Landrat wurde, hatte bereits ein Großteil der 331 Juden, die im Juni 1933 Mitglieder der verschiedenen jüdischen Gemeinden im Kreisgebiet waren, nach den degradierenden sogenannten Nürnberger Gesetzen und dem Verlust der materiellen Existenzgrundlage Zuflucht in Frankfurt und oder im Ausland gesucht. In der „Kristallnacht“ im November 1938 waren die Gotteshäuser geschändet und zerstört worden, viele jüdische Familien wurden überfallen, ihr Eigentum zerstört ebenso wie jüdische Friedhöfe und Einrichtungen. Hierbei war besonders die SA-Terrorgruppe der NSDAP in Erscheinung getreten.

Als Brunnträger Landrat wurde, lebten noch 119 jüdische Personen im Kreisgebiet. Allmonatlich sollte er dem Regierungspräsidenten in Wiesbaden über die „Bewegung der jüdischen Bevölkerung im Main-Taunus-Kreis“ berichten. Die relevante Größe war dabei die „Kopfzahl“ der noch im Kreis ansässigen Juden. Oberstes Ziel war die Austreibung der Juden ins Ausland, was aber durch die Schwierigkeiten, im Ausland eine Lebensmöglichkeit zu finden, oft verhindert wurde.

Am höchsten jüdischen Feiertag wurde Brunnträger von der Gestapo beauftragt, alle Radios von jüdischen Familien zu beschlagnahmen. Die Anweisung lautete: „Die Aktion ist schlagartig am 23.9.1939 durchzuführen“. Zehn Ortsgendarme ließ Brunnträger für die Gestapo eine Liste

der beschlagnahmten Apparate aufstellen. Auch hatte der Landrat zu überwachen, daß das Verbot für die jüdischen Bewohner, ihre Wohnungen abends und nachts zu verlassen, eingehalten wurde.

 

Im Juni 1941 schrieb der Landrat an die Bürgermeister seines Kreises: „Wie ich aus den letzten dortigen Berichten entnommen habe, ist die Auswanderung der Juden auch während des Krieges bisher ergebnisvoll betrieben worden. Ich lege Wert darauf, daß der Main-Taunus-Kreis, dessen Juden-Bestand sich schon erheblich vermindert hat, in absehbarer Zeit völlig judenfrei wird und erwarte, daß auch Sie alles Erforderliche dazu beitragen.“ Was er damit genau meinte, führte er nicht aus, er präzisierte lediglich: „Vor allem sind die Juden selbst zur baldmöglichsten Auswanderung fortgesetzt und schärfstens anzuhalten.“

Sowohl die Bürgermeister auch als der Landrat waren für ihren Bereich bemüht, die begehrte Auszeichnung des NS-Staates „judenfrei“ zu erhalten. Die jüdischen Bewohner hätten zu dieser Zeit alles gegeben, um in das rettende Ausland zu entkommen, doch fehlte den meisten ein Visum für ein aufnehmendes Land. Oft reichte auch das Geld nicht aus. In benachbarten Landkreisen kam es zur Austreibung von Juden und Zwangsumsiedlung. Für den Main-Taunus-Kreis ist Ähnliches bisher nicht festzustellen, allerdings ist der Ghettoisierungsprozeß der Juden im Kreis bisher nicht erforscht.

In der Kompetenz des Landrates und der ihm unterstehenden Ortspolizeibehörden lag auch die Kontrolle des im September 1941 erlassenen Verbotes für Juden zum Verlassen ihres Wohnortes und dem Benutzen von Verkehrsmitteln. Der Landrat war im Oktober 1941 vom NSDAP-Kreis­leiter informiert worden, daß „am 30.9.1941 mit dem Zuge 16.11 Uhr ab Hofheim etwa 20 Juden, die von ihren Arbeitsplätzen kamen, jeder mit einem Rucksack von Äpfeln bepackt, in der Richtung nach Frankfurt fuhren“. Es folgte die Bitte, „Ihre Polizeiorgane anzuweisen, auf diese unglaublichen Zustände zu achten und die notwendigen Ermittlungen vorzunehmen. Insbesondere wären die Namen derjenigen festzustellen, die den Juden das Obst geliefert haben.“ Sofort wies Brunnträger seine Dienststellen an, diesem „Vergehen“ nachzugehen.

Im Mai 1942 setzte der Landrat das Verbot der Gestapo durch, daß Juden von sogenannten deutschblütigen Friseuren nicht bedient werden durften, indem er die Bürgermeister anwies: „Berichte über etwaige Verstöße sind auf dem Dienstwege vorzulegen.“ Ebenfalls im Mai 1941 waren im Auftrag der Gestapo im Landratsamt in Höchst alle Fahrräder vor Juden abzugeben, beziehungsweise Genehmigungen einzuholen, falls sie ihr eigenes Fahrrad behalten mußten, um zur Zwangsarbeitsstelle zu gelangen.

Ende Mai 1942 wurde der Landrat von der Gestapo darüber informiert, daß die Juden seines Kreises gezwungen waren, alle Kleidungsstücke abzugeben, die sie angeblich nicht direkt „benötigten“. 45 Kilogramm Kleidung und Stoffe, so die Information an den Landrat, konnten bei den jüdischen Familien beschlagnahmt und später beim Wirtschaftsamt der Stadt Frankfurt abgegeben werden.

Zu diesem Zeitpunkt war Brunnträger bereits seit einigen Monaten bekannt, daß eine sogenannte Evakuierung der Juden seines Bereiches in den Osten zentral vorbereitet wurde. Er hatte der Gestapo im Februar bereits entsprechende Zahlen gemeldet, aufgeschlüsselt nach Kriterien wie Gebrechlichkeit, Familien, Alter. Im März hatte er für jeden jüdischen Bewohner seines Kreises von der Gestapo zwei Karteikarten erhalten „zur Erfassung aller im dortigen Kreise wohnenden Juden mit der Bitte, diese umgehend genauestens mit Schreibmaschine ausfüllen zu lassen“. Anfang Juni 1942 erhielt er von der Gestapo die Details zur weiteren Organisation, später eine „namentliche Aufstellung der zu Evakuierenden“. Er hatte „auch das sonst noch in dieser Hinsicht Erforderliche vorzunehmen“, was immer das auch heißen konnte. Die Anweisungen der Gestapo an ihn lauteten: Es „sind diese Juden durch das Landratsamt so rechtzeitig zu einem Transport zusammenzustellen und in Marsch zu setzen, daß sie bis spätestens Mittwoch, dem 10. Juni 1942 um 19 Uhr in Frankfurt Großmarkthalle eintreffen. Ich bitte den einzelnen Transporten in ausreichender Zahl Polizeibeamte als Begleiter mitzugeben, damit die Juden auf dem Anmarsch nach Frankfurt bzw. zur Großmarkthalle keine Gelegenheit zur Flucht finden und der Transport in Ruhe und Ordnung verläuft.“

Einen Tag vor der Verschleppung teilte der Gauwohnungskommissar von der NSDAP-Gauleitung Hessen-Nassau dem Landrat zu 2Aus Judenabschiebung freiwerdende Wohnungen“ mit, daß deren Zuteilung „unter maßgeblicher Beteiligung des zuständigen Kreisleiters erfolgen soll“. Wie die Ortsgendarmen am 10. Juni 1942 die jüdischen Menschen in ihren Wohnungen angetroffen haben, wissen wir nicht, auch nicht, welche verzweifelten Szenen sich abspielten, als sie ihnen die „Staats­polizeiliche Verfügung“ vorlasen mit dem einleitenden Satz „Es wird Ihnen hiermit eröffnet, daß Sie innerhalb von zwei Stunden Ihre Wohnung zu verlassen haben“, die Menschen „„einen Rucksack und einen kleinen Handkoffer sowie eine Decke“ sowie „Reiseverpflegung für vier Tage“ zusammenpackten, sich von den zurückbleibenden alten Eltern verabschiedeten, ihre Wohnungen ein letztes Mal ansahen, bevor die Polizisten sie verschlossen und versiegelten.

Die Schlüssel waren „auf dem zuständigen Landratsamt zu sammeln und gut aufzubewahren. Sie werden zu gegebener Zeit von den einzelnen zuständigen Finanzämtern angefordert werden. Diesen Finanzämtern obliegt später die Verwertung des dem Deutschen Reich verfallenen jüdischen Eigentums.“

Für die aus ihren Wohnungen verschleppten 32 Menschen aus den Orten Diedenbergen, Flörsheim, Hofheim, Kriftel, Massenheim, Nordenstadt und Wallau führte der Weg zum kreisinternen Sammelpunkt am Höchster Bahnhof zur Weiterfahrt nach Frankfurt Hauptbahnhof. Im Sammellager der Großmarkthalle hatten die Beamten so lange zu bleiben, bis sie ihre „Objekte“ übergeben konnten, deren Unkosten konnten vorn Landrat „nach Abschluß der Aktion“ bei der Gestapo Frankfurt eingereicht werden.

Als die fast 1.000 aus Frankfurt verschleppten Menschen mit dem Zug nach Lublin im besetzten Polen fuhren, informierte Brunnträger die Bürgermeister über die Beschlagnahme der Vermögen der Verschleppten. Alle Banken und Sparkassen erfuhren die Namen der deportierten Juden aus beim Landrat hinterlegten Namenslisten. Die Verschleppten aus dem Main-Taunus-Kreis kamen alle in Majdanek zu Tode oder wurden im Vernichtungslager Sobibor wenige Tage nach Abfahrt aus Frankfurt vergast - niemand hat diese Verschleppung überlebt.

Brunnträger war seinem Ziel, den „Judenbestand“ des Kreises zu verringern, ein bedeutendes Stück näher gekommen, waren doch nur noch wenig mehr als 20 Alte, Gebrechliche und Kriegsveteranen in seinem Landkreis. Als er von der Gestapo Frankfurt Wochen später die Mitteilung erhielt, daß zum 1. September. 1942 aus Frankfurt „auch die Juden aus den Landkreisen des Regierungsbezirks Wiesbaden abgeschoben“ und ins Ghetto Theresienstadt gebracht werden sollten, versah er die Details über die Verbringung aller jüdischen Bewohner seines Kreises mit seinen Weisungen an die Bürgermeister mit dem Stempel „Sofort“. „Nach der anliegenden Liste kommen zur Evakuierung 7 Orte des Kreises mit insgesamt 17 Juden in Frage.“

Wie die Deportation der meist über 70-jährigen alten Menschen aus ihren Heimatorten Hattersheim, Flörsheim, Wallau, Nordenstadt, Delkenheim, Hofheim und Kriftel vor sich ging, ist bisher noch nicht bekannt; es mußte nach dem Merkblatt für die vom Landrat eingesetzten Beamten „jeder Jude ein Schild um den .Hals tragen, auf dem sein Name, Geburtstag und Kennkartennummer angegeben sind“. Diesmal war das Sammellager für die alten und gebrechlichen jüdischen Menschen das Jüdische Altersheim in Frankfurt im Rechneigraben, wo sie zwei Tage bleiben mußten. Dem Landrat wurde von seiner Kreisgendarmerie am 31. August 1942 gemeldet: „Der Abtransport ist erfolgt. Zwischenfälle sind nicht zu melden. Schlüssel sind bereits abgeliefert. Reisekostenersuchen der Gendarmen werden nachgereicht.”

Am Tag, als die mehr als 1.000 jüdischen Menschen aus Frankfurt und Umgebung im Ghetto Theresienstadt registriert und eingewiesen wurden (nur das Ehepaar Gerson erlebte 1945 die Befreiung), wies der Landrat die Bürgermeister seines Bezirks mit dem Betreff „Juden-Evaku­ierung“ an, „die polizeiliche und steuerliche Abmeldung der inzwischen von dort evakuierten Juden sofort vorzunehmen“. Auch war dem Landrat die Beschlagnahme des gesamten Vermögens rückwirkend zum 1. August mitgeteilt worden. Die Kreisleitung der NSDAP in Bad Soden bat er am selben Tag, „Kenntnis zu nehmen, daß gestern aus dem Kreisgebiet weitere 17 Juden nach Theresienstadt (Protektorat) evakuiert wurden. Im Kreis verbleiben hierdurch noch 8 in deutschjüdischer Mischehe lebende Juden, bzw. solche jüdischen Ehegatten einer nicht mehr bestehenden deutschblütigen-jüdischen Mischehe.“ Diese hatte der Landrat namentlich der Gestapo Frankfurt zu melden.

Nach Abschluß der zweiten großen Deportation aus dem Kreisgebiet hatte Landrat Brunnträger als wichtige Schaltstelle die organisatorischen Vorbereitungen und Durchführung der Verschleppung der jüdischen Bürger der Gemeinden seines Kreises zu den Sammellagern in Frankfurt umgesetzt - verwaltungsmäßig, im Rahmen seiner Zuständigkeiten effektiv und zielstrebig in engster Zusammenarbeit mit der Gestapo Frankfurt mit Hilfe der ihm Unterstehenden. Im Rahmen seiner Zuständigkeiten im Landkreis hatte er dazu beigetragen, das nationalsozialistische Ziel auf der Ebene des Landkreises zu erreichen, die Juden „aus dem Volkskörper zu eliminieren“. In nur zehn Jahren nationalsozialistischer Diktatur waren im Main-Taunus-Kreis von 332 jüdischen Personen - so kann bisher nur geschätzt werden - etwa 200 vertrieben und mehr als 100 Menschen ermordet worden.

Die Namen und Schicksale der Ermordeten sind bisher ebenso wie die Geschichten aller jüdischen Gemeinden und ihrer Mitglieder erst in Ansätzen angemessen erforscht worden, so daß im Kreis heute an sie und ihre Lebenswege bisher noch immer nicht erinnert und gedacht werden kann. Unmittelbar nach der Befreiung durch die US-Truppen wurde Franz Brunnträger am 1. April 1945 von dem Amerikanern verhaftet und verbrachte drei Jahre bis zum Juli 1948 als Hauptschuldiger im Internierungslager Darmstadt. Im Entnazifizierungsverfahren in Hofheim 1948 wurde er dann als „minderbelastet“ eingestuft. Der öffentliche Kläger hatte dagegen plädiert. Er brandmarkte den Ex-Landrat als „willigen Befehlsübermittler der nazistischen Gewaltherrschaft“ und hielt ihn für die „schweren Ausschreitungen gegen die Juden ...in höchstem Maße mitverantwortlich“.

 

 

Flörsheim

In Flörsheim am Main bestand eine jüdische Gemeinde bis 1938/42. Bereits im 13. (1290 Nennung eines Feldes „beim Juden“) beziehungsweise spätestens im 15. Jahrhundert lebten Juden am Ort, da ein erster jüdischer Friedhof bereits 1447 beziehungsweise 1449 in Urkunden genannt ist. Im 16. Jahrhundert lebten keine Juden in Flörsheim.

 In der Zeit des Dreißigjährigen Krieges werden wieder Juden in Flörsheim genannt. Um 1639 waren es bis zu neun Familien. Die Familien lebten in der Folgezeit überwiegend vom Kleinhandel mit Früchten, Eisenwaren, Ellenwaren sowie vom Geld- und Viehhandel. 

In Flörsheim entwickelte sich die Zahl der jüdischen Einwohner im 19. Jahrhundert wie folgt: 1811 20 jüdische Familien, 1840 91 jüdische Einwohner (4,5 % von insgesamt 2.033), 1842 114, 1871 68 (3,1 % von 2.223), 1885 50 (1,8 % von 2.811), 1895 35 (1,1 % von 3.212), 1905 45 (1,1 % von 4.112).

 Vom Beginn des 20. Jahrhunderts an lebten in Flörsheim insbesondere die folgenden Familien: Josef Altmaier, Bäckermeister; Hermann Altmaier, Bäckermeister; David Mannheimer, Textilhändler; Gebr. Stern, Fruchthändler, Simon Kahn, Viehhändler; Julius Metzger, Metzgermeister; Josef Kahn, Makler; Josef Birnzweig, Textil- und Möbelhändler; Elisas Herzheimer, Altmaterial-Großhändler; Benno Metzger, Metzgermeister; Gebr. Nördlinger (Fabrikanten / Chemie), Dr. Max Schohl, Fabrikant. 

Im Ersten Weltkrieg fiel aus der jüdischen Gemeinde Flörsheim Karl Kahn (Sohn des Lehrers Kahn) sowie aus Eddersheim Bernhard (Benni) Hahn, Sohn des Josef Hahn (geb. 9.5.1899 in Eddersheim, gest. in Gefangenschaft 3.7.1918; Artikel siehe unten). Ihre Namen wurden auf einer Gedenktafel in der Synagoge Flörsheim festgehalten. 

Um 1924, als 52 jüdische Einwohner gezählt wurden (0,9 % von insgesamt 5.550), war Vorsteher der Gemeinde Hermann Mosheimer. An jüdischen Vereinen bestanden damals eine Chewra Kadischa (Bestattungs- und Wohltätigkeitsverein mit ca. 10 Mitgliedern unter Leitung von Hermann Altmaier) und ein Israelitischer Frauenverein (Frauen-Wohltätigkeitsverein insbesondere zur Krankenfürsorge mit ca. 10 Mitgliedern unter Leitung der Frau von Joseph Altmaier). Beide Vereine waren 1849 begründet worden und konnten 1929 ihr 80jähriges Jubiläum feiern (siehe Bericht unten). Religionsunterricht erhielten damals vier Kinder durch Lehrer S. J. Rosenberg aus Bierstadt. 1932 war Gemeindevorsteher Sali Kahn, 2. Vorsteher Dr. Max Schohl, 3. Vorsteher Karl Stein aus Weilbach. Als Lehrer der damals fünf schulpflichtigen Kinder wird weiterhin Lehrer Rosenberg aus Bierstadt genannt. Zur Gemeinde Flörsheim gehörten 1932 11 in Eddersheim und 4 in Weilbach lebende jüdische Einwohner.

Im Jahre 1933 lebten noch 12 jüdische Familien am Ort. In den folgenden Jahren ist ein Teil der jüdischen Gemeindeglieder auf Grund der zunehmenden Entrechtung und der Repressalien weggezogen (Frankfurt und andere Orte) beziehungsweise ausgewandert. Die Familie Hermann Altmaier, die Familie Theodor Birnzweig und die Familie Metzger emigrierten über Shanghai in die USA; Heinz Hecht über Frankreich in die USA. Hermann und Helene Herzheimer überlebten in der Schweiz, Brigitte Kahn in Großbritannien. Auch die in Eddersheim lebenden Familien verzogen bereits 1938 vom Ort. Beim Novemberpogrom 1938 wurde die Synagoge zerstört (s.u.), aber auch jüdische Geschäfte und Wohnungen überfallen, teilweise zerstört, darunter die Futtermittelhandlung von Martin Altmaier (Hauptstraße 57) und das Schuhgeschäft von Jakob Kahn (Grabenstraße 43).

Von den in Flörsheim geborenen und/oder längere Zeit am Ort wohnhaften jüdischen Personen sind in der NS-Zeit umgekommen (Angaben nach den Listen von Yad Vashem, Jerusalem, vermutlich nicht vollständig, die Arbeitsgemeinschaft "Gedenken jüdischer Mitbürger' geht von 25 umgekommenen Flörsheimer Juden aus): Bernhard Altmaier (1887), Berta Altmaier geb. Dietz (1870), Martin Altmaier (1900), Dr. Isidor Dryfuss (1889), Ida Flörsheim geb. May (1874), Frieda Halberstadt geb. Strauss (1887), Jonas Halberstadt (1884), Helene Hecht geb. Altmaier (1891), Dr. Moses Jacobsohn (1904), Ida Kahn geb. Simon (1885), Ilse Kahn (1920), Jakob Kahn (1884), Sali Kahn (1881), Leo Kauffmann (1882), Klara Leiens (1876), Julius Metzger (1875), Sybilla (Billa) Metzger geb. Nathan (1869), Johanna Schohl geb. Bodenheimer (1861), Max Schohl (1884), Manfred Schwarzschild (1915), Rosa Schwarzschild geb. Hirsch (1888), Carola Wolf geb. Schwarzschild (1917). 

Den KZ-Aufenthalt in Theresienstadt überlebten nur Robert Gerson und Paula Gerson geb. Altmaier, die am 10. Juli 1945 nach Flörsheim zurückkamen und 1946 in die USA ausgewanderten. Nach Flörsheim kamen nur Jakob und Bernhard Altmaier zurück. Eine jüdische Gemeinde entstand nach 1945 nicht mehr. 

An Einrichtungen bestanden eine Synagoge, eine Religionsschule sowie ein rituelles Bad (das alte Bad aus dem 17./18. Jahrhundert ist erhalten und restauriert, befindet sich in der Hauptstraße; 1837 wurde ein neues Bad angelegt, Standort unbekannt). Die Toten der jüdischen Gemeinde wurden im 15. Jahrhundert auf einem älteren jüdischen Friedhof am Ort beigesetzt. Im 17. Jahrhundert wurden Beisetzungen zunächst in Mainz vorgenommen. Ein eigener Friedhof bestand in Flörsheim wieder seit 1666. Zur Besorgung der religiösen Aufgaben der Gemeinde war ein Religionslehrer angestellt, der zugleich als Vorbeter und Schächter tätig war. Von diesen Lehrern blieb besondere H. Kahn in Erinnerung, der von 1870 bis 1903 - 33 Jahre lang - in Flörsheim "geistliches Oberhaupt" der Gemeinde war (siehe Nachruf zu seinem Tod unten). Sein Nachfolger wurde Salomon Blumenthal, Lehrer von 1904 bis 1922. Nach 1922 wurde der Religionsunterricht von Lehrer I. Rosenberg aus Bierstadt übernommen. 

 

Mikwe (Hausnummer 55):

Wenn man die Hauptstraße entlang geht, kommt man an der Hausnummer 55 vorbei, einer Hofanlage mit drei Fachwerkwohnhäusern und überdachtem Hoftor. Die beiden Wohngebäude an der Hauptstraße sind giebelständig mit Krüppelwalm, beide mit massiv erneuertem Erdgeschoß auf Bruchsteinsockel und einem Fachwerkobergeschoß. Das schlichte, konstruktive Rähmfachwerk der Nr. 53 gehört in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts, die Rähmkonstruktion der Nr. 55 mit gebogenen Streben und profiliertem Kranzgesims in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts. Das traufständige Haus Brunnengasse 2 mit Satteldach ist ein verputzter Rähmbau mit massivem Erdgeschoß, geringem Geschoßüberstand, 17./18. Jahrhundert.

Die Mikwe stammt in ihrer Anlage aus der Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg, vielleicht aber auch erst aus dem 17./18. Jahrhundert. Sie war bis um 1838 (1837 bis 1839) in Betrieb. Dann wurde sie im Zusammenhang mit den in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert eingeführten Vorschriften der Behörden über die Ritualbad-Anlagen aufgegeben, dann wurde eine neue in der nahen Synagoge erbaut.

Zusammen mit dem 1447 ersterwähnten jüdischen Friedhof und der 1718 erbauten Synagoge ist die Mikwe Zeugnis für aktives jüdisches Leben in Flörsheim, das über Jahrhunderte dauerte, bis es in der Zeit des Nationalsozialismus zerstört wurde.

Die Anlage wurde 1983 anläßlich von Renovierungs- und Aufräumungsarbeiten wieder entdeckt und bis 1988 auf Grund einer privaten Initiative der Familie Reinelt restauriert. Zu dem 4,80 Meter tief liegenden Tauchbecken führt eine geradlinige steile Steintreppe mit 16 Stufen. Der Treppenhals hat mit schmiedeeisernen Ösen sowohl am Tonnengewölbe als auch an einem Fasen-Rücksprung des Gewölbeansatzes.

Mikwot waren in der Regel für Nichtjuden „verborgen“, obwohl sie auch in Synagogen „eingebaut" waren, wie z.B. in Hochheim, Höchst und Niederhofheim. Diese Nichtzugänglichkeit verlieh ihnen etwas Geheimnisumwittertes, Magisches, Okkultes, da Christen im Gegensatz zu Muslimen religiöshygienische Vorschriften gänzlich unbekannt sind. Ein weiterer Unterschied: Friedhöfe sind per se dauernd „heilig“, Synagogen zeitweilig, Mikwot aber in keinster Weise, obwohl für sie Jahrtausende früher zahlreichere und strengere religiöse Bauvorschriften galten als für Synagogen.

Die Mikwe hatte im Deutsch von Nichtjuden verschiedenste Namen: „Judenbrunnen“, im Mittelalter, später „Judenbäder“, amtlich „Ritualbäder“, in der jüngeren Heimatgeschichte oft „jüdische Frauenbäder“. Jedoch führt das Stichwort „Bad“ ebenso zu Mißverständnissen wie „Brunnen“: eine Mikwe konnte erst nach erfolgter körperlicher Reinigung, d.h. nach dem „Baden“ benutzt werden.

Die religiös-hygienischen Vorschriften der Bibel sehen Untertauchen z. B. für Menschen mit Hautkrankheiten wie von „unreinen“ Stoffen, Fellen und Geräten in Flüssen ausdrücklich vor, in der Praxis mit der Erzählung vom Syrer Naeman beschrieben. Noch im 19. Jahrhundert benutzten Jüdinnen im Main-Taunus-Kreis im Sommer den nahen Main zur rituellen Reinigung. Biblisch geboten war dieses „Untertauchen“ auch nach jedem Geschlechtsverkehr, Pollution, Menstruation und Geburt, dem Verzehr verbotener Speisen, der Berührung von Aas wie Toten und vor der Teilnahme an Gotteskriegen.

Bautechnisch mußte eine Mikwe nur groß genug sein, um einen einzigen Menschen voll untertauchen zu lassen. Die Gelehrten der Mischna haben deshalb das Mindestfassungsvermögen mit 40 Sea, d.h. 800 Liter, festgelegt, und aus der menschlichen Größe eine Wassersäule von mindestens 3 Kubikellen, die architektonisch einem Grundmaß von l Quadratelle x 3 Ellen Höhe entspricht. Die mittelalterliche Flörsheimer Mikwe faßt mit den Maßen 11/B x 119/L x 85/H in jedem Fall das vor 2000 Jahren bereits feststehende Mindestvolumen von 800 Liter

Von größter Bedeutung war die Wasserbeschaffenheit einer Mikwe, wenn trotz des Vorbildes der Ozeane und in Kenntnis der Anlässe Flußwasser genügen konnte. Die Bibel ordnet die Verwendung „lebenden Wassers" an. Die rabbinischen Fachleute vor 2000 Jahren entwickelten daraus einen Kriterienkatalog von Wassertypen, der moderne Umweltschützer erstaunen kann: „Lebendig“ war zunächst nur frisches Meer-, Quell- oder Brunnenwasser. Weniger „lebendig“ galt Flußwasser, da Untertauchen zur Regenzeit und Schneeschmelze verboten, d.h. zeitlich eingeschränkt war. Regenwasser nahm den untersten Rang lebendigen Wassers ein: es mußte deshalb erst in einem zweiten Becken aufgefangen und nach einem vorgegebenen Zeitraum des Absetzens vor der Einleitung in die Mikwe auf Verunreinigung optisch geprüft werden, nur auf bestimmte Weise und in bestimmter Menge zuleitbar. Als „totes“ und damit völlig ungeeignetes Wasser galten Stehgewässer von Tümpeln, Seen ohne Quelle, Zu- und Abfluß, da kein Wasseraustausch binnen 24 Stunden stattfand. Eine dritte und Zwischenkategorie nahm „künstliches“, d.h. von Menschenhand „geschöpftes“ Wasser ein: Es konnte zwar von „lebendigem“ Wasser stammen, hatte aber mit dem menschlichen Eingriff nach rabbinischer Ansicht eine qualitative Veränderung erfahren.

Mikwot existierten also seit rund 2300 Jahren, als in Deutschland die erste, heute noch erhaltene erbaut wurde: Worms 1034 nCh, etwa 1120 folgte die Speyrer, die Kölner etwa 1170 und die Friedberger 1260. Aber auch ohne archäologische oder schriftliche Belege gilt der Grundsatz: Keine jüdische Gemeinde ohne Mikwe. Sie dient z. B. auch zum Untertauchen von Schächtgeräten und Schächter wie für die Mitglieder der Beerdigungsbruderschaft/Chevra Kadischa: ihr „Sitz im Leben“. Die Existenz solcher Bruderschaften, wie koscherer Metzgereien, ist ein sicheres Indiz für das Bestehen von Mikwot.

 

Die Mini-Gemeinden auf dem Land blieben auf dem niedrigst-möglichen Niveau stehen. Dem Abhilfe zu schaffen, hatten die hessischen Kleinstaaten in aufklärerischer Gesinnung 1837 begonnen, jüdische Religionslehrer und Bezirksrabbiner anzustellen und mit deren Hilfe das jüdische Gemeindeleben zu ordnen. Im selben Geist hatte sich innerjüdisch seit 1800 die Reformbewegung gebildet, die in Hessen besonders auf dem Lande auf den erbitterten Widerstand der orthodox Gläubigen traf. Die Auseinandersetzung entzündete sich an den Mikwot.

Einer der führenden theologischen Köpfe der Reformbewegung war Rabbiner Dr. Abraham Geiger aus Frankfurt am Main (1810-1874), den die Wiesbadener Gemeinde 1832 angestellt hatte. Die Reduktion auf „Frauenbäder“ und die Forderung einer dauernden Beheizbarkeit fordern den Konflikt zwischen Reform und Tradition heraus. Alarmiert, ergeht durch die Herzoglich-Nassauische Landesregierung nur 5 Tage später, am 6.3.1837, ein Circular an alle Amtsbezirke, mit dem diese um ausführlichen Bericht über alle „jüdischen Frauenbäder, deren Einrichtung und Mängel“ gebeten werden. Ein fundamentales Mißverständnis bestimmt jedoch die Antworten: Zu prüfen sind Mikwot - allen jüdischen Definitionen widersprechend - als „Badeanstalten“. Aus den eintreffenden Antworten der Medizinalräte erfahren wir immerhin erstmalig, wo und wie viele Mikwot es im Main-Taunus-Kreis zu jener Zeit gab:

 

In Flörsheim ist schon 1839 die Mikwe geschlossen und eine neue in der nahen Synagoge erbaut. Da sich gleichzeitig in all diesen Gemeinden mehr und mehr die Reformbewegung theologisch durchsetzte, nahm die Beachtung der rituell-orthodoxen Reinigungsregeln mit jedem Jahr ab. Von besonderer Bedeutung blieben sie nur, wo „koscheres“ Fleisch geschlachtet wurde. Wenn es also noch 1870 Privatmikwot gab, dann fast ausschließlich in Wohnhäusern von Schächtern. Ansonsten waren sie wie in Höchst, Wallau, Niederhofheim, Bad Soden, Hochheim und Flörsheim in Synagogen-Neu- oder -Umbauten integriert worden, obwohl die Zahl orthodoxer Gemeindemitglieder andauernd abnahm. Diese Entwicklung läßt sich an der Meldung orthodoxer Familien durch die Bezirksrabbiner zur Zuteilung koscherer Fette während der Lebensmittelrationierung seit 1916 im 1. Weltkrieg beispielhaft ablesen.

Deutlicher läßt sich auch im Main-Taunus-Kreis der Rückzug traditionell gelebten Judentums wie die Bereitschaft zur Assimilation unter „deutschen“ Juden nicht demonstrieren. Mit der sichtbaren Zerstörung aller Synagogen wie Gemeinden im Kreisgebiet bei der Reichspogromnacht 1938 gingen auch alle Mikwot als Zentren jüdischen Glaubenslebens verloren und mit der Vertreibung und Ermordung der jüdischen Bürger auch das Wissen von diesen Stätten spiritueller Reinigung mit ungebrochener, jahrtausendealter Tradition. Wer will, kann diese dennoch kennenlernen, zumindest optisch. Er muß nur einmal bei der Familie Reinelt in Flörsheim anrufen, die die in ihrem Keller wiederentdeckte alte Privatmikwe gerne zeigt. Sie überlebte - zugeschüttet und vergessen wie die Königsteiner - die Nazizeit, weil sie seit Jahrzehnten nicht mehr in Benutzung gewesen war (Aus: Zwischen Main und Taunus / Jahrbuch 1995).

 

Jüdischer Friedhof:

Den neuen jüdischen Friedhof gibt es seit dem Jahr 1666. Man findet ihn, wenn man auf der Straße nach Hochheim fährt und im Stadtteil Keramag gegenüber der Falkenbergstraße nach Norden fährt (zweiter Weg nach dem Schild „Chamäleon“). Er ist der vermutlich älteste jüdische Friedhof am Untermain, erstmals urkundlich erwähnt 1448. Er wurde 1938 geschändet Nach der Wiedererrichtung wurde der Friedhof 1947 neu eingeweiht. Ein gleichzeitig eingeweihtes Denkmal erinnert an die ehemalige jüdische Gemeinde. Nach seinem Tod 1963 wurde hier der Bundestagsabgeordnete und Flörsheimer Ehrenbürger Jakob Altmeier beigesetzt.

 

 

Frankfurt

Aus der Geschichte der Frankfurter Juden

Um 1150  Erste urkundliche Erwähnung von Juden in Frankfurt, damals südlich des Doms

  1. Erstes Pogrom, „Judenschlacht“.
  1. Zweites Pogrom
  1. Die Juden werden im Ghetto, einer 330 Meter langen Straße an der alten staufischen Stadtmauer zu wohnen.
  1. Fettmilchaufstand‑, Pogrom mit Plünderungen in der Judengasse im Zusammenhang mit Handwerkeraufständen gegen den Rat der Stadt, zweijährige Vertreibung der Juden
  1. Zerstörung des nördlichen Teils der Judengasse während des französischen Angriffs auf Frankfurt
  1. Gründung einer jüdischen allgemeinbildenden Schule („Philanthropin“)
  1. Orthodox eingestellte Juden gründen die spätere Israelitische Religionsgesellschaft.
  1. Einweihung des Neubaus der Hauptsynagoge in der Judenpasse (später: Börnestraße)

1864  Gesetz über die rechtliche Gleichstellung der Juden

  1. Israelitische Religionsgesellschaft konstituiert sich als eigenständige Gemeinde (Austrittsgemeinde)
  1. Einweihung der Synagoge am Börneplatz
  1. Einweihung der Synagoge in der Friedberger Anlage
  1. Einweihung der Westendsynagoge

Frankfurt ist mit 30.000 Juden die zweitgrößte jüdische Gemeinde in

Deutschland

 

13. März 1933            Erste Boykottaktionen gegen Jüdische Geschäfte

28. März 1933            Erste Entlassungen von Juden aus dem öffentlichen Dienst

April 1933                   Allgemeiner Boykott Jüdischer Geschäfte

15. September 1935   „Nürnberger Gesetze“, Entzug der staatsbürgerlichen Rechte, Verbot der Eheschließung zwischen Juden und „Ariern“

26. April 1938             Gesetz zur Erfassung des jüdischen Besitzes mit dem Ziel der Enteignung („Arisierung“)

9./10. November 1938 Von den Nationalsozialisten organisierte Pogrome. Zerstörung der Synagogen durch Brand, Plünderung von Einrichtungen, Läden, Arztpraxen, Wohnungen: mehr als 2500 Frankfurter Männer zwischen 15 und 65 Jahren wurden in die Konzentrationslager Buchenwald, Sachsenhausen und Dachau verschleppt.

1. September 1941     Juden müssen den Gelben Stern tragen.

19. Oktober 1941       Erste Deportation von jüdischen Frankfurtern in ein Ghetto im Osten. Beginn der systematischen Ermordung der Juden in Vernich­tungslagern. Deportationen aus Frankfurt vorwiegend in die Ghettos Riga, Lodz, Theresienstadt, Minsk und in das Konzentrations‑ und Vernichtungslager Auschwitz. Mehr als 11.000 Frankfurter Juden wurden ermordet.

1945 Einrichtung eines Lagers für „Displaced Persons“, meist osteuropäische Juden, an der Pfaffenwiese in Zeilsheim

  1. Erste Satzung der Jüdischen Gemeinde
  2. Wiederaufbau der Westendsynagoge
  1. Eröffnung des jüdischen Gemeindezentrums
  1. Heute zählt die jüdische Gemeinde rund 7.000 Mitglieder

 

Verschleppung:

Der Anfang vom Ende: Jüdisches Leben in Frankfurt. Fröhliche Mädchen aus einem jüdischen Waisenhaus - aufgenommen im Jahre 1937 - lächeln dem Betrachter entgegen. Nur zwei Jahre später, nach der „Reichskristallnacht”, konnten sechs von ihnen mit einem Kindertransport nach Holland entkommen. Doch drei von ihnen werden 1943 deportiert und ermordet.

Im Jahre 1996 hat das Fritz-Bauer-Institut in Frankfurt eine Tagung veranstaltet, deren Ergebnis jetzt in fünfzehn Aufsätzen vorliegt. Monica Kingreen, in Nidderau zu Hause und als Fachfrau weithin zur jüdischen Geschichte bekannt, zeichnet als Herausgeberin des Buches, das sich mit dem jüdischen Leben in Frankfurt von 1938 bis 1945 beschäftigt. Ein 16. Beitrag hat ein „anderes” Thema zum Inhalt: Die Gedenkstätte am Börneplatz und die Datenbank im jüdischen Museum.

Monica Kingreen selbst ist mit drei Aufsätzen vertreten. Einmal beschreibt sie die Zuflucht der hessischen Landjuden - eine erzwungene Binnenwanderung - in Frankfurt, die glaubten, in der anonymen Großstadt untertauchen zu können. Bereits 1994 hatte Monica Kingreen ihr umfangreiches Standardwerk über die Landjuden in Nidderau herausgebracht. Die zweite Arbeit beschäftigt sich mit der Deportation zwischen 1941 und 1945 und die dritte mit den im November 1938 deportierten Männern von Frankfurt ins das KZ Dachau. Bislang war hier nur bekannt, dass eine kleine Zahl jüdischer Männer nach Dachau transportiert worden war. Im Sommer 1998 wurde jedoch der Gedenkstätte die Existenz des in Washington aufbewahrten Originals des Häftlingeingangsbuches bekannt. Dies vermerkt akribisch Häftlingsnummer, Zugangsdatum, Name, Vorname, Haftgrund, Geburtsdatum, Geburtsort, Familienstand, Anzahl der Kinder, Bekenntnis, Staatsangehörigkeit und Adresse.

534 Männer der 10.911 in den Novembertagen 1938 nach Dachau verschleppten Männer waren „Aktionsjuden” aus Frankfurt. Ihre Namen sind in dem Buch als Quelle für weitere Forschungen zusammengestellt. Mit dem Geburtsort Hanau sind vermerkt: Max Weiler, Max Maier, Willi Lorsch, Adolf Fleischmann, Max Eichel und Alexander Fleischmann am 14. November 1938 sowie Ferdinand Bing am 16. November 1938.

Aus Großkrotzenburg stammte Mayer Gotthelf, aus Langendiebach Hermann Kaufmann, aus Langenselbold Sally Moritz und aus Steinheim Willi Meyersohn. Die einzelnen Aufsätze behandeln spezielle Aspekte der Zeit, beleuchten die Rolle der Gestapo und der städtischen Behörden. Um drei weitere Beispiele zu nennen: Helga Krohn hat sich mit Hilfsaktionen zur Rettung jüdischer Kinder zwischen 1938 und 1940 befasst, Hanna Becker mit Martha Wertheimer und ihr Wirken nach der „Kristallnacht” und Marlies Flesch-Thebesius mit der Situation der „Mischlinge” am Beispiel der eigenen Familie.

Am Anfang vom Ende, der „Reichskristallnacht”, lebten in Frankfurt noch viele jener 26 000 Juden, die bereits 1933 gezählt worden waren. 1941 waren es 10 000, ein Jahr später nur noch etwa 1000.

Monica Kingreen (Hg.): „Nach der Kristallnacht”. Jüdisches Leben und antijüdische Politik in Frankfurt am Main 1938-1945. Campus Verlag, Frankfurt 1999. ISBN 3-593-36310-0. 48 Mark.

 

Legende zur Karte über die Juden im Ostend

 

1          Rückertstraße 49

Jüdisches Lehrlingsheim gegründet 1877 für orthodoxe Jugendliche, die aus ländlichen Bereichen Hessens und Bayerns zur Ausbildung nach, Frankfurt kamen‑ Später war dort ein Mädchenstift für in Frankfurt oder Umgebung Berufstätige. Heute: Neubau, Wohnhaus.

 

2          Rückertstraße 53

Israelitisches Lehrerinnenheim 1903 als Stiftung gegründet, um israelitischen Lehrerinnen, Erzieherinnen, Kindergärtnerinnen, sonstigen Beamtinnen sowie anderen weiblichen Angestellten höhere Bildung bei Arbeitsunfähigkeit Aufenthalt zu gewähren. Bis 1918 war es Frauen nicht erlaubt, nach der Heirat weiter zu arbeiten. Die meisten waren deshalb unverheiratet und hatten häufig keine Familienangehörigen, die sie aufnehmen konnten.

 

3          Ostendstraße 30

Um 1900 Buch‑ und Steindruckerei, um 1920 Schlosserei, um 1930 Schuhmacher. Heute: Freier Platz mit Baum

 

4          Uhlandstraße 23

Um 1930 Israelitischer Bürgerkindergarten. Heute: Neubau, Gaststätte

 

5          Ostendstraße 22

Um 1900 Mehl‑ und Landprodukte (2. Stock), um 1930 Schirm‑, Kamm- und Gummiwaren, (2. Stock). Heute: Neubau.

 

6          Ostendstraße 18

Um 1930 Friseuse; „Klaus‑Synagoge“, Stiftung, Tora-Lehranstalt der Ostjuden. Sitz verschiedener religiöser Vereine. Am 10.11.1938 Feuer gelegt und das Haus teilweise zerstört. Von hier aus fanden Deportationen statt. Heute: Neubau, Wohnhaus.

 

7          Ostendstraße 15

Um 1930 Reform‑ und Diäthaus, Private Betstube. Heute: Garagen

 

8          Ostendstraße 1

Um 1920 Milchhandlung. Heute: Neubau, Kiosk,

 

9          Obermainanlage 8

Ostjüdischer Betsaal. Am 10. 11. 1938 demoliert. Heute: Parkplatz und Spielplatz

 

10        Fischerfeldstraße 13

Anlernwerkstatt und Wohnheim für Jugendliche. Gegründet nach 1933. Ausbildungsmöglichkeiten für Juden hatten sich rapide verschlechtert. Der Zugang zu öffentlichen Institutionen war ihnen verwehrt. In Zusammenarbeit mit der Reichsvereinigung der Juden richtet die jüdische Wohlfahrtspflege diese sogenannte „Anlernwerkstatt“ in einer ehemaligen Fabrik ein. Hier wurde eine Grundlehre in Metall- und Holzverarbeitung angeboten. Die Werkstatt stand unter der Auf­sicht der Gestapo und wurde von einem Nichtjuden geleitet. 1942 mußte sie aufgelöst werden. Heute: Neubau, Teil des Arbeitsamtes

 

11        Schützenstraße 12

Synagoge der Israelitischen Religionsgemeinschaft. Finanziert von Baron Wilhelm von Rothschild.       1853 eingeweiht mit Mikwe und Schulgebäude. Sie hatte 500 Sitzplätze, in den 20er Jahren wurde diese Zahl verdoppelt. Nach dem Neubau in der Friedberger Anlage nicht mehr genutzt. 1921 verkauft. Das Haus wurde in den 50er Jahren abgerissen. Im erhaltenen Hinterhaus ‑früher Gemeindehaus und Mazzenbäckerei. Heute: „Freies Theaterhaus“.

 

12        Schützenstraße 14

Realschule der Israelitischen Religionsgemeinschaft von 1853 bis 1903. Heute: Neubau, Wohnhaus

 

13        Rechneigrabenstraße 12

Betsaal „Kol Jaakov“. Treffpunkt der Chassidim. Diente der polnischen Juden als Lehrhaus und Synagoge. Am 10. 11. 1938 demoliert. Heute: Evangelisches Hospital für palliative Medizin

 

14        Rechneigrabenstraße 14

Philanthropien, 1804 gegründete Schule der Israelitischen Gemeinde.

Nach 1908 städtische Anna‑Schule. Heute: Parkplatz, Mauerreste

 

15        Rechneigrabenstraße 18‑20

Synagoge „Kippestub“ und Krankenhaus der Israelitischen Männer‑ und Frauenkrankenkasse. Es wurde 1796 neben dem Friedhof Battonstraße gegründet. 1938 verhinderte eine couragierte Krankenschwester das Eindringen des Mobs. Zwangsverkauf Von hier aus fanden Deportationen statt. Heute: Neubau, Altenwohnanlage.

 

Weg durch das ehemals jüdische Ostend

Der Weg von der Großmarkthalle zum Börneplatz führ, durch ein Viertel, das seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einen hohen jüdischen Bevölkerungsanteil hatte. Die strenggläubige Religionsausübung und zahlreiche religiöse und soziale Einrichtungen prägten das Leben. Nach 1933 wurden die Juden zur Auswanderung gezwungen oder in Konzentrations‑ und Vernichtungslagern ermordet. Bomben zerstörten 1944 dieses Wohngebiet.

 

Großmarkthalle

Die Großmarkhalle war die zentrale Sammelstelle für die Deportationen der jüdischen Bevölkerung in die Ghettos, Konzentrations‑ und Vernichtungslager. Zwischen dem 15. Oktober 1941 und dem 14. Februar 1945 wurden von hier in achtzehn Transporten jüdische Kinder, Frauen und Männer nach Lodz, Theresienstadt, Riga, Minsk, Majdanek und Auschwitz deportiert. Aus Frankfurt und Umgebung waren es mehr als 11.000 Jüdinnen und Juden. Der letzte Transport ins KZ‑Theresienstadt fand am 14. Februar 1945 statt.

Kulturdezernentin Linda Reisch sprach von einem „Ort des schlechten Gewissens, der - verdrängten Erinnerungen, einer Wunde in unserer Stadt”: An der Großmarkthalle, wo zwischen 1941 und 1945 Frankfurter Juden zur Deportation gesammelt und in die Gettos im Osten deportiert wurden, ließ der Magistrat am Dienstag eine Gedenktafel enthüllen.

Die Großmarkthalle war Hauptsammelpunkt für all jene, denen Stunden zuvor eine „Staatspolizeiliche Verfügung” verlesen worden war: „Es wird Ihnen hiermit eröffnet, daß Sie innerhalb von zwei Stunden Ihre Wohnung zu verlassen haben.” Man hatte die Menschen ersucht, „die Schlüssel an sämtlichen Behältnissen, Schränken, usw., stecken zu lassen, ebenso die inneren Wohnungsschlüssel”. Man hatte ihnen bedeutet, daß sie all ihren Besitz zurücklassen müßten bis auf ein Stück Handgepäck. Und: „Der Ehering sowie eine einfache Uhr dürfen mitgenommen werden.”

„Nach bestimmten Bestandsaufnahmen in den Wohnungen”, heißt es in einer Aktennotiz des SA-Standortführers vom 16. Oktober 1941, „werden die Juden zum Sammelplatz, Keller Markthalle, transportiert.” Jeder mußte seinen Namen und Adresse auf ein Schild schreiben, das er um den Hals trug. Dann ging es zu Fuß durch die Stadt - etwa von der Sammelstelle Palmengarten aus über die Zeil. „Die Abführung”, so erinnerte sich die Frankfurterin Lina Katz, die selber zu den Deportierten gehörte, „erfolgte am hellen Tage.”

In der Großmarkthalle dann mußten „die Juden noch eine Anzahl Stationen zur besonderen Kontrolle durchlaufen”, wie es dem Bericht eines Sturmbannführers von 1941 zu entnehmen ist. Dort konnte, wie Linda Reisch es in ihrer Rede schilderte, die Registrierung, die Kontrolle, „ungestört vor sich gehen”. Nach den Worten der Überlebenden Lina Katz, „soll es dort in der Nacht schrecklich zugegangen sein, mit Mißhandlungen, usw.”.

18mal, so wird es auf der Gedenktafel aufgezählt, gingen die Güterzüge zu den Orten der Vernichtung von Frankfurt ab, nachdem die insgesamt 9.400 Menschen teilweise schon an der Markthalle verladen worden waren: Der erste Transport, am 19. Oktober 1941, ging nach Lodz (Litzmannstadt), der letzte am 14. Februar 1945 nach Theresienstadt.

Linda Reisch versuchte, die Ausgrenzung nachzuvollziehen, die vorher stattfand: Vom „J” auf der Lebensmittelkarte und dem Tragen des Judensterns - bis zum Verbot, Bahn und Bus zu benutzen, Bücher zu kaufen und auf dem Bürgersteig zu gehen. So sei es gekommen, daß „zwischen den deutschen Juden und den nichtjüdischen Deutschen” zum Beginn der Deportationen „kaum noch Kontakte bestanden: Schritt für Schritt waren sie zu Parias degradiert worden”. 

 

Wohnen und Arbeiten

Fast die Hälfte der Bewohner des Ostends und der östlichen Innenstadt waren Juden. Etwa die Hälfte kam aus alteingessenen Familien, die anderen wanderten vor allem aus Hessen, der Pfalz und Bayern zu. Seit Ende des 19. Jahrhunderts kamen Juden aus Rußland, Polen und Litauen. Die sozial gemischte jüdische Bevölkerung lebte vor allem zwischen Friedberger Anlage und Tiergarten, Sandweg und Hanauer Landstraße. Jüdisch‑orthodoxe Familien fühlten sich stark an dieses Viertel mit jüdischer Nachbarschaft, den Einkaufsmöglich­keiten in koscheren Geschäften und der Nähe zu Synagogen, Schulen und Krankenhaus gebunden.

Zwischen Ostend­straße und Hanauer Landstraße war der Anteil an überwie­gend jüdischen Haushalten besonders hoch, in der Rückert- ­und Uhlandstraße etwa 80 Prozent. Großräumige Wohnun­gen in der Rückert‑, Uhland‑, Hölderlin‑, Theobald‑ und Ostendstraße mit 6 ‑ 8 Zimmern ermöglichten einen gutbür­gerlichen Lebensstil. In anderen Straßen überwogen Drei­Zimmer‑Wohnungen mit sechs bis acht Personen. In vielen Häusern gab es neben Wohnungen auch Geschäftsräume für Kleinhandel und Produktionsbetriebe. Die Geschäfte für den täglichen Bedarf, koschere Metzgereien, Bäcker und Koloni­alwaren sowie Geschäfte mit Kultgeräten befanden sich insbesondere im Sandweg und in der Hanauer Landstraße.

 

Synagogen und Betstuben

Von der religiösen Einstellung und der Herkunft der Familien hing ab, welche Synagogen am Schabbat und während der Feste besucht wurde. In frage kamen die konservativ aus­gerichtete Synagoge der Israelitischen Gemeinde am Börneplatz, die liberal orientierte Synagoge in der Börnestraße und die orthodoxe Synagoge an der Friedberger Anlage (Foto). Zudem gab es mehrere Betstuben. Sie wurden von Privatpersonen oder Vereinen geführt wie in der Ostendstraße 15 und Obermainanlage 8.

Die Mehrheit der Juden im Ostend ging wohl regelmäßig in die Synagoge Friedberger Anlage. Sie war mit 1.000 Plätzen für Männer und 600 für Frauen die größte. 1907 wurde sie von der orthodoxen Israelitischen Religionsgesellschaft (IRG) erbaut. Die Synagoge wurde 1938 niedergebrannt und 1939 abgerissen. An ihrer Stelle wurde 1943 ein vierstöckiger Luftschutzbunker errichtet. Heute erinnert eine Gedenktafel an die zerstörte Synagoge.

Eine Besonderheit war die Existenz von drei Tora‑Lehranstal­ten. Sie hing mit der starken Orthodoxie in Frankfurt und deren unterschiedlichen Richtungen zusammen. In der Ostendstraße 18 zum Beispiel stand die Lehranstalt der Ostjuden.

 

Schule und Ausbildung

Allen jüdischen Familien lag die Schulausbildung der Kinder am Herzen. Die soziale und religiöse Situation der Eltern bestimmte die Schulart. Orthodoxe Familien, die es sich leisten konnten, Schuldgeld zu bezahlen, wählten für die Mädchen und Jungen die Realschule der IRG, zunächst Schützen­straße, später Am Tiergarten.

Arme Familien und Migrantenfamilien aus Polen und Rußland, die wenig Deutsch konnten, schickten die Kinder auf die Israelitische Volksschule im Röderbergweg.

Religiös liberale Juden wählten das Philanthropin. Die von der Israelitischen Gemeinde unterhaltene Schule für Jungen und Mädchen führte von der Vorschule bis zum Abitur und nahm auch Nichtjuden auf. Bis 1908 war sie in der Rech­neigrabenstraße, danach in dem noch erhaltenen Gebäude in der Hebelstraße. Dort wird in Kürze die heutige jüdische Schule einziehen. Andere Familien schickten ihre Kinder von Anfang an in öffentliche Schulen. Ergänzt wurden die Schulen durch Ausbildungseinrichtungen wie die Haushaltungs­schule und den Verein für jüdische Krankenpflegerinnen.

In der Zeit des Nationalsozialismus gewannen die jüdischen Schulen und Ausbildungsstellen an Bedeutung. Auch viele Eltern von außerhalb schickten ihre Kinder alleine nach Frankfurt. Nach 1933 wurde in einer ehemaligen Fabrik in der Fischerfeldstraße die sogenannte Anlernwerkstatt (Foto) eingerichtet.

 

Wohlfahrt und Fürsorge

Krankenhaus, Altersheim, Waisenhaus, Beerdigungsbrüder­schaft und ein enges Netz sozialer Vereine gehören zur Struktur jeder größeren jüdischen Gemeinde. Die Einrichtun­gen in Frankfurt befanden sich zunächst in der Nähe der Börnestraße, der früheren Judengasse. Neubauten wurden in der östlichen Außenstadt errichtet: Das Krankenhaus in der Königswarterstraße, später in der Gagernstraße; Einrichtun­gen für Kinder und pflegebedürftige Personen auf dem Röderbergweg. Durch Spenden und Stiftungen wohlhaben­der Juden waren sie modern und gut ausgestattet. In der Rechneigrabenstraße 18‑20, heute eine Altenwohnanlage, stand das Kranken­haus der Israelitischen Männer‑ und Frauenkrankenkasse (Bild). Es wurde später als Alters‑ und Pflegeheim genutzt. 1938 verhinderte eine couragierte Krankenschwester die Zerstörung und Plünde­rung. Bis Oktober 1942 wurde das Gebäude von der Jüdischen Gemeinde als Altersheim genutzt. Von hier aus fanden Deportationen in Konzentrations‑ und Vernichtungslager statt.

 

Börneplatz

1882 wurde an der Südwestecke des alten jüdischen Friedhofs die Synagoge der konservativen Israelitischen Gemeinde eingeweiht. Am 10. November 1938 brannte sie aus und mußte Anfang 1939 abgerissen werden. Das Grundstück wurde an die Stadt Frankfurt zwangsverkauft.

1946 wurde auf Anordnung der amerikanischen Militärver­waltung ein Gedenkstein „Börneplatz Synagoge“ angebracht, der heute an der Außenmauer des Kundenzentrums der Stadtwerke zu sehen ist.

Die Gedenkstätte Neuer Börneplatz wurde 1996 in Erinne­rung an die Geschich­te der Frankfurter Jüdinnen und Juden und die ungefähr 11.300 deportierten und in Konzentrations­- und Vernichtungsla­gern umgebrachten Frankfurter Jüdinnen und Juden eingeweiht.

 

Die Jüdische Gemeinde Frankfurt, 7. Juni 1942, Formular zur Bekanntmachung des Abtransportes:

Auf behördliche Anordnung setzen wir Sie davon in Kenntnis, daß Sie sich ab Mittwoch, den 10. Juni 1942, vormittags 8 Uhr zur Abwanderung in ihrer Wohnung bereitzuhalten haben, und behändigen Ihnen .. die vor Ihrer Abwanderung auszufüllende Vermögenserklärung. ... Mit der Zustellung ... ist Ihr gesamtes Vermögen als beschlagnahmt anzusehen. ... Insbesondere ist Ihnen strengstens untersagt, irgendwelche in ihrem Besitz befindliche Gegenstände zu verschenken, zu verkaufen oder einem anderen in Verwahrung zu geben. ...

Bei Verstößen ... drohen strenge polizeiliche Maßnahmen. ... An Bargeld darf jede Person nicht mehr als RM 50 ­mitnehmen. Die Mitnahme eines höheren Betrags ist strengstens verboten. ... Die Mitnahme warmer Kleidung und festes Schuhwerk wird dringend empfohlen. An Gepäck können sie mitnehmen: a) einen nicht zu großen und nicht zu schweren Hand­koffer oder Rucksack, ... nur das unbedingt Notwendige. Die Mitnahme von großem Gepäck ist verboten. b) einen Brotbeutel oder eine Handtasche mit Reise­verpflegung für drei Tage sowie Eßgeschirr, Löffel, Trinkbecher, jedoch kein Messer. ... Noch in Ihrem Besitz befindliche Fahrräder, Schreibmaschinen, Fotoapparate und Ferngläser sind bis Dienstagmittag ... abzuliefern.“

 

 

Synagogen:

Im Computer entstehen Synagogen Stein für Stein neu

Architektur-Studenten der Technischen Hochschule (TH) Darmstadt haben die drei in der Pogromnacht 1938 zerstörten Frankfurter Synagogen wieder sichtbar gemacht. Die Hauptsynagoge in der ehemaligen Judengasse sowie die Bethäuser an der Friedberger Anlage und am Börneplatz können mit vielen architektonischen Details vom 19. Juni an im Museum Judengasse aus jeder beliebigen Perspektive betrachtet werden - dreidimensional am Computer.

Faszinierend, wie in maurischen Formen das Innere der Hauptsynagoge sichtbar wird. Der Betrachter fühlt sich an die Moschee von Cordoba erinnert: rot-weiße Bogendurchgänge säumen das Hauptschiff des Sakralbaus, verziert sind die Wände mit fein ausgearbeitetem islamischem Dekor. Im Computer blättert man die Ansichten der Synagogen wie in einem Katalog auf. Noch lebendiger wird der Zugang sein, wenn ein aus den Computer-Bildern erstellter Film vorliegt.

Die Leistung der Studenten ist auch für den Laien unverkennbar: Was vorher wegen fehlender Beschreibungen der Vorstellungskraft verschlossen war, ist jetzt auf der Basis weniger Fotos, der Grundrißpläne und nach Gesetzen der Baulogik Bauteil für Bauteil dreidimensional im Rechner rekonstruiert. Allein der Vergleich der innen üppig dekorierten Hauptsynagoge mit der eher nüchtern gehaltenen Synagoge am Börneplatz zeigt dem Betrachter im Computer-Album die Bandbreite jüdischer Baukunst.

Das Erscheinungsbild im Computer könne wegen der spärlichen Unterlagen jedoch nur eine Annäherung sein, sagt der Initiator des Projekts, Marc Grellert. So hätten über die Farbgebung überhaupt keine Unterlagen zur Verfügung gestanden. Dennoch ist es den Studenten gelungen, die architektonische Schönheit der Sakralbauten in über 100 digitalen Einzelbildern zu dokumentieren.

Seine Motivation sei ein Verantwortungsgefühl gegenüber der deutschen Geschichte gewesen, sagt Grellert, der die Visualisierung zusammen mit seinen Kommilitonen Daniela Borowicz, Joachim Merk, Patricia Sauerwein, Peter Gallenz, Nadine Paraton, Alexandra Michels und Ralf Cisarz im CAD-Seminar (Computer Aided Design) des Bensheimer Architekten und Professors, Manfred Koob, realisiert hat. Dabei habe er nicht nur Interesse für die jüdische Kultur und Lebensweise wecken, sondern auch „mahnen und erinnern” wollen.

Salomon Korn, Architekt und Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde: „Ich bin sehr dankbar dafür.” Die Visualisierung der Synagogen bedeute für viele Mitglieder der Jüdischen Gemeinde, von denen viele aus dem Osten stammen, ein Stückchen Identitätsfindung. „Die im Computer wieder sichtbar gewordenen Synagogen machen für sie die Frankfurter jüdische Geschichte, die ja nicht ihre ist, sinnlich erfahrbar.” Der Blick müsse jedoch distanziert-kritisch bleiben: „Denn der Bruch durch das Nazi-Regime war ja da, und der soll auch im Bewußtsein bleiben.”

Die Computer-Bilder machten deutlich, wie stark die Juden vor dem Krieg über ihre Architektur auch mit Deutschland verbunden waren: Daß sie ihre Synagogen architektonisch „fast zur Kirche gemacht haben, läßt den Integrationswillen der Frankfurter Juden deutlich erkennen. Das ist ja ein fast unterwürfiges Sich-Identifizieren mit dem Volk, mit dem man lebt. Das wurde von den Deutschen überhaupt nicht honoriert.”

Die 1860 errichtete Hauptsynagoge der liberalen Juden sei architektonisch ein Kompromiß. „Sie ist innen eher islamisch gestaltet und außen eine Mischung zwischen europäischem und islamischem Stil. Das zeigt die zwiespältige Situation der Juden zwischen morgenländischer Herkunft und abendländischer Existenz.” Ein rein orientalisches Erscheinungsbild der Synagoge hätte eine optische Ausgrenzung aus dem deutschen Vaterland nahegelegt, eine Synagoge rein im europäischen Stil hätte „Gesichtslosigkeit” bedeutet.

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts sind die Frankfurter Juden laut Salomon Korn dazu übergegangen, die Sakralbauten „Tempel” zu nennen. „Das ist deshalb interessant, weil es bedeutet, daß Deutschland als Ende einer langen Reise durch die Diaspora empfunden wurde. Deutschland war für sie das neue Gelobte Land, nicht mehr Palästina.”

Mit ihrer im Renaissance-Stil gestalteten Synagoge am Börneplatz (1882) habe die Hauptgemeinde versucht, sich architektonisch sowohl von den Liberalen als auch von den kaisertreuen Neo-Ortho­do­xen abzugrenzen.

Zur Börneplatz-Synagoge sagt Korn: „Das ist im Grunde keine sakrale Architektur, sondern ein Repräsentativ-Stil für öffentliche Gebäude, Banken und Villen, zur Demonstration staatlicher Macht.“

Die Synagoge der Neo-Orthodoxen an der Friedberger Anlage, am Platz des heutigen Bunkers, ist in Korns Augen „stilistisch merkwürdig”. „Die starken Jugendstil-Elemente außen wirken einerseits sehr kirchlich, aber der Giebel und die gedrungenen Türme sind wiederum untypisch für eine Kirche.” Innen habe die Israelitische Religionsgesellschaft versucht. sich mit „neuer Ornamentik” von Kirchenbauten abzusetzen. Die von den Rothschilds finanziell stark unterstützte Religionsgesellschaft, laut Korn betont regierungstreu, habe eine visuelle Einbindung in die Frankfurter Architektur versucht „Sie wollten auf keinen Fall ein orientalisches Gotteshaus, sondern deutlich deutsch sein.”

Die größte Leistung der Computerbilde: sei, daß sie das Raumerlebnis der drei zerstörten Synagogen wiedergeben, urteil Korn. „Der Farbeindruck, der ja grandios gewesen sein muß”, sei wegen fehlender Unterlagen zwangsläufig „fast geraten”.

Hochschullehrer Koob hofft nun für seine Studenten auf Sponsoren: „Um da Projekt zur Reife zu bringen, wäre e schön, wenn sich Geldgeber für eine intensive Forschungsarbeit, für eine Buch Dokumentation und für je einen Vier Minuten-Film pro Synagoge fänden.”

 

Synagoge in der Friedberger Anlage:

Eingeweiht am 29. August 1907. Gebrand­schatzt am 10. November 1938. Die riesige Synago­ge der Israelitischen Religionsgesell­schaft an der Friedberger Anlage ist in der Erinnerung der älteren jüdischen Frankfur­ter unvergessen. Obwohl, vielleicht auch ge­rade weil unter national­sozialistischer Herr­schaft die Stadt auf ihren Grundmauern 1942 den mächtigen Bunker hoch­mauern ließ, der da heute noch steht.

Seit den 80er Jahren liegt ein Gedenkstein davor im Boden: „Hier stand die Friedber­ger-Anla­ge-Synagoge, welche von Nazi-Ver­brechern am 9. November 1938 zerstört wur­de.” Jedes Jahr aufs Neue verharren an dieser Stelle die im Rahmen eines Besuchspro­gramms angereisten jüdischen Gäste aus al­ler Welt, die damals den Ausgrenzungen und Verfolgungen in der Frankfurter Hei­mat nur knapp entkommen könnten. Jene Synagoge, das größte jüdische Gotteshaus in Frankfurt, hatte in den 21 Jahren ihrer Exis­tenz die Funktion eines Tores zum Ostend als Zentrum der gesetzestreuen Juden. Es sollte nach Meinung seiner Erbauer ein Ge­bäude sein, das in seiner Erscheinung die Zu­gehörigkeit der Juden zur deutschen Nation ausdrückte.

Viermal, so ist es den Geschichtsbüchern zu entnehmen, wuchteten dann in den Ta­gen des Novemberpogroms 1938 die im Rah­men der von oben verordneten „antijüdi­schen Demonstrationen“ entfesselten rassis­tischen Brandstifter unter großem Gejohle der Zuschauer Benzinfässer in das Gotteshaus, „da der gewaltige Bau nicht so leicht in Flammen aufgehen wollte“.

Es war der 10. November, ein Donnerstagmorgen; „mein Vater und ich fuhren mit der Linie 6 nach der Friedberger Anlage, wohin wir normalerweise zu gehen pflegten“, hat der jüdische Frankfurter Herbert N. Kruskal ein Vierteljahrhundert später aus der Erin­nerung aufgeschrieben. „Als wir aus der Tram ausstiegen, am Uhrtürmchen, kam Hugo Bondi, eines der Mitglieder des Synagogencomitees in der Friedberger Anlage, auf uns zu: „Meine Herren, gehen Sie nach Hause, die Synagoge brennt.“

Die Kruskals wohnten im Westend, Reuterweg 82, sie fühlten sich bis zu jenem Tag „relativ sicher“. So gingen die beiden Männer trotz der Warnung weiter „durch die Anlage, bis gegenüber der Synagoge“. Die Türen zu dem geheiligten Haus „waren weit auf und innen brannte es“. Herbert Kruskal tat sich schwer, zu begreifen. »Es drang nicht in mich, daß der große Tag der ‚Kristallnacht` und des Pogroms gekommen war. Ich glaubte, es sei der verbrecherische Anschlag einzelner". Später dann, „als wir nach Hause kamen, in den Reuterweg 82, bekam ich, dem jede äußerliche Gefühlsregung fremd war, einen Weinanfall.“

„Sämtliche Frankfurter Synagogen fielen der allgemeinen und von allen Bevölkerungsschichten getragenen, mitreißenden Demonstration zum Opfer“, berichtet der NS-Gaudienst Hessen-Nassau am Abend. Nichts als Propaganda: Die Feuerwehr hatte zwar „strikten Befehl, allein das Ausbreiten der Synagogenbrände auf die nichtjüdischen Nachbarhäuser zu verhindern“, überliefert Jürgen Steen vom Historischen Museum den Ablaufplan der befohlenen Zerstörungen. Doch die Westend-Synagoge wurde auf Anweisung des offenbar nicht eingeweihten Oberbürgermeisters Krebs, der zufällig vorbeikam, als einzige gelöscht.

„Mit dem Abbruch Friedberger Anlage wurde sofort am 17. November begonnen“, steht in den „Dokumenten zur Geschichte der Frankfurter Juden“. Die Kosten für den Abbruch, mit dem bis zu 70 Arbeiter beschäftigt waren, hatten die Jüdischen Gemeinden zu tragen. 1939 dann handelte die Stadt den Juden die Grundstücke der abgetragenen Synagogen ab und kaufte sie.

Der Luftschutzbunker, der seit 1942 auf dem Grundstück Friedberger Anlage 5/6 die Grundmauern der Synagoge fast vollständig versiegelt, ist in den Augen der Mitglieder der „Initiative 9. November” bis heute „ein Symbol für die Politik der Auslöschung der Juden in Nazideutschland”. Die Gründungsgeschichte der Initiative beginnt 1987 mit dem verlorenen Kampf um die Bewahrung der am Börneplatz damals zu Tage getretenen Reste des Frankfurter Judengettos. „Damit schien die Erinnerung an die Geschichte der Frankfurter Juden verbaut und versiegelt“, steht in einer Broschüre, die der Verein vor zwei Jahren heraus gegeben hat.

Doch obwohl die Bundesregierung in den 80er Jahren den Bunker wieder kriegstauglich machte und ihn zum vermeintlichen Schutz vor ABC-Waffen ausbauen ließ: die Vergangenheit gab keine Ruhe. 1996 haben Stuttgarter Studenten zum ersten Mal vorgezeigt, wie man die kalten, finsteren Räume umgestalten könnte. Seit das Jüdische Museum im Jahr 2000 mit der Ausstellung „Ostend: Blick in ein jüdische Viertel” die Lebenswelt um die Friedberger Anlage sichtbar machte, seit im Kulturdezernent das Projekt „Topographie der NS-Zeit” gefördert wird, ist eine „lokalhistorische Bildungsarbeit” im Bunker auch für die Stadtregierung Programm. Bloß wann, das ist offen.

 

Tag für Tag sind es Tausende von Autofahrern, die mitten in Frankfurt den Anlagenring befahren. Was mag ihnen auffallen, wenn sie unweit des Zoos, kurz vor dem „Uhrtürmchen”, die Friedberger Anlage 5/6 passieren? Was sich an diesem Ort ereignete, bleibt im Verborgenen, ist kaum erfahrbar.

Gänzlich anderes erlebten Passanten, die zu Anfang des letzten Jahrhunderts in großer Zahl am Anlagenring flanierten, in dem einst sehr lebendigen Viertel der Stadt. Bis zu dem Zeitpunkt, als sich auch Frankfurt „rühmen” konnte, nationalsozialistisch und (fast) „judenrein” zu sein, war samstags die Durchfahrt der Friedberger Anlage dort nämlich untersagt, um die Sabbat-Ruhe ein-zuhalten! An der Friedberger Anlage konnte - man ein prächtiges Bauwerk in Augenschein nehmen: die Synagoge der Israelitischen Religionsgesellschaft. Es handelte sich um eine der schönsten deutschen Synagogen, die dort am 29. August 1907 feierlich eingeweiht worden war.

Auf die Zerstörung dieses Gotteshauses in der „Reichskristallnacht” weisen heute nur einige Gedenksteine hin, die unauffällig vor dem monströsen Klotz aus Stahlbeton plaziert wurden, dem hochgerüsteten, gasdichten Zivilschutzbunker, der 1942 anstelle der zerstörten Synagoge von Zwangsarbeitern errichtet wurde, um die Frankfurter Bevölkerung im Ostend vor alliierten Bombenangriffen zu schützen – Juden, „Mischlinge“ und Zwangsarbeiter hatten selbstverständlich keinen Zutritt.

Noch bis vor Monaten war der Betonbau kaum zu erkennen. Bäume und Sträucher verdeckten die Gedenksteine, aber auch das Bauwerk selbst, als solle möglichst Gras über die belastete Geschichte wachsen. Zudem könnte man den Hochbunker aus einiger Entfernung für ein großes Wohnhaus halten; Fensterfaschen und ein kleiner Dachvorsprung erwecken diesen Anschein. Es ist der Initiative 9. November zu verdanken, dass sich dies verändert hat: Erst die Entfernung der Sträucher hat den Blick auf den Bunker freigegeben.

Was diese erste Betrachtung enthüllt, ist folgendes: Inzwischen existieren zwar gewisse Wahrnehmungsreize, sich dem „authentischen Ort“ geschichtlich bedeutsamer Geschehnisse in der Stadt anzunähern, doch ist der Widerstand gegen solche Entdeckungen meist stärker. Analog der psychoanalytischen Erkundung des Verdrängten ist eine Widerstandsanalyse erforderlich, die etwas von dem kenntlich macht, was der Ort bis heute verhüllt. Wie ein riesiger Pfropfen verdeckt der Klotz eine offene Wunde und ist als Erinnerungssperre zu verstehen, die verhindern soll, in die Thematik von Zerstörung und Vernichtung weiter einzudringen.

Doch gerade dies hatte sich 1988, anlässlich des 50. Jahrestages des Novemberpogroms, eine Grup­pe Frankfurter Bürgerinnen und Bürger vorgenommen – die „Initiative 9. November“. Man wollte sich dem Verschweigen und Vergessen-Machen der Geschichte entgegen stellen, war doch trotz heftiger Proteste entschieden worden, die am Börneplatz entdeckten Fundamente der Judengasse mit einem Gebäude der damaligen Gaswerke zu überbauen.

Die Auseinandersetzungen am Börneplatz, die „Fassbinder-Kontroverse”, der Friedensschluss über Gräbern von SS-Angehörigen in Bitburg, des Bundeskanzlers Helmut Kohls Rede von der „Gnade der späten Geburt“... All dies war der Gründung des Vereins vorangegangen. In diesem Kontext wurde als Thema das Problem von Trauer und Gedenken formuliert.

Wie hängen Trauern und Erinnern zusammen? Können Juden und Nichtjuden in diesem Land gemeinsam um die Opfer der Shoah trauern? Sollte man an der Friedberger Anlage ein zentrales Mahnmal für die Frankfurter Opfer des Holocaust errichten? Da es nicht gestattet wurde, im Bunker eine „Gedenkveranstaltung 9. November 1988” durchzuführen, wurden stattdessen vor dem Bunker die von Adolf Diamant recherchierten Namen der aus Frankfurt deportierten Juden vorgetragen. Die wenigen biographischen Daten – Name, Vorname, Geburtsname, Deportationsziel, manchmal ein Todesdatum – zu lesen und zu hören, brachte eine Annäherung an Menschen, an ehemalige Frankfurter Bürger. Die Frage nach ihren Lebensumständen vor und während der Deportation, aber auch nach den Verantwortlichen, den Tätern, die jene Deportationen vorbereitet und durchgeführt hatten, rückte immer mehr ins Blickfeld. Die Nutzung des Bunkers als Zentrum zur Bearbeitung dieser Fragen bot sich ebenso an wie die Idee, an dieser Stelle einen Lern- und Begegnungsort einzurichten.

Die Frage der architektonischen Umgestaltung des Bunkers blieb kontrovers: Es gab diejenigen, die jede bauliche Veränderung ausschlossen und auf der anderen Seite jene, die den Bunker am liebsten gleich gesprengt und damit beseitigt hätten. Es kann jedoch nicht darum gehen, den Bunker wie einst die Synagoge zu beseitigen, als könnte Geschichte einfach ungeschehen gemacht werden. Vielmehr ist ein architektonischer Eingriff notwendig, um Menschen die geschichtliche Bedeutung des Ortes nahe zu bringen.

Dies könnte etwa heißen, Bruchstücke der Synagoge so darzustellen, dass sie auf ihren Schaffens- wie auf den Zerstörungsprozess architektonisch hinweisen. Die Destruktion der Gemeinde, aber auch die nachfolgende Verleugnung der Geschichte in der Zeit nach dem Nationalsozialismus könnten so dem Vergessenmachen entrissen und nicht zuletzt auch sinnlich erfahrbar gemacht werden. Sich auf so einen Prozess einzulassen, bedeutet zwangsläufig, sich der Unbeweglichkeit und Kälte des Betonklotzes wie auch Ressentiments und Widerstandsformationen entgegenzustellen.

Damit wird deutlich, dass Steine und Beton immer nur Anlass sind, um an das lebendige Leben der Menschen zu erinnern. Die Israelitische Religionsgesellschaft war eine Gemeinde deutscher Juden, die sich ausdrücklich als gleichberechtigte Bürger des Landes mit allen staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten verstanden. Zugleich ging es ihnen gerade nicht darum, sich zu assimilieren, sondern sie wollten an den überlieferten jüdischen Traditionen festhalten.

Dieser Verbindung des Religiösen mit dem Bürgerlichen entsprach sowohl die Architektur der Synagoge, als auch die Erziehungskonzeption der angegliederten Schule mit Gymnasium, in der die Schüler „zu Menschen, Juden und Bürgern” erzogen werden sollten – wie auch die Wahl des Wegbereiters der Neo-Orthodoxie, Samson Raphael Hirsch, zum Gemeinderabbiner. Der Rabbiner sollte jüdisches Wissen vermitteln, über ein fundiertes Allgemeinwissen verfügen und in seiner Person Gelehrsamkeit und Bildung mit einem „tadellosen Charakter und einer religiösen Überzeugung verbinden”.

Im Herbst 1996 hat die „Initiative 9. November“ erstmals Zugang zum Bunker erreicht. Stuttgarter Studenten zeigten ihre Modelle möglicher architektonischer Umgestaltungen. In den folgenden Jahren gab es zahlreiche weitere Veranstaltungen und Aktivitäten: Diskussionsrunden anlässlich der Ausstellung über „die Verbrechen der Wehrmacht”, ferner eine Beteiligung an dem Symposium „Auf dem Wege zur Topographie der NS-Zeit in Frankfurt am Main. Orte, Täter, Opfer, Nachwirken”.

Seitdem sind die Mitglieder der Initiative mit mehreren Projekten befasst. Am gestrigen Dienstag wurde auf der Bunkermauer ein Transparent angebracht, das den Innenraum der Synagoge sichtbar macht. Es geht darum, wenigstens anzudeuten, was hier zerstört wurde. Ein Vorraum des Bunkers wird derzeit als Geschichtsbüro Synagoge-Ostend umgestaltet. Nachdem beim Vergleich von Lageplänen deutlich wurde, dass ein Teil der Synagoge nicht vom Bunker überbaut worden ist, gilt es Ausgrabungen der östlichen Synagogen-Fundamente vorzunehmen, um möglicherweise erhalten gebliebene Reste der Synagoge sichtbar zu machen.

Die Ausstellung „Ostend – Blick in ein jüdisches Viertel” des Jüdischen Museums steht im Mittelpunkt eines weiteren Projekts. Solche Präsentationen sollten allerdings einen provisorischen Charakter bewahren, weil alles andere als ein Sich-Abfinden mit dem unangetasteten Bunker miss-verstanden werden könnte. Das vordringliche Ziel architektonisch en Planens bleibt das Aufbrechen des Bunkers. Es reicht nicht, den Bunker lediglich zu öffnen; vielmehr gilt es, das Zerstörte und den Prozess der Zerstörung der Synagoge sinnlich wahrnehmbar zu machen. Zur grundlegenden Umgestaltung des Ortes sollte ein architektonischer und künstlerischer Wettbewerb aus-geschrieben werden, damit aus dem Bunker ein Ort der Erinnerung, des lernenden Begreifens und der lebendigen Begegnung wird.

Gerade von einem Ort wie diesem können Anstöße zu einem kritischen Diskurs ausgehen, weil die Auseinandersetzung mit dem Geschehenen wie mit dem Fortwirken der Geschichte auch Antworten auf heutige Konflikte ermöglicht. Die gerade an die Öffentlichkeit gelangte Rede des – im Bundestags-Innenausschuss bislang für das Thema Zwangsarbeiter-Entschädigung zuständigen – hessischen Bundestagsabgeordneten Hohmann, der sich mit Hilfe antisemitischer Klischees Zuspruch breiter Bevölkerungskreise verschafft, macht deutlich, wie wichtig der Ansatz der Initiative 9. November auch heute ist.

Geschichtsklitterung und das Verkehren von Täter- und Opferschaft sind immer wieder beliebte Mittel zum Aufrechterhalten alter wie zum Schaffen neuer Ressentiments. Menschen sind verführar, und Antisemitismus steckt an. Umso wichtiger ist es, solche Zusammenhänge zu verdeutlichen.

Entgegen jeder Vernunft werden aber gerade in Zeiten ökonomischer Krisen – wenn Menschen ganz besonders anfällig sind für einfache „Erklärungen” und Vorurteile – der Aufklärung verpflichtete soziale, kulturelle und wissenschaftliche Institutionen weniger gefördert, sondern vielmehr selbst bedroht.

Es gibt indessen ein weiteres nicht unwesentliches Moment des Widerstands gegen aufklärendes Engagement, das keineswegs unterschätzt werden darf: die Macht magischen Denkens, tiefe kulturell tradierte Ängste der Menschen, die sich dem Ausgraben verschütteter Geschichte stets widersetzen. Dabei handelt es sich um die Angst vor den Toten, die Angst vor ihrer Wiederkehr, die Angst vor ihrer Rache. Vermutlich war der Literaturhistoriker Hans Mayer mit solchen Phantasien in Berührung gekommen, denn in seinen Erinnerungen an den 30. Januar 1933 hat er geschrieben: „Es gibt eine wundersame Heilkraft der Natur, doch es gibt keine Heilkräfte der Geschichte. Es heißt zwar: "Darüber muß Gras wachsen', allein unter dem Gras liegen nach wie vor die Toten.“

 

Synagoge am Börneplatz:

Die Börneplatz Gedenkstätte mit den Namenstafeln von 11.135 jüdischen Opfern: Ein Platz, der verstummen läßt, begrenzt von einer 300 Meter langen Mauer, die von 11.135 jüdischen Opfern berichtet: Mit der „Gedenkstätte für die von Nationalsozialisten vernichtete dritte jüdische Gemeinde in Frankfurt am Main wird hinter dem Stadtwerke-Gebäude der „Neue Börneplatz” der Öffentlichkeit übergeben

Ein Kubus aus den grauen, rosa und roten Steinen des Judengettos, die abgetragen wurden, nachdem 1987 die Entscheidung für den Bau des Stadtwerke-Zentrums am historischen Börneplatz getroffen war, steht im Mittelpunkt.

Handschriftliche Nummern, die die Archäologen auf die Mauerstücke aufgetragen haben, rufen die Erinnerung an die Auseinandersetzungen zurück, die damals monatelang um diese Zeugnisse jahrhundertelanger Ausgrenzung geführt worden waren: Die Fragmente des im Boden Vorgefundene sollten, durch die Nummern geordnet, als Mahnmal wieder zusammengesetzt werden können. Nachdem nun der Zweckbau auf dem alten Judenmarkt steht, finden sich die Erinnerungsstücke an Leben und Tod der nach Berlin zweit größten jüdischen Gemeinde in Deutschland wie in einem Regal aufgestapelt.

Neben den zur Reminiszenz gewordenen Gettoresten ist die Sprache der 11.135 Edelstahl-Namenblöcke für jeden, der an die Mauer des Alten Jüdischen Friedhofs tritt, unüberhörbar. Was „Johanna Aaron, geb. Honi, 1874—1942, Theresienstadt”, geschah, mit der die Reihe in der Battonn-Straße beginnt, spricht aus Sterbedatum und Sterbeort. Nicht anders bei „Rosa Hessenberger, 1877- unbekannt”, einem Namensblock für eine Frankfurterin, von der noch nicht einmal Todesdatum oder –ort geblieben sind. Nicht anders bei „Selma Zwirn, geb. Itzig, 1859-1942, Freitod“, mit der die Auflistung Richtung Rechneigrabenstraße endet - einer derjenigen Jüdinnen, die sich entschieden, der Deportation durch den Tod von eigener Hand zu entkommen.

Wer den Platz von der Battonnstraße her betritt, bewegt sich der Mauer entlang: Erst auf den spitzen Steinen eines groben Basaltschotters, dann über den durch Gußasphalt kenntlich gemachten Grundriß der zerstörten Börneplatz-Synagoge. Nichts läßt mehr erkennen, daß die Wand den jahrhundertealten Jüdischen Friedhof umschließt; dicker, hellgelber Rauhputz gibt ihr die Wirkung einer Sicherheitssperre. Durch die Bewegung des Gehens scheint es, als ob die tausendfach Benannten in Reih und Glied antreten.

Die Historikerinnen Heike Drummer und Jutta Zwilling, die im Auftrag des Jüdischen Museums ein Dreivierteljahr lang in Gedenkbüchern und Archiven, Deportationslisten, Hausstands- oder Sterbebüchern, Karteien, Urkunden und Akten die Namen der zu Tode gebrachten Frankfurter Juden heraussuchten, sind sich bewußt, daß sie die Nazi-Bürokratisierung der massenhaften Menschenvernichtung nachvollziehen. Sie wissen ebenso, daß nichts das Verhältnis der in alle Winde zerstreuten Hinterbliebenen zur Heimatstadt der Familie so aufgerührt hat, wie das Konzept der Namensmauer - die Absicht, all denen einen Grabstein zu geben,    die kein Grab haben. Einsprüche hat es nicht gegeben - nur immer wieder Briefe mit der Hoffnung: „Sind meine Eltern drauf, ist der Name meines Vaters richtig geschrieben?” (Museumsdirektor Georg Heuberger). So ist der erste Weg all derer, die die Gedenkstätte schon während der besucht haben, der an die Mauer:“ „Herzergreifende Szenen” haben die Historiker gesehen - und gemerkt, daß das Register der Toten nicht vollständig ist. Oskar Alexandrovicz, Bertha Arenstein, geborene Stern - Namen, deren Schicksal bis zum Abschluß der Recherchen nicht geklärt war. Namen, die fehlen und in einem Anhang am Ende der Wand ergänzt werden müssen.

Nicht nur die Historiker sehen darum die Eröffnung der Gedenkstätte „als Zwischenstation in einer permanenten Auseinandersetzung mit der Vergangenheit”. Auch, was Lebensläufe der Ermordeten betrifft, die zunächst nur für die (bislang) 307 Menschen mit dem Anfangsbuchstaben „A“ recherchiert und an einer Datenbank im Jüdischen Museum abrufbar sind.

„A”, wie Else Alken, Bruno Asch, Ludwig Ascher... - mit einem Klick lassen sich Geburtsdaten, Familienstand, Frankfurter Adressen, der Berufsweg auf den Bildschirm rufen. Ebenso allgemeine Informationen - über „Judenhäuser“ etwa, oder die Vernichtungslager.

Kulturdezernentin Linda Reisch sicherte in einer Pressekonferenz am Freitag zu, daß „sowohl die Namensliste als auch die Datenbank weiter ausgebaut werden; die Gedenkstätte ist Aufforderung zur weiteren Nachforschung. Damit werden die beiden Historikerinnen, die noch 1097

 Kartons Devisenakten und 180.000 Entschädigungsakten vor sich haben, weitere

und vier bis fünf Jahre zu tun haben.

Oberbürgermeisterin Petra Roth erinnerte an die vielen Jahre der Auseinandersetzungen, die vorausgegangen sind. Auch für sie gibt es „kein Ende der Debatte: Der Börneplatz bleibt eine schmerzende Wunde”. Das „Mahnmal unvorstellbarer Menschenverachtung” - sei „Zeugnis des Ringens um Anerkennung und Gleichheit” der Judenheit und „Erinnerung an die Systematik der Ermordung von Millionen” in einem.

Die Eröffnung der Gedenkstätte am Sonntag, 16. Juni 1996, 11 Uhr, wird für Petra Roth als „historischer Tag” in Erinnerung bleiben. Als Gäste sind Tel Avivs Oberbürgermeister Ehud Olmert und Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth dabei.

           

Ein Kompromiss feiert sein zehnjähriges Bestehen. Das Museum Judengasse, eingefügt in die Tiefgarage eines Zweckbaus für die Stadtwerke, ist unter großen Schmerzen geboren worden. Die Eröffnung der Dependance des Jüdischen Museums jährte sich am gestrigen 27. November zum zehnten Mal. In dieser Zeit, so die Meinung von Museumsdirektor Georg Heuberger, ist rund um die museal aufbereiteten fünf Keller des historischen Ghettos so viel in Bewegung gekommen, dass man sagen könne: „Es war damals doch die richtige Entscheidung.”

Fünf Jahre dauerte am Börneplatz der Werdensprozess, nachdem 1987, so erinnerte sich Heuberger aus Anlass des Jubiläums, „plötzlich die verlorene und verdrängte Geschichte der Frankfurter Juden aus der Erde erstand”. Eine archäologische Grabung auf dem historischen Judenmarkt hatte in der Baugrube des Stadtwerke-Kundenzentrums die gelbbraun-bröseligen Kellerfundamente des Frankfurter Judenghettos ans Licht gebracht. 18 Gebäudegrundrisse in winzigen Abmessungen, die von Jahrhunderten der Ausgrenzung berichteten und nach mahnender Überlieferung am aufgefundenen Ort schrien.

Und darum, so rekonstruierte gestern Kulturdezernent Hans-Bernhard Nordhoff (SPD) die Reaktionen vieler auf die 1987 offen zu Tage liegende Wunde, „tobte der Kampf“. Demonstranten und Bauplatzbesetzer, Dichter und Denker, stritten gegen „Geschichts-Entsorgung” – und daraus entstand als Kompromiss das „Museum Judengasse“, eben „nicht nur einfach ein Museum”, wie Nordhoff feststellte.

„Die Situation”, blickte Museumsleiter Heuberger zurück, damals ganz neu in Frankfurt, „war auch für mich persönlich eine besondere Herausforderung.” Zumal: „Viele, die sich für die Erhaltung der Ruinen eingesetzt hatten, haben den Beschluss als Niederlage empfunden.” Die Museumsleute aber seien daran gegangen, „das Engagement und das Interesse, das die Ruinen 1987 ausgelöst hatten, in den Alltag der Stadt zu überführen”. Die erste von 36 Ausstellungen zu Stadtgeschichte, Verfolgung, Exil und Alltag stand Jahre lang: „Stationen des Vergessens” spiegelte Hintergrund, Ablauf und Argumente des Börneplatz-Konflikts.

Seitdem bildet das kleine Museum am unwirtlichen Ort der Kurt-Schumacher-Straße unter der Leitung von Fritz Backhaus ein Bollwerk der Erinnerung gegen die zugebaute Geschichte von Judenmarkt und Judenghetto. Rund um den als Raum verschwundenen Platz wurde das Bewusstsein für das Verlorene mehr und mehr erweitert.

Die Stadt hat das Fundament der 1938 zerstörten Börneplatz-Synagoge im Boden hinter dem Haus kenntlich gemacht, hat mit genau 11.34 Namen von ermordeten jüdischen Frankfurtern die Gedenkstätte Börneplatz eingerichtet, für die Dokumentation des angrenzenden, 800 Jahre alten Jüdischen Friedhofs gesorgt. Der Umgang hat Anstoß gegeben, dass das Interesse an jüdisch-deutschem Leben seit dem Mittelalter wuchs. Seit 1987, so heißt es in der Ankündigung zu einem Jubiläums-Kongress am kommenden Wochenende, folgten dem Frankfurter Geschichtsstreit „eine Reihe von vergleichbaren archäologischen Untersuchungen”.

Grabungsfunde aus Wien, Speyer, Worms, Marburg, Trier, Erfurt und Köln hätten „unser Bild jüdischen Lebens erheblich erweitert”. Zur Tagung im Museum Judengasse, Kurt Schumacher Straße 10, findet am Samstag, 30. November, 18 Uhr, ein öffentlicher Vortrag von Michael Toch über „Jüdisches Leben im Mittelalter” statt. Am Sonntag, 1. Dezember, 20 Uhr, spricht dort Annette Weber über „Ritus und Objekt vom Mittelalter bis zur Neuzeit.”

 

Erweitertes Börneplatz-Museum Judengasse soll die Erinnerung an die jüdischen Opfer besser zugänglich machen. „Wir können”, sagte Kulturdezernent Hans-Bernhard Nordhoff, „heute Erfolg vermelden.” In einem Jahr soll am Börneplatz „Schindlers Liste” aushängen und das gewünschte „Oskar- und Emilie Schindler-Zentrum” eingerichtet sein. Die Vermieterin Stadtwerke-Holding, die lange beharrte, sie könne dem Museum Judengasse Räume „nur zu marktüblicher Miete” überlassen, gibt die gewünschten 145 Quadratmeter Fläche als Spende dazu.

Der Fabrikant Oskar Schindler (1908-1974) war nach dem Krieg zum Frankfurter geworden: Der Retter von 1200 Juden, deren Namen er ab 1940 als unverzichtbare Arbeitskräfte auf jene Liste setzen ließ lebte ab 1958 erst in der Arndtstraße 46, dann Am Hauptbahnhof 4.

Für Georg Heuberger, den Direktor des Frankfurter Jüdischen Museums, „straft Schindlers Name alle diejenigen Lügen, die sagen: Man konnte gegen die nationalsozialistische Vernichtungspolitik nichts tun”. Deshalb, so Heuberger am Mittwoch aus Anlass des zehnten Eröffnungstages des Museums Judengasse, soll dieser Name mit dem geplanten Lernzentrum verbunden werden.

Dass die Stadtwerke, in deren Kundenzentrum am Börneplatz nach hartem Kampf ab 1992 ein „Ensemble der Erinnerung” (Nordhoff) entstand, die Erweiterung zum Nulltarif zulassen, hat Dieter Trautwein nach den Worten seiner Frau Ursula vor seinem Tod Anfang November gerade noch erfahren. Der frühere evangelische Propst von Frankfurt war nach ihrem Bericht in den 60er Jahren auf Oskar Schindlers Namen und seine Geschichte in der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel aufmerksam geworden. Später waren sie Freunde. Ursula Trautwein erwähnte zehn Kartons aus dem Nachlass, deren Inhalt sie noch für das geplante Zentrum sichten werde.

Die nötigen Räume, angrenzend an das bestehende Museum Judengasse, würden im Januar 2003 frei, informierte der Kulturdezernent. Das Lernzentrum wird neben der kleinen Gedenkausstellung auch die Datenbank aufnehmen, an der im Jüdischen Museum seit 1995 gearbeitet wird. Bisher enthält diese Dokumentation zum Nutzen von Angehörigen, von Historikern oder von Schulen 12.442 Einträge zu den aus Frankfurt stammenden jüdischen Opfern. Ende 2003 soll es vollendet sein, jenes laut Direktor Heuberger „in Deutschland einzigartige Vorhaben, die Biografien von an-nähernd 12.000 deportierten und ermordeten Menschen zu rekonstruieren”.

In einer dritten Abteilung des Oskar- und Emilie Schindler-Zentrums soll man Interviews von Steven Spielbergs Shoa-Foundation mit Überlebenden abrufen können. Museumsleiter Heuberger hofft darauf, dass auch Videos derjenigen nach Frankfurt kommen, die dank „Schindlers Liste” vor dem Vernichtungslager gerettet wurden.

Die Namensliste der Frankfurter Opfer auf 12.625 erweitert. „Ein Raum”, sagte Museumsdirektor Georg Heuberger, „mit großer symbolischer Bedeutung”. Das Jüdische Museum hat das neue Oskar und Emilie Schindler-Zentrum in seiner Dependance am Börneplatz vorgestellt. Gegen Intoleranz und Vourteile kann man sich da künftig „eine Lerneinheit bestellen”.

Mit diesen Worten hat Kulturdezernent Hans-Bernhard Nordhoff am Freitag den Zweck der Erweiterung des Museums Judengasse im Mainova-Gebäude beschrieben. Das Zentrum musste gegen Vermarktungswünsche des Versorgungsunternehmens erkämpft werden. Jetzt sei der Sponsoring-Vertrag, der es erlaubt, die Flächen dem Museum mietfrei zu geben, in den Gremien abgestimmt.

Oskar Schindler, der als Unternehmer in Krakau an die 1200 jüdische Frauen und Männer vor den Vernichtungslagern retten konnte, indem er sie auf eine Liste dringend benötigter Arbeitskräfte setzte, hat später 19 Jahre in einer kleinen Wohnung Am Hauptbahnhof 4 gewohnt. „Unerkannt lebt er unter uns”, veröffentlichte 1965 ein Film, den man sich in den Räumen des neuen Lernzentrums zeigen lassen kann. Doch erst seit Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste”, 20 Jahre nach seinem Tod, ist Schindler eine weltweite Berühmtheit. Mit dieser Geschichte hat das Museum die Möglichkeit, an das grausame Geschehen jener Zeit „eine positive Anknüpfung“ zu finden.

Schindlers Liste, bestehend aus einer „Häftlingsliste Frauen” mit 297 Namen und einer aus 801 Namen zusammengesetzten „Liste der männlichen Häftlinge”, hängt jetzt als Faksimile an der Wand der Museumserweiterung am Börneplatz und zieht die Blicke auf sich. Von der Metallarbeiterin „Aftergut, Berta, geboren am 20.2. 1916” bis zur Metallarbeiterin „Zwetschkenstiel, Jenta, geboren am 8. 7. 1908” geht die Reihe bei den Frauen. Der Autoschlosser „Krischer, Hirsch, geboren 15.8.1897” führt die Auflistung der Männer an, die mit dem Namen des Hilfsarbeiters „Kief, Jarum, geboren 2. 12. 1917” endet. Das Dokument enthält auch die Namen der Eltern von Michel Friedman, die mit Oskar Schindler s Hilfe davonkamen. Ferner kann Museumsdirektor Georg Heuberger unter Nummer 69280 seinen Onkel Edward Heuberger ausdeuten.

Was das Schindler-Zentrum nach Angaben seiner Gründer in Deutschland einzigartig macht, ist, dass man dort bald auch den Erinnerungen dieser überlebenden zuhören kann, die von Spielbergs Shoa-Foundation interviewt worden sind. Ferner ist mit acht Terminals jene Datenbank angegliedert, aus der sich Lebensdaten und Schicksale der deportierten und ermordeten jüdischen Frankfurter abrufen lassen.

Als die Gedenkstätte Börneplatz hinter dem Museum eingerichtet wurde, hatte man 11.134 Opfernamen zusammengetragen und ihnen je ein Namensblöckchen gegeben. Inzwischen hat die Recherche 12.625 Namen erbracht, so dass der Namensfries erweitert werden muss. Vielleicht bis 2005, dann plant das Jüdische Museum eine Deportationsausstellung – zum 60. Jahrestag der letzten Deportation, die am 15. März 1945 nach Theresienstadt führte.

 

Westend-Synagoge

 „Ich soll eigentlich im Ruhestand sein“, schmunzelt Jakob Horowitz. Doch da fehlt ihm die Zeit. Der Steinmetzmeister „in dritter Generation”, dessen Name vom uralten Stamm Levi herrührt, verwaltet den jüdischen Friedhof und betreut Besuchergruppen. Horowitz mahnt: „Bitte Fragen stellen.” Zum Beispiel: „Warum tragen jüdische verheiratete Frauen Perücke oder Kopftuch?“ Oder: „Was ist ein koscherer Schneider?“

 Ein Zentrum des jüdischen Frankfurter Lebens ist und war die Westend-Synagoge, Freiherr-vom-Stein-Straße 30. Entworfen vom Stuttgarter Architekten Franz Roeckle, erbaut 1910, über-stand sie als einzige Frankfurter Synagoge das faschistische Pogrom im November 1938. Ihre Wiedereinweihung 1950 war ein Signal der Zuversicht, dass jüdische Bürger in Frankfurt wieder heimisch sein können. „Deutschland ist kein Boden für Juden”, sagte Robert Weltsch, Chefredakteur der bis 1938 erschienenen „Jüdischen Rundschau“, im Nachkriegsjahr 1946. 40 Jahre später, bei der Einweihung des Jüdischen Gemeindezentrums Savignystraße, sagte Ignatz Bubis: „Es war richtig, wieder anzufangen.” Ein Glück für die Stadt, deren Geschichte ohne ihre jüdischen Bürger nicht vorstellbar ist.

Blühend und vielschichtig war die Frankfurter Gemeinde. Im Westend lebte das liberale jüdische Bürgertum, ging zum reformierten Gottesdienst in die Westend-Synagoge. Im Ostend konzentrierten sich die orthodoxen „Ost-Juden” mit ihrer Synagoge Friedberger Anlage. Rund 29.000 Mitglieder zählte die jüdische Gemeinde 1933. Während der Nazi-Diktatur flohen Tausende ins Exil. Mehr als 11.000 wurden umgebracht.

 

Die Westend-Synagoge ist erstaun­licherweise nach dem 9. November 1938 nicht abgerissen worden wie die anderen drei großen Synagogen in Frankfurt. Wie die 1860 eingeweihte Hauptsynago­ge an der damaligen Börnestraße an der ehemaligen Judengasse, die am Ende von den Liberalen in der Einheitsge­meinde, der Israelitischen Gemeinde, ge­nutzt worden war. Wie die außen im Stil der italienischen Renaissance gehaltene und innen nach orthodoxem Ritus ge­staltete Börneplatz-Synagoge, vollendet 1882 und Versammlungshaus der Ortho­doxen in der Einheitsgemeinde. Und wie die Synagoge an der Friedberger An­lage, gebaut 1907 für die besonders streng orthodoxen Mitglieder der Israelitischen Religionsgesellschaft, die nicht der Frankfurter Einheitsgemeinde ange­hören wollten.

Alle drei Häuser, aber auch die 1910 von den Liberalen errichtete Westend-Synagoge sind in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 von marodierenden SA-Horden in Brand gesetzt wor­den. Die Aufräum- und Abrißarbeiten mußten übrigens die Frankfurter Juden selbst bezahlen. Steine aus der Haupt­synagoge am Börneplatz wurden als Baumaterial für eine Einfriedungsmau­er des Hauptfriedhofs an der Eckenhei­mer Landstraße genutzt.

Heute abend erinnert sich die hiesige jüdische Gemeinde wie immer am Abend vor dem 9. November in der Westend-Synagoge an die „Reichskri­stallnacht”, wie diese von Reichspro­pagandaminister Goebbels im ganzen Reich inszenierte mörderische Nacht später im Volksmund genannt wurde.

Ein derartiger Pogrom ist mittlerweile in Deutschland unvorstellbar, was indes nicht bedeutet, daß der Westend-Syna­goge keine Gefahr mehr droht. Wie alle jüdischen Einrichtungen gilt auch die heutige Hauptsynagoge der Frankfurter Gemeinde als potentielles Attentatsziel fanatischer Rechtsradikaler und Islami­sten und wird deshalb rund um die Uhr von der Polizei bewacht. Schwere Beton­poller rund um das Gebäude sollen ver­hindern, daß Terroristen in unmittelba­rer Nähe der Synagoge ein Sprengstoff-Fahrzeug abstellen.

Warum ist die Westend-Synagoge wäh­rend der Nazi-Zeit nicht völlig ausra­diert worden wie ihre Schwestersynago­gen? Nicht, wie es zuweilen heißt, wegen des Kastellans Valentin Bachmann, der – übrigens ein treuer Katholik – sich ge­genüber den SA-Trupps weigerte, die Tü­ren zu öffnen. Das war gewiß ein muti­ges Verhalten, hat aber den Nazi-Pöbel nicht daran hindern können, sich gewalt­sam Zutritt in das Gotteshaus zu ver­schaffen. Die Brandstifter gossen Ben­zin in die Synagoge und steckten das Gebäude an. Routinemäßig rückte die Feuerwehr an und durfte – so sagt es die Legende – auf ausdrücklichen Befehl des Frankfurter NS-Oberbürgermeisters Friedrich.. Krebs sogar löschen. Krebs soll ein Übergreifen der Flammen auf benachbarte Wohnhäuser befürchtet ha­ben. Doch historisch gesichert ist diese Version nicht.

Als Gotteshaus konnte und durfte die Westend-Synagoge hernach nicht mehr dienen, sie beherbergte vielmehr Kulissen der Oper Frankfurt, nachdem die Is­raelitische Gemeinde Grundstück und Gebäude im April 1939 wider Willen der Stadt Frankfurt hatte übereignen müssen. Wie auch ihre anderen Immo­bilien, also die drei erwähnten Synago­gen, das Philanthropin mit seiner Schule oder das jüdische Krankenhaus an der Gagernstraße. Weil mit den Luftangrif­fen zunehmend Bombengeschädigte neu ausgestattet werden mußten, richtete die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) in der Westend-Synagoge ein Möbellager ein. Bis schließlich nach einer Bombardierung am 20. März das Gebäude vollständig ausbrannte, wobei die Mauern stehenblieben und die Syn­agoge seltsamerweise, so erzählen jedenfalls Zeitgenossen, von außen unver­sehrt gewirkt habe.

Warum sind diese Außenmauern nicht abgerissen worden wie bei den anderen drei Synagogen in der Frankfurter Innen­stadt? Es gibt darüber nur Vermutungen, keine gesicherten Beweise. Möglicherwei­se dachten einige Nazi-Oberen von vornherein an eine säkulare Nutzung der Synagoge, die von ihrem Äußeren her wohlnicht als offensichtlich jüdisches Gotteshaus ins Auge fällt und deshalb leicht auch als NSDAP-Zentrale hätte Verwendung fin­den können. Offenbach ist der Beweis dafür, daß solch eine vorausschauende Nichtzerstörung vorgekommen ist.

Dort hatten sowohl Funktionäre der Hitler­partei wie auch ein örtlicher Kinobesit­zer ein Auge auf die Synagoge an der Goethestraße geworfen, weshalb das Gebäude nicht zerstört wurde. Michael Lenarz vom Jüdischen Museum Frankfurt hält es für durchaus möglich, daß auch die Synagoge im Westend unter dem Ge­sichtspunkt einer späteren Nutzung von den Nationalsozialisten geschont wurde. In der Tat hatte, wie der Historiker Arno Lustiger berichtete, die Frank­furter NSDAP bei Oberbürgermeister Krebs beantragt, die geschändete Syn­agoge als Kulturhaus nutzen zu dürfen. Krebs stellte die Sache zurück — bis nach dem Endsieg.

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg lebten nurmehr 146 jüdische Bürger in Frankfurt. Rund 400 überstanden die KZ Theresienstadt und Buchenwald. Dazu hausten zahlreiche tief verstörte Juden osteuropäischer Herkunft im Zeilsheimer Lager für „Displaced Person”. Sie alle begründeten den Neubeginn. Heute zählt die jüdische Gemeinde Frankfurt mehr als 6.500 Mitglieder. Seit Mauerfall und Ostblock-Ende strömten viele Menschen jüdischen Glaubens gen Westen und auch in die Mainmetropole. Inzwischen wird die einheitlich-orthodoxe Ausrichtung wieder hinterfragt, wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts kommen liberale Strömungen auf (Siehe auch Ausflüge/Frankfurt).

 

Personen:

Arthur von Weinberg

Arthur von Weinberg wurde geboren am 17. August 7860 in Frankfurt. Er studiert Chemie, Physik, Mathematik und Altphilologie in Straßburg und München und promoviert 1882. Ein Jahr später wird Arthur von Weinberg Teilhaber und technischer Leiter der Firma Cassella. 1908 läßt er die Villa Buchenrode in Niederrad errichten. Sie wird 1944 zerstört. Im Ersten Weltkrieg ist von Weinberg Reserveoffizier. Aufgrund seines sozialen Engagements wird er zahlreich geehrt: 1927 bekommt er die silberne Plakette der Stadt Frankfurt, 130 wird er zum Ehrenbürger der Stadt ernannt. 1932 bekommt er die Goethe‑Medaille des Reichspräsidenten.

Noch 1933 ist Arthur von Weinberg auf Druck der Nationalsozialisten gezwungen, seine Wirtschaftsämter niederzulegen. 1938 muß er seine Villa an die Stadt verkaufen. Er verläßt Frankfurt und zieht zu seiner Tochter noch Oberbayern. Anfang Juni 1942 wird er dort verhaftet.

Im Alter von 81 Jahren wird er in dos Durchgangs-­ und Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt. 1943 im März stirbt er dort an den Folgen einer Operation.

 

Anne Frank

Die Universalisierung der Anne Frank, die Glättung und Bereinigung von Widersprüchen, die ihr Tagebuch im Laufe der Rezeptionsgeschichte erfahren hat, bedeutet die Vollendung ihrer Vernichtung, urteilt Hanno Loewy, der Direktor des Fritz-Bauer-Instituts (Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust) in Frankfurt am Main. Zur Wiederkehr des Geburtstages von Anne Frank am 12. Juni dokumentieren wir einen Vortrag, den Hanno Loewy im März bei einer gemeinsamen Tagung des Fritz-Bauer-Instituts, der Evangelischen Akademie Arnoldshain und des Hamburger Instituts für Sozialforschung gehalten hat.

Nicht erst das Stück und der Film, auch das Tagebuch selbst, das mehrere Generationen von Lesern verschlungen haben, war ein filigran amputierter Torso. Erst 1986 erschien in den Niederlanden und 1988 erstmals in deutscher Lebersetzung das „vollständige” Tagebuch von Anne Frank, und das heißt auch die verschiedenen Versionen, die sie selbst von manchen Tagebucheinträgen hinterlassen hatte. So hatte Anne Frank 1944 tatsächlich damit begonnen, ihr Tagebuch für eine mögliche spätere Veröffentlichung zu bearbeiten. Doch nicht einmal die voluminöse textkritische Ausgabe, auf die mittlerweile auch eine neue, vervollständigte Taschenbuchausgabe zurückgeht, ist gänzlich frei von Zensur. Einzelne Passagen sind selbst hier noch gestrichen worden, mit Verweis auf den Wunsch der Familie Frank und das von Anne Frank „unrichtig” und „unfreundlich” vermittelte Bild ihrer Eltern.

Otto Frank hatte, als er im Herbst 1945 aus Auschwitz nach Amsterdam zurückkehrte, von Miep Gies das Tagebuch seiner Tochter überreicht bekommen, das sie nach der Verhaftung der Familie Frank im Hinterhaus gefunden hatte. Die Lektüre muß für ihn unaussprechliche Qualen bedeutet haben, erinnerte sie ihn doch nicht nur an den Verlust seiner beiden Töchter, seiner Frau und aller anderen, die im Hinterhaus zwei Jahre lang versteckt gelebt hatten.

 Anne Frank hatte ihrem Tagebuch, und vor allem darum geht es in ihm, ihren täglichen Kampf mit ihrer Familie, ihren Kampf um Selbständigkeit und Selbstfindung anvertraut. Die Geschichte einer Adoleszenz, in der zunächst das Verhältnis zur Mutter sich bis zur Unerträglichkeit verschlechtert und der Vater zum idealisierten Gegenpol des Verstehens und Sich-verstanden-Fühlens wird. Bis schließlich auch hier das Vertrauen verlorengeht. Denn nun ist ein fast gleichaltriger Junge, oder sollen wir sagen: ein junger Mann, in die Beziehungswelt eingetreten. Mit ihm zusammen kann sich Anne von der „Welt der Erwachsenen” distanzieren.

 Die äußere Bedrohung und das Leben im Versteck, die Unmöglichkeit selbstgewählter Beziehungen, die fortwährende Angst, entdeckt zu werden, durch irgendein Fehlverhalten das eigene Leben und das aller anderen zu gefährden, und schließlich die unendlichen Stunden des Tages, in denen kein Laut ertönen darf, in denen Zeit ist, zum Schreiben, sie legen sich wie ein Brennglas über die Erfahrungen und Gefühle des jungen Mädchens, das im Begriff ist, eine Frau zu werden.

Anne Frank hält sich zugleich selbst den Spiegel vor, mit einer Mischung von kindlichem Narzißmus und schonungsloser Selbstreflektiertheit, die ihr Tagebuch zu Recht heraushebt aus allen bekannten vergleichbaren Texten. Ihr Thema ist nicht der Holocaust, sondern ihr Kampf um ihr Selbst im Angesicht einer Welt, in der die Erwachsenen die Moral, die sie predigen, fortwährend verraten. Draußen, aber auch im Hinterhaus. Das Drama eines begabten Kindes; das seine jungen Ideale von eben jenen verraten sieht, die ihr gegenüber die Welt der Moral, der Werte und Regeln repräsentieren.

Otto Frank entschied sich, trotz oder gerade wegen seiner zu vermutenden Schuldgefühle gegenüber seiner Tochter, die er eben nicht hat retten können und deren Seelenlandschaft sich ihm nun auftut, er entschied sich nach überraschend kurzer Zeit dafür, Anne Franks Tagebuch zu veröffentlichen, sozusagen die Flucht - nach vorne anzutreten. Eintragungen Annes, die sich mit ihren literarischen Ambitionen, ihren Hoffnungen auf die Zeit nach dem Krieg, ja auf ein Fortwirken ihrer schriftstellerischen Arbeit nach ihrem Tode beschäftigen, mögen ihm dabei wie eine Verpflichtung erschienen sein.

Otto Frank nahm signifikante Kürzungen vor. (...) Otto Franks Retuschen am Tagebuch seiner Tochter bezogen sich augenscheinlich vor allem auf zwei Themen. Otto Frank wollte das Gedächtnis seiner Frau und Annes Mutter Edith nicht beflecken. Von Annes Kampf mit Edith Frank blieb nur ein matter Widerschein übrig. Andere gestrichene Passagen oder umformulierte Stellen bezogen sich auf Annes freizügigen Umgang mit der eigenen körperlichen und sexuellen Entwicklung. Otto Frank mußte zu Recht fürchten, daß manche Äußerungen Annes das Buch in aller Unschuld auf den Index befördert hätten.

Andere Korrekturen erschließen sich jedoch erst bei mikroskopischerer Betrachtung. Hier interessieren uns nun besonders die Änderungen in der deutschen Ausgabe, von denen wir freilich nicht sagen können, inwieweit sie letztlich von Otto Frank selbst oder der Übersetzerin veranlaßt worden sind. Alvin H. Rosenfeld hat in seiner Analyse eine Reihe von kleineren Änderungen miteinander korreliert, die sämtlich mit der Verwendung des Wortes „deutsch” zusammenhängen.

Dabei verschwinden zahlreiche Verweise auf die kollektive Zugehörigkeit der Täter. So wurde an einer Stelle aus den „Deutschen” „die besetzende Macht” (Eintrag vom 18. 5. 1943) oder gar „die Unterdrückung” (Eintrag vom 28. 1. 1944). An anderer Stelle wird aus „gibt es keine größere Feindschaft auf dieser Welt als zwischen Deutschen und Juden” die Feindschaft „zwischen diesen Deutschen und den Juden” (Eintrag 9. 10. 1942). Das hinzugefügte Wort wird auch noch kursiviert, also mit Betonung versehen.

Aus Anne Franks Bemerkung in ihrem „Leitfaden für das Hinterhaus”: „Erlaubt sind alle Kultursprachen, also kein Deutsch” wird der Satz: „Alle Kultursprachen, aber leise!!!” Interessanterweise werden aber auch die Hinweise darauf getilgt; daß Anne Frank selbst aus Deutschland. stammt und die Franks mit deutscher Kultur stark. verbunden sind. So wird jene schon zitierte Passage, die im Hinweis auf die Feindschaft endet, noch in einer anderen signifikanten Hinsicht manipuliert. Spricht Anne Frank tatsächlich davon, daß sie, von Hitler staatenlos gemacht, zu diesem Volk, den Deutschen „eigentlich auch noch dazu gehört, so heißt es in der

Übersetzung- „Und dazu gehörte ich auch einmal”.

So verschwindet auch der Hinweis darauf, daß ihre Mutter ihr „Gebete in Deutsch“ zum Lesen in-` die Hand drückt (29. 10. 1942) oder daß ihr Vater ihr ein Gedicht in deutscher Sprache geschrieben hat (13. 6. 1943). Offenbar schien es angeraten, das sehr reale Konfliktverhältnis und seine Spiegelung im Tagebuch, der ernüchterte Bezug auf den betrogenen Glauben an eine „gemeinsame Geschichte” zu entkonkretisieren, ins Abstrakte aufzulösen. Damit eine Identifikation deutscher Leser mit Anne Frank möglich sein konnte, mußten auch die Hinweise auf ihre reale Nahe zu den Deutschen minimiert werden.

Schließlich werden auch die Hinweise auf die Vernichtung, die in Anne Franks Tagebuch schon 1942 einsetzen und sich immer wiederholen, entkonkretisiert. So wird (ebenfalls im Eintrag vom 9. 10. 1942) aus „Polen“ die „Ferne, wohin sie verschickt werden”, und der Satz: „Wir nehmen an, daß die meisten Menschen ermordet werden” fällt ganz unter den Tisch, während paradoxerweise die Erwähnung von Gaskammern stehenbleibt.

Das Tagebuch von Anne Frank wird 1955 schließlich als Fischer Taschenbuch herausgebracht. Doch auch dies hat zunächst nur einen moderaten Erfolg. Ein Jahr später kommt das Tagebuch der Anne Frank auf die Bühne und mit ihm kommt der Durchbruch zum Bestseller. Es ist eine Übersetzung der schon erwähnten amerikanischen Bühnenfassung ins Deutsche, die am 1. 10. 1956 zugleich an sieben deutschen Bühnen, in Hamburg, West-Berlin, Aachen, Düsseldorf, Konstanz, Karlsruhe und in Dresden aufgeführt wird. Ein theaterpolitisches Großereignis, und dies auch wegen der gleichzeitigen Aufführung in der DDR. (...)

1953 hatten Otto Frank und sein Produzent Kermit Bloomgarden die Autoren für die Adaption gefunden. Francis Goodrich und Albert Hackett, zwei Drehbuchschreiber aus Hollywood, die nicht durch eigene Theaterstücke, sondern durch, insbesondere an der Box-Office, erfolgreiche Drehbücher bekannt waren, für Musicals und Komödien wie „lt's a wonderful life” oder „Easter Parade”. Als es im Oktober 1955, nachdem ihr Stück mindestens achtmal überarbeitet wurde, am Gort Theatre in New York zur Uraufführung kam, war das daraus geworden, was Otto Frank sich tatsächlich erhofft hatte: ein Welterfolg. Und es ist anzunehmen, daß der optimistische Grundton des Stückes seine Zustimmung gefunden hat, ein Grundton, der Anne Franks Liebesgeschichte ins Zentrum rückt, ihre zarte Beziehung zu Peter, dem Sohn der zweiten im Hinterhaus versteckten Familie. Eine Beziehung, die in Wirklichkeit viele traurige, desolate Seiten aufweist (...) Dann folgt die letzte Szene im Hinterhaus, ihre Verhaftung.

Das allerletzte Wort hat Otto Frank selbst, und es führt zurück zu den Motiven, die ihn angetrieben haben, sich dem Tagebuch seiner Tochter zu verschreiben. Die Rahmenhandlung des Stückes, Franks Rückkehr nach Amsterdam im Herbst 1945, wo er das Tagebuch ausgehändigt bekommt, setzt den Schluß. Otto Frank, 1945 im Hinterhaus das Tagebuch lesend, beendet seine Lektüre. Er erzählt Miep Gies und Kraler von Annes Weg in die Lager.

Wie es ihr dort erging erfahren wir nicht, aber: „So seltsam es klingen mag, daß ein Mensch im Konzentrationslager glücklich sein konnte - in dem Lager in Holland, in das wir zuerst gebracht wurden, war Anne glücklich. Nach zwei Jahren des Eingesperrtseins in diesen engen Räumen konnte sie wieder draußen sein, draußen in der Sonne und an der frischen Luft, die sie sosehr entbehrt hatte.” Er blättert im Tagebuch und er findet jene Stelle, die zur Summe des Stückes werden soll. Annes Stimme ertönt: „Trotz allem glaube ich noch an das Gute im Menschen.” Doch es folgt noch ein letzter Satz Otto Franks: „Wie sie mich beschämt”, ein Satz, in dem möglicherweise mehr mitschwingt, als die Autoren es ahnten.

Die Hinweise, die Anne selbst in ihrem Tagebuch darauf gibt, was sie erwartet, ihr Wissen um Gaskammern, Massenmord und Lager, auch über die Zustände in Westerbork, ihre Schuldgefühle gegenüber den Freundinnen, von deren Deportation sie erfährt, all das, was auch die gekürzte Fassung des Tagebuches durchaus noch an Schrecken bereithielt, war aus der Szenerie des Stückes fast vollständig verbannt.

Ein Jahr später, im Oktober 1956 kam das Stück auch auf die deutsche Bühne, und die Auflage des Tagebuches schnellte in die Höhe. Die Wahrnehmung dessen, was in diesem Tagebuch zu lesen sei, war nun durch die Brille des Stückes eingefärbt. 1957 folgte in den USA die Verfilmung durch George Stevens, 1959 wurde daraus auch in Deutschland ein großer Kinoerfolg.

Kanonisch wurde nun Anne Franks Satz, sie glaube trotz allem an das Gute im Menschen. Im Tagebuch selbst (...) folgt auf diesen Satz freilich eine höchst ambivalente Passage: „Es ist mir nun mal unmöglich, alles auf der Basis von Tod, Elend und Verwirrung aufzubauen. Ich sehe, wie die Welt langsam immer mehr in eine Wüste verwandelt wird, ich höre den anrollenden Donner immer lauter, der auch uns töten wird, ich fühle das Leid von Millionen Menschen mit. Und doch, wenn ich zum Himmel schaue, denke ich, daß sich alles zum Guten wenden wird, daß auch diese Härte aufhören wird, daß wieder Ruhe und Frieden in die Weltordnung kommen werden.” (15.7.1944)

An anderer Stelle hat sie diesen Wechsel vom Dunkel zum Licht noch fatalistischer formuliert: „Ich glaube nicht, daß der Krieg nur von den Großen, von den Regierenden und Kapitalisten gemacht wird. Nein, der kleine Mann ist ebenso dafür. (...) Im Menschen ist nun mal der Drang zur Vernichtung, ein Drang zum Totschlagen, zum Morden und Wüten, und solange die ganze Menschheit, ohne Ausnahme, keine Metamorphose durchläuft, wird Krieg wüten, wird alles, was gebaut, gepflegt und gewachsen ist, wieder abgeschnitten und vernichtet, und dann fängt es wieder von vorn an.” (3. 5. 1944)

Von all diesen Widersprüchen darf die Botschaft der Anne Frank nicht getrübt sein. Über die Theater- und Filmpremieren schreiben die Zeitungen unter Überschriften wie diesen: „Zeugnis des Guten im Menschen”, „Menschenliebe aus einer Fülle von Hass”, „Zeugnis reinen Herzens aus der Zeit des Grauens”, „Gedenkstunde der Menschenangst”. Und immer wieder wird betont, wie eng sich Goodrich/Hakkett an den originalen Wortlaut des Tagebuches gehalten hätten, ein offenbar gut kultiviertes Gerücht. „Fast immer”, so die FAZ am 3. Oktober 1956, „kommt der originale Text zur Sprache.”

 

Schulen:

Lessingschule

„Was für eine freudige Überraschung, nach 61 Jahren wieder einmal etwas vom Lessing-Gymna­sium zu hören...” schrieb der alte Josef Moneta zurück in sein Frankfurt - die Heimat, die er als Jude 1935 mit 21 Jahren verlassen musste. Was für eine freudige Überraschung: Die Archiv-AG des Lessing-Gymnasiums hat die Spuren deutsch-jüdischer Geschichte in der über 100 Jahre alten Lehranstalt gefunden und zu einer Ausstellung verarbeitet. Das Beispiel wird Schule machen.

Die Nazi-Zeit an den Schulen erforschen: Das Thema ließ sich nicht mehr unter die Teppiche kehren seit 1988 - seit dem 50. Jahrestag des Novemberpogroms. Auch im Lessing hat die Forschungsarbeit begonnen, als mancher Schulakten und Schularchive der einschlägigen Zeit noch im Keller halten wollte. Eine Schüler-Generation hat das Schulhaus an der Hansaallee inzwischen von Klasse 5 bis Klasse 13 durchlaufen. Und auch in der Lehrerschaft, so das Urteil von Museumsmann Fritz Backhaus, der den jungen Leuten zur Ausstellung im Museum Judengasse am Börneplatz verhalf, war „ein Generationswechsel“ zu beobachten.

„Heute gehöre es „fast schon zur Image-Pflege, sich mit dem Thema zu beschäftigen”. Nicht nur die Arbeit der Lessing-Schüler werde darum vorn Jüdischen Museum präsentiert. In der Schiller-Schule, im Wöhler- oder Gagern-Gymnasium sind ebenfalls Kurse dran am Thema - und damit dabei, sich die Ausstellungsräume am Börneplatz zu erobern.

Im Lessing haben die Jugendlichen auf der Suche nach der deutsch-jüdischen Wurzel ihrer Schule den Bogen bis zurück in das 1520 gegründete „Städtische Gymnasium” gezogen. Da hatte man 1640 erstmals zwei jüdischen Jungen den Unterricht jenseits der Judengassen-Mauer gestattet: „1640 befahlen die Herrn Scholarchen, daß man die Söhne der zwei jüdischen Arzte in das Gymnasium aufnehmen, sie des Catechismi überheben und allen den Knaben ernstlich anbefehlen solle, sie ungestört zu lassen“ hält Lersners Stadtchronik fest. Bei einem Viertel der Jungen des 1897 in Goethe- und Lessing-Schule geteilten ersten Gymnasiums der Stadt haben die Lehrer damals in der Spalte Bekenntnis, bezw. Religion: „jüd.“ eingetragen.

 Am 10. April 1897 verabschiedet sich der erste Abitur-Jahrgang aus dem neu gegründeten Lessing-Gymnasium: Dei knapp 20jährige Klassenprimus Paul Aschaffenburg, einer von acht jüdischer Abgängern, trägt die Abi-Rede in Lateinisch vor. Mindestens zwei der acht sollten Jahrzehnte später von den Nazis de portiert werden - darunter Henry Wolfskehl, der als Arzt in der Eschersheimer Kurhessenstraße praktiziert hatte und dem die Schüler mit ihrem Ausstellungstitel („Wer war Henry Wolfskehl?“) ein herausgehobene Erinnerung sichern.

Wie das sich steigernde Klima des Hasses gegenüber Juden in der Stadt auch in diese Lehranstalt der humanistischen Bildung eindringt, können die Lessing-Schüler an einem Protokoll der Gesamtkonferenz aus dem Jahr 1922 (:) aufzeigen. Von „mit Hakenkreuzen bemalten Wänden und Bänken" geht da die Rede. Und von einem Obersekundaner, der „israelische Schüler durch Zurufen von ,Itzig` und Zuhalten der Nase beschimpft“ habe. Doch das Kollegium ist bemüht, die Vorfälle niedrig zu hängen. Es stellt fest: „Dass die Schüler in der heutigen Zeit antisemiti­sche Gedanken mit in die Schule bringen, kann nicht verhindert werden, nur, dass sie sie da verbreiten und betätigen.“

Vier Jahre später ist der vielgeliebte Di­rektor Ernst Majer-Leonhard im Amt, ein Herr mit runder Brille in Oberhemd und Fliege, gegen den einige Kollegen ein paar Jahre später beim Schulamt belastend vorbringen werden, er habe „eine Jüdin zur Frau” und sei „mit den Stockjuden Heilbrunn und Dreyfuss verschwägert”.

Der Altsprachler Majer-Leonhard, dem die Frankfurter Nachrichten 1941 in einem Porträt die Fähigkeit attestieren, „eine stete Verbindung der Schule mit den Geschehnissen und Bedürfnissen des Tages zu halten”, gibt 1933 dem Provinzi­alschulkollegium in Kassel den Selbst­mord des Obersekundaners Heinz Stern bekannt. Denn dieser 16-Jährige, „un­bestritten bester Schüler seiner Klasse”. so der Bericht des Direktors, „scheint in den letzten Wochen schwer unter der Tatsache seiner semitischen Abstammung gelitten zu haben”. Bald darauf trifft die Politik der Ausgrenzung auch ihn selbst, den Kopf des Lessinggymnasiums: Mit 47 Jahren wird Majer-Leonhard 1937 wegen „Judenfreundlichkeit“ in den Ruhestand ver­setzt.

Tafel für Tafel porträtiert die Ausstel­lung Lebenswege von „Ehemaligen“. Dazu Biografien von Lehrern, denen es gelang. in furchtbarer Zeit die Schule als ge­schützten Ort zu erhalten. Der 74jährige Alexander Askenasy (Ich besuchte das Lessing-Gymnasium seit 1937 und konnte bis 1943 bleiben") schrieb an die Archiv-AG aus New York: „Obwohl es allgemein bekannt war, dass ich ,Halbjude' war, kann ich mich an antisemitische oder ge­hässige Äußerungen oder Benehmen nicht erinnern.“ Von seinem Vater Robert Aske­nasy, der noch 1945 deportiert wurde, schickte Alexander ein handschriftliches „Theresienstädter Tagebuch'', das als Pro­tokoll eines Leberlebenskampfes jetzt am Börneplatz in einer Vitrine liegt.

 

Jüdische Schule Philanthropin

Es ist ein Akt mit großer Symbolwirkung: Gestern hat die Stadt Frankfurt die ehemalige jüdische Schule, das so genannte Philanthropin, an die jüdische Gemeinde zurückgegeben. Das Institut mit den charakteristischen Giebeln war auf den Tag genau vor 200 Jahren gegründet worden. „Der 200. Geburtstag ist ein wunderbares Datum. um das Wiederaufleben des jüdischen Erziehungswesens in Frankfurt zu feiern“, findet der Verwaltungsdirektor der Jüdischen Gemeinde, Stefan Szayak. Die Schule sei einst beispielgebend gewesen für das Erziehungswesen der Stadt und wolle nun an diese Tradition anknüpfen. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Frankfurt und Vizepräsident des Zentralrats der Juden, Salomon Korn, nennt die Rückgabe „ein historisches Zeichen für die Ankunft der neuen jüdischen Gemeinschaft in der langen jüdischen Geschichte Frankfurts“.

„Philanthropin” bedeutet eigentlich „Stätte der Menschlichkeit”. Die Schule war 1804 als „Schul- und Erziehungsanstalt für arme jüdische Kinder” gegründet worden. stand aber auch nicht-jüdis­chen Kindern offen. Die Nationalsozialisten schlossen die Schule und richteten darin ein Reservelazarett ein. Nach dem Krieg bekam die jüdische Gemeinde das Haus zurück, verkaufte es aber 1979 an die Stadt, um ihr neues Gemeindezentrum finanzieren zu können. „Das war die letzte Kapitalanlage, die die Gemeinde hatte”, erklärte Szayak. „Sie hatte nach dem Krieg ja nicht viel zu-rück bekommen.”

25 Jahre später bekommt die jüdische Gemeinde die Immobilie nicht etwa geschenkt. über den Preis des Rückkaufs werde derzeit noch verhandelt, sagte der Verwaltungsdirektor. Auch Umzugskosten und Umbau müsse die Gemeinde tragen. Spätestens 2006 sollen im Philanthropin wieder Kinder aller Glaubensrichtungen gemeinsam lernen. Die heutige Jüdische Schule im Westend sei zu klein geworden. Im neuen Philanthropin sollen dann statt 350 bis zu 600 Kinder ganztägig unter-richtet werden. Angestrebt werde eine Quote von 40 Prozent nicht-jüdischer Kinder, sagte der Verwaltungsdirektor.

Zuvor müssen die derzeitigen Mieter raus. Hauptnutzer ist das Dr. Hoch’sche Konservatorium. In der Musikschule und -akademie werden knapp 1000 Schüler unterrichtet. Das Konservatorium ist seit 1990 im Philanthropin untergebracht; es zieht bis zum Jahresende in ein neues „Bildungszentrum” um, das gerade im Osten der Stadt gebaut wird. Obwohl die Gegend gerade für Konzertbesucher weniger attraktiv ist als das bürgerliche Nordend hat der Direktor Konservatoriums, Frank Stähle, nichts gegen den Umzug: „Wir gehen davon aus, dass wir dort mindestens so gute Bedingungen wie bisher haben werden.”

Erschwert wird der Umzug durch die vielen Instrumente des Konservatoriums. Neben 28 Flügeln, 37 Klavieren und einer kleinen Orgel muss auch eine zimmergroße Konzertorgel aus dem Clara-Schumann-Saal des Philanthropins aus- und im neuen Konzertsaal eingebaut werden. Allein das koste 200.000 Euro, berichtet der zuständige Referent im städtischen Schuldezernat. Michael Damian.

Bleibt noch die freie Theatergruppe, die seit 1987 im Philanthropin residiert und die sogar den Namen ihres Standortes adoptiert hat. Sie hat zwar noch keine Kündigung erhalten, stellt sich aber da-rauf ein, 2005 weichen zu müssen. „Wir würden sehr gern bleiben - vor allem wegen der zentralen Lage“, sagt Reinhard Hinzpeter. einer der beiden Leiter des „Freien Schauspielensembles Philanthropin”. Aber wenn die jüdische Gemeinde das Gebäude brauche, sei das schon in Ordnung. Wo die zwölf Schauspieler ihre bis zu 100 Vorstellungen pro Jahr künftig auf die Bühne bringen, steht in den Sternen. Ein privater Investor wolle eine Bühne für Freie Ensembles im Osten der Stadt bauen. berichtete Hinzpeter, „aber die Stadt kann die Miete nicht bezahlen”.

 

 

Damit die Verdrängung der Schuld nicht in einen neuen Antisemitismus mündet

Beim Gedenken an die Pogromnacht des 9. November mahnten Salomon Korn und Ruth Wagner in der Synagoge, sich mit der Vergangenheit auseinander zu setzen

Mit zahlreichen Veranstaltungen gedachten am Sonntag viele Frankfurter der jüdischen Opfer der Novemberpogrome vor 64 Jahren. Redner in der Synagoge und in der Paulskirche mahnten, die Erinnerung wach zu halten. In Höchst und in der Innenstadt erinnerten Bürger auch an einzelne jüdische Frankfurter, die Opfer der Verfolgungen wurden.

Laut einer Forsa-Umfrage wünschen sich 69 Prozent der 18 Jahre alten Bundesbürger, dass ein Schlußstrich unter die deutsche Vergangenheit gezogen werde. Gegen diese Haltung, gegen die Weigerung, sich mit dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte, den zwölf Jahren nationalsozialistischer Schreckensherrschaft auseinander zu setzen, traten anlässlich der Gedenkfeier in der Westend-Synagoge am Sonntag Abend sowohl Frankfurts Oberbürgermeisterin Petra Roth, die hessische Wissenschaftsministerin Ruth Wagner sowie der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt, Salomon Korn, ein. „Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist noch nicht einmal vergangen”, erklärte etwa Ruth Wagner.

Deren Aktualität – „dass in Deutschland wieder jüdische Menschen antisemitisch beschimpft werden” – sei besonders für sie, als liberale Politikerin, in diesen Tagen bedrückend. So sprach Wagner eine persönliche „Entschuldigung” an den anwesenden Michel Friedman, den stellvertretenden Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, aus, der in den vergangenen Monaten mehrfach von dem FDP-Politiker Jürgen Möllemann attackiert worden war: „Wir empfinden das als Beleidigung, die inakzeptabel ist”, sagte Ruth Wagner wörtlich.

Salomon Korn zog eine, direkte Linie von der „früh verweigerten Auseinandersetzung mit der historischen Schuld der Deutschen, von der Verdrängung und Leugnung” des „größten staatlich organisierten Verbrechens der Geschichte”, dem Völkermord an den europäischen Juden, bis hin zu einer neuen Erscheinungsform des Antisemitismus, den er als „schuldreflexiv” bezeichnete. Das Unbehagen an der eigenen Geschichte wecke Abwehr und Aggression gegenüber denjenigen, die durch ihre Anwesenheit an diese Geschichte erinnern. Und mit seiner Rede in der Paulkirche vor vier Jahren habe Martin Walser „die intellektuelle Variante des Unbehagens am Unbehagen geadelt. Die Bewältigung der eigenen Geschichte fiel seinem Seelenfrieden zum Opfer”, warf Korn dem Schriftsteller vor.

Gleichzeitig warnte er davor, dem Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden, nachzugeben. Denn jeder Versuch, der Auseinandersetzung auszuweichen, wird selbst ein Teil von ihr und verlängert sie."

Überdies sei die Annahme der Schuld ein generationsübergreifendes Projekt, wobei die Familie „die wichtigste Agentur der Aufklärung” verkörpere. Doch in keinem anderen Land klafften offizielle und private Erinnerung so weit auseinander wie hierzulande. Nur zu oft würden Väter und Großväter von gewöhnlichen Mitläufern zu Widerstandskämpfern umgedeutet.

 

„Endlich der Hölle in Deutschland entronnen”

Wie Enkel der jüdischen Familie Salomons anhand kürzlich entdeckter Briefe das Schicksal der Opfer rekonstruieren und wieder zusammenfinden

Die Salomons, das war eine jüdische Großfamilie aus Deutschland; es ist 70 Jahre her. Die Gemeinschaft der Salomons wurde nach 1933 von der Nazi-Regierung zerrissen und zerstört. Wer die Vernichtungspolitik irgendwo in der Welt überlebte, hat jahrzehntelang aus Trauer auch die Erinnerung begraben. Keiner wusste von keinem. Jetzt rollen die Enkel die Familiengeschichte wieder auf. Immer den spärlichen Hinweisen aus fünf mehr als 60 Jahre alten Briefen nach.

 

Arnold Salomons. Dieser Name soll hier in der Zeitung stehen. „Ich möchte erinnern an das Schicksal meines Großvaters Arnold Salomons”, sagt seine 1960 geborene Enke­lin Astrid, die sich entschlossen hat, seine Briefe ins Rundschau-Haus zu tragen. Hier in Frankfurt soll der Großvater, 59 Jahre nachdem man ihn im Alter von 61 Jahren im Konzentrationslager Auschwitz vergast hat­te, einen Namen haben. Hier, in der Stadt sei­ner zerstörten Hoffnung auf den „großen Weltenlenker da oben, der die Geschicke der Menschen lenkt“. Am 22. August 1937 hat Arnold Salomons in ruhiger, akkurater Handschrift von diesem Glauben an ein güti­ges Schicksal geschrieben. Es ist der erste von ihm erhaltene Brief.

Arnold Salomons, geboren am 15. Juni 1883, war ein gut situierter Rohtabak-Ver­treter, der aus der Nähe von Münster stamm­te und sich mit seiner Frau Mina 1919 in Frankfurt niedergelassen hatte. Von da an wa­ren die Salomons elf Jahre lang in der Savigny­straße 75 im Westend zu Hause. Man liebte „gepflegte Wohnlichkeit; fünf Zimmer, Bi­bliothek, Ölgemälde, Tafelsilber“, das hat En­kelin Astrid inzwischen über die Lebensart der Großeltern in Erfahrung gebracht. Ein Hausmädchen wurde eingestellt. Zwei Kinder werden in den Westend-Jahren geboren: Sohn Dagobert 1920, seine Schwester Hanna 1923.

Als der Sohn, Klassenprimus in der Wöhler­schule, zehn Jahre alt, und die Tochter Han­na sieben Jahre und noch im Volksschulalter war, verließ die Familie das Westend und nahm sich ein Bornheimer Reihenhäus­chen. Das war 1930. Man wohnte dann in der Karl-Albert-Straße 33, mit Garten. Ar­nold Salomons ist ein stattlicher Mann in Anzug und zugeknöpfter Weste, wie er da vor dem Buschwerk neben der Teppichstan­ge steht, mit leicht gewölbtem Bauch. Dieses Foto von ihm steckte in einem Erinnerungs­album, das Enkelin Astrid im Nachlass ihres Vaters vor einigen Jahren gefunden hat. Astrid ist die Tochter jenes Dagobert Salo­mons, des damaligen Wöhler-Schülers.

In den 30er Jahren ging es mit der Famili­engemeinschaft der Salomons, mit einer 250 Jahre währenden Familientradition in Deutschland, zu Ende. Immer schon hatten sie an ihrem Heimatort Neuenhaus (bei Bad Bentheim im Münsterland) dazu gehört wie alle anderen. Jetzt zog sich um die Familie dort wie die in Frankfurt die Schlinge mehr und mehr zu.

In Frankfurt ordnete die Gauleitung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter­partei (NSDAP) an, „Aktions-Komitees zum Boykott gegen Juden” zu bilden, „beste­hend aus 10 Amtswaltern“. Wie über Nacht war plötzlich „Dreckjude“ über die Scheiben jüdischer Geschäfte geschmiert, schrie es „Juden sind hier unerwünscht!“ von den Ein­gangstüren der Cafes, Gaststätten oder Ho­tels. Kein Zutritt mehr zu den öffentlichen Schwimmbädern, kein Einlass in den Biblio­theken. Kein Recht, sich auch nur auf einer Parkbank niederzulassen. Ab 1935 dann griff das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“. Paragraph 1.1.: „Eheschließungen zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes sind verboten. Trotzdem geschlossene Ehen sind nichtig...”

 „Meine Mutter war das erste Opfer dieser Verfolgung”, wird Dagobert Salomons, der die Vernichtungspolitik als einziger überleben sollte, im Mai 1954 der Betreuungsstelle am Landratsamt Gelnhausen in seinem Antrag auf Entschädigung mitteilen. „Sie litt seit Anfang 1936 unter Wahnvorstellungen, die mit einem völligen Nervenzusammenbruch endeten.” Mina Salomons kam mit ihren Verfolgungsängsten in die Heilanstalt, sie starb dort, mutmaßlich durch gezielte Vernachlässigung, im Mai 1937. Für ihren Mann Arnold, der sie in Begleitung der beiden Kinder auf dem Jüdischen Friedhof an der Eckenheimer Landstraße zu Grabe trug, „war es ein furchtbarer Schlag“; wie in seinem ersten Brief von 1937 festgehalten ist. „Denn alle Ärzte hatten mir wiederholt erklärt, dass meine Frau gesund werde.”

Längst beeinträchtigten da schon die neuen Verhältnisse das Leben der Familie. Im Alter von 16 Jahren hatte Wöhler-Schüler Dagobert das Gymnasium verlassen müssen. Das Ende seiner kaufmännischen Lehre in der Firma Gummiwerke Odenwald in der Mainzer Landstraße war 1937, ein Jahr später, absehbar. Denn „diese Firma, deren Inhaber jüdische Bürger waren, die über 400 Mann Personal beschäftigten”, so schrieb es Dagobert Salomons nach dem Krieg in seinen Entschädigungsantrag, „wurde gezwungen, das Unternehmen zu verkaufen und es kam in Zwangsverwaltung”.

In dem Brief seines Vaters Arnold, den er etwa zur gleichen Zeit, am 7. Oktober 1937, schreibt, ist von all dem allenfalls zwischen den Zeilen etwas zu spüren. Er habe, schreibt er, „14 Tage frei gemacht”, er „habe es sehr notwendig gebraucht. Habe mich auch ganz schön etwas erholt“. Doch, so schließt er die Brief-Passage „jetzt sind wir alle wieder feste bei der Arbeit und das Leben geht seinen Weg weiter”.

Das tut es, in aller Grausamkeit: Schon ein halbes Jahr später, im Juli 1938, schickt Arnold seine 15-jährige Tochter Hanna, Schülerin der Herderschule, zur Sicherheit weg aus Nazi-Deutschland. Das Mädchen lebt fortan als Haushaltshilfe bei Familie Sanders, Geschäftsfreunden der Salomons, in Den Haag. Im Oktober 1938 verliert ihr Bruder Dagobert seine Lehrstelle bei den Gummiwerken in der Mainzer Landstraße. Als die Nazi-Regierung den Juden die zunächst eingezogenen Pässe mit dem Stempel „J” wieder austeilt, macht sich der 18jährige in letzter Minute. auf nach Kolumbien, dem Land, das ihm ein Visum gibt.

Schon einen Monat später erreicht der jahrelang geschürte Hass gegen die jüdischen Nachbarn einen Höhepunkt. Am Morgen des 10. November 1938 brennen auch in Frankfurt die Synagogen und die ersten jüdischen Männer werden brutal aus den Häusern geholt und an Sammelstellen zusammengetrieben. Arnold Salomons war gerade dabei, die zu groß gewordene Bornheimer Familienwohnung aufzulösen; „da ich alleine war, wollte ich billiger leben”, schreibt er in seinem dritten Brief. Er sucht und findet zunächst Schutz außerhalb der Stadt, bei seinem besten Freund Josef Bilz, Zigarrenfabrikant in Bernbach, Kreis Gelnhausen. Doch es hält ihn dort nicht und er kehrt zurück in die Frankfurter Wohnung.

Da findet er sein Zuhause geplündert und „kreuz und klein geschlagen”, wie in seinem nächsten Brief zu lesen ist. Und dann wird auch Arnold Salomons „ geholt”; „von nationalsozialistischen Horden verhaftet und ins K.Z. Lager nach Dachau eingeliefert“, wie es sein Sohn Dagobert den deutschen Behörden nach dem Krieg vorträgt.

Arnold Salomons dritter Brief, jetzt auf der Schreibmaschine abgefasst, stammt vom 17. Mai 1939 und kommt aus Dieren bei Arnhem in den Niederlanden. Er ist an „Meine Lieben.” gerichtet. „Endlich der Hölle in Deutschland entronnen“, kann der Flüchtling nach sechs Wochen Schinderei und Quälerei im KZ Dachau, nach monatelangem Warten in Frankfurt auf die Ausreise, Bericht geben: „Seit 14 Tage bin ich in Holland.” Mittellos, arbeitslos: „Das Finanzamt hat mir den letzten Pfennig abgeknöpft, wie die Diebe dann gesehen haben, dass nichts mehr zu holen war, bekam ich meinen Pass.”

Dieser Brief, wie die weiteren beiden, die vom Leben dieses Emigranten fern der Heimat berichten, schlummerte bis vor einem Monat im Nachlass von Sigmund, eines Neffen von Arnold in Israel, an dessen Familie sie gerichtet waren. Sie sprechen davon, dass Arnold Salomons seine ganze Hoffnung auf Dagobert setzte, seinen Sohn, der mit 18 Jahren nach Kolumbien gegangen war. „Jetzt muss ich weiter nach Kolumbien, zum Dago”, schreibt Arnold im Mai 1939. „Ich warte und warte auf das Visum, zu meinem Jungen zu kommen”, schreibt er im letzten Brief, März 1940. Aber er durfte nicht ausreisen, denn die Kolumbianer ließen keine Deutschen mehr ins Land.

Sein Sohn Dagobert konnte ihm nicht helfen, er konnte der kleinen Schwester Hannele nicht helfen. Beide wurden deportiert, beide wurden in mehrere Lager verschleppt und in Auschwitz ermordet. Und weil das so war, weil er sie ihrem Schicksal überlassen musste, hat Dagobert Salomons zu seinen Kindern, zu Arnold Salomons Enkeln, nie über seine Familie gesprochen. Nie von dieser Großfamilie, deren Bild seine Kinder Astrid und Lorenzo jetzt seit ein paar Jahren wie ein großes Puzzle zusammensetzen. Ein Großcousin, eine Großcousine nach der anderen taucht aus dem Dunkel auf. Namen, lauter Namen. Orte. Und Länder: Holland, Schweden, Israel, Italien, Slowakei, Deutschland. „Arnold war das jüngste von sieben Geschwistern”, stellte Astrid fest, „das war uns unbekannt”.

Voller Unterstreichungen sind Arnolds letzte Briefe, voller Kringel, Sternchen, Zahlen und handschriftlicher Anmerkungen. Jeder Strich, jeder Kringel, jedes Sternchen, der Hinweis auf eine Spur, vielleicht auf einen Verwandten. Diesen Sommer haben sich die getroffen, die noch da sind und seit kurzem voneinander wissen, in Neuenhaus.

 

 

Eintracht-Museum: „Ei, der Juddebub is widder da”                                              11.02.2012

Es ist frisch im Eintracht-Frankfurt-Museum im Erdgeschoss der Haupttribüne der Commerzbank-Arena. Nur ein brummender Heizlüfter spendet etwas Wärme. „Normalerweise ist es nicht so kalt bei uns, es gibt aber gerade Probleme mit der Heizung. Die Techniker sind schon dran"“ entschuldigt sich Museumsleiter Matthias Thoma. Aber irgendwie passt die Kälte zum Anlass.

Noch bis zum 30. März beherbergen die heiligen Hallen im Bauch der Eintracht- Spielstätte die vielbeachtete Wanderausstellung „Kicker, Kämpfer, Legenden - Juden im Deutschen Fußball“, die aus aktuellem Anlass um jüdische Eintrachtler erweitert wurde. Dass sie ausgerechnet in der ersten Jahreshälfte 2012 Station in Frankfurt macht, ist kein Zufall, sondern war von Thoma und seinem Team von langer Hand geplant.

Im Juni jährt sich das Endspiel um die Deutsche Meisterschaft zwischen Bayern München und Eintracht Frankfurt in Nürnberg zum 80. Mal. Das Besondere daran war aber nicht das Finale per se, sondern vielmehr die Tatsache, dass es das Aufeinandertreffen der beiden großen „Judenvereine“' war.

Wenn Thoma das Wort „Judenverein“ in den Mund nimmt, so ist das nicht despektierlich gemeint, sondern spiegelt allein die öffentliche Wahrnehmung einer Zeit wieder, in der die Konfession eine viel größere Rolle spielte als heute. Es war bis zur NS- Machtergreifung im Jahr 1933 völlig normal, dass Menschen christlichen und jüdischen Glaubens gemeinsam Sport trieben. Geschah das jedoch in großen Vereinen wie Eintracht Frankfurt oder Bayern München, waren die Neider kleinerer Vereine schnell mit stereotypenhaften Vorurteilen zur Hand. „Im Umfeld der Eintracht gab es viele Menschen jüdischen Glaubens, das war bekannt. Egal ob Sportler oder Funktionäre.“

Und das Geld kam nicht selten von jüdischen Mäzenen. „Zwar war das Profitum damals vom DFB aufs Strengste verboten, Gelder flossen trotzdem - man durfte sich nur nicht erwischen lassen. Die wohl größten Mäzene waren damals die jüdischen Schuhfabrikanten J. & C. A. Schneider aus der Mainzer Landstraße. Einige Eintracht-Spieler bekamen hier eine Anstellung, verdienten so Geld und hatten alle Freiheiten, um ihren Sport betreiben zu können. Die Firma hieß umgangssprachlich nur ‚Schlappe-Schneider‘. So kamen die Eintrachtler auch zu ihrem Spitznamen ‚Schlappe-Kicker‘, und der hat ja bekanntlich bis heute Bestand!“ Faktisch war diese Kooperation also eine Art verstecktes Profitum. Das ging auch an der Konkurrenz nicht geräuschlos vorüber. Thoma: „Wurden Eintrachtler in einem der teureren Cafes gesehen, hieß es: ‚Die haben Geld, das sind Juden!‘

 

Der Neid kleinerer Vereine war groß.

Das internationale und kosmopolitische Auftreten des Vereins sowie einige jüdische Funktionäre taten ihr Übriges. Der Neidfaktor der kleineren Vereine war da, die Vorurteile wurden bestätigt, und die Eintracht hatte ihr Image weg. „Das Kuriose ist, dass der FSV Frankfurt vor dem Krieg auch einen jüdischen Präsidenten hatte. Da der FSV aber ärmer war, wurde er nie als ‚Judenverein‘ bezeichnet.“

Kurios: Im Meisterschaftsfinale der beiden „Judenvereine“ München und Frankfurt 1932 stand auf Seiten der Eintracht kein einziger jüdischer Spieler auf dem Platz. Dafür aber acht Spieler, die ihr Geld beim „Schlappe-Schneider“ verdienten - drei weitere saßen auf der Ersatzbank.

Das Thema Juden im Sport scheint für viele noch heute ein delikates zu sein. Die Bestrebungen der Vereine, sich aktiv mit ihrer eigenen Geschichte zwischen 1933 und 1945 auseinan­derzusetzen ist gering, die Angst vor der falschen Herangehensweise an die Thematik groß. Das zeige auch das Beispiel des FC Bayern München, so Thoma: „Die Bayern hatten im Meisterjahr 1932 mit Kurt Landauer einen jüdischen Präsidenten und mit Richard ‚Little‘ Dombi einen jüdischen Trainer. Beide mussten den Verein ein Jahr später verlassen. Inoffiziell wurde der Kontakt zu Landauer jedoch gehalten. Man besuchte ihn regelmäßig und nach dem Krieg wurde er wieder Präsident. Die Bayern hätten daher allen Grund, offensiver mit ihrer Geschichte während der NS-Zeit umzugehen!“ Denn die bedeutete für die Vereine in der Regel vor allem Rückschläge in menschlicher und sportlicher Hinsicht:

Im Zuge der Gleichschaltung wurden Juden spätestens nach den Olympischen Spielen 1936 in Berlin aus den Vereinen verbannt. Die Nazis wollten die Ausrichtung der Spiele nicht gefährden und Kritikern durch einen Ausschluss jüdischer Athleten im Vorfeld keine Angriffsfläche bieten. Zudem galt es schließlich beim Prestigeprojekt Olympia so viele Medaillen wie möglich zu sammeln.

Nach und nach hielt jedoch ein Passus Einzug in die Aufnahmeanträge der deutschen Sportvereine: Neu-Mitglieder mussten Angaben zu ihrer arischen Abstammung machen. Im Jahre 1940 nahm Eintracht Frankfurt schließlich den Arier-Paragraphen in die Satzung auf. Der letzte jüdische Sportler hatte den Verein jedoch bereits 1937 verlassen müssen.

 

Bislang wurden 48 Juden identifiziert

Das Thema „Juden bei der Eintracht“ packte Thoma schon während seiner Zivildienstzeit. „Damals betreute ich einen 84-jährigen Mann. Er war FSVIer. Als er mitbekam, dass ich Eintracht-Fan bin, begrüßte er mich von dem Tag an mit den Worten. ‚Ei, der Juddebub is widder da‘. Er erzählte mir von den 1920er und 1930er Jahren, als die Eintracht in erster Linie als der ‚Judenverein‘ bekannt war. Ich begann mich für die Thematik zu interessieren, und bis heute hat mich das Thema nicht losgelassen.“

Einer Diplomarbeit im Fachbereich Pädagogik mit dem Titel „Kinder und Jugend im Sportverein während des Nationalsozialismus am Beispiel Eintracht Frankfurt“ folgte ein paar Jahre später das Buch „Wir waren die Juddebube - Eintracht Frankfurt in der NS-Zeit“. Während der Recherche zum Thema wird der Diplom- Pädagoge jedoch bis heute vor große Herausforderungen gestellt, denn es gibt keine Mitgliederlisten aus der Vorkriegszeit, die Auskunft darüber geben könnten, welche ehemaligen Vereinsmitglieder jüdischen Glaubens waren. „Bei einem Luftangriff der Alliierten auf Frankfurt wurde der gesamte Riederwald und damit die Heimat der Eintracht im Oktober 1943 zerstört. Alles war vernichtet.“

Fündig wurde Thoma bei alten Mitgliedern und Fans, die in ihren Archiven noch Exemplare der früher wöchentlich erschienenen Eintracht-Zeitung hatten. „Somit konnten wir bis heute 48 jüdische Eintracht-Mitglieder aus der Vorkriegszeit identifizieren. Und wir sind guter Dinge, dass im Laufe der Zeit noch einige hinzukommen. Vielleicht gibt es noch jemanden, der Zeitungen aus der Zeit ab 1920 hat, bislang fehlen uns nämlich noch einige Exemplare.“ Unterstützt wird Thoma dabei von ehrenamtlichen Helfern aus Verein und Fanszene.

 

20 Eintrachtler wurden im KZ ermordet

Jüdische Sportler und Funktionäre wurden von den Nazis genauso wenig verschont wie andere Deutsche mosaischen Glaubens. Sportlicher Erfolg schützte nicht vor dem KZ. Wer nicht rechtzeitig fliehen konnte, wurde deportiert. Soweit bislang bekannt, wurden auch 20 Ein­trachtler ins KZ gesteckt und umgebracht. Thomas Anliegen ist es, die Menschen mit dem zu konfrontieren, was gerade einmal 80 Jahre zurückliegt. Für.ihn ist seine Arbeit auch ein Kampf gegen das Vergessen. Zu viel wurde während und nach dem Dritten Reich verschwiegen und verdrängt - ganze zwölf Jahre wurden quasi aus den Vereinshistorien getilgt. „Wir gehen offensiv damit um und machen keinen Hehl daraus, dass Eintracht Frankfurt damals kein Hort des Widerstandes war und sich gegen Anordnungen von oben nicht zur Wehr gesetzt hat“, erklärt er.

Das zeigt sich besonders in der 1939 erschienen Festschrift zum 40-jährigen Vereinsjubiläum: „Wurden jüdische Eintrachtler noch in der Festschrift zum 30-jährigen Jubiläum wie selbstverständlich erwähnt, fanden sie zehn Jahre später in dem Buch ‚Eintracht kämpfte in aller Welt‘ keine Erwähnung mehr. Namen bekannter jüdischer Eintrachtler wie Walter Bense­mann, Arthur Cahn, Hugo Reiss oder Dr. Paul Blüthenthal tauchten schlicht nicht mehr auf“, so Thoma.

Erst 1998 begannen Autoren und Historiker sich mit der jüdischen Geschichte der Adler vom Main intensiver auseinanderzusetzen und nahmen den Kampf gegen das Verdrängen und Vergessen auf. Damit dieser 14 Jahre später nicht verloren geht, werden weiter alte Vereinszeitungen gewälzt und Archive durchforstet. „Wir sind zuversichtlich, dass wir bis zu unserer Abschlussveranstaltung am 28. März noch ein paar mehr Namen vorweisen können“, hofft Thoma. Aber auch danach wollen die Eintrachtler weiterforschen.

Die Ausstellung „Kicker, Kämpfer, Legenden - Juden im Deutschen Fußball“ im Eintracht-Frankfurt-Museum in der Haupttribüne der Commerzbank-Arena läuft noch bis zum 30. März. Das Museum ist dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Weitere Infos unter: www.eintracht-frankfurt-museum.de

 

 

Kreis Offenbach

Mühlheim:

Im Butzbacher Gefängnis suchte Leopold Isaak den Tod. Hans C. Schneider schildert in seinem neuen Buch das Schicksal des jüdischen Gemeindevorstehers von Mühlheim

Leopold Isaak war seit 1920 der letzte Vorsteher der 18 Familien zählenden Judengemeinde von Mühlheim. Der streng gläubige Lebensmittelvertreter war kein Rabbiner – den konnte sich die kleine Gemeinde nicht leisten. Mit seiner Frau Melita und fünf Söhnen führte Isaak ein unauffälliges Kleinbürger-Leben. Im Jahre 1935 verhafteten ihn die Nazis, weil er trotz des Schächtverbots schlachtete. Der Vorsteher der jüdischen Gemeinde wurde zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt.

Nach einem halben Jahr in der Butzbacher Vollzugsanstalt machte er einen Selbstmordversuch: Am 24. September 1935 stürzte der damals 41-Jährige während des Aufschlusses aus der Zelle Nummer 303, schwang sich über das Geländer des umlaufenden Korridors und stürzte ins Erdgeschoß. Mehr als zwei Monate verbrachte Leopold Isaak danach im Krankenhaus. Die Justiz gewährte ihm schließlich Haftverschonung.

Bevor am 10. November 1939 die Mühlheimer Synagoge in Brand gesetzt wurde, rettete Leopold Isaak die Thora-Rollen aus dem Gotteshaus und vergrub sie im Keller seines Hauses. Damals hatte seine Ehefrau gegen den Willen Isaaks den zwölfjährigen Sohn Arnold allein in die USA geschickt. Der Vater glaubte wie viele andere Juden, daß die Nazis ihre Schikanen gegen die Juden nicht auf die Spitze treiben würden. Im Dezember 1939 floh Melita Isaak mit den vier anderen Söhnen zu Verwandten nach Buenos Aires. Leopold Isaak blieb allein mit seiner Schwester zurück. „Die Gemeinde braucht mich“, soll er damals zur Begründung gesagt haben.

Diesen Satz machte Autor Hans C. Schneider zum Titel seines Buches. In Mühlheim waren damals freilich bereits 51 Juden ausgewandert, um dem Terror der Nürnberger Gesetze zu entfliehen. Leopold Isaak blieb wohl auch deshalb, weil die amerikanischen Verwandten seiner Ehefrau offenbar wenig Lust hatten, ihn für viel Geld über den Atlantik zu holen. Autor Schneider dokumentiert in seinem Buch die letzten Briefe, in denen Isaaks Ehefrau und Sohn Arnold vergebens um Hilfe bat. Krank, verarmt und vereinsamt wurde Leopold Isaak im September des Jahres 1942 mit 17 weiteren Mühlheimer Juden deportiert. Seine Spur verliert sich dann schließlich im Konzentrationslager Auschwitz.

Hans C. Schneider erzählt die Geschichte weiter. 1998 lud die Stadt Mühlheim auf seine Initiative hin die fünf Söhne Leopold Isaaks ein. Josef, Ludwig, Herbert, Arnold und Liebmann reisten aus den USA, Argentinien und Israel an. Das Buch notiert ihre Erinnerungen und die Aussagen von früheren Nachbarn und Zeitzeugen. Dazu Briefe Isaaks an seine Familie, Gestapo-Protokolle, Aussagen der Täter von damals und zahlreiche Fotos. Sie sind chronologisch sortiert und mit erklärenden Texten verbunden.

Das im Hanauer CoCon-Verlag herausgegebene Buch „Die Gemeinde braucht mich. Leopold Isaak und die Seinen” gehört zu einer Reihe des Mühlheimer Geschichtsvereins. „Der im Din-A5-Format gebundene Hardcover- Band, wurde in einer Auflage von 1.000 Stück gedruckt. Er trägt die ISBN-Nummer 3-928100-78-5 und ist für 19,80 Mark im Buchhandel erhältlich.

 

Dreieich-Sprendlingen:

Das Auffinden, die Freilegung und das Sichern der Sprendlinger Mikwe ist den „Freunden Sprendlingens“ Verein für Heimatkunde e.V. zu verdanken: Laut Angaben der Eigentümer eines Hauses in der Hellgasse wurden bei einem Umbau hebräische Buchstaben in einem Türbalken festgestellt. Während eines Gespräches fiel dann das Wort „Judeloch“ mit dem Hinweis auf die Hofreite Hellgasse 15-17. Wie sich herausstellte, war auch dem Besitzer, Fritz Schäfer, dieser Name von seinen Eltern her bekannt.

Mit der Erlaubnis von Schäfer fingen die „Freunde Sprendlingens“ im Juni 1979 an, dort zu graben. Durch einen Einstieg von ca. 75 mal 75 Zentimeter wurden 11 Kubikmeter meist schlammiger Morast mit einer Unzahl von Keramikscherben und sonstigem Abfall nach oben geschafft. Nach 175 Arbeitsstunden war die als Kartoffelkeller und später als Hausmülldeponie genutzte Mikwe wieder freigelegt. Ihre Größe beträgt 340 mal 235 Zentimeter, ihre Gewölbehöhe 168 Zentimeter. Sie ist überwiegend aus Naturbruchsteinen gebaut, mit einer kleinen als Lichtquelle dienenden Öffnung im Deckengewölbe. Das eigentliche Tauchbecken erreicht man über sieben Stufen, es ist 130 mal 110 Zentimeter groß und hat eine Tiefe von 143 Zentimetern.

Im August 1979 wurde von dem jüdischen Historiker und Mikwen-Kenner Diamant und dem Kreisbeauftragten für Bodenaltertümer, Ulrich, nach eingehender Besichtigung bestätigt, daß es sich bei der Anlage um ein altes jüdisches Ritualbad handelt. Bei späteren Untersuchungen wurde das Alter des Bauwerks auf circa 300-350 Jahre geschätzt; es wurde also im 17. Jahrhundert erbaut. Der erste urkundliche Hinweis auf jüdische Bürger in Sprendlingen stammt zwar schon aus dem Jahre 1563, doch weder bei den von den „Freun­den Sprendlingens“ befragten, im Ausland lebenden Sprendlinger Juden noch in den Judenmatrikeln des Stadtarchivs wurde etwas gefun­den, was bereits auf eine alte jüdi­sche Gemeinde hinweisen würde.

Der größte Einschnitt im Leben der hiesigen Bevölkerung war der Dreißigjährige Krieg (1618-1648), und nach ihm lebten in Sprend­lingen nachweislich nur noch fünf Familien, worunter sich keine jüdi­sche Familie mehr befand. Es wäre denkbar, daß die damaligen Juden abgewandert oder umgekommen sind und die später neu zugezoge­nen Juden nichts von ihren frühe­ren Glaubensbrüdern und der noch vorhandenen Mikwe erfuhren.

Im nahe gelegenen Dreieich hat die Ricarda-Huch-Schule 2010 die Patenschaft für einen Friedhof im Stadtteil Sprendlingen übernommen. „Wir räumen auf und pflegen“, sagte Lehrerin Myriam Andres (33). „Die Schüler sind sehr interessiert.“ Die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Dreieich ist Thema im Unterricht.

 

Heusenstamm:

In Heusenstamm (Kreis Offenbach) hat der Heimatverein einen Bildband herausgegeben. Nach den Zerstörungen durch die Nationalsozialisten konnten rund 100 Grabsteine gerettet werden. Sie werden abgebildet und die hebräische Inschrift - so weit sie noch erhalten ist - übersetzt. Das Gelände liegt abseits, im Wald fast versteckt. „Die Gräber sind das letzte materielle Zeugnis der jüdischen Gemeinde“, erklärte Mit-Autorin Sabine Richter-Rauch (71). „Fast alle sind ermordet worden.“ Die Reaktion auf das Buch sei „hervorragend“ gewesen.

 

 

Darmstadt

Verwitterte Grabsteine, kaum mehr lesbare Schrift: Jüdische Friedhöfe erzählen von einer Welt, die es nicht mehr gibt. Die meisten werden auch nicht mehr genutzt. Verschiedene Initiativen halten aber die Erinnerung wach.

„Hier ist verborgen eine rechtschaffene Frau. Ihre Seele sei eingebunden in das Bündel des Lebens.“ So und ähnlich lauten die Inschriften auf jüdischen Grabsteinen. Die Entstehung der Friedhöfe liegt schon viele Jahrhunderte zurück. In Hessen gibt es rund 350, mit vielen tausend Gräbern.

„Nur etwa ein Dutzend werden noch gebraucht, dort, wo es auch jüdische Gemeinden gibt“, sagt Klaus Werner (61), Beauftragter des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen für die jüdischen Friedhöfe. Etwa in Frankfurt, Wiesbaden, Offenbach, Kassel und Darmstadt. In Hanau wird der jüdische Friedhof im Stadtteil Steinheim wieder genutzt.

Für manch eine Stadt ist der nicht mehr genutzte Friedhof das einzig sichtbare Zeugnis, dass es hier einmal Juden gab - bis zu ihrer Vernichtung im Holocaust. „Auch die verlassenen werden gepflegt2, sagt Werner. „Von den jeweiligen Kommunen.“ Bund und Länder stellen Geld zur Verfügung. Auch Historiker und Initiativen kümmern sich darum, dass die Erinnerung nicht verblasst.

„In Vergessenheit werden die verlassenen Friedhöfe nicht geraten“, sagte der Historiker Hartmut Heinemann (74) von der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen. Sie dokumentiert jüdische Friedhöfe und Grabsteine. Unter „ww.lagis-hessen.de/ de/ subjects/ intro/ sn/ juf“ gibt die Kommission im Internet einen Überblick. „Derzeit sind mehr als        14.000 Gräber von über 50 Friedhöfen zu sehen“, sagte Heinemann. Der hebräische Text werde ins Deutsche übersetzt. Erhalten seien mitunter nöch Grabsteine aus dem 17. Jahrhundert, in Frankfurt sogar noch aus dem 13. Jahrhundert.

Die Friedhöfe sind auch heute noch Ziel von Angehörigen. „Es kommen noch oft welche, sogar aus dem Ausland“, sagte Heinemann. Die Kommission werde vom Land Hessen finanziert und sei vor mehr als 50 Jahren gegründet worden, als in Frankfurt die Auschwitz-Prozesse liefen.

 

Jüdische Friedhöfe sind aber auch immer wieder Ziele antisemitischer Schmierereien und Schändungen. „Einmal im Monat gibt es eine Schändung“, sagt Werner. Laut Heinemann gehört das „fast zum Alltag“.

 

Hintergrund: Regeln beachten

Wer einen jüdischen Friedhof - auch einen nicht mehr genutzten - besucht, sollte bestimmte Regeln beachten. Männer tragen eine Kopfbedeckung. Es darf nicht geraucht, gerannt oder gespielt werden. Am Sabbat und bestimmten anderen Feiertagen sollte der Friedhof nicht besucht werden. Für Juden haben Friedhöfe Bestand für alle Zeiten. Sie dürfen niemals eingeebnet werden - auch nicht, um für neue Gräber Platz zu machen. Zum Gedenken an den Gestorbenen wird traditionell ein kleiner Stein auf den Grabstein gelegt.

 

Junge Juden auf der Suche nach den eigenen Wurzeln

Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit wird 50 Jahre alt/

Die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Darmstadt feiert in diesem Jahr ihr 50-jähriges Bestehen. Ihr gehört die Alexander-Haas-Bibliothek an - ein wichtiges Archiv für Forschung, Schule sowie für Juden, die den Wurzeln ihres Glaubens nachgehen.

Die Fragen, wo der Festakt zum 50-jährigen Bestehen vollzogen werden und wer als Hauptredner kommen soll, beschäftigt Gabriella Deppert und Hans-Rainer Rechel, das Geschäftsführungsgespann der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, nur am Rande. Die virtuelle Synagoge steht zurzeit im Mittelpunkt ihrer Arbeit. Und dann ist da noch die Alexander-Haas-Bibliothek, die von Rechel geleitet wird. Sie wird am Dienstag, 13. Januar, wieder eröffnet und hat einen Bestand von mehr als 7000 Medien.

„Hier sind Biografien, Belletristik, Modernes Israel, Jüdische Philosophie, dort die Kinder- und Jugendliteratur und das dritte Reich, Widerstand und Dokumentationen über den Holocaust“, sagt Rechel während er durch die drei Räume der Bibliothek im Literaturhaus führt. „Oft kommen junge Rußland-Aussiedler hierher, um mehr über ihre jüdischen Wurzeln zu erfahren“, beschreibt der 68-Jährige ein inzwischen großes Klientel an Nutzern. Dann deutet er auf eine Vitrine, in der Videos verwahrt sind. „Wir wollen künftig mehr Videomaterial zukaufen“, sagt er. Das Medium werde vor allem von Lehrern verstärkt nachgefragt.

„Das ist unser Giftschrank“ sagt Rechel und dreht wenig später den Schlüssel im stabilen Schloß eines Schranks herum. Darin werden rund 200 Bücher aus der Zeit des Dritten Reichs verwahrt. „Echte Nazi-Literatur“, wie der pensionierte Richter sagt. Die Bücher mit Titeln wie „Der Jüdische Ritualmord“ und andere abstruse rassenhetzerische Werke bekommt der Besucher nicht ohne weiteres ausgehändigt. Wer sie einsehen will, muß einen Personalausweis vorlegen und begründen, warum er sie lesen will. In der Regel öffnen sich die Türen des Giftschranks nur für Historiker. Die Bücher können nicht ausgeliehen und kopiert werden.       

Die Gesellschaft für Christlich Jüdische Zusammenarbeit hat ihren Ursprung in den USA. Quäker richteten sie im Nachkriegsdeutschland als Teil des Entnazifizierungsprogramms der Alliierten ein, so Gabriella Deppert, die mit Rechel seit 1987 in deren Vorstand ist. Die Vereinsspitze ist zudem mit je einem Vertreter des evangelischen, ka­tholischen und jüdischen Glaubens besetzt.

Am 10. November 1954 wurde die Gesell­schaft in Darmstadt gegründet. Damals hat­te sie ihre Räume in der Luisenstraße. In der Geschäftsführung ist Rechel für das Juristi­sche und für die Aufstellung des Wirtschafts­plans verantwortlich, während Deppert für Kultur und Sponsorenakquise

Zuständig ist. Alle Ämter in der Gesellschaft werden ehrenamtlich ausgeübt.

Daß das Sponsoring zur Zeit ein zähes Ge­schäft ist, zeigt die geringe Resonanz auf die 300 Bettelbriefe, die die Gesellschaft ver­schickt hat, um die virtuelle Synagoge zu fi­nanzieren. Auch für die allgemeine Arbeit und den Unterhalt der Bibliothek habe der Geldfluß abgenommen, sagt Deppert. „frü­her gab es vom Land rund 6.00 Euro, heute ist es weniger als die Hälfte“ Was künftig aus in Wiesbaden noch zu erwarten wird, weiß die 68 Jährige nicht. Ungewiß ist auch, ob es der Gesellschaft gelingen wird, junge, ehrenamtliche Helfer zu gewinnen. Nur drei Freiwillige arbeiten

derzeit in der Bibliothek, die übrigen Mitglieder können und wollen das aufgrund ihres hohen Alters nicht tun. Die Bibliothek kann nur zweimal die Woche für zwei Stunden öffnen. Das ist viel zu wenig, da der größte Teil der Bücher nur an Ort und Stelle eingesehen werden kann.

Der Name Alexander Haas steht erst seit 1980 in enger Verbindung zu der Gesellschaft. Haas vermachte der interkonfessionellen Organisation 1980 nach seinem Tod 4.000 Bücher über das Judentum. Den 1906 geborenen Gönner kannten die meisten Darmstädter als Alex. Der Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie sowie spätere Schreiner und Möbelhändler galt als beliebter Mitbürger, der trotz seiner schweren Jahre im Konzentrationslager Buchenwald die Liebe zu seiner Geburtsstadt nie verloren haben soll.

„Freundschaft und Toleranz zwischen den Menschen ohne Unterschied der Rasse, des Glaubens oder der Herkunft” will die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit fördern. In Darmstadt gehören ihr gegenwärtig mehr als 140 Mitglieder hat. Bundesweit gibt es mittlerweile 79 Gesellschaften, die jüngsten wurden vor einigen Jahren in den neuen Bundesländern gegründet. Zu ihren Aufgaben gehört auch die Wahrung und Vermittlung jüdischer Geschichte. Die Darmstädter Gesellschaft erfüllt diese Aufgabe mit der Alexander-Haas-Bibliothek, Kasinostraße 3, deren Nutzung kostenfrei ist. Die Bibliothek ist dienstags und donnerstags von 15 bis 17 Uhr geöffnet. Informationen sind unter' 06151 /292418 erhältlich.

 

 

Messel

Die Gemeinde Messel fühlt sich durch die Gedenkstein-Debatte in die rechte Ecke ge­stellt. Der Bürgermeister verteidigt die Ent­scheidung des Parlaments, daß die Namen der Opfer weiter anonym bleiben sollen. Die Messeler Bevölkerung wolle keine neue Diskussion.

Das öffentliche Interesse am Gedenkstein für NS-Opfer bereitet Bürger­meister Udo Henke (CDU) Unbehagen. Er ist noch nicht mal ein Jahr im Amt, aber die Vergangenheit seiner Gemeinde hat ihn schneller eingeholt, als ihm lieb ist. „Der Bürgermeister macht das, was die Ge­meindevertretung beschließt“, lautet sein Kommentar zum Vorgehen von CDU und SPD, die eine Gedenkplakette mit den Na­men der Opfer verhindert hatten.

Henke macht keinen Hehl daraus, daß er die Negativschlagzeilen über das beschauliche Dorf bei Darmstadt außeror­dentlich bedauert: Man müsse ja den Fin­ger in die Wunde legen, räumt er ein: „Aber mir wäre es lieber gewesen, die Me­dien hätten über das Messeler Urpferd­chen berichtet“, spielt er auf den Sensa­tionsfund der gleichnamigen Grube an.

Daß die 4000-Seelen-Gemeinde plötzlich „da mit reingezogen wird“ paßt ihm gar nicht. Zum Verhalten seiner Parteikollegen, die eine neue Gedenkplakette mit der Begründung ablehnten, die Namen der Opfer könnten die Nachkommen der Täter traumatisieren, schweigt Henke. Nur so viel: Er selbst hätte nichts gegen die Namensnennung gehabt. „Aber in einem kleinen Ort wie Messel ist das etwas anderes als in einer Großstadt“.

 

Was war passiert? Ein Antrag des FDP-Abgeordneten Karl Wenchel hatte die Debatte um die Erinnerungskultur in Messel wieder aufleben lassen. Der Hobbyhistoriker hatte das Schicksal von sieben Messeler NS-Opfern recherchiert und wollte ihre Namen auf einer Tafel anbringen lassen - darunter die Namen ermordeter Juden, die im Konzentrationslager oder anderswo an den Folgen der nationalsozialistischen Hetze starben. Nach seinen Recherchen sollen sich im November 1938 auch Messeler Bürger an der Mißhandlung von Juden beteiligt haben.

Die Namen vermeintlicher Täter hatten zwar bei der Gedenkstein-Debatte überhaupt keine Rolle gespielt. Die CDU wollte die Namen der Opfer jedoch aus Sorge um das Klima in der Gemeinde lieber verschweigen. Die SPD wartet mit einer anderen Begründung auf: Wenn man einige Opfer nenne, laufe man Gefahr, andere zu vergessen, sagt der SPD-Fraktionsvorsitzende Lothar Wedel. Deshalb rüttele man nicht an der bisherigen Inschrift, die allen NS-Opfern gewidmet sei. Messel werde zu Unrecht in die rechte Ecke gestellt, sagt Wedel. Als Beleg führt er eine Spende der Kommune zum Aufbau der Darmstädter Synagoge und eine Dokumentation über die NS-Zeit in Messel an.

Die wahren Hintergründe der Debatte erfährt man eher am Stammtisch im Messeler Wirtshaus, wo um die Mittagszeit drei frisch gezapfte Pils auf dem Tresen stehen. Völlig richtig sei die Entscheidung der Gemeindevertretung, da sind sich die drei männlichen Gäste des Lokals ganz und gar einig. „Was haben wir damit zu tun“, fragt einer. „Unsere Leute sind auch gestorben, aber darüber redet keiner“, wirft ein anderer ein. Alle drei nicken. Von Schlußstrichziehen ist die Rede und da-von, daß „die Deutschen endlich aufhören sollen, in der Vergangenheit zu rühren“. Auf der Straße beteuert eine alte Frau, nie etwas gegen Juden gehabt zu haben, doch die Nennung der Opfer auf einer Tafel sei nicht nötig. Zum Abschied fällt ihr noch ein, daß „Hitler die Juden mit in den Krieg hätte nehmen sollen, anstatt sie umzubringen“.

 

 

Südhessen

Auf dem Gebiet des heutigen Landkreises Darmstadt-Dieburg standen 1945 noch fünfzehn ehemalige Synagogen, heute sind gerade noch vier davon als einstiges Gotteshaus erkennbar, eine weitere steht im Hessenpark. Im Kreis Bergstraße bestehen noch fünf der einst sechs ehemaligen Synagogen, im Kreis Groß-Gerau noch neun von zehn, und im Odenwaldkreis sind noch drei der vier einstigen jüdischen Gotteshäuser aus der Nachkriegszeit erhalten.

Die meisten Juden auf dem Lande waren keine reichen Leute. Sie leisteten sich zwar einen Betsaal, aber für Synagogenbauten hatten sie oft kein Geld. Sie kauften alte Hofreiten und bauten sie zu kleinen Gemeindezentren um. In den alten Wohnhäusern brachten sie Schulräume und die Wohnungen der Lehrer und Vorbeter unter. Die alten Scheunen wandelten sie in Synagogen um. Zum Gemeindezentrum gehörten außerdem die Mikwe, das Ritualbad, und das Backhaus, in dem alle gemeinsam ihr Brot buken. Äußerlich waren Dorfsynagogen – im Gegensatz zu den kleinen christlichen Kirchen – oft nicht zu erkennen. Allenfalls schmale, hohe Fenster, die auf zweigeschossige Innenräume mit Emporen hinwiesen, ließen die Bedeutung des Gebäudes erahnen. Eine typische

Synagogenarchitektur gab es auf dem Land nicht.

Die Synagoge in Pfungstadt wurde inzwischen denkmalgerecht saniert und zum sehenswerten Kulturzentrum ausgebaut. Ein Beispiel, das Freude macht. Gut erhalten ist die Synagoge in Auerbach dank des „Auerbacher Synagogenvereins“, der sich 1984 zusammenfand und beschloß, das ehemalige barocke jüdische Gotteshaus in der malerischen Bachgasse wieder in Ordnung zu bringen. Eine rührige Bürgerinitiative engagiert sich auch für den Erhalt der großen Zwingenberger Synagoge. Sie stammt aus dem frühen 20. Jahrhundert. Im Innern sind noch die Empore, wie auch interessante Reste der einstigen Art-Deco-Wandbemalung auf der Frauenempore erhalten. Die ehemalige Synagoge ist zur Zeit in Privatbesitz – über mögliche zukünftige Nutzungen wird nachgedacht.

 

Alsbach:

Der etwa ein Kilometer außerhalb von Alsbach in den so genannten Sandwiesen liegende Friedhof zählt mehr als 2000 Grabsteine und ist damit einer der großen jüdischen Landfriedhöfe in Deutschland. Seine Einrichtung ist auf das 1616 datiert und ist Resultat der zunehmenden jüdischen Landbevölkerung am Mittelrhein. Im ausgehenden Mittelalter, zu einer Zeit, wo in Mitteleuropa die Pest wütete, wurde die in den Städten wie Mainz, Worms und Speyer seit Jahrhunderten ansässige jüdische Bevölkerung vertrieben, weil man sie für die Ausbreitung der Seuche mitverantwortlich machte. Dadurch kam es zu einer Verteilung der Juden auf. viele Landgemeinden, die dann gemeinsame Friedhöfe außerhalb der Dörfer hatten. In Alsbach sind die Gräber der Juden aus 28 umliegenden Gemeinden, der Friedhof hat eine Größe von 22.500 Quadratmetern

 

Was auf den ersten Blick wie eine bloße Ansammlung von Gräberreihen aussieht, ist in Wahrheit eine sehr differenzierte Aufteilung von Grabfeldern nach Zeiten, Familienstand oder Varianten des jüdischen Glaubens. Auch die Gräber der „Wöchnerinnen“, also Frauen, die nach der Kindsgeburt starben, haben ein eigenes Feld.

Die ältesten, noch vorhandenen Grabsteine sind aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Sie sind heute mehr oder weniger unter Bäumen versteckt, was zwar dem ursprünglichen Landschaftscharakter eines weiten Feldes nicht, mehr entspricht, dem Friedhof heute aber einen besonderen Charakter verleiht. Schon in seiner beeindruckend, bot der Friedhof an diesem sonnigen Herbsttag ein besonders schönes Bild. Waren bis Ende des 19. Jahrhunderts die Steine noch alle aus Sandstein, so setzte sich im 20. Jahrhundert wie auf den christlichen Friedhöfen der Marmor durch. Bis 1941 sind in Alsbach Beerdigungen erfolgt, also noch einige Zeit nach den Ausschreitungen im Jahr 1938.

Am damaligen 9. November wurde das Torhaus des Friedhofes gesprengt. Dazu wurden etwa 600 Grabsteine umgeworfen. Die Schändung jüdischer Friedhöfe ist aber kein ausschließlich historisches Phänomen: Erst im Juni dieses Jahres sind einige der Alsbacher Grabsteine mit Haken-kreuzen besudelt worden.

Sind bei den meisten Grabsteinen die Ortsangaben wie Alsbach, Bensheim und so weiter aus der Nachbarschaft, tauchen hier und da auch amerikanische Städte auf. Hier handelt es Grabsteine, die frühe Auswanderer in die Vereinigten Staaten von Amerika ihren Eltern in der Heimat haben setzen lassen.

Im Gegensatz zum Frankfurter jüdischen Friedhof findet man auf dem Lande keine großbürgerlichen Familiengräber. Allerdings  haben bekannte Familien wie Oppenheimer oder Guggenheim in Alsbach Gräber einiger Verwandter. Insgesamt ist der Friedhof Alsbach mit seinen vielen Gräbern, soweit das heute überhaupt möglich ist, bestens dokumentiert. Wegen des immensen Aufwandes (zum Beispiel für die Entzifferung und Übersetzung der Grabinschriften) ist das eine große Ausnahme.

Zur Information über den Jüdischen Friedhof in Alsbach an der Bergstraße gibt es das gleichnamige Buch von Hartmut Heinemann und Christa Wiener (ISBN-3-921434-22-X). Es kostet 19,80 Euro. Dr. Hartmut Heinemann ist vom Hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden, Leiter der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen, Autor einer Dokumentation über den Alsbacher Friedhof.

 

Reichelsheim im Odenwald: Im Gerichtsbuch des Amtes Reichenberg ist bereits 1733 ein Flurstück am Kirchpfad erwähnt, das „Der Judenfriedhof”       genannt wird. Da der damals zuständige Friedhof der Juden sich in Michelstadt befand, eine Überführung der Verstorbenen in Seuchenzeiten über große Strecken aber untersagt war, behalf man sich mit einem eigenen Begräbnisplatz, der jedoch nur für Notfälle vorgesehen war. Bis zum Jahre 1857 beerdigten die Juden von Reichelsheim, Pfaffen-Beerfurth und Fränkisch-Crumbach ihre Verstorbenen in der Regel auf dem Judenfriedhof in Michelstadt.

Im Jahr 1856 kaufte der „Israelische Bruderverein Reichelsheim“ dann das Stück Acker „An der Ruh“ und beantragte die Einrichtung eines jüdischen Friedhofs. Er war zunächst Begräbnisplatz für die Juden von Reichelsheim und Fränkisch-Crumbach. Im Jahr 1860 wurden auch die Juden von Pfaffen-Beerfurth in den Friedhofsverband aufgenommen. Seit 1906 war dann die Israelische Religionsgemeinschaft Reichelsheim Eigentümerin des Friedhofs, der 1929/30 erweitert wurde. Heute hat die Gemeinde Reichelsheim die Betreuung des jüdischen Friedhofs übernommen. Sie erhält dazu einen Landeszuschuß.

Im Jahr 1992 hat ein Angehöriger der jüdischen Familie Meyer für seine ermordeten Eltern und Geschwister auf dem Gelände einen Gedenkstein setzen lassen.

Am 1. September 2002 fand im historischen Rathaussaal des Regionalmuseums Reichelsheim die Sonderausstellung „Gegen das Vergessen - Juden in Reichelsheim“ statt. Es gab geführte Rundgänge zu Häusern, die früher einmal im Besitz jüdischer Reichelsheimer Familien waren, sowie zum Platz, auf dem einst die Mikwe stand, und zur ehemaligen Synagoge geplant. Zeitgleich fanden Führungen auf dem Reichelsheimer Judenfriedhof statt.

 

 

 

Druckversion | Sitemap
© Homepage von Peter Heckert